C-203/24 – Hakamp

C-203/24 – Hakamp

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:662

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

4. September 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Wanderarbeitnehmer – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 13 Abs. 1 – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 14 Abs. 8 und 10 – Arbeitnehmer, der gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt – Ausübung von weniger als 25 % der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat – Begriff ,wesentlicher Teil der Tätigkeit‘ – Mit der Arbeitszeit und/oder dem Arbeitsentgelt zusammenhängende Anknüpfungskriterien – Berücksichtigung sonstiger Umstände – Dauer des Beurteilungszeitraums – Beurteilungsspielraum der zuständigen Träger “

In der Rechtssache C‑203/24 [Hakamp](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 15. März 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 2024, in dem Verfahren

KN

gegen

Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Kumin, des Präsidenten der Ersten Kammer F. Biltgen (Berichterstatter) und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von KN, vertreten durch M. J. van Dam, Advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Benešová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und M. Guiresse als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, vertreten durch A. Entner-Koch und R. Schobel als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und F. van Schaik als Bevollmächtigte,

–        aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) sowie von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1) in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 987/2009).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen KN, einem Arbeitnehmer, und dem Raad van Bestuur van de Sociale Verzekeringsbank (Verwaltungsrat der Sozialversicherungsanstalt, Niederlande, im Folgenden: SVB) wegen der vorläufigen Festlegung der auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit auf KN anzuwendenden Rechtsvorschriften.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 883/2004

3        In den Erwägungsgründen 1, 3 und 45 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:

„(1)      Die Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit sind Teil des freien Personenverkehrs und sollten zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen beitragen.

(3)      Die Verordnung [(EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern,] ist mehrfach geändert und aktualisiert worden, um nicht nur den Entwicklungen auf Gemeinschaftsebene – einschließlich der Urteile des Gerichtshofes –, sondern auch den Änderungen der Rechtsvorschriften auf nationaler Ebene Rechnung zu tragen. Diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass die gemeinschaftlichen Koordinierungsregeln komplex und umfangreich geworden sind. Zur Erreichung des Ziels des freien Personenverkehrs ist es daher von wesentlicher Bedeutung, diese Vorschriften zu ersetzen und dabei gleichzeitig zu aktualisieren und zu vereinfachen.

(45)      Da das Ziel der beabsichtigten Maßnahme, nämlich Koordinierungsmaßnahmen zur Sicherstellung, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, …“

4        Art. 11 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

…“

5        Art. 13 („Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt:

a)      den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, oder

b)      wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

(i)      den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist, …

…“

 Verordnung Nr. 987/2009

6        Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:

„Die Verordnung … Nr. 883/2004 modernisiert die Regeln für die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit, legt dabei die Durchführungsmaßnahmen und ‑verfahren fest und achtet auf deren Vereinfachung, die allen Beteiligten zugutekommen soll. Hierfür müssen die Durchführungsbestimmungen erlassen werden.“

7        Art. 14 („Nähere Vorschriften zu den Artikeln 12 und 13 der [Verordnung Nr. 883/2004]“) Abs. 8 dieser Verordnung sieht vor:

„Bei der Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der [Verordnung Nr. 883/2004] bedeutet die Ausübung ‚eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit‘ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss.

Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden folgende Orientierungskriterien herangezogen:

a)      im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt und

b)      im Falle einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und/oder das Einkommen.

Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.“

8        Art. 14 Abs. 10 der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:

„Für die Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften nach den Absätzen 8 und 9 berücksichtigen die betroffenen Träger die für die folgenden 12 Kalendermonate angenommene Situation.“

9        Art. 16 („Verfahren bei der Anwendung von Artikel 13 der [Verordnung Nr. 883/2004]“) Abs. 1 bis 2 der Verordnung bestimmt:

„(1)      Eine Person, die in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten eine Tätigkeit ausübt, teilt dies dem von der zuständigen Behörde ihres Wohnmitgliedstaats bezeichneten Träger mit.

(2)      Der bezeichnete Träger des Wohnorts legt unter Berücksichtigung von Artikel 13 der [Verordnung Nr. 883/2004] und von Artikel 14 [der Verordnung Nr. 987/2009] unverzüglich fest, welchen Rechtsvorschriften die betreffende Person unterliegt. Diese erste Festlegung erfolgt vorläufig. Der Träger unterrichtet die bezeichneten Träger jedes Mitgliedstaats, in dem die Person eine Tätigkeit ausübt, über seine vorläufige Festlegung.“

 Beschlüsse des Gemeinsamen Ausschusses des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)

10      Anhang VI (Soziale Sicherheit) des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) umfasst gemäß dem am 1. Juni 2012 in Kraft getretenen Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 76/2011 vom 1. Juli 2011 zur Änderung von Anhang VI (Soziale Sicherheit) und von Protokoll 37 zum EWR-Abkommen (ABl. 2011, L 262, S. 33) die Verordnung Nr. 883/2004 und die Verordnung Nr. 987/2009 als „Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird“. Diese Verordnungen sind seit dem 1. Juni 2012 auf Liechtenstein anwendbar.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11      KN wohnte im Jahr 2016 in den Niederlanden. Vom 4. Februar bis zum 31. Dezember 2016 (im Folgenden: fraglicher Zeitraum) arbeitete er als Schiffer auf einem Binnenschiff (im Folgenden: Schiff), das in den Niederlanden eingetragen und dessen Eigentümer und Betreiber ein in den Niederlanden eingetragenes und ansässiges Schifffahrtsunternehmen war. KN übte seine Tätigkeiten in Belgien, Deutschland und den Niederlanden aus. Dem Logbuch zufolge fuhr das Schiff im Jahr 2016 zu rund 22 % seiner gesamten Fahrzeit in den Niederlanden. Während des fraglichen Zeitraums war KN im Personalregister eines in Liechtenstein ansässigen Arbeitgebers verzeichnet.

12      Weiter ergibt sich aus dem Logbuch, dass das Schiff bereits in den Jahren 2013 und 2014 jeweils zu 22 % bzw. zu 24 % der gesamten Fahrzeit in den Niederlanden gefahren war. Allerdings arbeitete KN damals weder für den in Liechtenstein ansässigen Arbeitgeber noch auf dem Schiff.

13      Mit Schreiben vom 25. Juli 2017 forderte der zuständige Träger des Fürstentums Liechtenstein gemäß Art. 6 der Verordnung Nr. 987/2009 die SVB zur vorläufigen Festlegung der auf KN im fraglichen Zeitraum anzuwendenden Rechtsvorschriften auf.

14      Mit Bescheid vom 8. November 2019 befand die SVB, dass auf den fraglichen Zeitraum die niederländischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien, und stellte eine Bescheinigung aus, wonach für diesen Zeitraum das niederländische System der sozialen Sicherheit Anwendung fand (A1‑Bescheinigung).

15      KN legte einen Rechtsbehelf ein, den die SVB durch Entscheidung vom 6. März 2020 mit der Begründung zurückwies, dass der Betroffene im fraglichen Zeitraum einen wesentlichen Teil seiner Beschäftigung in den Niederlanden ausgeübt habe. Zu diesem Ergebnis kam die SVB unter Berücksichtigung nicht nur der sich aus dem Logbuch ergebenden Fahrzeit des Schiffes, auf dem KN arbeitete, sondern auch des Umstands, dass er in den Niederlanden wohnte, das Schiff dort eingetragen war und sowohl der Eigentümer als auch der Betreiber des Schiffes dort ihren Sitz hatten.

16      Nachdem die Rechtbank Midden-Nederland (Bezirksgericht Mittelniederlande, Niederlande) seine gegen diese Entscheidung der SVB erhobene Klage abgewiesen hatte, legte KN Berufung beim Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande, im Folgenden: CRvB) ein und legte Unterlagen vor, aus denen seiner Auffassung nach hervorging, dass seine Arbeitszeit in den Niederlanden nur 18,5 % seiner Gesamtarbeitszeit im fraglichen Zeitraum betrug.

17      Mit Urteil vom 19. Mai 2022 wies der CRvB die Berufung zurück und stellte fest, dass auf den fraglichen Zeitraum in der Tat die niederländischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit anzuwenden seien. Bei einem Arbeitnehmer, der weniger als 25 % seiner Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausübe, könne dennoch davon ausgegangen werden, dass er einen wesentlichen Teil dieser Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat ausgeübt habe, wenn es genügend andere entsprechende Anzeichen gebe.

18      Die SVB habe hinreichend nachgewiesen, dass KN einen wesentlichen Teil seiner Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausgeübt habe. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass das Schiff, auf dem er gearbeitet habe, auch in den Jahren 2013 und 2014 jeweils zu 22 % bzw. zu 24 % seiner gesamten Fahrzeit in den Niederlanden gefahren sei, der Betroffene in den Niederlanden gewohnt habe, das Schiff dort eingetragen gewesen sei und sowohl der Eigentümer als auch der Betreiber des Schiffes dort ihren Sitz gehabt hätten.

19      KN hat gegen das Urteil des CRvB Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), dem vorlegenden Gericht, eingelegt. Er macht geltend, der CRvB habe durch die Berücksichtigung irrelevanter Umstände bei der Bestimmung des Ortes, an dem er den wesentlichen Teil seiner Beschäftigung ausgeübt habe, Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 falsch angewandt. Außerdem habe der CRvB zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass der Arbeitgeber in Liechtenstein ansässig sei und das Anbord- und Anlandgehen nicht in den Niederlanden, sondern in Belgien erfolgt sei.

20      In diesem Zusammenhang stellen sich dem vorlegenden Gericht mehrere Fragen.

21      Erstens möchte es wissen, welche Umstände relevant sein können, um davon auszugehen, dass Arbeitnehmer, die weniger als 25 % ihrer Arbeitszeit im Wohnmitgliedstaat leisten, dort gleichwohl einen wesentlichen Teil ihrer Beschäftigung ausüben.

22      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, aus der Tatsache, dass in der niederländischen Sprachfassung von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 die Ausdrücke „mede“ („auch“), „indicatieve criteria“  („Orientierungskriterien“) und „indicatie“ („Anzeichen“) verwendet würden, ergebe sich zweifelsfrei, dass in der Fallgestaltung, dass die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt im Wohnmitgliedstaat gemessen an der gesamten Tätigkeit des Arbeitnehmers in den verschiedenen Mitgliedstaaten weniger als 25 % ausmachten, im Rahmen der Gesamtbewertung der Situation des Arbeitnehmers sonstige Umstände berücksichtigt werden könnten.

23      Allerdings erwähne Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 nicht, um welche sonstigen relevanten Umstände es sich dabei handele; außerdem sei unklar, welche Bedeutung dem letzten Unterabsatz dieses Abs. 8 beizumessen sei, wonach es ein Anzeichen dafür sei, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht im Wohnmitgliedstaat ausgeübt werde, wenn bei den in diesem Unterabsatz genannten Anknüpfungskriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht werde.

24      Der Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 lasse die Annahme zu, dass der Begriff „wesentlicher Teil“ sich auf die Beschäftigung der betroffenen Person beziehen müsse. Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 stelle klar, dass es sich um einen Teil der Tätigkeit handeln müsse, der quantitativ erheblich sein müsse. Das vorlegende Gericht neigt daher zu der Annahme, dass die sonstigen Umstände einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausübung der Tätigkeit aufweisen, einen Hinweis auf den Ort der Ausübung der Tätigkeit beinhalten und Schlüsse in quantitativer Hinsicht bezüglich der Bedeutung zulassen müssen, die der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat im Vergleich zu der gesamten Tätigkeit der betroffenen Person beizumessen ist.

25      Zweitens gehören nach Auffassung des vorlegenden Gerichts der Ort, an dem das Schiff eingetragen ist, der Sitz des Eigentümers und der des Betreibers des Schiffes oder der Ort, an dem der Arbeitnehmer an Bord und/oder an Land geht, oder auch Angaben zu den Zeiten oder zum Ort, zu denen bzw. an dem das Schiff früher – als der Arbeitnehmer noch nicht für seinen liechtensteinischen Arbeitgeber tätig war – gefahren ist, nicht zu den zu berücksichtigenden Umständen. Auch der Wohnort des Arbeitnehmers könne nicht relevant sein, da Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 gerade dem Fall entspreche, dass der Arbeitnehmer einen Teil seiner Tätigkeiten im Wohnmitgliedstaat ausübe. Ebenso wenig weise der Sitz des Arbeitgebers einen Zusammenhang mit der Ausübung der Tätigkeiten in diesem Staat auf.

26      Was drittens den Zeitraum anbelangt, auf den abzustellen ist, um zu beurteilen, ob ein Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt, so möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dieser Zeitraum sich auf den von der A1‑Bescheinigung erfassten beschränken muss oder ob er länger sein und gegebenenfalls einem Kalenderjahr entsprechen kann. Art. 14 Abs. 10 der Verordnung Nr. 987/2009 sehe eine Berücksichtigung der für die folgenden zwölf Kalendermonate angenommenen Situation vor, ohne jedoch zu präzisieren, ab welchem Zeitpunkt – jeweils ab einem bestimmten Tag oder ab dem Ende eines bestimmten Zeitraums – diese Frist berechnet werde.

27      Die Verordnung Nr. 987/2009 enthalte keine Bestimmung über die Berücksichtigung eines früheren als des betreffenden Zeitraums. Gemäß dem Praktischen Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz, der von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ausgearbeitet und gebilligt und im Dezember 2013 veröffentlicht wurde (im Folgenden: Praktischer Leitfaden), könne auch der bisherige Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses ein zuverlässiger Maßstab für das zukünftige Verhalten des betroffenen Arbeitnehmers sein.

28      Viertens stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, welcher Beurteilungsspielraum dem zuständigen Träger im Rahmen der Ausstellung einer A1‑Bescheinigung zusteht, wenn er prüft, ob ein Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeiten im Wohnmitgliedstaat ausübt.

29      Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Welche Umstände oder Arten von Umständen sind für die Beurteilung der Frage gemäß Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 geeignet, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt, wenn feststeht, dass diese Person die Tätigkeit dort während 22 % ihrer Arbeitszeit ausübt? Ist dafür erforderlich, dass: i) ein Umstand einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausübung der Tätigkeit aufweist, ii) ein Umstand einen Hinweis auf den Ort der Ausübung der Tätigkeit beinhaltet und iii) aus dem Umstand Schlüsse in quantitativer Hinsicht bezüglich des Gewichts der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat im Vergleich zu der gesamten Tätigkeit der betreffenden Person gezogen werden können?

2.      Muss oder kann bei dieser Beurteilung angesichts der Antwort auf Frage 1 berücksichtigt werden: i) der Wohnort des Arbeitnehmers, ii) der Ort der Eintragung des Binnenschiffs, auf dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausübt, iii) der Sitz des Eigentümers und des Betreibers des Binnenschiffs, iv) der Ort, an dem das Schiff in anderen Zeiträumen gefahren ist, in denen der Arbeitnehmer darauf nicht gearbeitet hat und bei dem Arbeitgeber auch noch nicht beschäftigt war, v) der Sitz des Arbeitgebers und vi) der Ort, an dem der Arbeitnehmer an und von Bord des Schiffes geht?

3.      Über welchen Zeitraum ist zu beurteilen, ob ein Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt?

4.      Hat der zuständige Träger eines Mitgliedstaats bei der Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften einen von den Gerichten grundsätzlich zu beachtenden Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Wendung „wesentlicher Teil ihrer Tätigkeit“ in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 und, falls ja, in welchem Umfang?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

30      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass der zuständige Träger bei der Beurteilung, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, einen wesentlichen Teil davon im Wohnmitgliedstaat ausübt, Umstände berücksichtigen darf, bei denen es sich nicht um die in diesem Staat geleistete Arbeitszeit und/oder das dort erhaltene Arbeitsentgelt handelt.

31      Nach dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 bedeutet die Ausübung „eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit“ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss. Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden im Fall einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt herangezogen. Wird bei diesen Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird (Urteil vom 19. Mai 2022, INAIL und INPS, C‑33/21, EU:C:2022:402, Rn. 63).

32      Die Zweifel, die das vorlegende Gericht hegt, rühren daher, dass die niederländische Sprachfassung von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 im Zusammenhang mit der Nennung der Orientierungskriterien, die bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind, ob ein wesentlicher Teil der Beschäftigung der betroffenen Person in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, das Wort „mede“ („auch“) enthält. Das vorlegende Gericht schließt daraus, dass über die in dieser Bestimmung genannten Kriterien (Arbeitszeit und/oder Arbeitsentgelt) hinaus auch noch andere Kriterien berücksichtigt werden dürften.

33      Allerdings enthalten andere Sprachfassungen von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009, etwa die deutsche, die englische, die französische oder die lettische, das Wort „auch“ nicht.

34      Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen. Eine solche Vorgehensweise wäre mit dem Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts unvereinbar. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteile vom 25. März 2010, Helmut Müller, C‑451/08, EU:C:2010:168, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. März 2024, Cobult, C‑76/23, EU:C:2024:253, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Was den Kontext der Regelung betrifft, in den sich die in Rede stehende Bestimmung einfügt, ist bereits dem Titel der Verordnung Nr. 987/2009 zu entnehmen, dass mit dieser die Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 festgelegt werden sollen. Art. 14 der Verordnung Nr. 987/2009 trägt seinerseits die Überschrift „Nähere Vorschriften zu den Artikeln 12 und 13 der [Verordnung Nr. 883/2004]“, und in seinem Abs. 8 geht es um die „Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der [Verordnung Nr. 883/2004]“.

36      Somit sind bei der Auslegung von Art. 14 der Verordnung Nr. 987/2009 die Art. 12 und 13 der Verordnung Nr. 883/2004 zu berücksichtigen.

37      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften des Titels II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 883/2004, zu dem die Art. 12 und 13 dieser Verordnung gehören, ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden, mit denen nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden sollen, sondern auch verhindert werden soll, dass Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit mangels auf sie anwendbarer Rechtsvorschriften vorenthalten wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu, C‑422/22, EU:C:2023:869, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Wie den Erwägungsgründen 1 und 45 der Verordnung Nr. 883/2004 zu entnehmen ist, soll diese eine Koordinierung zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gewährleisten, um sicherzustellen, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann, und um so zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Personen beizutragen, die innerhalb der Europäischen Union zu- und abwandern. Zugleich sollen die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 aktualisiert und vereinfacht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 63).

39      Dieses Ziel wird mit Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 verfolgt, der vorsieht, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den sozialrechtlichen Vorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen und dass sich nach Titel II dieser Verordnung bestimmt, welche Rechtsvorschriften dies sind.

40      Zudem stellt dieser Art. 11 in seinem Abs. 3 Buchst. a den Grundsatz auf, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 42).

41      Dieser Grundsatz gilt jedoch „[v]orbehaltlich der Artikel 12 bis 16“ der Verordnung Nr. 883/2004, da die ausnahmslose Anwendung dieses Grundsatzes in bestimmten Sonderfällen sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber und die Sozialversicherungseinrichtungen zur Schaffung statt zur Vermeidung administrativer Schwierigkeiten führen könnte, die eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der unter diese Verordnung fallenden Personen bewirken würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 43).

42      Zu diesen Sonderfällen gehört der in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 genannte Fall einer Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt.

43      Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, während nach Buchst. b dieser Vorschrift eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt und keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat.

44      Die Kollisionsnormen in Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 883/2004 gewährleisten, dass eine Person, wenn sie in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, immer den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegt, nämlich denen ihres Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit leistet, oder andernfalls den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem ihr Arbeitgeber ansässig ist.

45      Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 883/2004 steht mit dem in den Rn. 37 und 38 des vorliegenden Urteils angeführten Ziel in Einklang, indem er – unter Vereinfachung der mit der früheren Regelung eingeführten Regeln – von der in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung enthaltenen Regel des Beschäftigungsmitgliedstaats abweichende Regeln vorsieht, um genau die Komplikationen zu vermeiden, die sich sonst aus der Anwendung der letztgenannten Regel auf Situationen ergeben könnten, die die Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 64).

46      Vor diesem Hintergrund sollen die abweichenden Regeln, die mit den in Rn. 43 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen eingeführt wurden, sicherstellen, dass gemäß der in Rn. 39 dieses Urteils genannten Regel der Einheitlichkeit die Arbeitnehmer, die in zwei oder mehr Mitgliedstaaten tätig sind, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen, indem sie zu diesem Zweck Anknüpfungskriterien festlegen, die die objektive Situation dieser Arbeitnehmer berücksichtigen, um ihre Freizügigkeit zu erleichtern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 65).

47      Im Licht dieser Erwägungen ist Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 auszulegen, soweit er auf die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt Bezug nimmt, um zu bestimmen, ob ein quantitativ erheblicher Teil aller Tätigkeiten des Arbeitnehmers in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird.

48      In diesem Zusammenhang ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der letzte Unterabsatz von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009, wonach im Rahmen einer Gesamtbewertung der Situation des betroffenen Arbeitnehmers zu prüfen ist, ob die Schwelle von 25 % erreicht wird, ausdrücklich auf die „genannten“ Kriterien, d. h. im Fall einer Beschäftigung auf die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt, Bezug nimmt und damit andere Kriterien ausschließt.

49      Der Umstand, dass diese Prüfung der genannten Kriterien im Rahmen einer Gesamtbewertung der Situation des betroffenen Arbeitnehmers erfolgt, bedeutet nicht etwa, dass sonstige Kriterien hinzugefügt werden dürfen, sondern vielmehr, dass sämtliche Beschäftigungen dieses Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind.

50      Zum anderen lässt die Formulierung dieser Bestimmung kaum Zweifel daran, dass, wenn in Bezug auf die Kriterien der Arbeitszeit und/oder des Arbeitsentgelts kein Anteil von 25 % erreicht wird, nicht der Schluss gezogen werden kann, dass ein wesentlicher Teil der Beschäftigung im betreffenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.

51      Ließe man zu, dass ein Arbeitnehmer, der weniger als 25 % aller seiner Beschäftigungen im Hoheitsgebiet des Wohnmitgliedstaats ausgeübt hat, nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 dessen Rechtsvorschriften unterliegt, so würde dies nicht nur den Ausnahmecharakter der in den Art. 12 bis 14 dieser Verordnung genannten Anknüpfungspunkte einschließlich der den Wohnmitgliedstaat betreffenden verkennen, sondern würde auch zu einer Unsicherheit bei der Anwendung der in Titel II dieser Verordnung enthaltenen Kollisionsnormen führen, wodurch die mit diesen Normen angestrebte Vereinfachung bei der Anwendung der auf die objektive Situation des betroffenen Arbeitnehmers abstellenden Anknüpfungskriterien verloren ginge.

52      Die Auslegung, wonach der Umstand, dass in Bezug auf die Kriterien der Arbeitszeit und/oder des Arbeitsentgelts kein Anteil von 25 % erreicht wird, nicht durch die Berücksichtigung sonstiger Kriterien kompensiert werden kann, wird auch durch die Erläuterungen im Praktischen Leitfaden bestätigt, der, auch wenn er naturgemäß rechtlich nicht bindend ist, ein nützliches Hilfsmittel für die Auslegung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 darstellt. So wird in dem den Begriff „wesentlicher Teil“ der Tätigkeit betreffenden Abschnitt des Dokuments darauf hingewiesen, dass die Berücksichtigung der Kriterien der Arbeitszeit und/oder des Arbeitsentgelts verbindlich vorgeschrieben sei, wenn geprüft werde, ob die in Art. 14 Abs. 8 letzter Unterabsatz der Verordnung Nr. 987/2009 genannte Schwelle von 25 % im Wohnmitgliedstaat erreicht werde, was gegebenenfalls ein Anzeichen dafür sei, dass ein wesentlicher Teil aller Tätigkeiten des betroffenen Arbeitnehmers in diesem Mitgliedstaat ausgeübt werde. Zwar können gemäß dem Praktischen Leitfaden auch andere – nicht näher genannte – Kriterien berücksichtigt werden, doch ist allen angeführten konkreten Beispielen zu entnehmen, dass aus der Ausübung einer Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat in einem Umfang von weniger als 25 % der Arbeitszeit und/oder des Arbeitsentgelts nicht auf die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats geschlossen werden kann.

53      Folglich ist Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass für die Annahme, dass eine Person einen wesentlichen Teil ihrer Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausübt, die Schwelle von 25 % der Arbeitszeit und/oder des Arbeitsentgelts in diesem Mitgliedstaat erreicht sein muss, ohne dass die Nichterfüllung der genannten Kriterien durch die Berücksichtigung sonstiger Kriterien kompensiert werden darf.

54      Demzufolge findet in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem feststeht, dass der Arbeitnehmer 22 % – und damit weniger als die in Art. 14 Abs. 8 letzter Unterabsatz der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen 25 % – seiner Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausgeübt hat, die Kollisionsnorm von Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 auf ihn keine Anwendung, so dass die anzuwendenden Rechtsvorschriften gemäß der Kollisionsnorm von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung zu bestimmen sind, der vorsieht, dass der Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat.

55      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass bei der Beurteilung, ob der betreffende Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil seiner Beschäftigung in seinem Wohnmitgliedstaat ausübt, keine weiteren Kriterien zu berücksichtigen sind.

56      Demnach ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass der zuständige Träger bei der Beurteilung, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, einen wesentlichen Teil davon im Wohnmitgliedstaat ausübt, im Rahmen einer Gesamtbewertung der Situation dieser Person zu prüfen hat, ob sie mindestens 25 % ihrer Arbeitszeit und/oder ihres Arbeitsentgelts in diesem Mitgliedstaat leistet bzw. erhält. In diesem Kontext sind keine sonstigen Umstände oder Kriterien zu berücksichtigen.

 Zur dritten Frage

57      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welcher Zeitraum im Rahmen der in Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen Gesamtbewertung bei der Beurteilung, ob der betreffende Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil seiner Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat ausübt, zu berücksichtigen ist.

58      Insoweit sieht Art. 14 Abs. 10 der Verordnung Nr. 987/2009 vor, dass die betroffenen Träger die für die folgenden zwölf Kalendermonate angenommene Situation berücksichtigen müssen.

59      Auch wenn diese Bestimmung nicht konkret festlegt, wann dieser Zeitraum der zwölf zu berücksichtigenden Monate beginnt, ist ihrem Wortlaut klar zu entnehmen, dass es sich um die kommenden zwölf Monate handelt, zumal keine Bestimmung der Verordnung auf die frühere Situation des betroffenen Arbeitnehmers Bezug nimmt.

60      Da Art. 14 Abs. 10 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 dieser Verordnung nur dann Anwendung findet, wenn ein Arbeitnehmer die betreffende Tätigkeit in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, muss die Aufnahme der Tätigkeit in zwei oder mehr Mitgliedstaaten als Beginn gelten.

61      Demnach ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 8 und 10 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass im Rahmen der Gesamtbewertung der Situation einer Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, bei der Beurteilung, ob diese Person einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt, die für die folgenden zwölf Kalendermonate angenommene Situation zu berücksichtigen ist.

 Zur vierten Frage

62      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welchen Beurteilungsspielraum der zuständige Träger eines Mitgliedstaats bei der Feststellung hat, ob ein Arbeitnehmer einen wesentlichen Teil seiner Beschäftigung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 im Wohnmitgliedstaat ausgeübt hat.

63      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die vierte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

64      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 14 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

der zuständige Träger bei der Beurteilung, ob eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, einen wesentlichen Teil davon im Wohnmitgliedstaat ausübt, im Rahmen einer Gesamtbewertung der Situation dieser Person zu prüfen hat, ob sie mindestens 25 % ihrer Arbeitszeit und/oder ihres Arbeitsentgelts in diesem Mitgliedstaat leistet bzw. erhält. In diesem Kontext sind keine sonstigen Umstände oder Kriterien zu berücksichtigen.

2.      Art. 14 Abs. 8 und 10 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

im Rahmen der Gesamtbewertung der Situation einer Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, bei der Beurteilung, ob diese Person einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat ausübt, die für die folgenden zwölf Kalendermonate angenommene Situation zu berücksichtigen ist.

Unterschriften




Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar