C-271/23 – Kommission/ Ungarn (Reclassification du cannabis)

C-271/23 – Kommission/ Ungarn (Reclassification du cannabis)

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Language of document : ECLI:EU:C:2025:128

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 27. Februar 2025(1)

Rechtssache C271/23

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„ Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 258 AEUV – Beschluss (EU) 2021/3 des Rates – Im Namen der Europäischen Union zu vertretender gemeinsamer Standpunkt – Art. 218 Abs. 9 AEUV – Rechtsgrundlage – Einheits-Übereinkommen von 1961 über Suchtstoffe in der durch das Protokoll von 1972 geänderten Fassung und Übereinkommen von 1971 über psychotrope Stoffe – Aufnahme von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen – Abstimmung auf der Tagung der Suchtstoffkommission – Abstimmung und Standpunkt des Mitgliedstaats entgegen dem Beschluss des Rates – Art. 3 Abs. 2 a. E. AEUV – Externe Zuständigkeit der Union – Art. 288 Abs. 4 AEUV – Art. 277 AEUV – Von einem Mitgliedstaat erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit – Zulässigkeit – Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Informations‑, Konsultations- und Milderungspflicht “

1.        Kann ein Mitgliedstaat der Union, der Vertragspartei des Übereinkommens über Suchtstoffe(2) ist, auf einer Tagung der Suchtstoffkommission der Vereinten Nationen (im Folgenden: Suchtstoffkommission)(3) bei der Abstimmung über eine Änderung dieses Übereinkommens entgegen einem Beschluss des Rates, mit dem ein im Namen der Union gemeinsam zu vertretender Standpunkt festgelegt wird, abstimmen und eine Erklärung gegen diesen Beschluss abgeben? Kann ferner dieser Mitgliedstaat zur Verteidigung im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV die Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Rates, mit dem dieser Standpunkt angenommen wurde, einwenden, ohne die Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses zuvor vor dem Gerichtshof der Union angefochten zu haben?

2.        Diese beiden Fragen stellen sich im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens der Europäischen Kommission gegen Ungarn.

3.        Mit dem vorliegenden Verfahren macht die Kommission geltend, Ungarn habe gegen seine Verpflichtungen aus dem Beschluss (EU) 2021/3 des Rates(4), Art. 218 Abs. 9 AEUV, Art. 288 Abs. 4 AEUV, Art. 3 Abs. 2 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen. Dieser Beschluss betrifft im Wesentlichen den von den Mitgliedstaaten im Namen der Union bei der Abstimmung in der Suchtstoffkommission in Bezug auf die Neueinstufung von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen zu vertretenden Standpunkt.

4.        Hinzuweisen ist darauf, dass alle Mitgliedstaaten der Union Vertragsparteien des Übereinkommens über Suchtstoffe und des Übereinkommens über psychotrope Stoffe (im Folgenden zusammen: Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe) sind, die Union selbst jedoch nicht(5).

5.        Konkret sollten die Mitgliedstaaten nach dem Beschluss 2021/3 für die Streichung von Cannabis und Cannabisharz aus Anhang IV des Übereinkommens über Suchtstoffe stimmen, sich jedoch für ihre weitere Aufführung in Anhang I des Übereinkommens aussprechen(6). Im Wesentlichen wird für die in Anhang IV dieses Übereinkommens aufgeführten Stoffe von einer so hohen Gefahr für die öffentliche Gesundheit ausgegangen, dass ihre Verwendung, außer zu höchst begrenzten medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken, zu verbieten ist, während in Anhang I Suchtstoffe aufgeführt sind, bei denen ein erhebliches Missbrauchspotenzial und die Gefahr einer Schädigung besteht.

I.      Sachverhalt und Vorverfahren

A.      Vorgeschichte des Rechtsstreits

6.        Mit den im Rahmen der Vereinten Nationen angenommenen Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe sollen der Missbrauch von Suchtstoffen durch abgestimmte Maßnahmen auf internationaler Ebene bekämpft und, in Anbetracht der Diversifizierung und Ausweitung des Spektrums von Suchtstoffen, internationale Kontrollmaßnahmen für eine Reihe synthetischer Drogen unter Berücksichtigung des Missbrauchspotenzials und des therapeutischen Nutzens festgelegt werden.

7.        Jedes dieser Übereinkommen hat vier Anhänge, jeweils mit den Nummern I bis IV, in denen Listen von Suchtstoffen oder von Zubereitungen aufgeführt sind, die Suchtmittel oder psychotrope Stoffe enthalten. Cannabis und Cannabisharz waren über viele Jahre in den Anhängen I und IV des Übereinkommens über Suchtstoffe aufgeführt, während Cannabisextrakte und ‑tinkturen in Anhang I des Übereinkommens aufgeführt waren. Die Aufnahme in einen bestimmten Anhang ist maßgebend dafür, welche Kontrollmaßnahmen die Vertragsstaaten dieser Übereinkommen auf die jeweiligen Stoffe anzuwenden haben(7).

8.        Die Suchtstoffkommission, deren Aufgaben und Befugnisse insbesondere in den Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe(8) festgelegt sind, ist befugt, die Liste der Suchtstoffe oder Zubereitungen in den Anhängen dieser Übereinkommen ausgehend von den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (im Folgenden: WHO) zu ändern, die ihrerseits nach den Empfehlungen ihres Sachverständigenausschusses handelt.

9.        Der Suchtstoffkommission gehören 53 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen an, die vom ECOSOC ausgewählt werden. Im Dezember 2020 waren zwölf Mitgliedstaaten der Union, einschließlich Ungarn, Mitglieder der Suchtstoffkommission und daher in diesem Ausschuss stimmberechtigt. Die Europäische Union hat in diesem Ausschuss Beobachterstatus.

10.      Am 24. Januar 2019 legte die WHO sechs Empfehlungen mit den Nummern 5.1 bis 5.6 zur Änderung der Einstufung von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen nach dem Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe vor (im Folgenden: WHO-Empfehlungen). Das Ziel dieser Empfehlungen bestand darin, zum einen sicherzustellen, dass die betreffenden Stoffe nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse den relevantesten internationalen Kontrollen unterliegen, und zum anderen, die Verfügbarkeit, Erforschung und Entwicklung von Zubereitungen aus Cannabis-verwandten Stoffen zu medizinischen Zwecken sicherzustellen.

11.      Die Empfehlungen der WHO wurden auf der vierten und der fünften Zwischentagung der Suchtstoffkommission vom 24. Juni und 23. September 2019 erörtert. Auf diesen Tagungen wurden die möglichen Auswirkungen dieser Empfehlungen vom Internationalen Suchtstoff-Kontrollamt und vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung präzisiert und bewertet.

12.      Nachdem die Suchtstoffkommission im März 2020 beschlossen hatte, die Abstimmung über die Empfehlungen der WHO zu vertagen, führte sie von Juni bis Oktober 2020 drei themenbezogene Erörterungen durch, auf die am 8. Oktober 2020 eine Zwischentagung folgte, die allen Interessenträgern offenstand.

13.      Die Abstimmung über die Empfehlungen der WHO zur Änderung der Aufnahme von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen wurde auf die Tagesordnung der neu anberaumten 63. Tagung der Suchtstoffkommission gesetzt, die vom 2. bis 4. Dezember 2020 stattfinden sollte(9).

14.      Die Empfehlungen der WHO wurden von den Mitgliedstaaten der Union innerhalb der Horizontalen Gruppe „Drogen“(10) mehrfach erörtert. Bewertet wurden von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht auch die potenziellen Auswirkungen dieser Empfehlungen.

15.      Die Kommission nahm am 16. Oktober 2020 einen Vorschlag über den im Namen der Union auf der neu anberaumten 63. Tagung der Suchtstoffkommission über die Aufnahme von Stoffen in die Anhänge der [Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe] zu vertretenden Standpunkt an(11).

16.      Der Vorschlag wurde von der Horizontalen Gruppe „Drogen“ des Rates am 29. Oktober 2020 geprüft.

17.      Der Rat stimmte am 23. November 2020 im schriftlichen Verfahren über den Vorschlag der Kommission ab. Er nahm den Beschluss 2021/3 nach Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 1 AEUV mit qualifizierter Mehrheit an. Hierbei stimmte Ungarn dagegen und Bulgarien enthielt sich der Stimme. Dieser Beschluss war an die Mitgliedstaaten der Union gerichtet.

18.      Nach den Art. 1 und 2 des Beschlusses 2021/3 war der Standpunkt, der im Namen der Union von den Mitgliedstaaten, die Mitglieder der Suchtstoffkommission sind, gemeinsam handelnd, auf deren neu anberaumter 63. Tagung vom 2. bis 4. Dezember 2020 über die Aufnahme von Stoffen in die Anhänge oder deren Streichung aus den Anhängen der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe zu vertreten war, im Anhang dieses Beschlusses angeführt. Die Nummern 1 bis 6 dieses Anhangs entsprechen den Empfehlungen 5.1 bis 5.6 der WHO. Nach Nr. 1 des Anhangs des Beschlusses 2021/3 hatten die Mitgliedstaaten für die Streichung von Cannabis und Cannabisharz aus Anhang IV des Übereinkommens über Suchtstoffe, jedoch für ihren Verbleib in Anhang I zu stimmen. Nach Nr. 4 des Anhangs des Beschlusses 2021/3 waren die Begriffe „Extrakte und Tinkturen“ aus Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe zu streichen.

19.      Am 2. Dezember 2020 fand in der Suchtstoffkommission eine Abstimmung über die Empfehlungen der WHO statt. Die Empfehlungen 5.2 bis 5.6 der WTO, denen die Nummern 2 bis 6 des Anhangs des Beschlusses 2021/3 entsprachen, wurden abgelehnt. Ungarn stimmte gegen die Empfehlungen 5.1 und 5.4 der WHO. Die Empfehlung 5.1, die sich für die Streichung von Cannabis und Cannabisharz aus Anhang IV des Übereinkommens über Suchtstoffe(12) aussprach, in dem die gefährlichsten Stoffe ohne medizinische Verwendung aufgeführt sind (im Folgenden: Empfehlung 5.1), wurde mit der erforderlichen Mehrheit angenommen(13).

20.      Die Empfehlung 5.4 sprach sich für die Streichung der Begriffe „Extrakte und Tinkturen“ aus Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe aus (im Folgenden: Empfehlung 5.4). Ungarn gab innerhalb der Suchtstoffkommission ferner eine Erklärung ab, wonach die Annahme der Empfehlungen der WHO zu einer Erhöhung der Verwendung von Cannabis führen und in die nationalen Politiken eingreifen würde. Diese Erklärung gab Ungarn ab, ohne der Union dies vorher anzukündigen.

B.      Vorverfahren

21.      Nach Ansicht der Kommission stellte die Abstimmung durch Ungarn und sein Standpunkt auf der Tagung der Suchtstoffkommission einen Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem Beschluss 2021/3, eine Verletzung der ausschließlichen Außenkompetenz der Union und einen Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dar. Die Kommission übersandte Ungarn daher am 18. Februar 2021 ein Aufforderungsschreiben.

22.      Ungarn antwortete auf das Aufforderungsschreiben am 19. April 2021 und erklärte, dass es bereits im Verfahren zur Annahme des Beschlusses 2021/3 Vorbehalte gegen die Empfehlungen der WHO geäußert habe, gegen die es abgestimmt habe. Was die Empfehlung 5.1 angehe, hätte sie den sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens über Suchtstoffe und damit das Niveau der internationalen Kontrolle der betreffenden Stoffe unverändert gelassen, da Cannabis und Cannabisharz zwar aus Anhang IV hätten gestrichen werden, aber in Anhang I hätten verbleiben sollen. Die Annahme des Beschlusses 2021/3 habe der Öffentlichkeit die falsche Botschaft vermittelt, dass die Risiken für die Gesellschaft und die Gefahren für die öffentliche Gesundheit, die mit Cannabis verbunden seien, zu hoch eingeschätzt worden seien.

23.      Die Kommission gab am 12. November 2021 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Erstens stellte sie fest, dass der Umstand, dass Ungarn entgegen dem Beschluss 2021/3 abgestimmt habe, und die Gründe, aus denen dieser Mitgliedstaat dem vom Rat angenommenen Standpunkt nicht gefolgt sei, unerheblich seien. Zweitens habe Ungarn gegen Art. 3 Abs. 2 AEUV verstoßen, da die in Rede stehenden Rechtsakte in die ausschließliche Außenkompetenz der Union fielen. Drittens habe Ungarn gegen die in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit insbesondere dadurch verstoßen, dass es den Standpunkt der Union innerhalb der Suchtstoffkommission geschwächt habe. Die Kommission äußerte Bedenken im Hinblick darauf, dass möglicherweise künftig mit einem ähnlichen Verhalten Ungarns gerechnet werden müsse.

24.      Ungarn antwortete am 11. Januar 2022 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme. Es hielt an seinem, auf gesundheits- und sozialpolitischen Erwägungen beruhenden Standpunkt fest. Es äußerte ferner Bedenken im Hinblick auf den Anstieg des Cannabiskonsums und unterstrich seine Entschlossenheit, die Drogenabhängigkeit zurückzudrängen. Es wies außerdem auf den besonderen Charakter der vorliegenden Rechtssache hin, trat der Schlussfolgerung der Kommission entgegen, dass künftig möglicherweise unter entsprechenden Umständen mit einem ähnlichen Verhalten seinerseits zu rechnen sei, und hob die Relevanz und Bedeutung seiner Erläuterungen zur Abstimmung in der Suchtstoffkommission hervor.

25.      Da die Kommission die von Ungarn vorgebrachten Argumente nach wie vor nicht für überzeugend hielt, beschloss sie am 15. Februar 2023, beim Gerichtshof Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung durch Ungarn zu erheben.

II.    Verfahren vor dem Gerichtshof

26.      Die Kommission beantragt,

–        festzustellen, dass Ungarn dadurch, dass es auf der 63. Tagung der Suchtstoffkommission in Bezug auf die Änderung der Aufnahme von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen nicht dem Standpunkt der Europäischen Union gefolgt ist, gegen seine Verpflichtungen aus dem für Ungarn gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV verbindlichen Beschluss 2021/3 des Rates verstoßen und zugleich die ausschließliche Außenkompetenz der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV verletzt sowie gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen hat;

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

27.      Ungarn beantragt im Wesentlichen,

–        die Klage für unzulässig zu erklären;

–        hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

28.      In der Sitzung vom 15. Oktober 2024 haben Ungarn und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

III. Würdigung

29.      Die Kommission stützt ihre Klage auf drei Rügen. Erstens wirft sie Ungarn vor, gegen seine Verpflichtungen aus dem Beschluss 2021/3 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV verstoßen zu haben. Zweitens habe Ungarn die ausschließliche Außenkompetenz der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV verletzt. Drittens beantragt die Kommission, festzustellen, dass Ungarn gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen hat.

30.      Nach Erörterung der Vorfrage der Zulässigkeit der Klage werde ich zunächst prüfen, ob Ungarn die ausschließliche Außenkompetenz der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV verletzt hat. Diese Frage ist meines Erachtens vor der Frage eines Verstoßes Ungarns gegen seine Verpflichtungen aus dem Beschluss 2021/3 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV zu prüfen(14). Insoweit werde ich anschließend das Vorbringen Ungarns prüfen, wonach der Beschluss 2021/3 als inexistent anzusehen sei. Schließlich werde ich die dritte Rüge der Kommission in Bezug auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV prüfen.

A.      Zulässigkeit der Klage

31.      Ungarn bestreitet die Zulässigkeit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage im Wesentlichen aus vier Gründen.

32.      Erstens macht es unter Verweis auf das Urteil vom 7. April 2011, Kommission/Portugal(15), geltend, dass der Zweck einer Klage nach Art. 258 AEUV darin liege, die Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats abzustellen, und dass die Kommission daher verpflichtet gewesen sei, das von Ungarn verlangte Verhalten zu konkretisieren. Insbesondere gehe aus dem Urteil vom 25. Oktober 2001, Deutschland/Kommission(16), hervor, dass der Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens darin liege, eine Verhaltensänderung des Mitgliedstaates zu erwirken, nicht aber darin, abstrakt oder grundsätzlich eine in der Vergangenheit liegende Vertragsverletzung festzustellen.

33.      Was insoweit den Vorwurf angeht, die Kommission habe das Verhalten, das sie von Ungarn erwarte, um die Vertragsverletzung abzustellen, nicht konkretisiert, beruht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 258 AEUV vorgesehene Verfahren auf der objektiven Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht(17). Urteile des Gerichtshofs nach dieser Bestimmung sind feststellender Natur(18). Es kommt daher allein auf die Frage an, ob ein Mitgliedstaat gegen das Unionsrecht verstoßen hat(19). Insbesondere werden, abgesehen von der Kostenentscheidung, mit diesen Urteilen gerade keine konkreten Maßnahmen bezeichnet, die ein Mitgliedstaat ergreifen muss, um einen festgestellten Verstoß gegen das Unionsrecht zu beenden(20). Daher kann die Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV nicht verlangen, dass der Gerichtshof einen Mitgliedstaat zu einem bestimmten Handeln verpflichtet, um das Unionsrecht einzuhalten.

34.      Zu dem von Ungarn vorgebrachten Argument, der Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens liege darin, eine Verhaltensänderung des betreffenden Mitgliedstaats zu erwirken, möchte ich feststellen, dass, wie von Generalanwalt Geelhoed ausgeführt, dann, wenn der Gerichtshof einer übermäßig strengen Auslegung der Zulässigkeit folgen würde, diese letztlich „bedeuten [würde], dass ein Vorgehen nach [Art. 258 AEUV] gegen vollendete und unumkehrbare Zuwiderhandlungen … künftig unmöglich wäre“, und „[d]amit … systematischen Zuwiderhandlungen …Tür und Tor geöffnet werden [könnte]“(21). Daher hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Deutschland(22) zu einem nahezu identischen, von Deutschland vorgebrachten Argument festgestellt, dass dann, wenn dieser Auffassung „[gefolgt würde] alle Mitgliedstaaten, die durch ihr Verhalten die Verwirklichung des Ziels eines gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschlusses gefährdeten, einem Vertragsverletzungsverfahren entgehen, da alle Wirkungen dieser Vertragsverletzung bereits entfallen wären, so dass die Mitgliedstaaten aus ihrem eigenen Fehler einen Vorteil ziehen könnten“(23).

35.      In der vorliegenden Rechtssache beantragt die Kommission, festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen das Unionsrecht verstoßen hat, dass es bei der Abstimmung auf der 63. Tagung der Suchtstoffkommission über die Änderung der Aufnahme von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen nicht dem Standpunkt der Europäischen Union gefolgt ist. Soweit die Kommission die Feststellung des Vorliegens der gerügten Vertragsverletzung begehrt, ist diese Klage meines Erachtens zulässig.

36.      Zweitens macht Ungarn geltend, dass es, da die Abstimmung über die Empfehlungen der WHO in der Suchtstoffkommission bereits stattgefunden habe und nicht geändert werden könne, die in Rede stehende Vertragsverletzung nicht mehr abstellen könne. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass einem Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung keinesfalls gefolgt werden kann, soweit er sich, um sich dem Klageanspruch im Rahmen eines beim Gerichtshof eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens zu entziehen, auf von ihm selbst geschaffene vollendete Tatsachen beruft(24).

37.      Drittens macht Ungarn geltend, die Kommission habe nicht nachgewiesen, dass das Verhalten Ungarns tatsächliche und spürbare Auswirkungen gehabt habe, die über den in Rede stehenden Entscheidungsprozess hinaus fortbeständen.

38.      Ferner sei die Behauptung der Kommission, es müsse möglicherweise künftig mit einem ähnlichen Verhalten dieses Mitgliedstaats gerechnet werden, eine bloße Vermutung. Der Standpunkt eines Mitgliedstaats in internationalen Verhandlungen werde durch die zum Tragen kommenden Interessen bestimmt, so dass er nicht dadurch bestimmt werden könne, wie dieser Mitgliedstaat zuvor in einem bestimmten Fall gehandelt habe. Ungarn macht geltend, sein Verhalten habe sich weder auf die Union noch auf die Einheit und die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union ausgewirkt. Insoweit wurde in der Rechtssache Kommission/Deutschland(25) von Deutschland die Zulässigkeit der von der Kommission erhobenen Vertragsverletzungsklage mit der Begründung bestritten, dass der vorgeworfene Verstoß sich auf in der Vergangenheit liegendes Verhalten beziehe, das vor Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzten Frist beendet gewesen sei. Insbesondere machte Deutschland geltend, dass sein in der Vergangenheit liegendes Handeln auf der 25. Sitzung des Revisionsausschusses der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) keine Wirkungen mehr entfalte. Der Gerichtshof stellte fest, dass das streitige Verhalten Deutschlands in einem Verstoß gegen einen gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschluss des Rates(26) bestand, der für die Festlegung von Standpunkten, die im Namen der Union zu vertreten sind, ein vereinfachtes Verfahren vorsieht, wenn die Union innerhalb des durch die betreffende internationale Übereinkunft eingesetzten Entscheidungsgremiums am Erlass von Akten teilnimmt, die zur Anwendung oder Durchführung dieser Übereinkunft ergehen. Der Gerichtshof kam insbesondere zu dem Schluss, dass „[das streitige Verhalten Deutschlands] nicht so betrachtet werden [kann], als ob [es] am Ende dieser Sitzung entfallen wäre“, sondern „so zu betrachten [ist], dass es über diese Sitzung hinaus Auswirkungen auf die Einheitlichkeit und Kohärenz des völkerrechtlichen Handelns der Union … hat“(27). Der Gerichtshof stellte fest, dass dann, wenn den Mitgliedstaaten ermöglicht würde, ihrer Verantwortlichkeit deshalb zu entgehen, weil die Wirkungen der Vertragsverletzung entfallen wären, der Zusammenhalt der Union und die Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigt würden. Daher wies er die von Deutschland gegen die Vertragsverletzungsklage erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurück(28).

39.      Dieses Urteil geht auf eine lange Rechtsprechung zurück, in der der Gerichtshof Klagen der Kommission, mit denen die Verantwortlichkeit für in der Vergangenheit liegendes Verhalten der Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene geltend gemacht wurde, für zulässig erklärt hat(29). Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass Vertragsverletzungsklagen zulässig sein können, wenn geltend gemacht wird, dass das Verhalten eines Mitgliedstaats gegen die Verpflichtung verstößt, bei der Vertretung der Gemeinschaft Geschlossenheit zu demonstrieren. Somit kann in dem Fall, dass geltend gemacht wird, dass das Verhalten eines Mitgliedstaats gegen einen Standpunkt der Union im internationalen Rahmen verstößt, ein Vertragsverletzungsverfahren, mit dem auf mögliche Auswirkungen auf die Geschlossenheit der Union in auswärtigen Angelegenheiten reagiert werden soll, auch dann zulässig sein, wenn das Verhalten in der Vergangenheit stattgefunden hat. Würde in der vorliegenden Rechtssache der Argumentation Ungarns gefolgt, könnte dieser Mitgliedstaat von dem Beschluss des Rates nach seinem Erlass unbehelligt in der Gewissheit abweichen, dass die Kommission vor dem Gerichtshof keine Klage nach Art. 258 AEUV gegen diese Vertragsverletzung erheben könnte; hierdurch würden die praktische Wirksamkeit und Verbindlichkeit dieses Beschlusses beeinträchtigt. Um ein solches Ergebnis zu vermeiden, ist davon auszugehen, dass das beanstandete Verhalten Wirkungen auf die Geschlossenheit und Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union hatte.

40.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die vorliegende Klage für zulässig zu erklären.

B.      Zweite Rüge: Verstoß gegen die ausschließliche Außenkompetenz der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV

1.      Vorbringen der Parteien

41.      Nach Ansicht der Kommission hat Ungarn dadurch, dass es in der Suchtstoffkommission entgegen dem Beschluss 2021/3 abgestimmt hat, die ausschließliche Außenkompetenz der Union verletzt.

42.      Die Änderungen der Anhänge der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe wirkten sich unmittelbar auf die Tragweite von Rechtsvorschriften der Union im Bereich der Drogenkontrolle aus. Im Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels(30) seien Drogen dahin definiert, dass darunter u. a. alle Substanzen fielen, die unter diese Übereinkommen fielen. Dieser Rahmenbeschluss gelte daher für die in diesen Anhängen aufgeführten Stoffe. Jede Änderung dieser Anhänge wirke sich unmittelbar auf die gemeinsamen Regeln der Union aus und verändere deren Tragweite. Dies sei unabhängig davon der Fall, ob der fragliche Stoff bereits einer unionsweiten Kontrolle unterliege.

43.      Konkret macht die Kommission geltend, dass die Streichung von Cannabis und Cannabisharz aus Anhang IV des Übereinkommens über Suchtstoffe sich auf die im Rahmenbeschluss 2004/757 vorgesehenen Regelungen über Strafen auswirke und diese ändere. Infolge dieser Streichung könne bei diesen Stoffen nicht mehr davon ausgegangen werden, dass sie zu den gesundheitsschädlichsten Drogen gehörten, so dass die in Art 4 Abs. 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2004/757 vorgesehenen Sanktionen nicht mehr anwendbar seien(31).

44.      Jedenfalls gehe das Vorbringen, wonach die Union nicht über eine ausschließliche Zuständigkeit verfüge, fehl, da der Rat einen Beschluss nach Art. 218 Abs. 9 AEUV in allen Bereichen der Zuständigkeit der Union erlassen könne, also auch in Bereichen, die in die geteilte Zuständigkeit fielen.

45.      In seiner Erwiderung bestreitet Ungarn, dass die Änderung der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe im Einklang mit den Empfehlungen 5.1 und 5.4, die in der Suchtstoffkommission erörtert worden sei, von der ausschließlichen Außenkompetenz der Union umfasst sei. Aus keiner dieser Empfehlungen ergäben sich Änderungen am Begriff „Drogen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757, so dass die Tragweite des Unionsrechts ebenfalls unverändert bleibe.

46.      Die Kommission habe nur eine einzige Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2004/757, nämlich Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses, als „gemeinsame Regel“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AEUV eingestuft, um den Umfang der ausschließlichen Außenkompetenz der Union zu bestimmen, nämlich die Definition des Begriffs „Drogen“, die im Wesentlichen den sachlichen Anwendungsbereich dieses Beschlusses bestimme. Diese Bestimmung unterscheide nicht danach, ob der fragliche Stoff in den Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe, in deren Anhängen oder gegebenenfalls in einem bestimmten Anhang enthalten sei. Folglich sei für die Anwendbarkeit dieses Rahmenbeschlusses ausreichend, dass ein Stoff entweder in den Anwendungsbereich dieser Übereinkommen oder unter einen ihrer Anhänge falle. Es sei insoweit unerheblich, in welchem Anhang des Übereinkommens über Suchtstoffe ein Stoff genau aufgeführt sei, da die fraglichen Stoffe jedenfalls in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses fielen.

47.      Insbesondere führe die Empfehlung 5.1 durch die Streichung bestimmter Stoffe aus Anhang IV zu keiner wesentlichen Änderung bei der Anwendung des Unionsrechts, da diese Stoffe nach wie vor in Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe aufgeführt seien und nach wie vor in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses fielen, so dass der Anwendungsbereich des im Rahmenbeschluss 2004/757 definierten Begriffs „Drogen“ unverändert bleibe.

48.      Was die Empfehlung 5.4 angehe, hätte ihre Annahme den Begriff „Drogen“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2004/757 ebenso unverändert gelassen, da die empfohlene Streichung von „Extrakten und Tinkturen“ nur für Extrakte und Farbstoffe gelte, die keine Drogen im Sinne dieses Begriffs darstellten, da sie kein Delta‑9-Tetrahydrocannabinol (im Folgenden: THC) enthielten. Dies folge daraus, dass die fraglichen Extrakte und Tinkturen aus Anhang I zu streichen gewesen seien. Ferner sei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen, wonach Cannabidiol enthaltende Stoffe, die aus der Cannabispflanze gewonnen würden, nicht als von der Definition der Suchtstoffe im Sinne der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe erfasst anzusehen seien, da sie keinen psychoaktiven Wirkstoff, nämlich THC, enthielten(32). Demzufolge seien Cannabisextrakte oder ‑tinkturen, die kein THC enthielten, von diesen Übereinkommen und damit auch vom Rahmenbeschluss 2004/757 nicht erfasst, da sie nicht als Drogen oder Suchtstoffe angesehen würden.

49.      Außerdem werde von der Union selbst in ihrer Erklärung nach der Abstimmung über die Empfehlungen der WHO betont, dass die in der Empfehlung 5.1 genannten Stoffe weiterhin nach Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe kontrolliert würden. Ferner habe die Empfehlung 5.4 keine Änderung der internationalen Kontrollniveaus für Extrakte und Tinkturen von Cannabis zur Folge, und es sei auch nicht zu erwarten, dass sie sich auf die Kontroll- und/oder Berichterstattungspflichten der Mitgliedstaaten auswirken werde.

50.      Aus den Erwägungsgründen 5 und 7 des Beschlusses 2021/3 ergebe sich, dass nur die Aufnahme neuer Stoffe in die Anhänge der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757 ändern und daher in die Zuständigkeit der Union fallen würde.

51.      Nach Ansicht Ungarns folgt aus den vorstehenden Argumenten, dass die Empfehlungen 5.1 und 5.4 sich auf die Anwendbarkeit des Rahmenbeschlusses 2004/757 nicht auswirken und dass daher unter diesen Umständen zweifelhaft sei, ob eine sich aus diesen Empfehlungen ergebende Änderung in die ausschließliche Zuständigkeit der Union falle.

2.      Würdigung

52.      Nach Art. 3 Abs. 2 a. E. AEUV hat die Union die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte(33). Wie vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 4. September 2014, Kommission/Rat(34), festgestellt, besteht dann eine zur Begründung einer ausschließlichen Außenzuständigkeit der Union geeignete Gefahr, dass durch völkerrechtliche Verpflichtungen Regeln der Union beeinträchtigt werden könnten oder deren Tragweite verändert werden könnte, wenn diese Verpflichtungen in den Anwendungsbereich der Regeln fallen(35).

53.      Die Feststellung, dass die Gefahr besteht, dass Regeln der Union beeinträchtigt werden könnten oder deren Tragweite verändert werden könnte, setzt keine völlige Übereinstimmung zwischen den von den völkerrechtlichen Verpflichtungen erfassten Bereichen und den Bereichen der Unionsregelung voraus(36). Insbesondere kann die Tragweite gemeinsamer Regeln der Union durch solche Verpflichtungen auch dann beeinträchtigt oder verändert werden, wenn diese Verpflichtungen in einen Bereich fallen, der bereits weitgehend von solchen Regeln erfasst ist(37). Zu erinnern ist daran, dass, da die Union nur über begrenzte Ermächtigungen verfügt, das Bestehen einer Zuständigkeit, zumal einer ausschließlichen Zuständigkeit, nur auf der Grundlage von Schlussfolgerungen angenommen werden kann, die aus einer konkreten Prüfung des Verhältnisses zwischen der geplanten internationalen Verpflichtung und dem geltenden Unionsrecht gezogen werden, aus der sich ergibt, dass dieses Abkommen die gemeinsamen Regeln der Union beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern kann(38).

54.      Wie der Gerichtshof im Gutachten 1/03 entschieden hat, sind bei dieser Prüfung die von den Unionsregeln und den Bestimmungen des geplanten Abkommens jeweils erfassten Bereiche sowie Art und Inhalt dieser Regeln und Bestimmungen zu berücksichtigen, um zu prüfen, ob die völkerrechtliche Verpflichtung die einheitliche und kohärente Anwendung der Unionsregeln und das reibungslose Funktionieren des durch sie geschaffenen Systems beeinträchtigen kann(39). Ausgehend von den vorstehenden Erwägungen werde ich erstens die Tragweite, die Art und den Inhalt der geplanten internationalen Verpflichtung untersuchen; zweitens, sie der Tragweite der Regeln des Unionsrechts gegenüberstellen und drittens ihre Wirkung auf die fraglichen Regeln des Unionsrechts prüfen(40).

55.      Was erstens die Tragweite, die Art und den Inhalt der beabsichtigten internationalen Verpflichtung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das im Rahmen der Vereinten Nationen angenommene Übereinkommen über Suchtstoffe anerkennt, dass die Rauschgiftsucht für den Einzelnen voller Übel ist(41). In diesem Übereinkommen wird anerkannt, dass Maßnahmen gegen den Missbrauch von Suchtstoffen nur wirksam sein können, wenn sie koordiniert werden und weltweit sind(42). Die WHO kann nach Anhörung ihres Sachverständigenausschusses Empfehlungen abgeben, Stoffe in die Anhänge aufzunehmen oder aus ihnen zu streichen(43). Im Übereinkommen über Suchtstoffe sind Cannabis, Cannabisharz und Cannabis-verwandte Stoffe in den Anhängen und Definitionen ausdrücklich aufgeführt(44).

56.      Die Empfehlung 5.1 sprach sich für die Streichung von Cannabis und Cannabisharz aus Anhang IV des Übereinkommens über Suchtstoffe aus, in dem die gefährlichsten Stoffe ohne medizinische Verwendung aufgeführt sind. Ein in Anhang I dieses Übereinkommens aufgeführter Suchtstoff kann in Anhang IV des Übereinkommens aufgenommen werden, wenn er mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit geeignet ist, missbraucht zu werden und schädliche Wirkungen hervorzurufen. Nach dieser Empfehlung würden Cannabis und Cannabisharz in Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe verbleiben. Mit Empfehlung 5.4 wurde vorgeschlagen, die Begriffe „Extrakte und Tinkturen“ aus Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe zu streichen.

57.      Bei der Untersuchung der internationalen Verpflichtung ist auch zu berücksichtigen, dass die Union weder Vertragspartei des Übereinkommens über Suchtstoffe noch Mitglied der Suchtstoffkommission ist. Hinzuweisen ist insoweit darauf, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass in einer solchen Situation die Zuständigkeit der Union gegebenenfalls über die gemeinschaftlich im Interesse der Union handelnden Mitgliedstaaten auszuüben ist(45).

58.      Was zweitens die Tragweite der Regelungen des Unionsrechts angeht, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 auf der Grundlage von Art. 31 Buchst. e und Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EUV(46) angenommen wurde, der vorsah, dass das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich illegaler Drogenhandel einschließt(47).

59.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen im Bereich des illegalen Drogenhandels festlegt, der die Drogenausgangsstoffe und damit die erfassten Stoffe betrifft(48). Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a dieses Rahmenbeschlusses sind Drogen definiert als Substanzen, die in den Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe erfasst sind. Mit diesem Verweis haben die Unionsorgane zu erkennen gegeben, dass sie sicherstellen wollten, dass die Union ihr Handeln mit der internationalen Politik der Drogenkontrolle und somit mit den vorgenannten Übereinkommen in Einklang bringt. Da der Rahmenbeschluss 2004/757 die Begriffsbestimmungen der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe übernimmt, sind Cannabis und seine Derivate, einschließlich Harz, Extrakte und Tinkturen, von ihm erfasst.

60.      Ferner führt Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 auf, welche vorsätzlichen Handlungen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen, wenn sie „ohne entsprechende Berechtigung“ vorgenommen wurden, von den Mitgliedstaaten unter Strafe gestellt werden müssen. Zu den in dieser Bestimmung genannten Handlungen gehören unter Buchst. a das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Ausführen von Drogen. Ferner gehören zu den Handlungen nach Buchst. b und c das Besitzen oder Kaufen von Drogen mit dem Ziel, eine der vorgenannten Handlungen vorzunehmen, sowie das Anbauen u. a. der Cannabispflanze.

61.      Weiter sieht Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 allgemeine Regelungen über strafrechtliche Sanktionen vor(49). Darüber hinaus schreibt Art. 4 Abs. 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2004/757 schwerere Strafen für die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, b und c des Rahmenbeschlusses genannten Straftaten vor, wenn diese entweder in den Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe aufgeführte Drogen betreffen, die die gesundheitsschädlichsten sind oder die bei mehreren Personen zu schweren gesundheitlichen Schäden geführt haben.

62.      Drittens ist, was die Wirkungen der internationalen Verpflichtungen auf die fraglichen Regeln des Unionsrechts angeht, festzustellen, dass die Streichung von Cannabis und Cannabisharz aus Anhang IV des Übereinkommens über Suchtstoffe gemäß Empfehlung 5.1 sich auf die im Rahmenbeschluss 2004/757 vorgesehenen Regelungen über Strafen auswirkt und diese ändert, da diese Stoffe infolge dieser Streichung nicht mehr als gesundheitsschädlichste Drogen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2004/757 angesehen werden können(50). Außerdem würde die Streichung von Extrakten und Tinkturen aus Anhang I des Übereinkommens über Suchtstoffe gemäß Empfehlung 5.4 dazu führen, dass sie nicht mehr in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757 fielen, da dieser nur für Stoffe gilt, die in den Anhängen dieses Übereinkommens aufgeführt sind.

63.      Folglich sind die im Rahmenbeschluss 2004/757 vorgesehenen Tatbestandsmerkmale der Straftatbestände des illegalen Drogenhandels auf durch ihre Einstufung in den Anhängen des Übereinkommens über Suchtstoffe einschlägig definierte Stoffe anwendbar. Soweit eine von der Suchtstoffkommission angenommene Entscheidung zur Vornahme von Änderungen an den Stoffen in diesen Anhängen unmittelbare Auswirkungen auf den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757 und auf die Arten von Strafen hat, die die Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses verhängen müssen, können Unionsregeln durch diese Änderung eindeutig beeinträchtigt oder verändert werden. Dies ist unabhängig davon der Fall, ob der fragliche Stoff bereits einer unionsweiten Kontrolle unterliegt.

64.      Jedenfalls setzt, wie bereits ausgeführt, die Feststellung, dass die Gefahr besteht, dass Regeln der Union beeinträchtigt werden könnten, keine völlige Übereinstimmung zwischen den von den völkerrechtlichen Verpflichtungen und den von den Unionsregeln erfassten Bereichen voraus(51). Da durch Entscheidungen über Änderungen an den in den Anhängen der Übereinkommen über Suchtstoffe aufgeführten Stoffen das Unionsrecht beeinträchtigt und verändert werden kann, fällt der von den Mitgliedstaaten der Union in Bezug auf entsprechende Beschlüsse zu vertretende Standpunkt in die ausschließliche Zuständigkeit der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV.

65.      Was die Ausübung dieser ausschließlichen Zuständigkeit angeht, sind die Mitgliedstaaten im Fall internationaler Übereinkünfte, denen die Union nicht als Vertragspartei angehört, die aber in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, verpflichtet, den Standpunkt der Union in den durch solche Übereinkünfte eingesetzten internationalen Gremien zu vertreten(52). Dieser Standpunkt wird vom Rat durch einen nach Art. 218 Abs. 9 AEUV zu erlassenden Beschluss festgelegt. Der Gerichtshof hat im Urteil Deutschland/Rat(53) bestätigt, dass die Union dann, wenn ein Bereich in eine ihrer Zuständigkeiten fällt, dadurch, dass sie an der betreffenden internationalen Übereinkunft nicht beteiligt ist, nicht daran gehindert ist, von dieser Zuständigkeit Gebrauch zu machen, indem sie im Rahmen ihrer Organe einen Standpunkt festlegt, der insbesondere über die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien dieser Übereinkunft sind und im Interesse der Union gemeinsam handeln, in ihrem Namen in dem durch die Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten ist(54).

66.      In der vorliegenden Rechtssache soll Ungarn nach Ansicht der Kommission gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 2 a. E. AEUV verstoßen haben. Diese Bestimmung begründet nicht nur eine ausschließliche Zuständigkeit, sondern auch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in den Bereichen, in denen die Union über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügt, nicht tätig zu werden(55). Hat die Union die ausschließliche Zuständigkeit, sind die Mitgliedstaaten nicht mehr befugt, in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig zu werden oder eigenständig zu handeln, es sei denn, sie sind von der Union ausdrücklich hierzu ermächtigt. Es steht fest, dass Ungarn am 2. Dezember 2020 bei der Abstimmung in der Suchtstoffkommission über die Empfehlungen der WHO gegen die Empfehlungen 5.1 und 5.4 und somit entgegen den Bestimmungen des Beschlusses 2021/3 über den im Namen der Union zu vertretenden gemeinsamen Standpunkt abgestimmt hat. Dieser Beschluss ist der konkrete Ausdruck der ausschließlichen Zuständigkeit der Union. Somit hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 2 AEUV verstoßen.

C.      Erste Rüge: Verstoß gegen den Beschluss 2021/3 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV

67.      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission Ungarn vor, dadurch, dass es in der Suchtstoffkommission entgegen dem Beschluss 2021/3 abgestimmt habe, gegen seine Verpflichtungen aus diesem Beschluss in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV verstoßen zu haben.

68.      Da Ungarn in seiner Klagebeantwortung die Einrede der Rechtswidrigkeit des Beschlusses 2021/3 erhoben hat, ist diese Einrede vorab zu prüfen.

1.      Einrede der Rechtswidrigkeit

a)      Zulässigkeit

1)      Vorbringen der Parteien

69.      Nach Ansicht der Kommission ist die von Ungarn erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit als unzulässig zurückzuweisen.

70.      Nach Ansicht Ungarns ist seine Einrede der Rechtswidrigkeit zulässig, da es nicht die Möglichkeit gehabt habe, den Beschluss 2021/3 nach Art. 263 AEUV erfolgreich anzufechten.

71.      Insbesondere habe Ungarn aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen dem Erlass des Beschlusses 2021/3 am 23. November 2020 und der Abstimmung in der Suchtstoffkommission am 2. Dezember 2020 nicht die Möglichkeit gehabt, die Berechtigung einer möglichen Klage gegen sich zu prüfen. Ferner könne eine Umgehung der Verfahrensfrist nach Art. 263 AEUV nicht in Betracht kommen, wenn die durch einen Unionsrechtsakt aufgeworfenen Probleme zum Zeitpunkt seines Erlasses nicht einmal feststellbar, sondern erst später, im Rahmen seiner Durchführung, erkennbar würden. Ungarn hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass in einem solchen Fall eine Klage nach Art. 263 AEUV und ein ergänzender Antrag auf einstweilige Anordnungen nicht als echter und wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden könnten. Außerdem sei Ungarn durch den Beschluss 2021/3 nicht beschwert. Vielmehr sei es durch die Vertragsverletzungsklage der Kommission wegen Verstoßes gegen den Beschluss 2021/3 beschwert.

72.      In der mündlichen Verhandlung hat Ungarn geltend gemacht, dass für den Fall, dass feststehe, dass Art. 263 AEUV eine gerichtliche Kontrolle eines Rechtsakts aus Gründen, die vom Willen des Mitgliedstaats unabhängig seien, nicht gewährleisten könne, die Anwendung von Art. 277 AEUV in Betracht gezogen werden müsse, da diese Bestimmung einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in besonderen Fällen gewährleisten solle, in denen ein solcher Schutz durch die Anwendung von Art. 263 AEUV nicht erreicht werden könne.

73.      Nach Ansicht Ungarns soll sich nach Art. 277 AEUV der Anwendungsbereich der Einrede der Rechtswidrigkeit auf jeden „von einem Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union erlassenen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung“ erstrecken(56). Ungarn hat den Gerichtshof daher aufgefordert, den Anwendungsbereich der Einrede der Rechtswidrigkeit nach Art. 277 AEUV auf Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zu erstrecken. Der Beschluss 2021/3 könne als Rechtsakt mit allgemeiner Geltung angesehen werden, da er nicht nur an alle Mitgliedstaaten gerichtet sei, sondern die Mitgliedstaaten auch verpflichte, einen allgemeinen Standpunkt zu vertreten(57). Aus dem Wortlaut dieses Beschlusses gehe ferner hervor, dass der betreffende Standpunkt auch für Mitgliedstaaten verbindlich sei, die keinen Sitz in der Suchtstoffkommission hätten. Diese Auslegung würde den Mitgliedstaaten außerdem ermöglichen, sich im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens auf die Unanwendbarkeit nicht nur von Verordnungen, sondern beispielsweise auch von Beschlüssen mit allgemeiner Geltung zu berufen.

2)      Würdigung

74.      Die von Ungarn erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit wirft im Wesentlichen drei Komplexe von Fragestellungen auf. Erstens geht es um die Frage, welche wesentliche Funktion einer Einrede der Rechtswidrigkeit nach Art. 277 AEUV im Rahmen des durch die Verträge geschaffenen Rechtsschutzsystems zukommt und welchen Anwendungsbereich diese Bestimmung hat. Zweitens ist zu prüfen, inwieweit der Aspekt der Kurzfristigkeit relevant ist. Insbesondere ist zu klären, ob ein Mitgliedstaat als privilegierter Kläger die Möglichkeit haben sollte, die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts wegen der kurzen Zeitspanne zwischen seinem Erlass und seiner Durchführung anzufechten. Drittens ist zu prüfen, ob im Rahmen des AEU-Vertrags die Wirksamkeit des Vertragsverletzungsverfahrens gewahrt werden könnte, wenn ein Mitgliedstaat im Rahmen dieses Verfahrens eine Einrede der Rechtswidrigkeit erheben könnte. Diese drei Fragen werden im Folgenden nacheinander geprüft.

i)      Wesentliche Funktion einer Einrede der Rechtswidrigkeit und Anwendungsbereich von Art. 277 AEUV

75.      Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Europäische Union eine Rechtsunion ist, für die nach dem AEU-Vertrag ein umfassendes System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen worden ist, das dem Gerichtshof der Europäischen Union die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane zuweist(58).

76.      Dieses umfassende System von Rechtsbehelfen steht jedem Rechtsuchenden unabhängig davon zur Verfügung, ob es sich um eine Einzelperson, ein Organ oder einen Mitgliedstaat handelt. Daher können die Mitgliedstaaten sich im Rahmen dieses Rechtsbehelfssystems zu ihren eigenen Gunsten auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes berufen(59). Außerdem muss ein Mitgliedstaat im Rahmen von Art. 263 Abs. 2 AEUV als privilegierter Kläger nicht nachweisen, dass er unmittelbar und individuell betroffen ist(60). Die Klage ist binnen zwei Monaten nach dem Erlass oder der Bekanntgabe der betreffenden Handlung zu erheben. Stellt der Gerichtshof fest, dass die Handlung rechtswidrig ist, kann er sie ganz oder teilweise für nichtig erklären. Ist die Zweimonatsfrist abgelaufen, ohne dass die Handlung angefochten wurde, oder hat der Gerichtshof ihre Rechtmäßigkeit bereits durch Abweisung einer entsprechenden Nichtigkeitsklage bestätigt, können die Mitgliedstaaten die Gültigkeit dieser Handlung nicht mehr in Frage stellen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof die Zweimonatsfrist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage unter Hervorhebung der überragenden Bedeutung der Rechtssicherheit bestätigt(61).

77.      Als Bestandteil des umfassenden Systems von Rechtsbehelfen sieht Art. 277 AEUV die Möglichkeit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten der Union vor. Dies geschieht jedoch nicht durch eine selbständige Klage, sondern inzident im Rahmen einer Hauptklage vor den Unionsgerichten(62). Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass eine solche Überprüfung eine Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes darstellt, der gewährleistet, dass jedermann die Möglichkeit erhält oder erhalten hat, einen Rechtsakt der Union anzufechten, der für eine ihm entgegengehaltene Entscheidung als Grundlage dient(63).

78.      Daraus folgt, dass nach dem persönlichen Anwendungsbereich von Art. 277 AEUV die Unanwendbarkeit eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung von jeder Partei geltend gemacht werden kann(64). Es ließe sich daher die – auch von vielen Generalanwälten in der Vergangenheit geteilte(65) – Ansicht vertreten, dass auch die Mitgliedstaaten als privilegierte Kläger befugt sind, vor dem Gerichtshof eine Einrede der Rechtswidrigkeit zu erheben. Insbesondere hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/EZB(66) festgestellt, dass die von der Europäischen Zentralbank erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit ausgehend vom Wortlaut von Art. 241 EG (jetzt Art. 277 AEUV), der sich auf „jede Partei“ bezog und somit privilegierte und halbprivilegierte Kläger(67) einschloss, sowie ausgehend davon, dass die in Rede stehende Verordnung allgemeinen oder normativen Charakter hatte, zulässig war(68).

79.      Diese Rechtsprechung erstreckt sich jedoch nicht auf Vertragsverletzungsverfahren, für die der Gerichtshof konkret entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat sich mangels einer Vorschrift des Vertrags, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigt, zur Verteidigung gegenüber einer solchen Klage nicht auf die Rechtswidrigkeit einer an ihn gerichteten Entscheidung oder Richtlinie berufen kann(69).

80.      Der Gerichtshof hat sogar konkret entschieden, dass der Mitgliedstaat, obwohl er nicht formell Adressat des betreffenden Beschlusses war, als Mitglied des Rates, der diesen Beschluss gefasst hat, zwangsläufig Kenntnis von diesem hatte und durchaus in der Lage war, innerhalb der in Art. 263 Abs. 6 AEUV festgelegten Frist von zwei Monaten eine Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluss zu erheben(70). Der Gerichtshof prüft daher, inwieweit der Mitgliedstaat am Erlass des fraglichen Rechtsakts beteiligt war. Wenn der Mitgliedstaat von dem zu erlassenden Rechtsakt Kenntnis hatte und an seinem Erlass beteiligt war, kann er sich im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht auf die Rechtswidrigkeit dieses Rechtsakts berufen.

81.      Was den materiellen Anwendungsbereich von Art. 277 AEUV angeht, kann nach dieser Bestimmung eine Einrede der Rechtswidrigkeit nur gegen einen von einem Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union erlassenen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung erhoben werden. Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon waren Einreden der Rechtswidrigkeit auf Verordnungen beschränkt, da sich der frühere Art. 241 EG konkret auf Verordnungen bezog, während in Art. 277 AEUV jetzt ausdrücklich „Rechtsakte mit allgemeiner Geltung“ genannt sind(71). Diese Änderung ergibt sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst, die diesen Rechtsbehelf für andere Rechtshandlungen der Organe zugelassen hat, die zwar nicht in Form einer Verordnung ergangen waren, aber gleichartige Wirkungen entfalteten, auch wenn es sich bei ihnen nicht im strengen Sinne um eine Verordnung handelte(72).

82.      Demzufolge erstreckt sich nach dem Wortlaut von Art. 277 AEUV der materielle Anwendungsbereich einer Rechtswidrigkeitseinrede zwar auf verschiedene Arten von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung, der Grundgedanke dieser Bestimmung bleibt, was die fraglichen Rechtsakte angeht, jedoch unverändert; es gibt daher keinen Grund, warum der Gerichtshof den Begriff „Rechtsakte mit allgemeiner Geltung“ nach dieser Bestimmung anders auslegen sollte. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof für eine Einrede der Rechtswidrigkeit an seinem Erfordernis festhält, dass die Bestimmungen eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung die Grundlage für Einzelentscheidungen bilden oder mit diesen Entscheidungen in einem unmittelbaren rechtlichen Zusammenhang stehen müssen(73). Aus dieser Klarstellung folgt meines Erachtens, dass diese Bestimmung nur anwendbar ist, wenn zwei Arten von Rechtsakten vorliegen, nämlich ein individueller Rechtsakt und ein Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, und diese Rechtsakte sich auf ein konkretes Verhältnis beziehen.

83.      Was den Begriff „Rechtsakte mit allgemeiner Geltung“ angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass er Gesetzgebungsakte und Rechtsakte mit Verordnungscharakter umfasst(74). Rechtsakte mit allgemeiner Geltung gelten für objektiv bestimmte Situationen und entfalten Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen(75). Insoweit kann eine Entscheidung, die eine begrenzte Zahl von Adressaten hat, keinen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung darstellen. Daher kann der Beschluss 2021/3 nicht als Rechtsakt mit allgemeiner Geltung angesehen werden, der Gegenstand einer inzidenten Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 277 AEUV sein könnte.

84.      Daraus folgt, dass eine Berufung auf Art. 277 AEUV in der vorliegenden Rechtssache nicht möglich ist, da zum einen die Mitgliedstaaten nicht berechtigt sind, sich zur Verteidigung gegenüber einer Vertragsverletzungsklage auf die Rechtswidrigkeit einer an sie gerichteten Entscheidung zu berufen, und zum anderen der Beschluss 2021/3 nicht als Rechtsakt mit allgemeiner Geltung angesehen werden kann, der Gegenstand einer inzidenten Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 277 AEUV sein könnte.

85.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs könnte die von der Kommission erhobene Vertragsverletzungsklage jedoch als unbegründet abgewiesen werden, wenn der Beschluss 2021/3 mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet wäre, so dass er als inexistenter Rechtsakt qualifiziert werden könnte(76).

86.      Die Feststellung, dass für eine an einen Mitgliedstaat gerichtete Entscheidung keine der Union übertragene Zuständigkeit nach Art. 5 Abs. 2 EUV gegeben ist, kann grundsätzlich eine schwere Rechtsverletzung darstellen, die zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung in ihrer Gesamtheit führen kann. Auf diese Frage werde ich unten im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der von Ungarn erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit eingehen(77). Der Aspekt der kurzen Zeitspanne, die für die Anfechtung eines Rechtsakts nach Art. 263 AEUV vor seiner Durchführung zur Verfügung steht, stellt meines Erachtens jedoch keinen schweren und offensichtlichen Fehler im Sinne der oben genannten Rechtsprechung dar.

87.      Nur für den Fall, dass der Gerichtshof gegenteiliger Auffassung sein sollte, bliebe der von Ungarn angeführte Aspekt der kurzen Zeitspanne, die für die Anfechtung dieses Beschlusses zur Verfügung stand, zu prüfen. Da die wesentliche Funktion einer Einrede der Rechtswidrigkeit darin besteht, eine Partei, die nicht die Möglichkeit hatte, einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung anzufechten, dazu zu berechtigen, die Unanwendbarkeit eines solchen Rechtsakts geltend zu machen, der die Rechtsgrundlage des Rechtsakts mit individueller Geltung bildet, der (mit einer Nichtigkeitsklage)(78) angefochten wird, muss ein Mitgliedstaat, als privilegierter Kläger, um sich auf Art. 277 AEUV berufen zu können, nachweisen, dass er den betreffenden Rechtsakt nicht anfechten konnte.

ii)    Aspekt der kurzen Zeitspanne

88.      In der vorliegenden Rechtssache steht fest, dass Ungarn den Beschluss 2021/3 nicht nach Art. 263 Abs. 2 AEUV angefochten hat. Ungarn bringt vor, es habe wegen der kurzen Zeitspanne zwischen dem Erlass des Beschlusses und der Abstimmung in der Suchtstoffkommission keine Nichtigkeitsklage erheben können.

89.      Hinzuweisen ist zunächst darauf, dass der Rat den Beschluss 2021/3 am 23. November 2020 mit qualifizierter Mehrheit nach Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 1 AEUV angenommen hat. Am 2. Dezember 2020 fand in der Suchtstoffkommission eine Abstimmung über die Empfehlungen der WHO statt. Damit standen Ungarn acht Tage zur Verfügung, um diesen Beschluss anzufechten und einen Antrag auf einstweilige Anordnungen zu stellen.

90.      Ist ein Rechtsakt sofort durchzuführen und steht einem Mitgliedstaat, unabhängig von der Zweimonatsfrist nach Art. 263 AEUV, nicht genug Zeit zur Verfügung, um ihn anzufechten, kann er von der Möglichkeit Gebrauch machen, eine einstweilige Anordnung des Gerichtshofs nach Art. 279 AEUV mit dem Ziel zu beantragen, die Durchführung des angefochtenen Beschlusses des Rates bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über eine Nichtigkeitsklage auszusetzen. Das Ziel ist, die sofortige Durchführung eines Rechtsakts zu verhindern, der schweren oder nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen könnte, wenn zugelassen würde, dass er wirksam wird. In diesem Fall kann der Gerichtshof die Durchführung des betreffenden Beschlusses des Rates vorübergehend aussetzen, wenn er feststellt, dass ein fumus boni iuris vorliegt und dem Mitgliedstaat im Fall der sofortigen Durchführung des Rechtsakts nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen würde. Es wurde somit mit dem AEU-Vertrag ein umfassendes System von Rechtsbehelfen geschaffen, das, wie sich aus Art. 279 AEUV ergibt, den Umgang mit Fällen besonderer Dringlichkeit ermöglicht. Sich in diesem Zusammenhang möglicherweise ergebende Schwierigkeiten, wie sie der betreffende Mitgliedstaat geltend macht, sind nicht geeignet, den Mitgliedstaaten ein einseitiges Handeln unter Verstoß gegen das Unionsrecht zu gestatten.

91.      In der vorliegenden Rechtssache hätte Ungarn trotz der begrenzten zur Verfügung stehenden Zeit grundsätzlich die Nichtigerklärung des Beschlusses 2021/3 nach Art. 263 Abs. 2 AEUV und gleichzeitig einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV beantragen können, insbesondere da dieser Mitgliedstaat bereits Kenntnis vom Inhalt dieses Beschlusses hatte. Insoweit ist zu betonen, dass in der Horizontalen Gruppe „Drogen“ des Rates mehrere Konsultationen stattgefunden hatten, bevor der Beschluss 2021/3 erlassen wurde(79).

92.      Meines Erachtens bleiben einem Mitgliedstaat in einer Situation, in der er nur über sehr wenig Zeit verfügt, um einen Beschluss nach Art. 263 Abs. 2 AEUV anzufechten, dennoch Möglichkeiten, von denen er, wenn auch in einem sehr zeitkritischen Rahmen, Gebrauch machen kann. Auch wenn nach dem Beschluss innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne Schritte ergriffen werden müssen, kann ein Mitgliedstaat dennoch einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV stellen. In solchen Fällen ist der Gerichtshof befugt, sehr schnell – manchmal innerhalb von Tagen(80) – tätig zu werden und darüber zu entscheiden, ob die Durchführung des Rechtsakts auszusetzen ist.

93.      Außerdem hat eine Nichtigkeitsklage für die Durchführung des angefochtenen Beschlusses keine aufschiebende Wirkung. Selbst wenn Ungarn mehr Zeit gehabt hätte, wäre es daher dennoch verpflichtet gewesen, den Beschluss 2021/3 durchzuführen. Um dies zu vermeiden, hätte das geeignete verfahrensrechtliche Vorgehen darin bestanden, diesen Beschluss anzufechten und gleichzeitig die Aussetzung seines Vollzugs im Wege einer einstweiligen Anordnung nach Art. 279 AEUV zu beantragen.

94.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass für Rechtsakte der Unionsorgane grundsätzlich eine Vermutung der Rechtmäßigkeit gilt, solange sie nicht zurückgenommen, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage(81) für nichtig erklärt oder infolge eines Vorabentscheidungsersuchens für ungültig erklärt worden sind. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten nicht berechtigt sind, einseitig Ausgleichs‑ oder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um einer Verletzung des Unionsrechts durch das Organ, das den streitigen Rechtsakt erlassen hat, entgegenzuwirken(82).

95.      Solange der Beschluss 2021/3 nicht vom Gerichtshof für nichtig erklärt oder zurückgenommen oder sein Vollzug ausgesetzt worden ist, muss Ungarn ihm daher nachkommen.

96.      Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat, wenn er innerhalb der Zweimonatsfrist nach Art. 263 AEUV keine Nichtigkeitsklage gegen eine gegen ihn gerichtete Handlung erhebt, die Gültigkeit dieser Handlung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht in Frage stellen kann. Andernfalls würde die kohärente und einheitliche Anwendung des Unionsrechts, die ein grundlegendes Merkmal des Unionssystems ist, unterminiert. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die Verträge es den Mitgliedstaaten erlauben, die Vorteile der Union für sich zu nutzen, ihnen aber auch die Verpflichtung auferlegen, die Rechtsvorschriften dieser Verträge zu beachten. Stört ein Mitgliedstaat aufgrund der Vorstellung, die er sich von seinem nationalen Interesse macht, einseitig das mit der Zugehörigkeit zur Union verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, so stellt dies die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Unionsrecht in Frage(83).

97.      Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen von Art. 218 AEUV Fallgestaltungen in den Außenbeziehungen vorkommen können, in denen sofortiges Handeln erforderlich ist, was dazu führt, dass Rechtsakte noch vor Ablauf der Zweimonatsfrist für ihre Anfechtung durchgeführt werden. Solche Fallgestaltungen können in Fällen einer vorläufigen Anwendung internationaler Übereinkünfte(84) oder von Beschlüssen des Rates, die einer sofortigen Durchführung bedürfen(85), wie etwa Beschlüsse des Rates nach Art. 218 Abs. 9 AEUV, vorkommen. Auch in anderen Bereichen können Fallgestaltungen vorkommen, beispielsweise wenn vom Rat erlassene Rechtsakte vor Ablauf der Zweimonatsfrist in Kraft gesetzt werden können(86). Auch in diesen Dringlichkeitsfällen sind Einzelpersonen, Mitgliedstaaten und Organe weiter berechtigt, Beschlüsse des Rates nach Art. 263 AEUV anzufechten. Sofern jedoch keine einstweiligen Anordnungen nach Art. 279 AEUV erlassen werden, bleibt die angefochtene Handlung während des Verfahrens über die Nichtigkeitsklage wirksam. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser einstweiligen Anordnungen hat der Gerichtshof eine Abwägung zwischen der sofortigen Durchführung in kritischen Situationen und dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats auf einen wirksamen Rechtsbehelf vorzunehmen. Sollte der Gerichtshof dem Vorbringen Ungarns folgen, wonach Rechtsakte nicht vor Ablauf der Zweimonatsfrist durchgeführt werden können, könnten von der Union in Dringlichkeitsfällen keine Rechtsakte erlassen werden, wodurch das Handeln der Union und insbesondere ihr Handeln im Bereich der Außenbeziehungen ernsthaft beeinträchtigt würde.

98.      Außerdem kann ein Mitgliedstaat, wenn er davon absieht, einen Antrag auf einstweilige Anordnungen zu stellen, gleichwohl, nachdem der betreffende Beschluss zur Anwendung gekommen ist, aber vor Ablauf der Zweimonatsfrist, eine Nichtigkeitsklage erheben. Im Erfolgsfall wären durch eine solche Nichtigkeitsklage beispielsweise etwaige, von der Kommission in Bezug auf diesen Beschluss vorgesehene Vertragsverletzungsklagen ausgeschlossen. Würde der Beschluss für nichtig erklärt, wäre der Rat nach Art. 266 AEUV verpflichtet, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen.

99.      In der vorliegenden Rechtssache steht fest, dass Ungarn den Rechtsakt weder im Zeitraum zwischen seinem Erlass und der Abstimmung in der Suchtstoffkommission noch im Anschluss an die Abstimmung angefochten hat. Insoweit bringt Ungarn vor, dass eine Anfechtung des Beschlusses 2021/3 die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, nicht zwangsläufig ausgeschlossen hätte. Hätte Ungarn jedoch eine Nichtigkeitsklage erhoben, hätte es im Verfahren vor dem Gerichtshof darauf hinweisen können, dass eine Aussetzung des Vertragsverletzungsverfahrens bis zur Entscheidung über diese Klage gerechtfertigt sein könnte. Außerdem hätte sich die Kommission, wie oben erwähnt, im Rahmen des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens nicht auf den Beschluss 2021/3 stützen können, wenn dieser Beschluss für nichtig erklärt worden wäre. Daher haben die Mitgliedstaaten in einer solchen Situation definitiv eine Klagebefugnis für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage, und zwar auch nach einer Abstimmung auf internationaler Ebene, um die Rechtmäßigkeit des betreffenden Beschlusses anzufechten. In der vorliegenden Rechtssache hätte Ungarn die Rechtmäßigkeit des Beschlusses 2021/3 im Rahmen einer Nichtigkeitsklage anfechten können, entschied sich jedoch dafür, hiervon abzusehen und von den ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen keinen Gebrauch zu machen.

iii) Wirksamkeit des Vertragsverletzungsverfahrens

100. Das Klagesystem des AEU-Vertrags unterscheidet zwischen den in den Art. 258 und 259 AEUV vorgesehenen Klagen, die auf die Feststellung gerichtet sind, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, und den in den Art. 263 und 265 AEUV vorgesehenen Klagen, mit denen die Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Unterlassungen der Unionsorgane überprüft werden soll. Diese Klagemöglichkeiten haben unterschiedliche Zwecke und unterliegen unterschiedlichen Voraussetzungen(87). Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mitgliedstaat nicht die Rechtmäßigkeit einer Richtlinie oder eines an ihn gerichteten Beschlusses als Verteidigungsmittel gegen eine wegen Nichterfüllung seiner Verpflichtungen aus dieser Richtlinie oder diesem Beschluss erhobene Vertragsverletzungsklage anfechten(88).

101. Es bestünde die Gefahr, dass die Wirksamkeit des Vertragsverletzungsverfahrens ernsthaft beeinträchtigt würde, wenn sich ein Mitgliedstaat einem solchen Verfahren entziehen könnte, indem er sich zu seiner Verteidigung auf Einreden der Rechtswidrigkeit beriefe(89).

102. Diese rechtliche Argumentation hat meines Erachtens eine dreiteilige Bedeutung. Erstens würde die Zulassung einer Einrede der Rechtswidrigkeit im Vertragsverletzungsverfahren die Mitgliedstaaten dazu veranlassen, Beschlüsse der Union bis zur Erhebung einer Vertragsverletzungsklage beim Gerichtshof zu ignorieren(90).

103. Zweitens wäre die Frist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage praktisch sinn- und wirkungslos. Insoweit sollen nach ständiger Rechtsprechung die Klagefristen nach Art. 263 AEUV dazu dienen, Rechtssicherheit zu wahren, indem verhindert wird, dass Rechtswirkungen entfaltendes Unionshandeln wieder und wieder in Frage gestellt wird, und jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Gewährung von Rechtsschutz zu vermeiden(91). Insbesondere hat der Gerichtshof im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren entschieden, dass es ausgeschlossen ist, dass ein Mitgliedstaat, der die in Art. 263 AEUV vorgesehene Ausschlussfrist hat verstreichen lassen, ohne die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission auf dem durch diesen Artikel eröffneten Verfahrensweg anzugreifen, diese auf dem Umweg über Art. 258 AEUV in Frage stellen kann(92).

104. Drittens würde die Zulassung einer Einrede der Rechtswidrigkeit im Vertragsverletzungsverfahren die Rechtssicherheit der Unionsrechtsordnung und die Stabilität des in den Verträgen vorgesehenen umfassenden Systems von Rechtsbehelfen gefährden(93).

105. Dieser Ansatz wurde im Urteil vom 27. März 2019, Kommission/Deutschland(94), bestätigt, in dem der Gerichtshof hervorgehoben hat, dass die Rechtsprechung, die einem Mitgliedstaat verwehrt, sich mangels einer Vorschrift des Vertrages, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigte, zur Verteidigung gegenüber einer Vertragsverletzungsklage auf die Rechtswidrigkeit einer Richtlinie oder eines an ihn gerichteten Beschlusses zu berufen, entsprechend auch für einen Beschluss allgemeiner Natur gilt, wenn dieser Mitgliedstaat nicht formell Adressat dieses Beschlusses ist(95). Dies gilt erst recht, wenn, wie in der vorliegenden Rechtssache, der Mitgliedstaat formell Adressat des Beschlusses des Rates ist.

106. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wenn die Mitgliedstaaten Einreden der Rechtswidrigkeit erheben könnten, um die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses des Rates im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV anzufechten, die Wirksamkeit dieses Verfahrens ernsthaft beeinträchtigt würde.

107. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten sich in einem Vertragsverletzungsverfahren wegen angeblicher Nichtdurchführung eines Rechtsakts nicht auf die angebliche Rechtswidrigkeit dieses Rechtsakts berufen können. Diese Rechtsprechung gilt auch dann, wenn, wie in der vorliegenden Rechtssache, die Fristen für die Durchführung des Beschlusses kurz sind. Wie bereits ausgeführt, kann ein Mitgliedstaat nämlich einen Antrag auf einstweilige Anordnungen stellen. Daher wurde dem in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Mitgliedstaat über den gesamten in Art. 263 AEUV für die Anfechtung eines solchen Beschlusses vorgesehenen Zeitraum hinweg in der Tat ein wirksamer Rechtsbehelf gewährleistet.

108. Wenn der Gerichtshof sich dem von mir vorgeschlagenen Ergebnis zur Unzulässigkeit der Einrede der Rechtswidrigkeit anschließt, wird die Frage der Rechtswidrigkeit des Beschlusses 2021/3 gegenstandslos, es sei denn, dieser wäre mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet, so dass er als inexistent angesehen werden könnte(96). Daher werde ich nur für den Fall, dass der Gerichtshof sich dafür entscheiden sollte, diese Frage zu prüfen, im Folgenden kurz auf die Begründetheit dieses Vorbringens eingehen.

b)      Begründetheit

109. Ungarn macht geltend, die Bestimmungen des Beschlusses 2021/3 könnten ihm nicht entgegengehalten werden, da sie rechtswidrig seien. Der Beschluss sei mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet, so dass er als inexistent angesehen werden könne(97). Die Union habe keine Zuständigkeit für den Erlass des Beschlusses 2021/3, da ihr durch die Rechtsgrundlage für diesen Beschluss keine entsprechende Befugnis zur Änderung einer internationalen Übereinkunft übertragen werde(98). Folglich sei dieser Beschluss unter Verstoß gegen den in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erlassen worden.

110. Da die vorgeschlagenen Änderungen der Übereinkommen über Suchtstoffe und psychotrope Stoffe nicht in die Zuständigkeit der Union fielen, könne diese keinen Beschluss erlassen, mit dem sie einen Standpunkt hierzu einnehme. Da Art. 3 Abs. 2 AEUV nicht die geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des Beschlusses 2021/3 darstellen könne und dieser Beschluss weder auf Art. 216 Abs. 1 AEUV noch auf eine andere Rechtsgrundlage verweise, sei das Erfordernis der Angabe seiner Rechtsgrundlage nicht erfüllt. Soweit der Beschluss 2021/3 allein auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 AEUV erlassen worden sei, ergebe sich aus dieser Bestimmung keine ausschließliche Zuständigkeit für den Gegenstand dieses Beschlusses.

111. Hinzuweisen ist zunächst darauf, dass nach Art. 218 Abs. 9 AEUV „[d]er Rat… auf Vorschlag der Kommission … einen Beschluss … zur Festlegung der Standpunkte, die im Namen der Union in einem durch eine Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten sind, sofern dieses Gremium rechtswirksame Akte, mit Ausnahme von Rechtsakten zur Ergänzung oder Änderung des institutionellen Rahmens der betreffenden Übereinkunft, zu erlassen hat“. Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Wortlaut dieser Bestimmung die Union nicht daran hindert, einen Beschluss zur Festlegung eines in ihrem Namen in einem Gremium, das durch eine internationale Übereinkunft eingesetzt wurde, der sie nicht beigetreten ist, zu vertretenden Standpunkts zu erlassen(99).

112. Zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses 2021/3 ist zu prüfen, ob der Rat für seinen Erlass zuständig war und somit nicht gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 2 EUV verstoßen hat. Wie in den vorliegenden Schlussanträgen bereits ausgeführt(100), wirken sich die Änderungen (Aufnahmen oder Streichungen von Stoffen) in den Anhängen I und IV des Übereinkommens über Suchtstoffe auf den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757 aus und fallen somit in die ausschließliche Zuständigkeit der Union. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Union dann, wenn der betroffene Bereich unter eine Zuständigkeit der Union fällt, dadurch, dass sie an der betreffenden internationalen Übereinkunft nicht beteiligt ist, nicht daran gehindert, von dieser Zuständigkeit Gebrauch zu machen, indem sie im Rahmen ihrer Organe einen Standpunkt festlegt, der insbesondere über die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien dieser Übereinkunft sind und im Interesse der Union gemeinsam handeln, in deren Namen in dem durch die Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten ist(101). Aufgrund dieser Feststellung komme ich zu der Ansicht, dass der Rat für den Erlass des Beschlusses 2021/3 zuständig war und dieser daher nicht unter Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 2 EUV erlassen wurde.

113. Was in diesem Zusammenhang das Vorbringen Ungarns angeht, der Beschluss 2021/3 sei mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet, so dass er als inexistent angesehen werden könne, verlangt nach ständiger Rechtsprechung die Schwere der Folgen, die mit der Feststellung der Inexistenz eines Rechtsakts der Unionsorgane verbunden sind, dass diese Feststellung aus Gründen der Rechtssicherheit außergewöhnlichen Fällen vorbehalten bleibt(102). Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Kläger, der sich gegen eine Bestimmung wendet, belegen muss, dass diese Bestimmung mit einem Fehler behaftet ist, der ihre Existenz in Frage stellen könnte(103). In der vorliegenden Rechtssache wird das Vorbringen Ungarns, dass der Beschluss 2021/3 als inexistent anzusehen sei, darauf gestützt, dass die Union nicht zuständig gewesen sei. Ungarn macht geltend, der Beschluss 2021/3 hätte auf Art. 216 Abs. 1 AEUV oder auf eine andere Rechtsgrundlage Bezug nehmen müssen.

114. Hinzuweisen ist darauf, dass der Beschluss 2021/3 „auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 83 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 218 Absatz 9“, Bezug nimmt. Die Wahl der geeigneten Rechtsgrundlage hat verfassungsrechtliche Bedeutung, da die Union, die nur über begrenzte Ermächtigungen verfügt, die Rechtsakte, die sie erlässt, mit einer Bestimmung des AEU-Vertrags verknüpfen muss, die sie tatsächlich hierzu ermächtigt(104). Darüber hinaus ist die Angabe der Rechtsgrundlage im Hinblick auf die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV erforderlich(105).

115. In der vorliegenden Rechtssache handelt es sich bei dem in Rede stehenden Rechtsakt um einen Beschluss, der vom Rat ausdrücklich unter Verweis auf Art. 83 Abs. 1 AEUV und Art. 218 Abs. 9 AEUV als Rechtsgrundlagen erlassen wurde. Daher kann meines Erachtens nicht geltend gemacht werden, dass die Betroffenen und der Gerichtshof über die genaue Rechtsgrundlage im Unklaren gelassen worden wären(106). Daraus folgt, dass die Rechtsgrundlage eindeutig ermittelt werden kann.

116. Jedenfalls dürfte es sich bei der zwischen Art. 216 Abs. 1 und Art. 218 Abs. 9 AEUV getroffenen Wahl nicht um eine der vom Gerichtshof benannten außergewöhnlichen Fallgestaltungen handeln, in denen Bestimmungen mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet sind, so dass sie als inexistent angesehen werden könnten. Vielmehr können, wie vom Gerichtshof im Urteil Kommission/Tschechische Republik entschieden, Verfahrensfehler die Existenz der Entscheidung als solche nicht in Frage stellen(107).

117. Wie vom Gerichtshof im Urteil Deutschland/Rat festgestellt, zählt Art. 216 Abs. 1 AEUV zwar die verschiedenen Fälle auf, in denen die Union zum Abschluss einer internationalen Übereinkunft befugt ist, im Unterschied zu Art. 352 AEUV enthält er hierfür jedoch keine Form- oder Verfahrensvorschriften(108). Die Form der Handlung und das zu befolgende Verfahren sind daher anhand anderer Vorschriften der Verträge zu bestimmen. Dies ist in der Tat die Rolle, die Art. 218 Abs. 9 AEUV zukommt, der im vorliegenden Verfahren als die verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss angegeben wird, nach dem sich somit das für den Erlass des Beschlusses zu befolgende Verfahren bestimmt(109).

118. Aufgrund dieser Feststellung komme ich zu der Ansicht, dass das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 216 Abs. 1 AEUV nicht zu Unklarheiten hinsichtlich der Natur und rechtlichen Tragweite dieses Beschlusses oder des für seinen Erlass zu befolgenden Verfahrens führt und folglich die Existenz dieses Beschlusses als solchem nicht in Frage stellen kann.

2.      Verstoß gegen den Beschluss 2021/3 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV

119. Die Kommission wirft Ungarn vor, dadurch, dass es auf der 63. Tagung der Suchtstoffkommission in Bezug auf die Änderung der Einträge von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen in den Listen entgegen dem von der Union im Beschluss 2021/3 festgelegten Standpunkt abgestimmt habe, gegen seine Verpflichtungen aus diesem Beschluss in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV verstoßen zu haben. Der Umstand, dass Ungarn im Rat entgegen diesem Beschluss abgestimmt habe, ändere nichts an der Verbindlichkeit dieses Beschlusses im Sinne von Art. 288 Abs. 4 AEUV. Auch der Umstand, dass Ungarn wesentliche Einwände gegen den Inhalt der Empfehlungen der WHO gehabt habe, ändere nichts an der Verbindlichkeit des Beschlusses 2021/3.

120. Von Ungarn wird der Verstoß gegen den Beschluss 2021/3 in der vorliegenden Rechtssache in seiner Klagebeantwortung und in der mündlichen Verhandlung offenbar implizit eingeräumt. Die Klagebeantwortung dieses Mitgliedstaats stützt sich vielmehr auf die Rechtswidrigkeit dieses Beschlusses nach Art. 277 AEUV.

121. Wie oben ausgeführt, gilt für den Beschluss 2021/3 eine Vermutung der Rechtmäßigkeit, so dass er Rechtswirkungen entfaltet, solange er nicht zurückgenommen, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärt oder infolge eines Vorabentscheidungsersuchens oder einer Einrede der Rechtswidrigkeit für ungültig erklärt wurde(110). Solange er nicht durch eine Entscheidung des Gerichtshofs ausgesetzt worden ist, sind die Mitgliedstaaten zu seiner Durchführung verpflichtet(111).

122. Da der Beschluss 2021/3 meines Erachtens rechtmäßig gemäß den Verträgen erlassen und an die Mitgliedstaaten gerichtet wurde, ist er für seine Adressaten, d. h. für die Mitgliedstaaten, in allen seinen Teilen verbindlich(112), soweit er für die Mitgliedstaaten den Standpunkt der Union auf der 63. Tagung der Suchtstoffkommission festlegt und sie verpflichtet, diesen Standpunkt zu vertreten(113).

123. Insbesondere ändert der Umstand, dass Ungarn entgegen diesem Beschluss abgestimmt hat, weder etwas an der Verbindlichkeit des Beschlusses 2021/3 noch an den sich aus ihm für die Mitgliedstaaten ergebenden Verpflichtungen. Einseitige nationale Erwägungen in Bezug auf Möglichkeiten bei der Abstimmung über den Beschluss oder eine politische Botschaft, die er vermitteln könnte, die Tragweite anzunehmender Empfehlungen oder ihre Begründung ändern an der Verbindlichkeit dieses Beschlusses nichts. Ungarn war als Adressat des Beschlusses 2021/3 und stimmberechtigtes Mitglied der Suchtstoffkommission verpflichtet, diesen Beschluss zu beachten und durchzuführen(114).

124. Außerdem kann die Nichtbeachtung des Beschlusses 2021/3 die Einheitlichkeit und Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union in Frage stellen und u. a. den Wert der Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigen, auf den sich die Union gemäß Art. 2 EUV gründet(115).

125. Daher ist die erste Rüge meines Erachtens begründet.

D.      Dritte Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV

1.      Vorbringen der Parteien

126. Die Kommission macht geltend, Ungarn habe dadurch, dass es ohne Vorankündigung und Konsultation entgegen dem Beschluss 2021/3 abgestimmt und öffentlich einen Einwand gegen die Empfehlungen der WHO geäußert habe, gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen.

127. In Bereichen, die in die ausschließliche Außenkompetenz der Union fielen, komme der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen besondere Bedeutung zu. Hierdurch würden dem Handeln der Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene bestimmte Verpflichtungen und Grenzen auferlegt, die sich aus dem Erfordernis ergäben, beim internationalen Auftreten der Gemeinschaft Geschlossenheit zu demonstrieren(116). Der auf der Grundlage von Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassene Beschluss und seine Beachtung durch die Mitgliedstaaten stellten eine besondere Ausprägung der Notwendigkeit einer einheitlichen Vertretung der Union dar, die Ungarn hätte beachten müssen(117). Jedenfalls sei die Möglichkeit einer Geltendmachung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit nicht auf den Fall eines Verstoßes gegen die ausschließliche Außenkompetenz der Union beschränkt. Dieser Grundsatz sei allgemein anwendbar, unabhängig davon, ob die Union eine ausschließliche Zuständigkeit habe(118).

128. Das Handeln Ungarns wiege durch den Umstand schwerer, dass seine Abstimmung entgegen dem im Namen der Union zu vertretenden gemeinsamen Standpunkt in der Suchtstoffkommission ohne vorherige Konsultation der Unionsorgane erfolgt sei. Außerdem habe Ungarn weder auf der Tagung der Suchtstoffkommission noch im Anschluss daran Schritte unternommen, um die Folgen seines Verhaltens zu beheben oder zumindest zu mildern und Zweifel in Bezug auf sein künftiges Handeln auszuräumen.

129. Ungarn habe dadurch, dass es in einer mit dem Beschluss 2021/3 unvereinbaren Weise abgestimmt und sich nach der Abstimmung öffentlich vom Standpunkt der Union distanziert habe, die Einheitlichkeit des internationalen Handelns der Union und damit dessen Wirksamkeit, Glaubwürdigkeit und Ansehen beeinträchtigt. Ein solches Handeln könne auch die Verhandlungsposition der Union innerhalb der Vereinten Nationen in damit zusammenhängenden Fragen schwächen.

130. Nach Ansicht Ungarns kann es, wenn die in Rede stehenden Änderungen nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, so dass der Beschluss 2021/3 rechtswidrig ist, nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht zu dem in diesem Beschluss festgelegten Abstimmungsverhalten verpflichtet sein. Vielmehr stehe es Ungarn frei, seine Ansichten so zu äußern, wie es dies für richtig halte; wenn es öffentlich einen Standpunkt zu einer in seine Zuständigkeit als Mitgliedstaat fallenden Frage vertrete, würden hierdurch im Rahmen der geteilten Zuständigkeit die Interessen der Union nicht notwendigerweise beeinträchtigt.

131. Außerdem seien das Vertragsverletzungsverfahren und dessen etwaiger Ausgang mit einer Feststellung zu seinen Lasten nicht geeignet, die angebliche Vertragsverletzung abzustellen. Ungarn könne den Verstoß nicht beheben, selbst wenn es im Rahmen dieses Verfahrens hierzu verurteilt würde.

132. Es sei für die vorliegende Situation nicht allein verantwortlich. Obwohl die WHO ihre Empfehlungen bereits im Januar 2019 vorgelegt habe, habe die Kommission erst am 16. Oktober 2020 einen diesbezüglichen Vorschlag angenommen, und der Rat habe am 23. November 2020 über diesen Vorschlag abgestimmt. Die Tagung der Suchtstoffkommission und die Abstimmung über die Empfehlungen der WHO hätten am 2. Dezember 2020 stattgefunden, so dass zwischen der Annahme des Beschlusses 2021/3 und der Abstimmung nur wenige Tage gelegen hätten.

133. Selbst wenn Ungarn die Gültigkeit des Beschlusses 2021/3 innerhalb der Frist nach Art. 263 AEUV hätte anfechten wollen, hätte es hierzu keine Gelegenheit gehabt, da die Abstimmung sogar noch vor Ablauf der ihm zur Verfügung stehenden Zweimonatsfrist stattgefunden habe. Mit den wenigen Tagen, die zwischen dem Erlass dieses Beschlusses und der Abstimmung über die Änderungen gelegen hätten, habe nicht hinreichend Zeit für die Erhebung einer Klage, die Stellung eines Antrags auf einstweilige Anordnungen und für eine Entscheidung des Gerichtshofs hierüber zur Verfügung gestanden. Demnach wäre eine etwaige Klage gegen diesen Beschluss tatsächlich gegenstandslos gewesen, und eine Feststellung der Ungültigkeit des Beschlusses hätte an der Situation nichts geändert.

134. Ungarn hält für unklar, welche Möglichkeiten einem Mitgliedstaat offenständen, wenn, ungeachtet des Standpunkts dieses Mitgliedstaats über das gesamte Gesetzgebungsverfahren hinweg, von der Mehrheit der Mitgliedstaaten eine Entscheidung getroffen werde, die zu einem verbindlichen Rechtsakt führe, dessen Gültigkeit von diesem Mitgliedstaat nicht angefochten werden könne und der es zu einem seiner Ansicht nach nicht hinnehmbaren Verhalten innerhalb einer bestimmten internationalen Organisation zwinge.

135. Außerdem habe Ungarn aufgrund des vorstehend dargestellten engen Zeitplans seinen endgültigen Standpunkt zu den Empfehlungen erst unmittelbar vor der Tagung unter Berücksichtigung des Urteils vom 19. November 2020, B S und C A (Vermarktung von Cannabidiol [CBD]), festgelegt(119).

136. Schließlich hebt Ungarn die seinem ablehnenden Votum zugrunde liegenden gesundheits- und sozialpolitischen Erwägungen hervor. Mit seiner Ablehnung der Streichung der Begriffe „Extrakte und Tinkturen“ aus Anhang I habe es nicht die Strafen in Bezug auf Suchtstoffe auf Stoffe, die kein THC enthielten, erweitern, sondern sicherstellen wollen, dass Cannabisderivate, die kein THC enthielten, weiterhin von den Bestimmungen des Übereinkommens über Suchtstoffe erfasst würden, die im Rahmenbeschluss 2004/757 nicht enthalten seien.

137. Ungarn stelle, ebenso wie viele andere Mitgliedstaaten, Zubereitungen, die kein THC enthielten, nicht allein deshalb unter Strafe, weil sie aus der Cannabispflanze gewonnen würden. Der technische Standpunkt, der von Ungarn in den Beratungen über den Entwurf des Beschlusses des Rates zur Annahme des Gemeinsamen Standpunkts vertreten worden sei, habe darauf beruht, dass die Empfehlungen den Zugang zu Cannabiszubereitungen zu therapeutischen Zwecken nicht begünstigten, da dies jedenfalls nicht ihr Ziel sei. Ihr Zweck sei, die Erforschung im Bereich der Verwendung von Cannabis zu therapeutischen Zwecken zu erleichtern. Da diese Änderung jedoch keine unmittelbar anwendbaren Bestimmungen enthalte, sei sie nicht geeignet, dieses Ziel zu erreichen.

138. Entgegen dem Vorbringen der Kommission hätten die WHO und ihre Partnerorganisationen keine schlüssigen wissenschaftlichen Beweise dafür vorgelegt, dass Cannabis weniger gesundheitsschädlich sei als bisher angenommen. Vielmehr hätten Forschungsergebnisse gezeigt, dass Cannabiskonsum zu langfristigen psychiatrischen, neurologischen, Kreislauf- und Atemwegsproblemen führen könne. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht habe ähnliche langfristige Auswirkungen von CBD hervorgehoben. Ferner habe, wie auch von mehreren Staaten bei der themenbezogenen Erörterung in der Suchtstoffkommission angeführt, der THC‑Gehalt illegal vermarkteter Cannabispflanzen in jüngerer Zeit erheblich zugenommen.

139. Die WHO habe folglich keine konkreten Argumente, sei es aus gesundheitlicher, sozialer oder rechtlicher Sicht, für den praktischen Nutzen ihrer Empfehlungen angeführt. Die einzige, mit ihrer Annahme verbundene Wirkung hätte darin bestanden, der Öffentlichkeit die Botschaft zu vermitteln, dass die mit Cannabis für die Gesellschaft und für die öffentliche Gesundheit verbundenen Gefahren zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der beiden in Rede stehenden Übereinkommen zu hoch eingeschätzt worden seien und diese Übereinkommen daher im Hinblick auf die für Cannabis eingeführte Kontrolle zu streng seien.

140. Ferner wäre durch die Annahme der Empfehlung 5.4 die einheitliche Anwendung des Gesetzes verhindert und das Niveau der internationalen Suchtstoffkontrolle abgesenkt worden. Außer THC hätten noch viele andere Cannabispflanzenderivate psychotrope Wirkungen, und weitere könnten als Ausgangsstoffe verwendet werden. Würde diese Empfehlung angenommen, wäre es Sache jedes Vertragsstaats des Übereinkommens über Suchtstoffe, darüber zu entscheiden, ob mit dem Übereinkommen Stoffe, die kein THC oder nur Spuren von THC enthielten, als Cannabiszubereitungen eingestuft und die Bestimmungen über die Überwachung nach diesem Übereinkommen auf sie angewendet werden sollten.

141. In seiner Gegenerwiderung macht Ungarn geltend, dass in jedem Fall maßgeblich sei, dass es den Beschluss 2021/3 infolge des Verhaltens der Kommission nicht habe anfechten können, so dass die Frage zu stellen sei, wie es im Einklang mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit hätte handeln können.

142. Dieser Grundsatz sei im Licht des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auszulegen. Wenn das Verhalten eines Organs das Recht eines Mitgliedstaats auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletze, stelle sich die Frage, inwieweit diesem Mitgliedstaat das Erfordernis der loyalen Zusammenarbeit entgegengehalten werden könne.

143. Insoweit sei die vorliegende Rechtssache von der dem Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat, zugrunde liegenden Rechtssache zu unterscheiden(120). Gemeinsames Merkmal beider Rechtssachen sei, dass der betreffende Mitgliedstaat nicht genug Zeit zur Verfügung gehabt habe, um die streitigen Beschlüsse anzufechten oder einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung dieser Beschlüsse im Wege einer einstweiligen Anordnung zu stellen. Im Unterschied jedoch zu der jenem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache beständen in der vorliegenden Rechtssache die durch den Beschluss 2021/3 auf der Tagung der Suchtstoffkommission verursachten unumkehrbaren Wirkungen fort; durch diesen Umstand werde das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt.

2.      Würdigung

144. Aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt sich, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwei positive Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhaltet, nämlich zum einen, die Union „bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben“, zu achten und zu unterstützen, und zum anderen, alle erforderlichen Maßnahmen zur „Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe … ergeben“, zu ergreifen(121). Ferner besteht eine negative Verpflichtung, nämlich alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten(122).

145. Der Unionsgrundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der auf den deutschen Grundsatz der Bundestreue und den Grundsatz pacta sunt servanda(123) zurückgeht, ist als „Geschäftsgrundlage des gesamten europäischen Integrationsprojekts“ bezeichnet worden(124). Er dient der Notwendigkeit einer entsprechenden Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, die bedroht wäre, wenn innerhalb der Unionsrechtsordnung Illoyalität herrschen würde.

146. Insbesondere im Bereich der Außenbeziehungen kann der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu verschiedenen Fallgestaltungen führen. In seiner Anwendung auf die ausschließliche Zuständigkeit der Union bildet er die Grundlage für die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Unionsvorschriften durchzuführen(125). In seiner Anwendung auf die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten können sich aus ihm konkrete Verpflichtungen wie etwa zur Durchsetzung des Unionsrechts durch nationale Gerichte ergeben(126). Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit kann jedoch auch eine eigenständige Verpflichtung sein, deren Verletzung vom Gerichtshof geahndet wird(127).

147. Sollte der Gerichtshof daher in der vorliegenden Rechtssache entscheiden, dass die Abstimmung Ungarns entgegen dem Beschluss 2021/3 in der Sitzung der Suchtstoffkommission einen Verstoß gegen die ausschließliche Zuständigkeit der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV und den Beschluss 2021/3 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV darstellt, bedürfte dieses konkrete Verhalten meines Erachtens keiner Prüfung nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass über den behaupteten Verstoß gegen die Bestimmungen, in denen der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verankert ist, „nicht [entschieden zu werden] braucht“, wenn eine Beschränkung der Grundfreiheiten bereits festgestellt worden ist(128). In der vorliegenden Rechtssache würde der geltend gemachte Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 AEUV und den Beschluss 2021/3 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV automatisch einen Verstoß gegen die zweite positive Verpflichtung nach Art. 4 Abs. 3 EUV darstellen, nämlich die Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.

148. Der Vollständigkeit halber sind meines Erachtens jedoch die von der Kommission geltend gemachten Verstöße zu prüfen. Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Schweden(129) festgestellt, dass Schweden dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 10 EG (die Vorgängerbestimmung von Art. 4 Abs. 3 EUV) verstoßen hat, dass es einseitig eine Änderung des Stockholmer Übereinkommens über persistente organische Schadstoffe vorgeschlagen hatte. Auch wenn Schweden eine zwischen den Mitgliedstaaten und der Union geteilte Zuständigkeit ausübte, entschied der Gerichtshof, dass sich aus der Notwendigkeit einer einheitlichen völkerrechtlichen Vertretung der Union eine Pflicht zur Zusammenarbeit ergibt(130).

149. Der Gerichtshof betonte, dass für die Mitgliedstaaten besondere Handlungs‑ und Unterlassungspflichten bestehen, wenn die Union beschlossen hat, auf internationaler Ebene tätig zu werden, was den Ausgangspunkt eines abgestimmten Vorgehens der Union darstellt(131). Der Gerichtshof ging jedoch noch weiter und stellte fest, dass in dem Fall, dass die Kommission einen Vorschlag unterbreitet hat, der die Organe zur Aufnahme eines abgestimmten Vorgehens der Union auf internationaler Ebene ermächtigt, auch wenn dieser Vorschlag vom Rat noch nicht angenommen worden ist, für die Mitgliedstaaten besondere Handlungs‑ und Unterlassungspflichten sowie eine Verpflichtung zu enger Zusammenarbeit besteht, damit der Union die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtert wird(132). Diese Pflicht erleichtert der Union die Erfüllung ihrer Aufgaben und gewährleistet die Kohärenz und Einheitlichkeit ihres völkerrechtlichen Handelns und ihrer völkerrechtlichen Vertretung(133).

150. Die vorliegende Rechtssache weist gewisse Ähnlichkeiten mit der Rechtssache des Urteils Kommission/Schweden insoweit auf, als die Union durch den Erlass des Beschlusses 2021/3 auf der Grundlage von Art. 218 Abs. 9 AEUV bereits beschlossen hatte, auf internationaler Ebene tätig zu werden. Daraus lässt sich a fortiori ableiten, dass für die Mitgliedstaaten nicht nur eine Unterlassungspflicht besteht, sondern eine positive Pflicht zumindest zu einer engen Zusammenarbeit, um der Union die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern und somit die Kohärenz und Einheitlichkeit ihres Handelns und ihrer völkerrechtlichen Vertretung zu gewährleisten.

151. Die Kommission macht jedoch geltend, Ungarn habe auch durch konkretes eigenständiges Verhalten gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen. Erstens habe es einen Verstoß begangen, indem es nicht in Übereinstimmung mit dem Beschluss 2021/3 abgestimmt habe, und zwar ohne jegliche Vorankündigung oder notwendige vorherige Konsultation mit den Unionsorganen. Zweitens sei gegen diesen Grundsatz dadurch verstoßen worden, dass Ungarn öffentlich geäußert habe, dass es mit dem Standpunkt der Union nicht einverstanden sei. Drittens bestehe ein weiterer Verstoß darin, dass weder innerhalb der Suchtstoffkommission noch im Anschluss daran Schritte unternommen worden seien, um die Folgen seines Verhaltens zu beheben oder zumindest zu mildern.

152. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit allgemein anwendbar, unabhängig davon, ob es sich bei der betreffenden Zuständigkeit der Union um eine ausschließliche Zuständigkeit handelt(134). Im Blick zu behalten ist auch, dass er eine verstärkte Pflicht, nach Treu und Glauben zu handeln, beinhaltet, die den Mitgliedstaaten in ihren Beziehungen zueinander und zu den Organen der Union aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Union obliegt(135). Entsprechend findet der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sein „horizontales“ Gegenstück im Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens(136).

153. Nach Ansicht der Kommission kann sich ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV daraus ergeben, dass vor dem einseitigen Verhalten des Mitgliedstaats auf internationaler Ebene keine Vorankündigung oder vorherige Konsultation mit den Unionsorganen erfolgt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat Ungarn bestätigt, dass es vor der in Rede stehenden Abstimmung keine Schritte im Hinblick auf eine Vorankündigung gegenüber den Unionsorganen oder den anderen Mitgliedstaaten oder eine Konsultation mit diesen unternommen habe.

154. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Kommission/Irland festgestellt hat, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in seiner Anwendung auf gemischte Übereinkünfte eine enge Zusammenarbeit im Rahmen dieser Übereinkünfte beinhaltet, mit der eine Pflicht zur vorherigen Information und Konsultation einhergeht(137).

155. Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens zur Verwirklichung der Kohärenz und Einheitlichkeit des Handelns der Union und ihrer völkerrechtlichen Vertretung eine Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der verschiedenen Mitgliedstaaten und den Unionsorganen erforderlich(138). Ein Mitgliedstaat hat daher eine Verpflichtung, die Unionsorgane und anderen Mitgliedstaaten über die Fragen, in denen er nicht einverstanden ist, zu informieren oder ihnen gegenüber eine Vorankündigung vorzunehmen und sie zu konsultieren, bevor er weitere Schritte ergreift. Dies hat beispielsweise Griechenland im Kontext der Rechtssache Kommission/Griechenland(139) getan, soweit es sich auf Art. 4 Abs. 3 EUV berief und insoweit geltend machte, dass sein Vorschlag vor der Sitzung des Ausschusses für die Sicherheit im Seeverkehr hätte berücksichtigt werden müssen. Der Gerichtshof entschied, dass die Kommission, um ihrer Pflicht zur Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV nachzukommen, hätte versuchen können, den griechischen Vorschlag zu unterbreiten und eine Diskussion in Gang zu setzen. Allein deshalb, weil ein Vorschlag nationalen Charakter hat, darf die Kommission diese Diskussion nicht verhindern(140).

156. Wie im Grundsatzurteil Westzucker festgestellt, „entspricht [es] dem Begriff der [Union], dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der kollektiven Beratungsmechanismen … ihre Interessen geltend machen, während es Sache der Kommission ist, durch ihre Maßnahmen etwaige Interessenkonflikte … auszugleichen“(141). Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihre Differenzen innerhalb des institutionellen Rahmens der Union geltend zu machen.

157. Somit hat Ungarn meines Erachtens dadurch, dass es die Unionsorgane und anderen Mitgliedstaaten nicht darüber informiert oder ihnen vorher angekündigt hat, dass es nicht einverstanden ist, und sie nicht konsultiert hat, bevor es weitere Schritte ergriff, gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen.

158. Was den möglichen Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dadurch angeht, dass Ungarn öffentlich geäußert hat, dass es mit dem Standpunkt der Union nicht einverstanden sei, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Kommission/Deutschland festgestellt hat, dass Deutschland dadurch, dass es entgegen dem in einem bestimmten Beschluss des Rates festgelegten Standpunkt abgestimmt und diesem Standpunkt öffentlich widersprochen hatte, gegen seine Verpflichtungen aus diesem Beschluss sowie aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat(142). Es wurde festgestellt, dass durch das Verhalten Deutschlands die Wirksamkeit des völkerrechtlichen Handelns der Union sowie die Glaubwürdigkeit und Reputation der Union auf internationaler Ebene beeinträchtigt wurde(143).

159. In der vorliegenden Rechtssache ist unstreitig, dass Ungarn in einer mit dem Beschluss 2021/3 unvereinbaren Weise abgestimmt und sich nach der Abstimmung in der Sitzung der Suchtstoffkommission öffentlich vom Standpunkt der Union distanziert hat. Es kann daher die Ansicht vertreten werden, dass Ungarn damit den Grundsatz der einheitlichen völkerrechtlichen Vertretung der Union und ihrer Mitgliedstaaten missachtet hat. Ferner hat es die Kohärenz und Einheitlichkeit des Handelns der Union und ihrer völkerrechtlichen Vertretung gefährdet. Darüber hinaus hat es die Glaubwürdigkeit der Union auf internationaler Ebene beeinträchtigt. Daraus folgt, dass Ungarn damit gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen hat.

160. Nach Ansicht der Kommission soll Ungarn ferner dadurch, dass es keine Schritte unternommen habe, um die Folgen seines Verhaltens zu beheben oder zumindest zu mildern, gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen haben. Insoweit sind die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats(144).

161. Gleichwohl bezieht sich diese Rechtsprechung meines Erachtens auf Situationen, in denen die nationalen Behörden die Folgen ihres einseitigen Handelns beheben können(145). Insoweit hat der Mitgliedstaat nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Pflicht zur Zusammenarbeit dahin, die Folgen seines Verhaltens zu beheben, die im Fall ihrer Nichtbeachtung zu einem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV führen kann.

162. Im vorliegenden Verfahren konnte das einseitige Handeln Ungarns durch die Abstimmung entgegen dem im Beschluss 2021/3 festgelegten Standpunkt nach erfolgter Abstimmung in der Suchtstoffkommission nicht behoben werden, auch die Folgen für die Kohärenz und Einheitlichkeit des Handelns der Union und ihrer völkerrechtlichen Vertretung konnten nicht beseitigt werden. Unter diesen Umständen wäre es meines Erachtens sinnlos, den Behörden der Mitgliedstaaten eine Pflicht aufzuerlegen, in einer bestimmten Weise zu handeln. Ein Handeln ist erforderlich, wenn es die nachteiligen Auswirkungen auf die Rechtsordnung der Union tatsächlich beheben kann.

163. Somit führte in der vorliegenden Rechtssache die Tatsache, dass Ungarn nichts unternommen hat, um die Folgen seines Verhaltens zu beseitigen, allein deshalb, weil die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht durch ein Handeln des Mitgliedstaats nicht geändert, gemildert oder beseitigt werden können, nicht zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV.

164. Jedoch könnte der Umstand, dass Ungarn die Unumkehrbarkeit seines Handelns auf internationaler Ebene bekannt war, bei der Bestimmung der Tragweite des Verstoßes dieses Mitgliedstaats auch als erschwerender Umstand angesehen werden.

165. Was die geltend gemachte öffentliche Distanzierung von dem im Namen der Union angenommenen gemeinsamen Standpunkt angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in ihren Erklärungen nicht dargelegt hat, was sie mit dieser Distanzierung meint. In der Sachverhaltsdarstellung in der Klageschrift verweist die Kommission auf eine Erklärung Ungarns(146). Es obliegt jedoch der Kommission, das Verhalten zu spezifizieren, das den behaupteten Verstoß darstellen soll(147). In der vorliegenden Rechtssache lässt sich meines Erachtens der knappen Erwähnung der Distanzierung entnehmen, dass sie sich auf diese öffentliche Erklärung bezieht.

166. Was schließlich die von Ungarn geltend gemachte kurze Zeitspanne angeht, war diesem Mitgliedstaat, wie von der Kommission vorgetragen, der Standpunkt, der im Namen der Union vertreten werden sollte, bereits bekannt, bevor der Vorschlag der Kommission dem Rat vorgelegt wurde(148). Hätte Ungarn diesen Standpunkt tatsächlich anfechten wollen, hätte ihm daher die erforderliche Zeit zur Vorbereitung seiner Nichtigkeitsklage zur Verfügung gestanden. Wie oben ausgeführt, hätte der Beschluss 2021/3, selbst wenn Ungarn seine Rechtmäßigkeit angefochten hätte, jedenfalls Rechtswirkungen entfaltet, sofern nicht dieser Mitgliedstaat einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV gestellt hätte. Ungarn hatte in der Tat durchaus die Möglichkeit, einen entsprechenden Antrag zu stellen, und hätte die Rechtmäßigkeit des Beschlusses 2021/3 mit einer Nichtigkeitsklage anfechten können, entschied sich jedoch dafür, davon abzusehen(149).

167. Nach alledem ist die dritte Rüge der Kommission, mit der ein Verstoß gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit geltend gemacht wird, meines Erachtens begründet. Ungarn hat sowohl gegen seine positiven Verpflichtungen aus dieser Bestimmung als auch gegen die negative Verpflichtung, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten, verstoßen. Diese Verstöße ergeben sich daraus, dass vor dem einseitigen Handeln des Mitgliedstaats keine Vorankündigung gegenüber den Unionsorganen und keine Konsultation mit diesen erfolgt ist und dass von Ungarn öffentlich geäußert wurde, dass es mit dem Standpunkt der Union nicht einverstanden sei.

IV.    Kosten

168. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, Ungarn die Kosten aufzuerlegen, und Ungarn meines Erachtens unterlegen ist, schlage ich dem Gerichtshof vor, Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

V.      Ergebnis

169. Nach alledem sollte der Gerichtshof meines Erachtens

–        feststellen, dass Ungarn dadurch, dass es entgegen dem Standpunkt abgestimmt hat, der im Beschluss (EU) 2021/3 des Rates vom 23. November 2020 über den im Namen der Europäischen Union auf der neu anberaumten 63. Tagung der Suchtstoffkommission über die Aufnahme von Cannabis und Cannabis-verwandten Stoffen in die Anhänge des Einheits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe in der durch das Protokoll von 1972 geänderten Fassung und des Übereinkommens von 1971 über psychotrope Stoffe zu vertretenden Standpunkt festgelegt wurde, die ausschließliche Außenkompetenz der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV verletzt, gegen seine Verpflichtungen aus diesem Beschluss in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV verstoßen und gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen hat;

–        Ungarn die Kosten auferlegen.

























































































































































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