C-215/24 – Fira

C-215/24 – Fira

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:420

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 5. Juni 2025(1)

Rechtssache C215/24 [Fira](i)

YX,

Beteiligter:

Ministério Público

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Judicial da Comarca do Porto – Juízo Local Criminal de Vila Nova de Gaia [Bezirksgericht Porto – Lokale Abteilung für Strafsachen von Vila Nova de Gaia, Portugal])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird – Europäischer Haftbefehl – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung durch die Justizbehörden nach dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsstaats “

I.      Einführung

1.        Im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Europäischen Union kann eine Person, die in einem Mitgliedstaat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die Strafe in einem anderen Mitgliedstaat verbüßen, insbesondere wenn dies der Resozialisierung des Betroffenen zugutekommt(2).

2.        Im vorliegenden Fall geht es um eine Person, die in Portugal wegen einer Straftat verurteilt wurde, nun aber ihren Wohnsitz in Spanien hat. Auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI(3) beschlossen die spanischen Behörden, die vom Tribunal Judicial da Comarca do Porto – Juízo Local Criminal de Vila Nova de Gaia (Bezirksgericht Porto – Lokale Abteilung für Strafsachen von Vila Nova de Gaia, Portugal) (im Folgenden: portugiesisches Gericht) verhängte Freiheitsstrafe anzuerkennen und zu vollstrecken.

3.        Der Juzgado Central de lo Penal n.o 1 de Madrid (Zentrales Strafgericht Nr. 1 Madrid, Spanien) (im Folgenden: spanisches Gericht) änderte jedoch die verhängte Strafe dahin ab, dass die Vollstreckung einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe für einen Zeitraum von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde.

4.        Das vorlegende portugiesische Gericht möchte wissen, ob eine solche Änderung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 zulässig ist.

5.        Uneinig sind sich die Beteiligten im Wesentlichen darüber, ob eine Entscheidung über die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung Teil der Vollstreckung eines Urteils sein kann, was der Ansicht der spanischen Regierung entspricht, oder ob sie die Art des Urteils verändert, was der Ansicht der portugiesischen Regierung und der Europäischen Kommission entspricht.

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

6.        Am 9. Oktober 2018 wurde YX aufgrund der von ihm begangenen Straftat der Steuerhinterziehung, die im Decreto‑Lei n.o 20‑A/90 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 20‑A/90) vom 15. Januar 1990 geregelt und nach diesem Decreto‑Lei strafbar ist, in Portugal zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Diese Strafe wurde durch eine Ersatzstrafe in Form einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen ersetzt(4).

7.        YX zahlte diese Geldstrafe jedoch nicht und legte auch keinen Nachweis dafür vor, dass er die Nichtzahlung der Geldstrafe nicht zu vertreten hatte. Aus diesem Grund hob das vorlegende Gericht gemäß dem Código Penal (portugiesisches Strafgesetzbuch)(5) die Ersatzstrafe auf und ordnete die Vollstreckung der ursprünglichen Freiheitsstrafe an(6).

8.        Diese Freiheitsstrafe konnte jedoch in Portugal nicht vollstreckt werden, da YX nicht ausfindig gemacht werden konnte, um den Haftbefehl in diesem Mitgliedstaat durchzusetzen. Daher wurde er im Hinblick auf die verhängte Strafe für flüchtig erklärt.

9.        Einige Jahre später wurde YX als in Spanien aufhältig ermittelt. Die zuständigen portugiesischen Behörden stellten somit am 22. Februar 2022 auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI(7) einen Europäischen Haftbefehl aus, mit dem sie um die Übergabe von YX zur Verbüßung der sechsmonatigen Freiheitsstrafe ersuchten.

10.      Art. 4 Abs. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht einen fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vor, wenn eine Person, um deren Übergabe ersucht wird, ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Vollstreckungsstaat hat und sie die Strafe in diesem Staat verbüßen möchte. Unter Berufung auf diesen Grund weigerten sich die spanischen Behörden, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken und verpflichteten sich, die durch das portugiesische Gericht verhängte Strafe anzuerkennen und in Spanien zu vollstrecken.

11.      Am 11. Oktober 2023 setzte das spanische Gericht nach Art. 80 des spanischen Código Penal (spanisches Strafgesetzbuch)(8) die gegen YX verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten für einen Zeitraum von zwei Jahren zur Bewährung aus und unterrichtete die portugiesischen Behörden über diese Entscheidung.

12.      Das Ministério Público (portugiesische Staatsanwaltschaft) war mit der Entscheidung des spanischen Gerichts über die Aussetzung zur Bewährung nicht einverstanden. Die portugiesische Staatsanwaltschaft befasste daher das Tribunal Judicial da Comarca do Porto – Juízo Local Criminal de Vila Nova de Gaia (Bezirksgericht Porto – Lokale Abteilung für Strafsachen von Vila Nova de Gaia, Portugal), das in dieser Rechtssache vorlegende Gericht, mit der Sache. Im Rahmen dieses Verfahrens beantragte die portugiesische Staatsanwaltschaft, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

13.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann das Gericht des Vollstreckungsstaats die Entscheidung des Gerichts des Ausstellungsstaats nicht ändern, indem es die Entscheidung des Gerichts, das die Verurteilung ausgesprochen hat, durch seine eigene Entscheidung ersetzt. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass das Akzeptieren einer solchen Änderung der Sanktion den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zuwiderlaufen würde. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts haben die spanischen Justizbehörden durch die Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ihre Bereitschaft kundgetan, die Vollstreckung der Sanktion in vollem Umfang zu übernehmen, wobei die Umwandlung der Freiheitsstrafe in eine alternative Maßnahme nicht möglich sei.

14.      Das vorlegende Gericht ist ferner der Auffassung, dass die spanischen Justizbehörden den Ausstellungsstaat stets im Voraus über die Möglichkeit der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung unterrichten sollten, um ihm eine Möglichkeit zur Reaktion zu eröffnen.

15.      Unter diesen Umständen hat das Tribunal Judicial da Comarca do Porto – Juízo Local Criminal de Vila Nova de Gaia (Bezirksgericht Porto – Lokale Abteilung für Strafsachen von Vila Nova de Gaia, Portugal) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kann der Vollstreckungsstaat, nachdem er die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Abs. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgrund des Wohnsitzes des Verurteilten verweigert und das Urteil anerkannt hat, im bereits laufenden Verfahren zur Vollstreckung des Urteils die vom Ausstellungsstaat in dessen Urteil verhängte Freiheitsstrafe ohne Bewährung aufgrund seiner Zuständigkeit als Vollstreckungsstaat und unter Anwendung seines innerstaatlichen Rechts zur Bewährung aussetzen?

2.      Kann die rechtskräftige Entscheidung der Justizbehörde des Ausstellungsstaats von der Justizbehörde des Vollstreckungsstaats außerhalb der in Art. 8 und Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen Fälle geändert werden?

3.      Ist Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass es dem Vollstreckungsstaat erlaubt ist, unter Anwendung der Voraussetzungen seines innerstaatlichen Rechts eine Aussetzung zur Bewährung der ohne Bewährung verhängten Freiheitsstrafe zu gewähren, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats dies nach dessen Recht nicht getan haben?

Falls die vorstehenden Fragen bejaht werden:

4.      Müssten die spanischen Justizbehörden (Vollstreckungsstaat) in Anbetracht der Art. 12 und 13 und von Art. 17 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 den Ausstellungsstaat nicht im Voraus über ihre Auffassung zur Möglichkeit der Aussetzung der gegen die betroffene Person verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung unterrichten?

16.      Die spanische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

17.      Am 19. März 2025 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der diese Verfahrensbeteiligten mündliche Ausführungen gemacht haben.

III. Würdigung

A.      Einleitung

18.      Ein Mitgliedstaat kann die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe nur dann verweigern, wenn er sich verpflichtet, die Sanktion so zu vollstrecken, wie sie vom Gericht des Ausstellungsstaats verhängt wurde.

19.      Kann der Vollstreckungsstaat die vom Gericht des Ausstellungsstaats verhängte Freiheitsstrafe aus irgendeinem Grund nicht vollstrecken, muss er den Europäischen Haftbefehl vollstrecken(9).

20.      Die einzigen Ausnahmen, die es dem Vollstreckungsstaat erlauben, von der vom Gericht des Ausstellungsstaats verhängten Sanktion abzuweichen, sind in Art. 8 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehen. Diese Ausnahmen gelten, wenn eine im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nach ihrer Dauer oder ihrer Art mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar ist. In einem solchen Fall muss die angepasste Sanktion die ursprüngliche Sanktion – so weit wie möglich – im Rahmen der nach dem Recht des Vollstreckungsstaats zulässigen Grenzen widerspiegeln(10).

21.      Daher werden der Schuldspruch und die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Sanktion im Ausstellungsstaat vorgenommen und können vom Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden(11).

22.      Aus diesem Grund hat der Gerichtshof im Urteil Ognyanovdie Auffassung vertreten, dass Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 eng auszulegen ist und dem Vollstreckungsstaat nur begrenzte Möglichkeiten lässt, die Art oder Dauer der vom Gericht des Ausstellungsstaats verhängten Sanktion zu ändern(12).

23.      Während die Verurteilung (d. h. der Schuldspruch und die Entscheidung über eine verhältnismäßige Sanktion) in die Zuständigkeit des Ausstellungsstaats fällt, ist die Vollstreckung der Sanktion gemäß Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 Sache des Vollstreckungsstaats.

24.      Daher wird der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wie er im Rahmenbeschluss 2008/909 zum Ausdruck kommt, auf zweierlei Weise angewandt: Der Vollstreckungsstaat muss grundsätzlich die Verurteilung durch die Gerichte des Ausstellungsstaats anerkennen, während der Ausstellungsstaat grundsätzlich die im Vollstreckungsstaat geltenden Vorschriften über die Vollstreckung von Sanktionen anerkennen muss.

25.      Das Problem in der vorliegenden Rechtssache besteht im Kern darin, dass eine Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung für das Königreich Spanien unter die Vollstreckung fällt, während eine Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung für die Portugiesische Republik, die insoweit von der Kommission unterstützt wird, in den Bereich der Verurteilung fällt.

26.      Die Antwort auf die – den Kern der ersten drei Vorlagefragen bildenden – Frage, ob die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Änderung oder eine Vollstreckung dieser Sanktion darstellt, hängt von der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/909 und insbesondere seiner Art. 8 und 17 ab. Ich werde daher diese drei Fragen zusammen in Abschnitt C der vorliegenden Schlussanträge prüfen.

27.      Wenn die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Änderung der Art der ursprünglichen Freiheitsstrafe darstellt, folgt daraus, dass Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 anwendbar ist und es den spanischen Vollstreckungsbehörden untersagt, die Freiheitsstrafe anzupassen, indem sie sie in eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe umwandeln. Wenn jedoch die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Modalität der Vollstreckung einer solchen Sanktion ist, wäre Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 nicht anwendbar. Vielmehr könnte der Vollstreckungsstaat entscheiden, eine Freiheitsstrafe im Rahmen ihrer Vollstreckung gemäß Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 zur Bewährung auszusetzen.

28.      Bevor ich diese Prüfung vornehme, möchte ich kurz auf die vom Königreich Spanien erhobene Einrede der Unzulässigkeit eingehen (B).

29.      Die vierte Frage ist nur im Fall der Bejahung der ersten drei Fragen zu beantworten. Da ich dem Gerichtshof vorschlagen werde, diese Fragen zu verneinen, erübrigt sich die Beantwortung der vierten Frage.

B.      Zulässigkeit

30.      Die spanische Regierung hat die Zulässigkeit der Vorlage gerügt. Es sei nicht ersichtlich, welche Art von Verfahren vor dem vorlegenden Gericht stattfinde und warum die Antworten des Gerichtshofs für das Ausgangsverfahren relevant seien.

31.      Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof Fragen in Vorabentscheidungsverfahren nur beantworten, wenn die Antwort für die Entscheidung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits sachdienlich ist(13).

32.      Gleichzeitig gilt nach ständiger Rechtsprechung für Fragen nationaler Gerichte zur Auslegung des Unionsrechts eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung solcher Fragen nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits steht(14).

33.      In dem durch den Rahmenbeschluss 2008/909 geregelten Verfahren müssen die Behörden des Ausstellungsstaats durch Ausstellung einer Bescheinigung zustimmen, dass die Freiheitsstrafe vom Vollstreckungsstaat vollstreckt wird(15). Eine solche Bescheinigung kann zurückgezogen werden, solange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde(16).

34.      Auch wenn das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall bedauerlicherweise in der Vorlageentscheidung nicht erläutert hat, was genau der Zweck des von der portugiesischen Staatsanwaltschaft bei ihm eingeleiteten Verfahrens ist, ist die Vermutung der Zulässigkeit somit nicht widerlegt. Die Antwort des Gerichtshofs könnte dem vorlegenden Gericht bei der Entscheidung helfen, ob die Bescheinigung ausgestellt oder zurückgezogen werden soll (falls sie bereits ausgestellt wurde)(17).

35.      Es ist daher nicht offensichtlich, dass die Beantwortung der Vorlagefragen für das vorlegende Gericht zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht erforderlich wäre. Ich schlage daher vor, dass der Gerichtshof die Vorlagefragen beantwortet.

C.      Die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung stellt eine Änderung dieser Strafe dar

36.      Ich bin der Ansicht, dass eine Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung die Art dieser Strafe verändert.

37.      Ich schließe mich daher insoweit dem Vorbringen der portugiesischen Regierung und der Kommission an, dass es sich bei der Freiheitsstrafe und der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe um zwei verschiedene Arten von Sanktionen handelt.

38.      Die Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ist also keine Frage der Vollstreckung, sondern stellt vielmehr eine Änderung einer solchen Sanktion dar. Sie fällt daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909. Vielmehr hindert Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 das Königreich Spanien an der Aussetzung der Vollstreckung einer von einem portugiesischen Gericht verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung.

39.      Ich werde meine Auffassung begründen, indem ich den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 sowie ihre Systematik und ihren Sinn und Zweck untersuche sowie gleichzeitig auf das Vorbringen der Beteiligten dieses Verfahrens eingehe.

1.      Auf Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 gestützte Argumente

40.      Der Streit über die „Art“ der Sanktion ergibt sich aus Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung muss der Vollstreckungsstaat die vom Gericht des Ausstellungsstaats verhängte Sanktion grundsätzlich anerkennen und vollstrecken. Nur wenn seine Rechtsordnung Freiheitsstrafen von bestimmter Dauer (Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909) oder bestimmter Art (Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909) nicht anerkennt, kann der Vollstreckungsstaat die Sanktion „anpassen“ (siehe Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge).

41.      Eine sechsmonatige Freiheitsstrafe ist im spanischen Strafrecht grundsätzlich anerkannt. Daher kann eine Aussetzung zur Bewährung, die die Art einer solchen Sanktion verändert, nicht gemäß Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 gerechtfertigt werden.

42.      Außerdem muss der Vollstreckungsstaat, wenn er eine – nach Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 mögliche – Anpassung der Strafe auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 für erforderlich hält, den Ausstellungsstaat so rasch wie möglich von seiner Entscheidung in Kenntnis setzen. Auf diese Weise kann der Ausstellungsstaat entscheiden, die Bescheinigung zurückzuziehen, wenn er mit diesen Anpassungen nicht einverstanden ist.

43.      Im vorliegenden Fall haben die spanischen Behörden den portugiesischen Behörden diese Informationen nicht gemäß Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2008/909 übermittelt, da sie nicht der Ansicht waren, dass sie die Art der anerkannten Sanktion im Sinne von Art. 8 des Rahmenbeschlusses geändert hätten. Dennoch haben sie den portugiesischen Behörden mitgeteilt, dass sie die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt hätten.

44.      Es kann nicht immer sauber zwischen einer Maßnahme, die eine Verurteilung darstellt, und einer Maßnahme betreffend die Vollstreckung oder Anwendung einer Strafe getrennt werden(18).

45.      Im vorliegenden Fall macht die spanische Regierung daher geltend, dass die Aussetzung zur Bewährung die „Art“ der Sanktion nicht verändert habe. Es handelt sich weiter um eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten, auch wenn ihre Vollstreckung für eine Bewährungszeit von zwei Jahren ausgesetzt wird.

46.      Meines Erachtens kann ein gewisser Hinweis dafür gefunden werden, ob sich die „Art“ einer Sanktion geändert hat, indem geprüft wird, ob der Charakter einer freiheitsentziehenden Sanktion geändert wurde. Insoweit macht es meines Erachtens einen Unterschied, ob der Freiheitsentzug unvermeidlich ist, wie bei einer Freiheitsstrafe, oder bedingt, wie bei einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe. Dieses Argument stützt die Auffassung der portugiesischen Regierung und der Kommission, dass die Freiheitsstrafe und die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe zwei Sanktionen unterschiedlicher Art seien.

47.      Im vorliegenden Fall scheint es, dass es das portugiesische Gericht, nachdem es YX für schuldig befunden hatte, für angemessen gehalten hat, dass er die Freiheitsstrafe verbüßt. Wäre es der Ansicht gewesen, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden sollte, hätte es eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe verhängen können(19). Die gegenseitige Anerkennung, auf der die Zusammenarbeit in Strafsachen beruht, erfordert, dass die Behörden des Vollstreckungsstaats die Entscheidung über den Schuldspruch und über die Angemessenheit der Sanktion, wie sie vom Gericht des Ausstellungsstaats getroffen wurde, akzeptiert.

48.      Daraus folgt, dass die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung durch das spanische Gericht die Art der vom portugiesischen Gericht verhängten Freiheitsstrafe, die keine Aussetzung zur Bewährung vorsah, verändert hat. Da das spanische Rechtssystem Freiheitsstrafen von sechs Monaten anerkennt, kann sich das Königreich Spanien als Vollstreckungsstaat weder auf Art. 8 Abs. 2 noch auf Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 berufen, um die Vollstreckung einer solchen Strafe zur Bewährung auszusetzen.

2.      Auf Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 gestützte Argumente

49.      Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 betrifft die Vollstreckung der Sanktion, auf die grundsätzlich das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar ist. In Art. 17 Abs. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 geht es um die Frage der bedingten Entlassung aus der Haft.

50.      Die spanische Regierung hat insoweit ausgeführt, dass die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung aus der Haft gleichkomme. In beiden Fällen werde die Freiheitsstrafe entweder gar nicht oder nur teilweise verbüßt. In beiden Fällen stehe die Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung oder die vorzeitige Beendigung einer Freiheitsstrafe in engem Zusammenhang mit der persönlichen Situation und dem Verhalten der verurteilten Person und könne als Beitrag zur besseren sozialen Wiedereingliederung dieser Person gesehen werden.

51.      Die vorzeitige oder bedingte Entlassung werde in Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 als Modalität der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe angesehen, und nach Ansicht der spanischen Regierung sollte dies aufgrund der Ähnlichkeiten auch für die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung gelten.

52.      Auch wenn das von der spanischen Regierung vorgebrachte Argument ein gewisses Gewicht hat, ist doch auch klar, dass sich Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 zwar auf die vorzeitige Entlassung, nicht aber auf die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung bezieht.

53.      Der Grund dafür, dass dieser Beschluss die Frage der vorzeitigen Entlassung aus der Haft regelt, liegt wahrscheinlich darin, dass der Gesetzgeber erhebliche Unterschiede zwischen den Vorschriften über die vorzeitige Entlassung in verschiedenen Mitgliedstaaten festgestellt hat. Gleichzeitig erfolgt die vorzeitige Entlassung notwendigerweise nach dem Beginn der Vollstreckung der Freiheitsstrafe und kann daher kaum als etwas anderes als eine Modalität der Strafvollstreckung verstanden werden. Um auf mögliche Probleme zu reagieren, die sich hieraus ergeben könnten, sieht Art. 17 Abs. 3 die Verpflichtung des Vollstreckungsstaats vor, den Ausstellungsstaat über seine Vorschriften zur vorzeitigen oder bedingten Entlassung zu unterrichten, und ermächtigt den Ausstellungsstaat, die Bescheinigung zurückzuziehen, wenn er der Politik des Vollstreckungsstaats hinsichtlich der vorzeitigen Entlassung nicht zustimmt(20). Eine Zurückziehung einer Bescheinigung ist nach Art. 13 des Rahmenbeschlusses 2008/909 nach Beginn der Vollstreckung im Vollstreckungsstaat nicht möglich. Es ist daher erforderlich, eine gesetzgeberische Lösung vorzusehen, die es dem Ausstellungsmitgliedstaat ermöglicht, die Politik der vorzeitigen Entlassung des Vollstreckungsmitgliedstaats abzulehnen, bevor die Vollstreckung im Vollstreckungsmitgliedstaat beginnt.

54.      Der Unionsgesetzgeber hat eine solche Möglichkeit für den Fall der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht vorgesehen.

55.      Meines Erachtens und entgegen dem Vorbringen der spanischen Regierung stellt die gesetzgeberische Entscheidung – in Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 – für den Umgang mit Problemen, die sich aus den Unterschieden der Bestimmungen zur vorzeitigen Entlassung, nicht aber der Bestimmungen hinsichtlich zur Bewährung ausgesetzter Freiheitsstrafen, ergeben, ein (Wortlaut‑)Argument dar, das dagegen spricht, dass die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Modalität der Vollstreckung dieser Strafe ist. Dies lässt eher den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht als eine Modalität der Vollstreckung dieser Strafe, sondern als eine andere Strafe verstanden hat.

56.      Diese Schlussfolgerung wird durch die breitere Systematik untermauert, in die der Rahmenbeschluss 2008/909 eingebettet ist.

3.      Auf die Systematik gestützte Argumente

57.      Im selben Jahr, in dem der Unionsgesetzgeber den Rahmenbeschluss 2008/909 erlassen hat, hat er auch den Rahmenbeschluss 2008/947/JI(21) erlassen, der für Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen gilt.

58.      Wie die Kommission vorgetragen hat, haben diese beiden Rahmenbeschlüsse unterschiedliche Anwendungsbereiche und schließen sich gegenseitig aus. Wenn die justizielle Zusammenarbeit die Anerkennung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe umfasst, finden sich die anwendbaren Regeln im Rahmenbeschluss 2008/909. Wenn die justizielle Zusammenarbeit die Anerkennung und Vollstreckung einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe betrifft, finden sich diese Vorschriften im Rahmenbeschluss 2008/947.

59.      Diese gesetzgeberische Lösung legt nahe, dass der Unionsgesetzgeber zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen und nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen als zwei verschiedene Arten strafrechtlicher Sanktionen behandelt.

60.      Im vorliegenden Fall haben sowohl die Behörden des Vollstreckungsstaats als auch die Behörden des Ausstellungsstaats auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909 gehandelt.

4.      Auf Sinn und Zweck des Rahmenbeschlusses 2008/909 gestützte Argumente

61.      Die Schlussfolgerung, dass eine Freiheitsstrafe vom Vollstreckungsstaat nicht in eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe umgewandelt werden darf, steht im Einklang mit Sinn und Zweck des Rahmenbeschlusses 2008/909.

62.      Eines der Ziele dieses Rechtsinstruments ist es, die gegenseitige Anerkennung von Sanktionen im Bereich des Strafrechts zu ermöglichen. Stimmt ein Mitgliedstaat auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung der Vollstreckung eines in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Urteils zu und beruft er sich nicht auf einen der Gründe, aus denen die Vollstreckung eines solchen Urteils abgelehnt werden kann, so sollte die Vollstreckung, wie die Kommission ausgeführt hat, schlichtweg eine Fortsetzung des Verfahrens sein, wie es im Ausstellungsstaat begonnen hat(22).

63.      Dem stimme ich zu. Die Tatsache, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt als dem, in dem die Sanktion verhängt wurde, sollte nichts an der Vollstreckung dieser Sanktion ändern, so wie ein Urteil nicht geändert würde, wenn es in einer anderen Region desselben Staates und in der Zuständigkeit eines anderen Gerichts als dem, das die Sanktion verhängt hat, vollstreckt würde. Auch wenn einige Regeln für die Vollstreckung anders lauten könnten, stellt die Vollstreckung eine bloße Fortsetzung der Verurteilung dar.

64.      Daher sollte der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wie er im Rahmenbeschluss 2008/909 verankert ist, in der Praxis dazu führen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Strafverfolgung einen Automatismus darstellt. Dies sollte die Verpflichtung des Vollstreckungsstaats umfassen, ein ausländisches Urteil zu vollstrecken, ohne zu prüfen, ob ein solches Urteil ergangen wäre, wenn das Verfahren nach dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsstaats durchgeführt worden wäre(23).

65.      Daher sollte die Prüfung der Frage durch den Vollstreckungsstaat, ob die im Anordnungsstaat verhängte Sanktion derjenigen entspricht, die für die Straftat im Vollstreckungsstaat verhängt worden wäre, als im Widerspruch zu den Zielen und dem Geist des Rahmenbeschlusses 2008/909 angesehen werden(24).

66.      Auch wenn die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung in Spanien, wie von der spanischen Regierung erläutert, in zwei Schritten möglich ist, nämlich i) die Verhängung einer Freiheitsstrafe und ii) deren Aussetzung zur Bewährung, so greift der zweite Schritt in die Prüfung der Schuld und die angemessene Verurteilung durch das Gericht des Ausstellungsstaats ein.

67.      Daher sollte der Vollstreckungsstaat nicht über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung entscheiden dürfen, wenn das Gericht des Ausstellungsstaats eine solche Sanktion nicht verhängt hat.

5.      Auf Rechtsprechung basierende Argumente

68.      Schließlich muss ich auf das in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragene und in der mündlichen Verhandlung bestätigte Vorbringen der spanischen Regierung eingehen, dass die Urteile Ardic(25) und Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung)(26) ihre Ansicht stützten, dass die Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Modalität der Vollstreckung dieser Strafe und nicht deren Abänderung darstelle.

69.      In diesen Urteilen hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Beschluss, die Aussetzung der Vollstreckung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe zu widerrufen, weder die Art noch das Maß der Freiheitsstrafen berührt, die mit den zuvor ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen des Betroffenen verhängt wurden(27).

70.      Die portugiesische Regierung und die Kommission sind der Ansicht, dass diese Rechtssachen für den vorliegenden Fall nicht relevant seien, da sie eine andere Frage beträfen. Dem kann ich mich nicht anschließen. Auch wenn der Gerichtshof in diesen Rechtssachen den in Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthaltenen Ausdruck „Verhandlung …, die zu [einer] Entscheidung geführt hat“, auslegen musste, ging es in diesen Rechtssachen um ein ähnliches Dilemma – nämlich um die Frage, ob der Widerruf der Strafaussetzung Teil der Verurteilung ist oder lediglich die Vollstreckung der bereits verhängten Sanktion darstellt. Daher bin ich der Ansicht, dass diese Rechtssachen für den vorliegenden Fall sehr wohl relevant sind.

71.      Dennoch bin ich, wie die Kommission, der Ansicht, dass eine Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung, wie im vorliegenden Fall, und der Widerruf der Strafaussetzung, wie in diesen Rechtssachen, ihrer Art nach unterschiedlich sind. Während die Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung Teil des Verurteilungsprozesses ist, in dem über die Schuld und die angemessene Sanktion entschieden werden muss, stellt der Widerruf der Strafaussetzung die Vollstreckung der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe dar, deren Bedingungen bereits in der Phase der Verurteilung festgelegt wurden.

72.      Der Umstand, dass der Gerichtshof den Widerruf der Aussetzung einer Freiheitsstrafe als Modalität der Strafvollstreckung betrachtet hat, steht daher nicht der Schlussfolgerung entgegen, dass die Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung vielmehr Teil der Verurteilung ist.

6.      Zwischenergebnis

73.      Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe und die nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe nach Unionsrecht zwei verschiedene Arten von Sanktionen darstellen. Daher kann der Vollstreckungsstaat die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nicht als Modalität der Vollstreckung einer Sanktion aussetzen, zu deren Anerkennung er sich verpflichtet hat. Eine solche Aussetzung stellt keine Frage der Vollstreckung nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dar. Vielmehr ändert sie die Art der Sanktion und ist grundsätzlich nach Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 untersagt.

74.      Wenn der Vollstreckungsstaat die Freiheitsstrafe nicht vollstrecken will, hat er in diesem besonderen Fall die Möglichkeit, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken und die verurteilte Person an den Ausstellungsstaat zu übergeben, damit sie die Sanktion in diesem Staat verbüßt.

75.      Der Vollstreckungsstaat kann jedoch, nachdem er die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Abs. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgrund des Wohnsitzes des Verurteilten verweigert und das Urteil anerkannt hat, die vom Ausstellungsstaat verhängte Freiheitsstrafe ohne Bewährung unter Anwendung seines innerstaatlichen Rechts nicht zur Bewährung aussetzen.

76.      Mit der Entscheidung, die vom portugiesischen Gericht im Hinblick auf die von YX begangene Steuerstraftat als verhältnismäßig festgesetzte Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, hat das spanische Gericht nicht die Vollstreckung der Sanktion eingeleitet, sondern diese entgegen Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 geändert. Da mit der Vollstreckung der Sanktion noch nicht begonnen wurde, können die portugiesischen Behörden noch entscheiden, die Bescheinigung zurückzuziehen.

IV.    Ergebnis

77.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Tribunal Judicial da Comarca do Porto – Juízo Local Criminal de Vila Nova de Gaia (Bezirksgericht Porto – Lokale Abteilung für Strafsachen von Vila Nova de Gaia, Portugal) wie folgt zu antworten:

1.      Die Art. 8 und 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union

sind folgendermaßen auszulegen:

–        Der Vollstreckungsstaat kann, nachdem er die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Abs. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund des Wohnsitzes des Verurteilten verweigert und das Urteil anerkannt hat, die vom Ausstellungsstaat in dessen Urteil verhängte Freiheitsstrafe ohne Bewährung unter Anwendung seines innerstaatlichen Rechts nicht zur Bewährung aussetzen.

–        Die rechtskräftige Entscheidung der Justizbehörde des Ausstellungsstaats kann von der Justizbehörde des Vollstreckungsstaats nur in den in Art. 8 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehenen Fällen geändert werden. In diesem Zusammenhang kann der Vollstreckungsstaat eine Sanktion nur dann durch eine andere Sanktion anderer Art ersetzen, wenn die Art der ursprünglich vom Gericht des Ausstellungsstaats verhängten Sanktion von der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats nicht anerkannt wird.

2.      Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909

ist dahin auszulegen, dass es dem Vollstreckungsstaat nicht erlaubt ist, unter Anwendung der Voraussetzungen seines innerstaatlichen Rechts eine Aussetzung zur Bewährung der ohne Bewährung verhängten Freiheitsstrafe zu gewähren, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats dies nach dessen Recht nicht getan haben.

3.      Angesichts der Antworten auf die vorstehenden Fragen ist die vierte Frage nicht zu beantworten.






























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