SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 5. September 2024(1 )
Rechtssache C ‑217/23 (Laghman) (i )
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl
gegen
A N
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs, Österreich)
„ Vorabentscheidungsersuchen – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für einen Anspruch auf internationalen Schutz oder subsidiären Schutz – Flüchtlingseigenschaft – Art. 2 Buchst. d – Verfolgungsgründe – Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich – Begriff der Zugehörigkeit zu einer ‚bestimmten sozialen Gruppe‘ – Begriff ‚deutlich abgegrenzte Identität‘ im Herkunftsland – Betrachtung einer Gruppe als andersartig von der sie umgebenden Gesellschaft – Beurteilungskriterien – Person, die internationalen Schutz beantragt und einer in ihrem Herkunftsland in eine Blutfehde verwickelten Familie angehört “
I. Einleitung
1. Kann eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat und einer in ihrem Herkunftsland in eine Blutfehde [Vendetta](2 ) verwickelten Familie angehört, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95/EU(3 ) als der Verfolgung ausgesetzt angesehen werden?
2. Die Antwort auf diese Frage drängt sich nicht von vornherein auf.
3. Sie erfordert die Unterscheidung zwischen schwerwiegenden Handlungen und Drohungen aufgrund einer Blutfehde, die in Einklang mit den von bestimmten traditionellen Gesellschaften anerkannten und akzeptierten Grundsätzen des Gewohnheitsrechts steht und der sich Familienangehörige von Generation zu Generation aufgrund von Verantwortlichkeiten, die von anderen Familienangehörigen als gegeben angesehen werden, verschreiben, und rein persönlichen Handlungen und Drohungen, die andere Motive verfolgen und von gewöhnlichen Kriminellen oder der Mafia ausgehen. Obwohl das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (HCR)(4 ) und die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA)(5 ) Empfehlungen zu diesem Thema herausgegeben haben, muss festgestellt werden, dass die nationalen Behörden unterschiedliche Ansätze verfolgen, wenn es um die Feststellung der Zugehörigkeit eines solchen Antragstellers zu einer bestimmten sozialen Gruppe geht(6 ).
4. Nach dem Unionsrecht erfordert ein Antrag auf internationalen Schutz, der auf der Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ beruht, nicht nur den Nachweis, dass die Mitglieder der Gruppe angeborene Merkmale oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die bedeutsam für ihre Identität oder ihr Gewissen ist, oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann (erste Voraussetzung für die Identifizierung in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95), sondern auch den Nachweis, dass die Gruppe „in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ (zweite Voraussetzung für die Identifizierung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie).
5. Der Gerichtshof hatte zwar bereits Gelegenheit, die Tragweite des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Bezug auf Homosexuelle und in jüngerer Zeit auf Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind oder sich mit Werten wie der Gleichstellung der Geschlechter identifizieren, zu klären(7 ); in der vorliegenden Rechtssache wird er jedoch ersucht, weitere Klarstellungen zur zweiten Voraussetzung für die Identifizierung zu treffen, die sich auf die soziale Betrachtung der Gruppe im Herkunftsland im besonderen Kontext einer Blutfehde bezieht.
6. In einem ersten Schritt meiner Argumentation werde ich zunächst erläutern, dass sich der Begriff der „sie umgebenden Gesellschaft“ in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 auf das menschliche und soziale Umfeld bezieht, in dem sich die betreffende Gruppe bewegt, so dass die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe nicht anhand der isolierten Betrachtung des Verfolgers, sondern anhand der kollektiven Betrachtung dieser Gesellschaft zu beurteilen ist. Sodann werde ich klarstellen, dass die zuständige nationale Behörde im Rahmen ihrer individualisierten Beurteilung berücksichtigen muss, welche Vorstellung oder welches Bild die umgebende Gesellschaft von der betreffenden Gruppe hat und inwieweit die damit verbundene Sichtweise oder Einschätzung sie vom Rest dieser Gesellschaft unterscheidet oder abgrenzt. Insoweit können Verhaltensweisen, Handlungen oder Maßnahmen, die aufgrund dieser Betrachtung ergriffen werden, relevante Anhaltspunkte dafür sein, dass die Gruppe als andersartig betrachtet wird.
7. In einem zweiten Schritt meiner Argumentation und nachdem ich die Blutfehde dem Rechtssystem und der Tradition, in die sich dieses Phänomen einfügt, zugeordnet habe, schlage ich dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland der Angehörige einer in diesem Land in eine Blutfehde verwickelten Familie als Mitglied einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne eines Verfolgungsgrundes, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, erachtet werden kann.
II. Unionsrecht
8. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht in Buchst. d vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
d) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, … und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.
9. Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:
a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;
b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;
c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;
…“
10. Art. 10 („Verfolgungsgründe“) Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:
…
d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
– die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
– die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.“
III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
11. A N, ein afghanischer Staatsangehöriger, der den Paschtunen zugehörig ist, stellte am 4. November 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Stützung dieses Antrags machte A N geltend, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland der Gefahr von Verfolgungen ausgesetzt wäre, weil seine Familie seit der Ermordung seines Vaters und seines Bruders wegen einer Landstreitigkeit zwischen diesen und den Cousins seines Vaters in eine Blutfehde verwickelt sei.
12. Während das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) diesen Antrag mit Bescheid vom 21. Juni 2017 ablehnte, gab das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) der dagegen erhobenen Klage statt und entschied mit Erkenntnis vom 26. Juli 2022, dass A N die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden solle. Das Gericht erkannte das Vorhandensein und die Schwere der Risiken, denen der Betroffene aufgrund seiner Familienzugehörigkeit bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt sei, sowie die Unfähigkeit der afghanischen Behörden an, ihn vor den sich durch diese Blutfehde ergebenden Risiken zu schützen. In Bezug auf die Schutzmöglichkeiten innerhalb des Landes stellte das Gericht außerdem fest, dass A N, selbst wenn er in anderen Teilen Afghanistans nicht bedroht sein sollte, Gefahr liefe, seine grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können.
13. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte gegen diese Entscheidung Revision zum Verwaltungsgerichtshof (Österreich), dem vorlegenden Gericht, ein. Es machte geltend, das genannte Erkenntnis beruhe zu Unrecht auf der Prämisse, dass eine Familie als „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angesehen werden könne, ohne dass festgestellt worden sei, ob eine solche Familie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werde.
14. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts geht es für die Lösung des Ausgangsverfahrens „zentral“ darum, „ob von Blutrache bedrohte Mitglieder einer Familie allein wegen der Zugehörigkeit zu jener Familie, von der ein Mitglied in eine Streitigkeit involviert ist [oder war] …, die Auslöser der Blutfehde ist, [im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95] als soziale Gruppe anzusehen sind“. Zu diesem Zweck ersucht es den Gerichtshof im Wesentlichen, den Inhalt und die Tragweite der zweiten Voraussetzung für die Identifizierung in Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich dieser Bestimmung zu klären, von der das Vorhandensein einer „bestimmten sozialen Gruppe“ abhängt.
15. Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass im vorliegenden Fall die Familie von A N von der sie umgebenden Gesellschaft aufgrund ihrer Verwicklung in eine Blutfehde als andersartig betrachtet werden könne, da diese Gesellschaft an der zumindest in einem wesentlichen Teil des afghanischen Staatsgebiets fest verankerten paschtunischen Tradition festhalte, bestimmte Familienstreitigkeiten im Wege der Blutfehde zu bereinigen.
16. Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 enthaltene Wendung „die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ so auszulegen, dass in dem betreffenden Land eine Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität nur dann hat, wenn sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, oder ist es erforderlich, das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ eigenständig und losgelöst von der Frage, ob die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, zu prüfen?
Falls nach der Antwort auf Frage 1 das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ eigenständig zu prüfen ist:
2. Nach welchen Kriterien ist das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zu prüfen?
Unabhängig von der Antwort auf die Fragen 1 und 2:
3. Ist bei der Beurteilung, ob eine Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Richtlinie 2011/95 „von der sie umgebenden Gesellschaft“ als andersartig betrachtet wird, auf die Sicht des Verfolgers oder der Gesellschaft als Ganzes oder eines wesentlichen Teiles der Gesellschaft eines Landes oder eines Teiles des Landes abzustellen?
4. Nach welchen Kriterien richtet sich die Beurteilung, ob im Sinn des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Richtlinie 2011/95 eine Gruppe als „andersartig“ betrachtet wird?
17. A N, die österreichische, die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
IV. Würdigung
18. Mit seinen Vorlagefragen, die ich zusammen prüfen werde, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Angehörige einer in seinem Herkunftsland in eine Blutfehde verwickelten Familie je nach den dort herrschenden Gegebenheiten als Mitglied einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne eines Verfolgungsgrundes, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, erachtet werden kann.
19. Zu diesem Zweck ersucht das Gericht den Gerichtshof, die Bedeutung und Tragweite der zweiten Voraussetzung für die Identifizierung der Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie zu präzisieren.
20. Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie der Ausdruck „Flüchtling“ u. a. einen Drittstaatsangehörigen bezeichnet, der sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
21. Der betreffende Staatsangehörige muss somit aufgrund von Umständen in seinem Herkunftsland und des Verhaltens der Verfolger die begründete Furcht vor Verfolgung seiner Person aus zumindest einem der fünf in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 genannten Gründe haben, zu denen die Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ in diesem Land gehört.
22. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Begriff in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie definiert und dabei einen Ansatz gewählt, der sich wesentlich von dem des HCR unterscheidet(8 ).
23. Erstens müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“, einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“.
24. Im vorliegenden Fall ist im Ausgangsverfahren unstreitig, dass diese Voraussetzung erfüllt ist. Denn die Angehörigen einer Familie teilen aufgrund ihres Verwandtschaftsverhältnisses, unabhängig davon, ob sich dieses Verhältnis beispielsweise aus Blutsbanden, Adoption oder Ehe ergibt, ein angeborenes Merkmal, das auch für die Identität, und/oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, wesentlich ist(9 ).
25. Es sei hinzugefügt, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Angehörigen derselben Familie ein zusätzliches gemeinsames Merkmal, wie z. B. ein anderes angeborenes Merkmal oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, wie z. B. eine besondere familiäre Situation, teilen können(10 ). In diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass die Angehörigen einer Familie, insbesondere die Männer und Jungen dieser Familie, aufgrund ihrer Abstammung einer Blutfehde ausgesetzt sind, weil diese in patrilinearer Linie von Generation zu Generation weitergegeben wird, Teil eines „gemeinsamen Hintergrund[es], der nicht verändert werden kann“.
26. Angesichts dessen erfüllen die Angehörigen einer im Herkunftsland in eine Blutfehde verwickelten Familie, insbesondere deren Männer und Jungen, ohne Weiteres die erste Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95.
27. Zweitens muss diese Gruppe in dem betreffenden Land ihre „deutlich abgegrenzte Identität“ haben, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
28. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe eine Voraussetzung darstellt, die getrennt und autonom von der Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft zu beurteilen ist. Es hebt hervor, der Verwendung des Ausdrucks „da“ in der deutschen Sprachfassung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 könne eine andere Bedeutung zukommen als eine bloße Kausalität(11 ). Gegebenenfalls ersucht es den Gerichtshof mit seiner zweiten Frage um Klarstellung, anhand welcher Gesichtspunkte dann die „deutlich abgegrenzte Identität“ einer Gruppe zu beurteilen sei.
29. Die Zweifel dieses Gerichts lassen sich nach meinem Dafürhalten leicht ausräumen.
30. Denn zum einen geht aus dem Wortlaut der verschiedenen Sprachfassungen der in Rede stehenden Bestimmung, wie etwa der der englischen („because“), der französischen („parce que“) oder auch der italienischen („perché“), hervor, dass der Unionsgesetzgeber sehr wohl einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Begriff „deutlich abgegrenzte Identität“ und dem der „sie umgebenden Gesellschaft“ zum Ausdruck bringen wollte. Die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe „in dem betreffenden Land“ ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Gruppe „von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
31. Zum anderen folgt aus der Systematik von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigte, die „individuelle Identität“ des Mitglieds der betreffenden Gruppe, die insbesondere die physischen, kulturellen oder religiösen Merkmale erfasst, die es mit allen Mitgliedern dieser Gruppe gemein hat, im ersten Gedankenstrich dieser Bestimmung und die „kollektive Identität“ oder „soziale Identität“ der Gruppe, die die Art und Weise erfasst, wie diese Gruppe von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft betrachtet wird, im zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung auseinanderzuhalten. Zu meinen, die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe in dem betreffenden Land unterscheide sich von der Betrachtung durch die sie umgebende Gesellschaft, würde daher die Unterscheidung verkennen, die der Gesetzgeber zwischen den individuellen und den sozialen Elementen der Identität der Mitglieder der betreffenden Gruppe treffen wollte.
32. Angesichts dessen stellt die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 genannte „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe folglich eine Voraussetzung dar, die nicht getrennt und autonom von der Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft, sondern im Zusammenhang mit dieser zu beurteilen ist(12 ).
33. Deshalb braucht die zweite Vorlagefrage nicht beantwortet zu werden.
34. Nunmehr sind die dritte und die vierte Vorlagefrage zu prüfen, mit denen das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung ersucht, wie zu beurteilen ist, ob eine Gruppe „von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.
35. Was erstens den Begriff der „sie umgebenden Gesellschaft“ betrifft, bildet dieser den Bezugsrahmen für die Feststellung des Vorliegens einer „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ der Gruppe. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 bezieht sich eindeutig auf einen kollektiven Raum, d. h. auf das menschliche und soziale Umfeld, in dem sich die Mitglieder dieser Gruppe bewegen. Folglich ist die Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft eine kollektive Betrachtung, und ich teile bei der Antwort auf die Vorlagefrage die Auffassung der österreichischen Regierung in ihren Erklärungen, dass sie nicht mit der isolierten Betrachtung des Verfolgers im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie oder auch nur mit der Perspektive des unmittelbaren Umfelds des Betroffenen verwechselt werden darf.
36. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Präzisierung der geografischen Dimension dieser „Gesellschaft“; indessen präzisiert der Unionsgesetzgeber sie ausdrücklich dadurch, dass er auf die „sie umgebende“ Gesellschaft abstellt. Die fragliche Gesellschaft entspricht somit dem Umfeld, in dem sich die Mitglieder der betreffenden Gruppe bewegen. Dieses Umfeld besteht aus Strukturen und umfasst besondere moralische, kulturelle, soziale, wirtschaftliche, politische, religiöse und rechtliche Normen, deren Funktionsweise für die Zwecke der individuellen Prüfung des Antrags verstanden werden muss. Ich halte eine weitere Präzisierung dieser geografischen Dimension nicht für erforderlich, es sei denn, man wollte ein Gebiet in Verkennung der soziopolitischen Organisation der genannten Gesellschaft und ihrer Realitäten, seien sie kultureller, ethnischer, sprachlicher oder religiöser Art, festlegen. Wie der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung anerkannt hat, ist es Sache der zuständigen nationalen Behörde, zu bestimmen, welche „umgebende Gesellschaft“ für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist, wobei diese Gesellschaft mit dem gesamten Herkunftsland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein kann, z. B. auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands(13 ). Somit wird eine soziale Gruppe, die in einem bestimmten Land als Gruppe mit einer „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 identifiziert wird, in anderen Ländern nicht zwangsläufig als „soziale Gruppe“ angesehen werden.
37. Zweitens setzt die Anerkennung einer „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ der Gruppe im Herkunftsland des Antragstellers voraus, dass diese Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als „andersartig betrachtet“ wird.
38. Zunächst weise ich darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber auf das Konzept der „sozialen Wahrnehmung“ rekurriert, das sich von dem des „sozialen Verhaltens“ unterscheidet. Denn „Wahrnehmung“ ist die Fähigkeit, die es einem Organismus ermöglicht, seine Handlungen zu steuern und sein Umfeld auf der Grundlage der von seinen Sinnen gelieferten Informationen zu erkennen(14 ). Der Begriff „soziale Wahrnehmung“ umfasst also nach seiner allgemeinen Bedeutung den geistigen Prozess, mit dem Individuen ihre Eindrücke einordnen und interpretieren, um ihrem Umfeld einen Sinn zu geben, und zwar unabhängig von den Handlungen, die diese Individuen vornehmen können(15 ).
39. Der Begriff „Unterschied“(16 ) wird seinerseits definiert als „das Merkmal (ein Unterschied) oder [eine] Gesamtheit von Merkmalen (Unterschiedlichkeit), das bzw. die eine Sache von einer anderen, ein Lebewesen von einem anderen unterscheidet“(17 ). „Unterschied“ steht daher der Ähnlichkeit mit etwas anderem entgegen. „Unterschied“ setzt eindeutig das Anderssein der Personen oder der Elemente voraus, zwischen denen er nachgewiesen oder festgestellt wird(18 ). Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 präzisiert den Unterschied weder seiner Art nach, weswegen der Unterschied in vielen Attributen der Mitglieder der betreffenden Gruppe seinen Ausdruck finden kann, noch die Bedeutung dieses Unterschieds, so dass der „Unterschied“, auf den der Unionsgesetzgeber abstellt, sich nicht notwendigerweise an einer Werteskala orientiert.
40. Ich leite daraus ab, dass im Kontext von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 die Voraussetzung der „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ einer Gruppe bedingt, dass die zuständige nationale Behörde im Rahmen der individuellen Prüfung des Antrags beurteilt, inwieweit die umgebende Gesellschaft eine Vorstellung oder ein Bild von der betreffenden Gruppe hat, mit dem eine Sichtweise oder Einschätzung verbunden ist, die diese Gruppe vom Rest der Gesellschaft abgrenzt oder unterscheidet.
41. Diese Beurteilung muss auf der Grundlage sämtlicher Informationen erfolgen, über die die zuständige Behörde gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verfügt. Die soziale Wahrnehmung ist subjektiv und hängt von zahlreichen Faktoren ab, die sich sowohl auf die Merkmale der betreffenden Gruppe beziehen (wie ihr Aussehen, ihre physischen Attribute, ihr Geschlecht, ihre soziale Herkunft oder ihre sozialen Rollen, ihr Verhalten, ihre Einstellungen, ihre Meinungen, ihre Fähigkeiten usw.) als auch auf die Normen, die in der Bezugsgesellschaft herrschen (seien es moralische, soziale oder rechtliche Normen oder auch kulturelle, wirtschaftliche, politische oder religiöse Normen), und davon, in welcher Kombination sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegen. Selbstverständlich können dieselben Eigenschaften oder Attribute je nach den Umständen und dem Umfeld, in dem sich die betreffende Gruppe von Personen bewegt, unterschiedliche Eindrücke hervorrufen(19 ).
42. Zwar verlangt der Unionsgesetzgeber für diese Beurteilung nicht den Nachweis, dass die Gruppe eine Behandlung erfährt, sondern nur, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, doch können alle Verhaltensweisen, Handlungen oder Maßnahmen, die aufgrund der sozialen Wahrnehmung der Gruppe ergriffen werden, nützliche Anhaltspunkte für den Nachweis der „deutlich abgegrenzte[n] Identität“ dieser Gruppe im Herkunftsland darstellen. In diese Richtung geht die Rechtsprechung des Gerichtshofs. Dieser ist nämlich der Ansicht, dass zwar „die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie [2011/95] festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können“(20 ), „[jedoch g]leichwohl … eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen [kann], wenn … zu beurteilen ist, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handelt“(21 ).
43. Da Gleichheit die Regel und Nichtdiskriminierung der Grundsatz ist, kann der Unterschied also zu einer Verletzung der Gleichheit und zur Annahme von Handlungen, Maßnahmen oder Praktiken führen, die die Gruppe diskriminieren. So hat der Gerichtshof entschieden, dass Frauen je nach den Umständen im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden können und ihnen in dieser Gesellschaft eine „deutlich abgegrenzte Identität“ zuerkannt werden kann, und zwar insbesondere aufgrund der in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen(22 ). Im Urteil vom 7. November 2013, X u. a.(23 ), hat der Gerichtshof außerdem befunden, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird(24 ). Ebenso können die zuständigen nationalen Behörden feststellen, dass eine betroffene Gruppe aufgrund von Stigmatisierungs- oder Ausgrenzungsmaßnahmen gegen ihre Mitglieder als andersartig betrachtet wird, z. B. Stigmatisierungsmaßnahmen gegen junge Frauen, die sich weigern, sich der Beschneidung in einer Gemeinschaft zu unterziehen, in der eine solche Praxis die Norm ist. Dagegen denke ich nicht, dass nachgewiesen werden müsste, dass die Mitglieder der betreffenden Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft ausgegrenzt oder geächtet werden, da der Begriff „Andersartigkeit“ nicht bedeutet, diese Gruppe der Gesellschaft, in der sie sich bewegt, gegenüberzustellen(25 ).
44. Im vorliegenden Fall äußert das vorlegende Gericht Zweifel an der Zugehörigkeit der Mitglieder einer mit einer Blutfehde bedrohten Familie zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Denn diese würden von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig betrachtet, weil zum einen nur der Verfolger – d. h. die „rachsüchtige“ Familie – sowie die Verwandten und Bekannten der Zielfamilie von der auf ihr lastenden Blutfehde wüssten und zum anderen es der in der Herkunftsregion des Betroffenen gepflegten Tradition des „Paschtunwali“ entspräche, Streitigkeiten durch die Blutfehde zu bereinigen. Mit anderen Worten: Die Blutfehde sei ein zentraler und verbreiteter Mechanismus der Streitbeilegung im traditionellen Rechtssystem des „Paschtunwali“.
45. Diese Argumente überzeugen mich nicht, denn nach dieser Betrachtungsweise liefe man Gefahr, die Anerkenntnis der Zugehörigkeit von Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu einer bestimmten sozialen Gruppe allein deshalb auszuschließen, weil der traditionelle Kodex oder die traditionelle Praxis, denen sie unterliegen, in ihrem Herkunftsland oder ihrer Herkunftsregion verbreitet sind(26 ).
46. Eine solche Beurteilung erfordert offenkundig eine individuelle Prüfung des Antrags eines bedrohten Familienangehörigen auf internationalen Schutz gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95(27 ).
47. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, die Blutfehde in das Rechtssystem und die Tradition einzuordnen, deren Teil sie ist, und sie von der gewöhnlichen Kriminalität oder der organisierten Kriminalität zu unterscheiden.
48. Die Vendetta, was „Entnahme (oder Rücknahme) des Blutes“ oder „Rache“ bedeutet, wird als ein jahrhundertealtes Phänomen definiert, das einem Gewohnheitsrecht unterliegt und von bestimmten traditionellen Gesellschaften als ein parallel zum geltenden Rechtssystem koexistierendes Recht anerkannt und zugestanden wird(28 ). So ist die Blutfehde integraler Bestandteil des Gewohnheitsrechts der in den ländlichen Gebieten Afghanistans lebenden Paschtunen („Paschtunwali“)(29 ), aber auch der Gesellschaften, die in den Bergregionen Nordalbaniens („Kanun“)(30 ) oder im Südosten der Türkei leben. In ihrem im Mai 2024 veröffentlichten Länderleitfaden zu Afghanistan unterscheidet die EUAA die Blutfehde von der einfachen Landstreitigkeit, in der sie ihren Ursprung haben kann(31 ). Die Blutfehde gebietet eine Art der Streitbeilegung im Rahmen einer kollektiven Aktion, bei der die Bestrafung für einen Totschlag oder eine Kränkung nicht der staatlichen Justiz, sondern der Familie, dem Clan, dem Stamm oder der ethnischen Gruppe des Verletzten obliegt(32 ). Die Blutfehde kann strengen Regeln folgen, da sie die betreffenden Verbrechen und die Kategorien der zu rächenden Opfer festlegen kann. Das Maß, mit dem sie die Rache durch die Begehung von Gewalttaten einfordert oder nicht, unterscheidet sich je nach den Kodizes, den Regionen oder den Stämmen, für die diese gelten, und nach dem Ursprung der Blutfehde. So ist nach dem „Paschtunwali“ der Vollzug von Rache nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht, eine soziale Verpflichtung, deren Nichterfüllung für denjenigen, der sich ihr entzieht, sie ablehnt oder außer Acht lässt, zu Schande oder sogar zu Angriffen auf die eigene Person führen kann. Das Recht auf Rache kann sich von Generation zu Generation übertragen(33 ). Traditionell erfasst es jeden Mann der Familie in väterlicher Linie, wobei sein Status und die Verantwortlichkeiten, die er innerhalb der Familie übernimmt, zu berücksichtigen sind(34 ). Insofern ist die Verfolgung eines Mannes und seines Sohnes von dessen früher Jugend an, weil der Sohn derselben Familie angehört wie sein Großvater väterlicherseits, aus meiner Sicht ebenso willkürlich wie eine Verfolgung aus Gründen der Rasse oder der Religion.
49. Schließlich kann eine Blutfehde aufgrund der ihr zugrunde liegenden gewohnheitsrechtlichen Grundsätze für die Zielfamilie eine freiwillige Isolation oder Abschottung bedeuten, deren Dauer und Schwere von Fall zu Fall unterschiedlich sind(35 ). In den schlimmsten Fällen können diese Maßnahmen zur Ausschulung der Jüngsten, vor allem der Jungen, sowie zum Entzug des Familieneinkommens führen(36 ), da jede Hilfe für die Familie als Beleidigung der anderen Familie mit dem Risiko, dadurch eine Blutfehde auszulösen, angesehen werden kann.
50. Folglich kann selbst in einer Gesellschaft, in der die Blutfehde noch ein verbreiteter Streitbeilegungsmechanismus ist, nicht ausgeschlossen werden, dass aufgrund der sozialen und moralischen Normen, auf denen diese Gesellschaft beruht, die Angehörigen einer in eine Blutfehde verwickelten Familie, insbesondere die männlichen Angehörigen, von dieser Gesellschaft als andersartig betrachtet werden können, weil sie entweder gezwungen sind, sich zu verbergen und von ebendieser Gesellschaft zu isolieren, um Rache zu entgehen, oder weil sie sich weigern, die Ehre und das Ansehen der Familie dadurch zu retten, dass sie ein Recht auf Rache ausüben, wozu sie gewohnheitsrechtlich verpflichtet sind. Einige nationale Behörden verfügen im Übrigen über Datenbanken, in denen die aktuellen Blutfehden und die beteiligten Familien verzeichnet sind, was die Sichtbarkeit dieser Gruppe in der Gesellschaft belegt(37 ). Außerdem haben einige Länder besondere Strafgesetze erlassen, wobei sie einen im Zusammenhang mit einer Blutfehde begangenen Totschlag als strafverschärfend anerkennen, und versuchen darüber hinaus, dieses Phänomen durch Präventionsmaßnahmen und die Einrichtung von Ausschüssen zur Versöhnung der zerstrittenen Familien einzudämmen.
51. Vorbehaltlich einer Prüfung der Tatsachen und Umstände des jeweiligen Einzelfalls sehe ich keinen Grund, weshalb eine zuständige nationale Behörde nicht der Auffassung sein könnte, dass insbesondere ein männlicher Angehöriger einer im Herkunftsland in eine Blutfehde verwickelten Familie zu einer Gruppe gehört, die in diesem Land aufgrund von Regeln, denen diese Gruppe nach einem Gewohnheitskodex unterworfen ist, eine „deutlich abgegrenzte Identität“ hat. Entgegen den Befürchtungen, die die Kommission in ihren Erklärungen äußert, glaube ich nicht, dass eine solche soziale Gruppe durch die Verfolgung, der das Familienmitglied in seinem Herkunftsland ausgesetzt wäre, identifiziert würde(38 ).
52. Diese soziale Gruppe würde nämlich dadurch identifiziert, dass auf sie ein durch Blutsbande gerechtfertigtes Gewohnheitsrecht Anwendung findet mit der Folge, dass die Mitglieder dieser Gruppe nicht nur besonderen Regeln unterworfen sind, die ihr Leben in der Gesellschaft bestimmen, sondern dass sie auch der Gefahr durch ernsthafte Bedrohungen ihrer Person ausgesetzt sind(39 ).
53. In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland der Angehörige einer in diesem Land in eine Blutfehde verwickelten Familie als Mitglied einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne eines Verfolgungsgrundes, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, erachtet werden kann.
54. Die Zuerkennung dieses Status erfordert ferner den Nachweis, dass die Handlungen, denen die Person in ihrem Herkunftsland ausgesetzt sein könnte, von nicht staatlichen Akteuren im Sinne von Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ausgehen, was bedeutet, dass die in Art. 7 der Richtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, darunter u. a. der Staat, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor diesen Handlungen zu bieten(40 ).
55. Darüber hinaus setzt die Zuerkennung dieses Status gemäß Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 6 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie und im Licht ihres 29. Erwägungsgrundes voraus, dass entweder eine Verbindung zwischen dem in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie genannten Verfolgungsgrund und den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie oder zwischen diesem Verfolgungsgrund und dem Fehlen von Schutz vor solchen Verfolgungshandlungen nicht staatlicher Akteure hergestellt wird(41 ).
56. Schließlich erfordert die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, dass kein Ausschlussgrund gegen den Betroffenen vorliegt.
V. Ergebnis
57. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich) wie folgt zu antworten:
Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass
– die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe eine Voraussetzung ist, die im Licht der Betrachtung durch die sie umgebende Gesellschaft zu prüfen ist.
– Die „sie umgebende Gesellschaft“ ist als das menschliche und soziale Umfeld zu verstehen, in dem sich diese Gruppe bewegt und das die zuständige nationale Behörde für die Zwecke ihrer individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz als maßgeblich erachtet. Die Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft bezieht sich nicht auf die isolierte Betrachtung des Verfolgers, sondern auf eine kollektive Betrachtung.
– Der Umstand, dass die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, ist anhand der Vorstellung oder des Bildes zu prüfen, das die Gesellschaft von der Gruppe hat, und kann mit einer Sichtweise oder Einschätzung verbunden sein, die die Gruppe vom Rest der Gesellschaft unterscheidet oder abgrenzt. Hierfür können Verhaltensweisen, Handlungen oder Maßnahmen, die aufgrund dieser Betrachtung ergriffen werden, relevante Anhaltspunkte sein.
– Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann der Angehörige einer in diesem Land in eine Blutfehde verwickelten Familie als Mitglied einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne eines Verfolgungsgrundes, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, erachtet werden.