C-18/24 – NOVIS

C-18/24 – NOVIS

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:419

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 5. Juni 2025(1)

Rechtssache C18/24

NOVIS Insurance Company, NOVIS Versicherungsgesellschaft, NOVIS Compagnia di Assicurazioni, NOVIS Poisťovňa a.s.

gegen

Česká národní banka

(Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší správní soud [Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Richtlinie 2009/138/EG – Art. 155 – Verstoß eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherungsunternehmens gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats – Befugnisse der Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats “

I.      Einführung

1.        Die Vorlagefragen in der vorliegenden Rechtssache betreffen die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Behörden der Mitgliedstaaten für die Aufsicht über die Geschäftstätigkeit von Versicherungsunternehmen und für die Verhängung von Sanktionen gegen sie bei Verstößen gegen die in den betreffenden Mitgliedstaaten geltenden Rechtsvorschriften. Während die Solvabilität‑II-Richtlinie(2) nämlich den Grundsatz aufstellt, dass die Aufsicht über die Tätigkeit eines Versicherungsunternehmens grundsätzlich von den Behörden des Mitgliedstaats ausgeübt wird, in dem das Versicherungsunternehmen seinen Sitz hat, möchte das vorlegende Gericht die Grenzen bestimmen, innerhalb deren der Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat gilt, und klären, in welchen Fällen das Unionsrecht Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässt.

2.        Konkret geht es bei dem Vorabentscheidungsersuchen in der vorliegenden Sache um die Befugnis der tschechischen Aufsichtsbehörde, Verwaltungssanktionen gegen eine slowakische Versicherungsgesellschaft wegen Verstößen zu verhängen, die sie im Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit über eine in diesem Mitgliedstaat ansässige Zweigniederlassung begangen haben soll. Die von der tschechischen Aufsichtsbehörde festgestellten Verstöße sollen in der Nichteinhaltung der PRIIP-Verordnung(3) und der VV-Richtlinie(4) durch diese Versicherungsgesellschaft bestanden haben.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      SolvabilitätII-Richtlinie

3.        Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie bestimmt:

„(1)      Stellen die Aufsichtsbehörden eines Aufnahmemitgliedstaats fest, dass ein Versicherungsunternehmen, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eine Zweigniederlassung hat oder Dienstleistungen erbringt, die in diesem Mitgliedstaat für das Versicherungsunternehmen geltenden Vorschriften nicht einhält, so fordern sie das Versicherungsunternehmen auf, diese Unregelmäßigkeiten abzustellen.

(2)      Trifft das Versicherungsunternehmen nicht die erforderlichen Maßnahmen, so machen die Aufsichtsbehörden des betroffenen Mitgliedstaats hiervon den Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats Mitteilung.

Diese treffen unverzüglich alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit das Versicherungsunternehmen diese Unregelmäßigkeit abstellt.

Die Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats setzen die Aufsichtsbehörden des Aufnahmemitgliedstaats von diesen Maßnahmen in Kenntnis.

(3)      Verletzt das Versicherungsunternehmen trotz der Maßnahmen des Herkunftsmitgliedstaats oder deswegen, weil sich die Maßnahmen als unzureichend erweisen oder der betreffende Staat keine Maßnahmen getroffen hat, weiterhin die im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften, so kann der Aufnahmemitgliedstaat nach Unterrichtung der Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats die geeigneten Maßnahmen treffen, um weitere Unregelmäßigkeiten zu verhindern oder zu ahnden … und, soweit unbedingt erforderlich, das Versicherungsunternehmen daran zu hindern, weitere Versicherungsverträge in seinem Hoheitsgebiet abzuschließen.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die für diese Maßnahmen erforderlichen Zustellungen an die Versicherungsunternehmen in ihrem Hoheitsgebiet möglich sind.

(4)      Die Absätze 1, 2 und 3 berühren nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, geeignete Dringlichkeitsmaßnahmen zu ergreifen, um Unregelmäßigkeiten in ihrem Hoheitsgebiet zu verhindern oder zu ahnden. Dies schließt die Möglichkeit ein, ein Versicherungsunternehmen zu hindern, weitere neue Versicherungsverträge in ihrem Hoheitsgebiet abzuschließen.

(5)      Die Absätze 1, 2 und 3 berühren nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, Verstöße in ihrem Hoheitsgebiet zu ahnden.

(6)      Wenn das Versicherungsunternehmen, das gegen die Rechtsvorschriften verstoßen hat, in dem betroffenen Mitgliedstaat über eine Niederlassung verfügt oder Vermögensgegenstände besitzt, können die Aufsichtsbehörden nach Maßgabe des nationalen Rechts die für einen derartigen Verstoß vorgesehenen innerstaatlichen Sanktionen an dieser Niederlassung bzw. an diesen Vermögensgegenständen vollstrecken.

…“

2.      PRIIP-Verordnung und VV-Richtlinie

4.        Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. c Ziff. ii, iii und iv sowie Art. 8 Abs. 3 Buchst. f der PRIIP-Verordnung regeln die inhaltlichen Anforderungen an das Basisinformationsblatt, das wesentliche Informationen über verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger enthält und Kleinanlegern zugänglich gemacht wird.

5.        Mit der VV-Richtlinie wiederum werden Vorschriften für die Aufnahme und Ausübung des Versicherungs- und Rückversicherungsvertriebs in der Union festgelegt.

B.      Tschechisches Recht

6.        Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie wird in die tschechische Rechtsordnung durch § 110 des Zákon č. 277/2009 Sb., o pojišťovnictví (Gesetz Nr. 277/2009 über das Versicherungswesen) umgesetzt. Diese Vorschrift bestimmt:

„(1)      Stellt die Česká národní banka [(Tschechische Nationalbank)] fest, dass ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat, das seine Versicherungs- oder Rückversicherungstätigkeit im Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik auf der Grundlage des Rechts auf Errichtung von Zweigniederlassungen oder auf der Grundlage des freien Dienstleistungsverkehrs für vorübergehende Tätigkeiten ausübt, die für diese Tätigkeiten in der Tschechischen Republik geltenden Verpflichtungen nicht erfüllt, so weist sie das Versicherungsunternehmen an, die festgestellten Mängel innerhalb einer von der Tschechischen Nationalbank gesetzten Frist zu beheben.

(2)      Die Tschechische Nationalbank kann bei der Feststellung oder Überprüfung der in Abs. 1 genannten Tatsachen von einem solchen Versicherungsunternehmen Unterlagen, Auskünfte und die erforderlichen Erklärungen zu seiner Tätigkeit im Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik verlangen, und das Versicherungsunternehmen ist verpflichtet, dem nachzukommen.

(3)      Beseitigt ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat die in Abs. 1 genannten Mängel nicht innerhalb der gesetzten Frist, so teilt die Tschechische Nationalbank dies der Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats mit.

(4)      Führen die von der Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats auferlegten Abhilfemaßnahmen nicht zur Beseitigung der festgestellten Mängel bei der Tätigkeit eines Versicherungsunternehmens aus einem anderen Mitgliedstaat oder wurden keine Abhilfemaßnahmen auferlegt, so verhängt die Tschechische Nationalbank gegen ein solches Versicherungsunternehmen eine Geldbuße oder untersagt ihm den Abschluss neuer Versicherungs- oder Rückversicherungsverträge in der Tschechischen Republik und die Erweiterung der Verpflichtungen aus bereits geschlossenen Verträgen. Die Tschechische Nationalbank unterrichtet die Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats über diese Entscheidung. Die Tschechische Nationalbank kann gleichzeitig die Europäische Aufsichtsbehörde mit einem Ersuchen um Zusammenarbeit befassen.

(5)      Duldet die Angelegenheit keinen Aufschub, so verfährt die Tschechische Nationalbank nach Abs. 4, ohne das Verfahren nach den Abs. 1 bis 3 anzuwenden.“

7.        Die VV-Richtlinie wiederum wird in die tschechische Rechtsordnung durch die Bestimmungen des Zákon č. 170/2018 Sb., o distribuci pojištění a zajištění (Gesetz Nr. 170/2018 über den Vertrieb von Versicherungen und Rückversicherungen) umgesetzt.

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

8.        NOVIS ist eine Handelsgesellschaft mit Sitz in der Slowakei, die im Bereich der Lebensversicherung tätig ist. Das Unternehmen hat eine Zweigniederlassung in der Tschechischen Republik.

9.        Die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats, die Česká národní banka, hat NOVIS drei Ordnungswidrigkeiten zur Last gelegt und dafür gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 1 000 000 CZK verhängt.

10.      Die erste Ordnungswidrigkeit soll in einem Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. c Ziff. ii, iii und iv sowie Buchst. f der PRIIP-Verordnung bestanden haben. Konkret wurde der Gesellschaft vorgeworfen, nicht sichergestellt zu haben, dass die Informationen in ihren Basisinformationsblättern (sog. KID – Key Information Documents) über die Produkte richtig, redlich, klar, mit den verbindlichen Vertragsunterlagen vereinbar und nicht irreführend seien. Außerdem soll sie nicht sichergestellt haben, dass diese Unterlagen alle Angaben in der Qualität und dem Umfang enthalten, wie sie in den unmittelbar anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts vorgeschrieben sind.

11.      Bei der zweiten und der dritten Ordnungswidrigkeit soll es sich um Verstöße gegen die Verpflichtungen aus dem Gesetz Nr. 170/2018 gehandelt haben, mit dem die VV-Richtlinie in die tschechische Rechtsordnung umgesetzt wird. Genauer gesagt soll die zweite Ordnungswidrigkeit in einem Verstoß von NOVIS gegen ihre Pflichten bestanden haben, Regeln zur Kontrolle der für sie tätigen unabhängigen Vermittler zu erlassen, aufrechtzuerhalten und anzuwenden, einschließlich der Kontrolle der ordnungsgemäßen Einhaltung der Rechtsvorschriften. Die dritte Ordnungswidrigkeit soll in einem Verstoß dieser Versicherungsgesellschaft gegen ihre Pflicht bestanden haben, den Kunden vor dem Abschluss einer kapitalbildenden Versicherung zu beraten.

12.      Im Laufe des von der tschechischen Aufsichtsbehörde geführten Verfahrens stellte NOVIS die Zuständigkeit dieser Behörde für die Durchführung eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens in Frage. Die Gesellschaft trug vor, dass die Behörde sich nicht an § 110 des Gesetzes Nr. 277/2009, mit dem Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie in die tschechische Rechtsordnung umgesetzt werde, gehalten habe. Nach dieser Bestimmung des Unionsrechts und ihrer nationalen Umsetzung sei die tschechische Aufsichtsbehörde verpflichtet gewesen, die Behörde des Herkunftsstaats von NOVIS über den angeblichen Verstoß von NOVIS zu informieren und dann gegebenenfalls abzuwarten, dass diese Behörde tätig werde. Die tschechische Aufsichtsbehörde sei daher nicht berechtigt gewesen, selbstständig ein Sanktionsverfahren gegen ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen einzuleiten.

13.      Die tschechische Aufsichtsbehörde nahm demgegenüber den Standpunkt ein, dass die innerstaatlichen Vorschriften zur Kontrolle von Verstößen gegen die VV-Richtlinie und die PRIIP-Verordnung eine von der Solvabilität‑II-Richtlinie unabhängige Regelung darstellten. Ferner hätten die innerstaatlichen Vorschriften, die diese Kontrolle beträfen, Vorrang vor den Vorschriften zur Umsetzung der letztgenannten Richtlinie.

14.      Die Entscheidung der tschechischen Aufsichtsbehörde wurde von NOVIS vor dem Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik) angefochten. In ihrer Klage berief sich die Gesellschaft auf die Unzuständigkeit der tschechischen Aufsichtsbehörde. Das Gericht teilte in dieser Hinsicht den von der tschechischen Aufsichtsbehörde in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Standpunkt und wies die Klage ab.

15.      Das entsprechende Urteil wurde von NOVIS vor dem Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) angefochten. Dieses Gericht befasst sich nun mit der in der Kassationsbeschwerde dieser Gesellschaft vorgebrachten Rüge, dass § 110 des Gesetzes Nr. 277/2009, mit dem Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie in tschechisches Recht umgesetzt werde, bei jeder Aufsichtstätigkeit im Versicherungssektor anzuwenden sei. NOVIS macht geltend, dass sie zwar wegen Verstößen gegen die Vorschriften der VV-Richtlinie und der PRIIP-Verordnung sanktioniert worden sei, diese seien jedoch Vorschriften zur Regulierung des Versicherungssektors.

16.      Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie so auszulegen, dass er auch für Fälle gilt, in denen die Aufsichtsbehörde des Aufnahmestaats die Einhaltung der in der PRIIP-Verordnung oder der VV-Richtlinie festgelegten Verpflichtungen durch ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat überwacht?

2.      Falls ja, begründet Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie eine vorrangige Befugnis der Aufsichtsbehörde des Herkunftsstaats und eine Verpflichtung der Aufsichtsbehörde des Aufnahmestaats, zunächst die Melde- und Abhilfeverfahren nach den Abs. 1, 2 und 3 dieses Artikels der Richtlinie auszuschöpfen, auch wenn es um die Verhängung von Verwaltungssanktionen im Sinne der Abs. 5 und 6 dieses Artikels der Richtlinie geht?

17.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 11. Januar 2024 beim Gerichtshof eingegangen. Schriftliche Erklärungen sind von den Parteien des Ausgangsverfahrens, der tschechischen, der italienischen und der slowakischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die tschechische Regierung und die Kommission waren in der mündlichen Verhandlung vertreten, die am 6. März 2025 stattgefunden hat.

IV.    Analyse

A.      Zur ersten Vorlagefrage

18.      Mit der ersten Vorlagefrage soll geklärt werden, ob Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie auch für Fälle gilt, in denen die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats die Einhaltung der in der PRIIP-Verordnung oder der VV-Richtlinie festgelegten Verpflichtungen durch ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat überwacht.

19.      Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie befasst sich allgemein mit den Zuständigkeiten und Befugnissen im Zusammenhang mit der Beaufsichtigung von Versicherungsunternehmen durch die Behörden des Mitgliedstaats, in dem das betreffende Versicherungsunternehmen niedergelassen ist, und durch die Behörden des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet dieses Versicherungsunternehmen Versicherungsgeschäfte im Rahmen der Dienstleistungs- oder der Niederlassungsfreiheit tätigt. Diese Bestimmung regelt das Verfahren, das die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats grundsätzlich einzuhalten haben, wenn ein Versicherungsunternehmen gegen die in ihrem Hoheitsgebiet geltenden Vorschriften verstößt. Bevor sie Maßnahmen gegen das betreffende Versicherungsunternehmen ergreifen, haben sich diese Behörden zunächst an die Behörden des Herkunftsmitgliedstaats des betreffenden Versicherers zu wenden.

20.      Es ist anzumerken, dass die Lösung des mit der ersten Vorlagefrage aufgeworfenen Auslegungsproblems auf zweierlei Weise angegangen werden kann. Der erste Ansatz besteht darin, die Bestimmungen des Rechtsakts der Europäischen Union, der dem Einzelnen eine bestimmte Verpflichtung auferlegt, wie z. B. die PRIIP-Verordnung oder die VV-Richtlinie, zu analysieren, um festzustellen, ob dieser Rechtsakt auch die Aufteilung der Zuständigkeiten und die Befugnisse der Behörden der Mitgliedstaaten zur Aufsicht über die Einhaltung dieser Verpflichtung regelt. Nur wenn sich herausstellt, dass der betreffende Rechtsakt diese Frage nicht regelt, ist die Antwort in anderen Rechtsakten zu suchen.

21.      Der zweite Ansatz geht von der Analyse einer Regelung wie Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie aus, der die Zuständigkeit und die Aufsichtsbefugnisse der Behörden der Mitgliedstaaten regelt und einen Grundsatz allgemeiner Art aufzustellen scheint. Bei der Auslegung dieser Regelung ist zu prüfen, ob sie tatsächlich von dieser Art ist und auch die Beaufsichtigung der Einhaltung der Bestimmungen anderer Rechtsakte umfasst. Ferner ist noch zu prüfen, ob die sich aus dieser allgemeinen Regelung ergebende Lösung nicht durch diese anderen Rechtsakte modifiziert wird.

22.      Um den Bedenken des vorlegenden Gerichts Rechnung zu tragen, werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen den zweiten Ansatz anwenden. Dies ist nämlich der Ansatz, den das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zur Kernfrage der vorliegenden Rechtssache verfolgt hat. Gleichzeitig vertritt dieses Gericht die Auffassung, dass Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie auf zweierlei Weise ausgelegt werden kann.

23.      Bei der ersten Auslegungsweise wird angenommen, dass der Vorbehalt in Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie, nach dem sich die Bestimmung auf „die in diesem [Aufnahme‑]Mitgliedstaat … geltenden Vorschriften“ bezieht, bedeutet, dass diese Bestimmung nur für die Beaufsichtigung der Einhaltung der Verpflichtungen gilt, die Versicherungsunternehmen durch diese Richtlinie auferlegt werden. Die zweite Auslegungsweise geht hingegen davon aus, dass Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie für die Ausübung der Aufsicht über sämtliche Verpflichtungen gilt, die Versicherungsunternehmen nach dem Unionsrecht auferlegt werden.

24.      Einerseits scheint der Wortlaut von Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie für die zweite Auslegungsweise zu sprechen. Diese Bestimmung ist weit gefasst und definiert die Befugnisse und Pflichten der Aufsichtsbehörden in Fällen, in denen ein in einem Mitgliedstaat niedergelassenes Versicherungsunternehmen die in einem Mitgliedstaat, in dem es eine Zweigniederlassung hat oder Dienstleistungen erbringt, geltenden Vorschriften nicht einhält. Wir finden in dieser Bestimmung keinen Vorbehalt, der ihren Anwendungsbereich auf Verstöße gegen die Bestimmungen der Solvabilität‑II-Richtlinie oder die Bestimmungen zur Umsetzung dieser Richtlinie in die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats beschränken würde.

25.      Andererseits darf man sich bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht auf ihren Wortlaut beschränken. Zu prüfen sind auch der Kontext, in dem die analysierte Regelung steht, und die mit dem Rechtsakt, in dem sie niedergelegt ist, verfolgten Ziele(5). Dies gilt umso mehr für Regelungen, die die Bereiche der Befugnisse und Pflichten im Zusammenhang mit der Ausübung der Aufsicht über die Erfüllung bestimmter Pflichten eines Einzelnen abgrenzen. Es ist schwierig, diese Regelungen losgelöst von den Vorschriften des Rechtsakts zu betrachten, in dem diese Pflichten geregelt sind. Auch darf bei der Auslegung einer solchen Regelung der breitere normative Kontext, in dem die betreffende Vorschrift steht, nicht außer Acht gelassen werden.

26.      Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage ist daher Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie einer systematischen und teleologischen Analyse zu unterziehen. Bevor ich diese Analyse vornehme, werde ich jedoch die Grundsätze darlegen, auf denen diese Richtlinie beruht.

1.      SolvabilitätII-Richtlinie

27.      Aus Art. 1 Nr. 1 der Solvabilität‑II-Richtlinie geht hervor, dass diese Richtlinie u. a. Vorschriften für die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten der Direktversicherung sowie der Rückversicherung in der Union festlegt. Die Richtlinie findet Anwendung auf Lebens- und Nichtlebensversicherungsunternehmen, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind oder sich dort niederzulassen wünschen (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie).

28.      In der Solvabilität‑II-Richtlinie werden die Begriffe „Herkunftsmitgliedstaat“ und „Aufnahmemitgliedstaat“ verwendet. Im Wesentlichen beschreibt der erste Begriff den Staat, in dem sich der Gesellschaftssitz des Versicherungsunternehmens befindet (Art. 13 Nr. 8). Der zweite Begriff bezeichnet grundsätzlich „den Mitgliedstaat, bei dem es sich nicht um den Herkunftsmitgliedstaat handelt, in dem ein Versicherungsunternehmen … eine Zweigniederlassung unterhält oder Dienstleistungen erbringt“ (Art. 13 Nr. 9).

29.      Die Richtlinie sieht vor, dass die Aufnahme der Direktversicherungstätigkeit von einer vorherigen Zulassung abhängig ist (Art. 14 Abs. 1). Diese Zulassung kann von einem Versicherungsunternehmen bei den Aufsichtsbehörden seines Herkunftsmitgliedstaats beantragt werden (Art. 14 Abs. 2). Wichtig ist, dass die von den Aufsichtsbehörden des Staates, in dem das Versicherungsunternehmen seinen Gesellschaftssitz hat, erteilte Zulassung ihm die Ausübung seiner Tätigkeiten in der gesamten Union erlaubt (Art. 15 Abs. 1). Der Ausdruck „Aufsichtsbehörde“ bezeichnet diejenige einzelstaatliche Behörde oder diejenigen einzelstaatlichen Behörden, die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften für die Beaufsichtigung von Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen zuständig sind (Art. 13 Nr. 10).

30.      Die Vorgängerrichtlinien der Solvabilität‑II-Richtlinie basierten ebenfalls auf dem Modell, dass die Zulassung in einem Mitgliedstaat die Ausübung von Versicherungstätigkeiten in den anderen Staaten ermöglicht. Ein Ausfluss davon war der Grundsatz, dass die Aufsicht über die Tätigkeit eines entsprechenden Versicherungsunternehmens grundsätzlich von den Behörden des Herkunftsmitgliedstaats auch insoweit ausgeübt wird, als es um die von dem Versicherungsunternehmen in anderen Staaten über eine Zweigniederlassung oder im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit ausgeübte Tätigkeit geht(6).

31.      Die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts zielen im Wesentlichen darauf ab, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb deren der Grundsatz der Beaufsichtigung durch den Herkunftsmitgliedstaat nach der Solvabilität‑II-Richtlinie gilt (erste Frage), und die Fälle zu klären, in denen das Unionsrecht von diesem Grundsatz und den damit verbundenen Verfahren abweicht (zweite Frage).

32.      Die Beaufsichtigung von Versicherungsunternehmen wird in Titel I Kapitel III („Aufsichtsbehörden und allgemeine Vorschriften“) in den Art. 27 bis 39 behandelt. Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass das Hauptziel der damit geregelten Beaufsichtigung der „Schutz der Versicherungsnehmer und der Begünstigten“ ist (Art. 27). Die Beaufsichtigung umfasst die kontinuierliche Überprüfung der ordnungsgemäßen Funktionsweise des Versicherungsgeschäfts sowie der Einhaltung der Aufsichtsvorschriften durch die Versicherungsunternehmen (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 der Solvabilität‑II-Richtlinie).

33.      Gemäß Art. 34 („Allgemeine Aufsichtsbefugnisse“) Abs. 1 der Solvabilität‑II-Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Aufsichtsbehörden befugt sind, präventive und korrigierende Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Versicherungs- und die Rückversicherungsunternehmen „die Rechts- und Verwaltungsvorschriften einhalten, die sie in jedem Mitgliedstaat zu erfüllen haben“.

34.      Die Beaufsichtigung der Tätigkeit von Versicherungsunternehmen, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind, wird in Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie behandelt, auf den sich die Vorlagefragen beziehen. Diese Bestimmung ist in Titel I („Allgemeine Vorschriften für die Aufnahme und die Ausübung der Tätigkeiten der Direktversicherung und der Rückversicherung“) Kapitel VIII („Freie Niederlassung und freier Dienstleistungsverkehr“) Abschnitt 3 („Befugnisse der Aufsichtsbehörden des Aufnahmemitgliedstaats“) der Solvabilität‑II-Richtlinie enthalten.

35.      Stellt die Aufsichtsbehörde eines Aufnahmemitgliedstaats fest, dass ein Versicherungsunternehmen, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eine Zweigniederlassung hat oder Dienstleistungen erbringt, „die in diesem Mitgliedstaat … geltenden Vorschriften nicht einhält“, so fordert sie das Versicherungsunternehmen auf, diese Unregelmäßigkeiten abzustellen (Art. 155 Abs. 1).

36.      Trifft das Versicherungsunternehmen nicht die erforderlichen Maßnahmen, so macht die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats hiervon der Aufsichtsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats Mitteilung. Diese trifft unverzüglich alle zweckdienliche Maßnahmen, damit diese „Unregelmäßigkeiten“ abgestellt werden. Sie setzt die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats von diesen Maßnahmen in Kenntnis (Art. 155 Abs. 2).

37.      Erweisen sich die getroffenen Maßnahmen als unzureichend oder werden sie gar nicht getroffen und verletzt das Versicherungsunternehmen weiterhin „die im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften“, so kann die Aufsichtsbehörde dieses Staates nach Unterrichtung der Behörde des Herkunftsmitgliedstaats die geeigneten Maßnahmen treffen, um weitere „Unregelmäßigkeiten“ zu verhindern oder zu ahnden (Art. 155 Abs. 3).

38.      Weiter heißt es in Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie: „Die Absätze 1, 2 und 3 berühren“ weder die Befugnis der Mitgliedstaaten, geeignete Dringlichkeitsmaßnahmen zu ergreifen, um „Unregelmäßigkeiten“ in ihrem Hoheitsgebiet zu verhindern oder zu ahnden (Art. 155 Abs. 4), noch die Befugnis der Mitgliedstaaten, „Verstöße“ in ihrem Hoheitsgebiet zu ahnden (Art. 155 Abs. 5).

39.      Schließlich sieht Art. 155 Abs. 6 der Solvabilität‑II-Richtlinie vor, dass die Aufsichtsbehörden des Mitgliedstaats, in dem das Versicherungsunternehmen über eine Niederlassung verfügt oder Vermögensgegenstände besitzt, nach Maßgabe des nationalen Rechts die für einen derartigen Verstoß vorgesehenen innerstaatlichen Sanktionen an dieser Niederlassung bzw. an diesen Vermögensgegenständen vollstrecken können.

40.      Die erste Frage zielt darauf ab, festzustellen, ob sich die in Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie genannten „in diesem [Aufnahme‑]Mitgliedstaat … geltenden Vorschriften“ nur auf die Bestimmungen dieser Richtlinie oder auch auf übriges Unionsrecht beziehen. Um diese Frage zu beantworten, werde ich nun Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie im Zusammenhang mit anderen Vorschriften dieser Richtlinie erörtern, mit denen diese Bestimmung verbunden ist.

2.      Art. 155 der SolvabilitätII-Richtlinie und Finanzaufsicht

41.      Die allgemeine Regelung der Beaufsichtigung von Versicherungstätigkeit in Titel I Kapitel III („Aufsichtsbehörden und allgemeine Vorschriften“) wird durch eine spezielle Bestimmung ergänzt, in der der Begriff „Finanzaufsicht“ verwendet wird. Gemäß Art. 30 Abs. 2 der Solvabilität‑II-Richtlinie umfasst die „Finanzaufsicht“ für die gesamte Geschäftstätigkeit des Versicherungs- und des Rückversicherungsunternehmens die Überprüfung seiner Solvabilität, der Bildung versicherungstechnischer Rückstellungen, seiner Vermögenswerte und der anrechnungsfähigen Eigenmittel gemäß den in dem Herkunftsmitgliedstaat aufgrund der auf Unionsebene erlassenen Vorschriften befolgten Regelungen oder Praktiken(7).

42.      Art. 30 Abs. 1 lautet: „Die Finanzaufsicht über [Versicherungsunternehmen] …, einschließlich der Tätigkeiten, die sie über Zweigniederlassungen und im freien Dienstleistungsverkehr ausüben, liegt in der alleinigen Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats“. Art. 30 Abs. 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie sieht wiederum vor, dass die Aufsichtsbehörden eines anderen Mitgliedstaats als des Herkunftsmitgliedstaats, wenn sie Gründe für die Annahme haben, dass durch die Tätigkeiten eines Versicherungsunternehmens seine finanzielle Solidität beeinträchtigt werden könnte, die Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats dieses Unternehmens darüber unterrichten.

43.      Unter dem Gesichtspunkt der systematischen Auslegung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen zum einen Art. 30 Abs. 1 und 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie, wo festgelegt wird, wie die Aufsichtsbehörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats zu verfahren haben, wenn sie Unregelmäßigkeiten feststellen, die in den Bereich der „Finanzaufsicht“ im Sinne dieser Bestimmung fallen („alleinige Zuständigkeit des Mitgliedstaats“), und zum anderen Art. 155 dieser Richtlinie, der das Vorgehen bei Verstößen eines Versicherungsunternehmens gegen die im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Vorschriften betrifft.

44.      Da in Art. 30 Abs. 1 und 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie die Aufgaben und Befugnisse der Aufsichtsbehörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats im Fall einer grenzüberschreitenden Ausübung des Versicherungsgeschäfts festgelegt sind, sollte sich Art. 155 dieser Richtlinie – der sich ebenfalls mit dieser Frage befasst – auf andere Arten von Situationen beziehen. Andernfalls gäbe es innerhalb desselben Rechtsakts Bestimmungen, die denselben Sachverhalt unterschiedlich regeln würden.

45.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bietet weitere Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage nach dem Zusammenspiel zwischen dem Anwendungsbereich von Art. 30 der Solvabilität‑II-Richtlinie und dem Anwendungsbereich von Art. 155 dieser Richtlinie. Im Urteil Kommission/Italien(8) hatte der Gerichtshof die Gelegenheit, die entsprechenden Bestimmungen der Vorgängerrichtlinie der Solvabilität‑II-Richtlinie zu prüfen.

46.      Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 92/49/EWG(9) sah vor, dass die Finanzaufsicht, u. a. über die Tätigkeiten, die ein Versicherungsunternehmen über seine Zweigniederlassungen und im Dienstleistungsverkehr ausübt, in der alleinigen Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats liegt. Diese Formulierung („liegt in der alleinigen Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats“) finden wir auch in Art. 30 Abs. 1 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Außerdem entspricht Art. 30 dieser Richtlinie laut der Entsprechungstabelle Art. 9 der Richtlinie 92/49.

47.      Art. 40 der Richtlinie 92/49 wiederum entsprach grundsätzlich Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Nach der Entsprechungstabelle in der letztgenannten Richtlinie entspricht ihr Art. 155 gerade Art. 40 der Richtlinie 92/49.

48.      Art. 40 Abs. 3 bis 5 dieser ersten Richtlinie sah nämlich eine Lösung vor, die derjenigen entspricht, die derzeit in Art. 155 Abs. 1 bis 3 der zweiten Richtlinie enthalten ist. Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 92/49 wiederum entspricht dem Inhalt von Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Beide Bestimmungen sehen mit ähnlichem Wortlaut vor, dass die Vorschriften, die den Aufnahmemitgliedstaat verpflichten, dem Herkunftsmitgliedstaat mitzuteilen, dass ein Versicherungsunternehmen die im erstgenannten Staat geltenden Vorschriften nicht einhält (d. h. Art. 155 Abs. 1, 2 und 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie und Art. 40 Abs. 3 bis 5 der Richtlinie 92/49), die Befugnis der Mitgliedstaaten, Verstöße von Versicherungsunternehmen gegen die in ihrem Hoheitsgebiet geltenden Vorschriften zu ahnden, nicht berühren.

49.      In dem durch das Urteil Kommission/Italien(10) des Gerichtshofs abgeschlossenen Fall hatte die Kommission Italien u. a. vorgeworfen, gegen Art. 9 der Richtlinie 92/49 verstoßen zu haben, weil dieser Mitgliedstaat die Art und Weise der Berechnung von Versicherungsprämien durch in anderen Staaten niedergelassene und in Italien tätige Versicherungsunternehmen kontrollierte und gegen diese Unternehmen Sanktionen verhängte.

50.      Der Gerichtshof wies diesen Vorwurf in seinem Urteil zurück. Der Gerichtshof erklärte, dass in Art. 9 der Richtlinie 92/49 der Grundsatz der Finanzaufsicht über Versicherungsunternehmen durch ihren Herkunftsmitgliedstaat festgesetzt wird(11). Gleichzeitig bestätigte der Gerichtshof in diesem Urteil, dass die Finanzaufsicht in der alleinigen Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats liegt.

51.      Zu den Handlungen, bei denen die Kommission der Auffassung war, dass die Italienische Republik gegen das Unionsrecht verstoßen habe, führte der Gerichtshof sodann aus, dass Art. 9 der Richtlinie 92/49 bestimmt, was die Finanzaufsicht „insbesondere“ umfasst. Gleichzeitig wies der Gerichtshof darauf hin, dass die „Finanzaufsicht“ sich nicht auf die Geschäftspraktiken von Versicherungsunternehmen erstreckt(12).

52.      Schließlich fügte der Gerichtshof – als obiter dictum – hinzu, dass in Bezug auf Art. 40 der Richtlinie 92/49 die Feststellung genügt, dass zum einen die Kommission der Italienischen Republik nicht vorgeworfen hat, gegen die Verpflichtungen in Art. 40 Abs. 3 bis 5 verstoßen zu haben(13), und dass zum anderen Art. 40 Abs. 7 dieser Richtlinie die Befugnis des Mitgliedstaats bestätigt, Verstöße, die in seinem Staatsgebiet begangen werden, zu ahnden(14).

53.      Es ist jedoch schwierig, aus dieser letzten Feststellung endgültige Schlussfolgerungen für den vorliegenden Fall zu ziehen. Wie der Gerichtshof selbst ausführt, hatte die Kommission der Italienischen Republik nicht vorgeworfen, gegen Art. 40 der Richtlinie 92/49 verstoßen zu haben. Nichtsdestoweniger könnte sich hinter der letztgenannten Feststellung der Hinweis darauf verbergen, dass die Aufsicht über die Prämienberechnungsmethode keine Finanzaufsicht im Sinne von Art. 9 der Richtlinie war und dass die Unregelmäßigkeiten der Versicherungsgesellschaft in diesem Bereich vom Aufnahmemitgliedstaat gemäß Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie hätten geahndet werden müssen.

54.      Gleichzeitig ist zu betonen, dass es sich bei dem „Verstoß“, um dessen Ahndung es in dem durch das Urteil Kommission/Italien(15) des Gerichtshofs abgeschlossenen Fall ging, nicht um einen Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinie 92/49 im italienischen Hoheitsgebiet durch eine in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Versicherungsgesellschaft handelte. Diese Richtlinie nahm nämlich keine Harmonisierung auf dem Gebiet der Versicherungsprämien vor(16). Wenn also das Urteil des Gerichtshofs so zu verstehen ist, dass die Italienische Republik gemäß Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 92/49 befugt war, Verstöße gegen nationale Vorschriften zu ahnden, die die Methode der Prämienberechnung betrafen, so handelte es sich mit anderen Worten um einen Verstoß gegen eine Vorschrift, die einen in dieser Richtlinie nicht geregelten Bereich betraf.

55.      Wenn man das Urteil Kommission/Italien(17) auf diese Weise liest, so liefert es wertvolle Hinweise auf das Zusammenspiel zwischen Art. 30 („Finanzaufsicht“) und Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Es wäre auch hilfreich bei der Bestimmung des materiellen Anwendungsbereichs der letztgenannten Vorschrift. Es könnte nämlich zu dem Schluss führen, dass es sich im Fall von Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie – im Gegensatz zur „Finanzaufsicht“ im Sinne von Art. 30 dieser Richtlinie – nicht nur um Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie handeln kann, sondern auch um Verstöße gegen andere im Aufnahmemitgliedstaat geltende Rechtsvorschriften über die Geschäftspraktiken von Versicherungsunternehmen, die nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.

56.      In der vorliegenden Rechtssache gehen die Vorlagefragen jedoch nicht so weit. Sie betreffen nämlich nicht die Ausübung der Aufsicht über die Einhaltung jeder beliebigen im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Rechtsvorschrift. Sie betreffen die Ausübung der Aufsicht über die Einhaltung von Vorschriften des Unionsrechts, nämlich der PRIIP-Verordnung und der VV-Richtlinie, und die Befugnis, Verstöße gegen diese Vorschriften im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu ahnden. Es ist daher zu prüfen, ob die Schlussfolgerungen, die das Urteil Kommission/Italien(18) implizieren könnte, durch eine Analyse des Verhältnisses zwischen Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie sowie der PRIIP-Verordnung und der VV-Richtlinie gestützt werden.

3.      PRIIP-Verordnung

57.      Die PRIIP-Verordnung legt einheitliche Vorschriften für das Format und den Inhalt des Basisinformationsblatts, das von PRIIP-Herstellern abzufassen ist, sowie für die Bereitstellung des Basisinformationsblatts an Kleinanleger fest (Art. 1). Sie gilt für PRIIP-Hersteller und Personen, die über PRIIP beraten oder sie verkaufen (Art. 2 Abs. 1).

58.      Darüber hinaus definiert die PRIIP-Verordnung den Begriff „zuständige Behörden“ als die nationalen Behörden, die von einem Mitgliedstaat zur Überwachung der Anforderungen dieser Verordnung an PRIIP-Hersteller und Personen, die über PRIIP beraten oder sie verkaufen, benannt werden (Art. 4 Nr. 8).

59.      Die Art. 22 ff. der PRIIP-Verordnung regeln verwaltungsrechtliche Sanktionen und andere Maßnahmen bei Verstößen gegen die PRIIP-Verordnung. Wir finden jedoch in der Verordnung keine Bestimmung, die die Abgrenzung der Zuständigkeiten und Befugnisse der Behörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats zur Aufsicht über die Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung unmittelbar regeln würde.

60.      Es ist richtig, dass die PRIIP-Verordnung Bestimmungen enthält, die sich mit den Pflichten und Befugnissen der Mitgliedstaaten zur Überwachung des Marktes für Versicherungsprodukte, die in ihren Anwendungsbereich fallen, befassen. Es geht hier um die Art. 15 bis 18 im Kapitel III („Marktüberwachung und Produktinterventionsbefugnisse“) dieser Verordnung.

61.      Art. 15 Abs. 2 der PRIIP-Verordnung lautet: „Die zuständigen Behörden überwachen den Markt für Versicherungsanlageprodukte, die in ihrem Mitgliedstaat oder von ihrem Mitgliedstaat aus vermarktet, vertrieben oder verkauft werden“ (Art. 15 Abs. 2)(19). Aus Art. 17 Abs. 1 der PRIIP-Verordnung ergibt sich dabei, dass „[e]ine zuständige Behörde … in oder aus ihrem Mitgliedstaat [Versicherungsanlageprodukte und eine Form der Finanztätigkeit oder ‑praxis eines Versicherungsunternehmens oder Rückversicherungsunternehmens] verbieten oder beschränken [kann]“.

62.      Diese Überwachung scheint jedoch nicht die Einhaltung von Verpflichtungen zu betreffen, die ausdrücklich in der PRIIP-Verordnung oder im Unionsrecht geregelt sind. Gemäß Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der PRIIP-Verordnung können nämlich die in Art. 17 Abs. 1 genannten Maßnahmen ergriffen werden, wenn die zuständige Behörde sich vergewissert hat, dass bestehende regulatorische Anforderungen nach Unionsrecht, die auf ein Versicherungsanlageprodukt oder eine entsprechende Tätigkeit oder Praxis anwendbar sind, den von den zuständigen Behörden festgestellten Gefahren nicht hinreichend begegnen. Hier geht es also um die Überwachung des Marktes für Versicherungsprodukte und die möglichen Interventionen, die aufgrund der von der Aufsichtsbehörde festgestellten Unzulänglichkeiten in der Unionsregelung erforderlich sind.

63.      Die Antwort auf die Frage der Abgrenzung der Zuständigkeiten und Befugnisse der Behörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats bei der Überwachung der Einhaltung der Vorschriften der PRIIP-Verordnung muss daher außerhalb dieser Verordnung gesucht werden.

64.      Die PRIIP-Verordnung steht in keiner Weise dem entgegen, dass die Abgrenzung dieser Zuständigkeiten und Befugnisse nach den Vorschriften der Solvabilität‑II-Richtlinie bestimmt wird. Art. 3 Abs. 2 der PRIIP-Verordnung sieht überdies vor, dass, wenn PRIIP-Hersteller im Sinne dieser Verordnung auch unter die Solvabilität‑II-Richtlinie fallen, sowohl diese Verordnung als auch diese Richtlinie gelten. Die Verordnung impliziert daher die gleichzeitige Anwendung dieser beiden Rechtsakte auf eine bestimmte Kategorie von Einrichtungen, die Versicherungsprodukte entwickeln und herstellen, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Dazu gehören auch Versicherungsunternehmen(20), auf die sich die Solvabilität‑II-Richtlinie bezieht.

4.      VV-Richtlinie

65.      Mit der VV-Richtlinie werden Vorschriften für die Aufnahme und Ausübung des Versicherungs- und Rückversicherungsvertriebs in der Union festgelegt(21). Mit der Richtlinie werden sowohl Versicherungsvermittlern als auch Versicherungsunternehmen Pflichten auferlegt(22). Die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts beruhen im Übrigen auf der Annahme, dass NOVIS als Versicherungsunternehmen gegen die Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie in tschechisches Recht(23) verstoßen hat.

66.      Anders als in der PRIIP-Verordnung finden sich in der VV-Richtlinie Bestimmungen, die regeln, wie mit Verstößen umzugehen ist, die ein Versicherungsvermittler, der im Rahmen der Dienstleistungs- oder der Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat tätig ist, begeht. Es geht hier um die Art. 4 bis 9 der VV-Richtlinie. Sie sind ähnlich aufgebaut wie Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie.

67.      Die VV-Richtlinie sieht nämlich vor, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, die einen Verstoß feststellen, dies zunächst den Behörden des Herkunftsmitgliedstaats(24) mitteilen. Handelt der Versicherungsvermittler trotz der Maßnahmen des Herkunftsmitgliedstaats oder deswegen, weil sich die Maßnahmen als unzureichend erweisen oder der betreffende Staat keine Maßnahmen getroffen hat, weiterhin in einer Art und Weise, die eindeutig den Interessen der Verbraucher im Aufnahmemitgliedstaat oder dem reibungslosen Funktionieren der Versicherungs- und Rückversicherungsmärkte schadet, kann die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats die geeigneten Maßnahmen treffen, um weitere Unregelmäßigkeiten zu verhindern(25).

68.      Die Bestimmungen der VV-Richtlinie, die sich auf die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaat beziehen, betreffen Verstöße, die von Versicherungs- oder Rückversicherungsvermittlern oder Versicherungsvermittlern in Nebentätigkeit begangen werden. Diese Bestimmungen finden jedoch keine Anwendung auf Versicherungsunternehmen.

69.      Mit der VV-Richtlinie werden daher Versicherungsunternehmen Pflichten auferlegt, die denen entsprechen, die Versicherungsvermittlern auferlegt werden(26). Dagegen regelt diese Richtlinie die Aufteilung der Zuständigkeiten und Befugnisse zwischen den Behörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats bei der Aufsicht über die Tätigkeit von Versicherungsunternehmen nicht.

70.      In diesem Zusammenhang ist jedoch anzumerken, dass die VV-Richtlinie (in Bezug auf Versicherungsvermittler) und die Solvabilität‑II-Richtlinie (in Bezug auf Versicherungsunternehmen) die Befugnisse der Behörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats zur Aufsicht über die Tätigkeit von Versicherungsvermittlern bzw. Versicherungsunternehmen in ähnlicher Weise regeln.

71.      Daher ist die Ansicht vertretbar, dass es die Absicht des Unionsgesetzgebers war, analoge Lösungen für die Beaufsichtigung der Einhaltung der Verpflichtungen aus der VV-Richtlinie auf der Grundlage dieser Richtlinie in Bezug auf Vermittler und auf der Grundlage der Solvabilität‑II-Richtlinie in Bezug auf Versicherungsunternehmen anzuwenden. Eine solche Lösung würde es den Mitgliedstaaten ermöglichen, dieselben Behörden zur Überwachung der Einhaltung der Verpflichtungen aus der VV-Richtlinie durch alle Einrichtungen, denen die Richtlinie solche Verpflichtungen auferlegt, zu benennen. Dies würde bedeuten, dass Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie für die Beaufsichtigung durch die Behörden der Mitgliedstaaten auch insoweit gilt, als es um die Beaufsichtigung der Einhaltung der Bestimmungen der VV-Richtlinie geht.

72.      Es bleibt noch, die Schlussfolgerungen, die sich aus der systematischen Auslegung von Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie ergeben, mit denen zu vergleichen, die sich aus der teleologischen Auslegung dieser Vorschrift ergeben.

5.      Teleologische Auslegung

73.      Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie gehört zu dem Kapitel dieser Richtlinie, das sich – dem Titel entsprechend – mit der freien Niederlassung und dem freien Dienstleistungsverkehr befasst. Dabei geht es nicht nur um den bloßen Zugang zum Markt anderer Mitgliedstaaten als des Herkunftsmitgliedstaats, sondern auch um die kontinuierliche Ausübung von Tätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet.

74.      Im 11. Erwägungsgrund der Solvabilität‑II-Richtlinie wird ferner hervorgehoben, dass diese Richtlinie ein wichtiges Instrument zur Vollendung des Binnenmarkts darstellt, weshalb es Versicherungsunternehmen, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat zugelassen sind, gestattet werden sollte, ihr Geschäft durch Gründung von Zweigniederlassungen oder die Erbringung von Dienstleistungen in der gesamten Union auszuüben. In diesem Erwägungsgrund heißt es weiter: „Daher empfiehlt es sich, insoweit eine Harmonisierung vorzunehmen, als diese notwendig ist, um zu einer gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen und Aufsichtssystemen und somit zu einer einheitlichen Zulassung zu gelangen, die gemeinschaftsweit gültig ist und die Beaufsichtigung eines Unternehmens durch den Herkunftsmitgliedstaat ermöglicht.“

75.      Gleichzeitig wird im 16. Erwägungsgrund das vorrangige Ziel der Regulierung und Beaufsichtigung durch den Herkunftsmitgliedstaat genannt, nämlich ein angemessener Schutz der Versicherungsnehmer und Anspruchsberechtigten. Die Sicherstellung eines angemessenen Schutzes für diese Gruppen erfordert eine Beaufsichtigung nicht nur beim Zugang eines Versicherungsunternehmens zum Markt eines anderen Mitgliedstaats, sondern auch die Beaufsichtigung der laufenden Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens und die Überwachung der Einhaltung der in den jeweiligen Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften.

76.      Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass auch die teleologische Auslegung von Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie dafür spricht, diese Bestimmung so auszulegen, dass sie in einer Situation Anwendung findet, in der die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats die Einhaltung von Verpflichtungen in Bezug auf die Geschäftspraktiken eines Versicherungsunternehmens aus einem anderen Mitgliedstaat beaufsichtigt, die in anderen Rechtsakten der Union vorgesehen sind, sofern diese selbst keine eine andere Lösung dafür vorsehen.

6.      Schlussfolgerung zur ersten Frage

77.      Angesichts der grammatischen Auslegung von Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie(27), die durch die Schlussfolgerungen der systematischen(28) und der teleologischen(29) Auslegung gestützt wird, meine ich, dass die erste Frage zu bejahen ist. Ich schlage daher vor, diese Frage dahin gehend zu beantworten, dass Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie so auszulegen ist, dass er auch für Fälle gilt, in denen die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats die Einhaltung der in der PRIIP-Verordnung oder der VV-Richtlinie festgelegten Verpflichtungen durch ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat überwacht.

B.      Zur zweiten Vorlagefrage

78.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie so auszulegen ist, dass die Aufsichtsbehörden des Aufnahmemitgliedstaats verpflichtet sind, zunächst die Melde- und Abhilfeverfahren nach den Abs. 1, 2 und 3 dieses Artikels der Richtlinie auszuschöpfen, auch wenn es um die Verhängung von Verwaltungssanktionen im Sinne der Abs. 5 und 6 dieses Artikels der Richtlinie wegen eines Verstoßes gegen die in der PRIIP-Verordnung oder der VV-Richtlinie festgelegten Verpflichtungen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geht.

79.      Die zweite Frage wird vom vorlegenden Gericht für den Fall vorgelegt, dass der Gerichtshof die erste Frage bejaht und damit entscheidet, dass Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie auch dann gilt, wenn die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats die Einhaltung der in der PRIIP-Verordnung oder der VV-Richtlinie festgelegten Verpflichtungen durch ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat überwacht. Aus meiner Analyse der ersten Vorlagefrage folgt, dass die erste Vorlagefrage zu bejahen ist. Daher werde ich auch die zweite Vorlagefrage analysieren.

80.      Einleitend ist festzustellen, dass die zweite Vorlagefrage auf der Annahme beruht, dass die gegen NOVIS verhängten und im Ausgangsverfahren angefochtenen Sanktionen „Sanktionen“ zur „Ahndung“ von Verstößen im Sinne von Art. 155 Abs. 5 und 6 der Solvabilität‑II-Richtlinie sind.

81.      Die zweite Vorlagefrage ist indessen in erster Linie unter dem Blickwinkel von Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie zu betrachten. Diese Vorschrift betrifft die Befugnis des Aufnahmemitgliedstaats, in seinem Hoheitsgebiet begangene Verstöße zu ahnden. Art. 155 Abs. 6 dieser Richtlinie scheint seinerseits den in Abs. 5 formulierten Grundsatz zu bestätigen und die Möglichkeit zu betonen, die verhängten Sanktionen an den im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vorhandenen Vermögensgegenständen des Versicherungsunternehmens zu vollstrecken.

82.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass NOVIS wegen Verstößen gegen die PRIIP-Verordnung und die VV-Richtlinie(30) sanktioniert wurde. Zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage werde ich daher zunächst die Bestimmungen dieser Verordnung und dieser Richtlinie prüfen, die sich auf die Verhängung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen und Geldbußen bei Verstößen gegen die Bestimmungen dieser Rechtsakte beziehen. Anschließend werde ich die Bestimmungen der Solvabilität‑II-Richtlinie prüfen, auf die sich die zweite Vorlagefrage unmittelbar bezieht.

1.      Verwaltungsrechtliche Sanktionen und Geldbußen für Verstöße gegen die PRIIP-Verordnung und die VV-Richtlinie

83.      Verwaltungsrechtliche Sanktionen und andere Maßnahmen bei Verstößen gegen die PRIIP-Verordnung sind in ihrem Art. 22 geregelt.

84.      Gemäß Art. 22 Abs. 1 der PRIIP-Verordnung werden die Mitgliedstaaten – „[u]nbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden“ – verpflichtet, verwaltungsrechtliche Sanktionen und Maßnahmen festzulegen, die bei Verstößen gegen diese Verordnung verhängt werden, und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten. Art. 23 der Verordnung sieht sodann vor, dass die zuständigen Behörden ihre Sanktionsbefugnisse gemäß dieser Verordnung und den nationalen Rechtsvorschriften wie folgt ausüben: unmittelbar, in Zusammenarbeit mit anderen Behörden, unter eigener Zuständigkeit, durch Übertragung von Aufgaben an solche Behörden oder durch Antragstellung bei den zuständigen Justizbehörden.

85.      NOVIS wurde von der tschechischen Aufsichtsbehörde u. a. wegen Verstößen gegen die in Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der PRIIP-Verordnung(31) vorgesehenen Verpflichtungen unmittelbar sanktioniert. Gemäß Art. 24 Abs. 1 der PRIIP-Verordnung gilt dieser Artikel u. a. für Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 8 Abs. 3 dieser Verordnung.

86.      Gleichzeitig ergibt sich aus Art. 24 Abs. 2 der PRIIP-Verordnung, dass „[d]ie zuständigen Behörden … befugt [sind], zumindest die [in dieser Bestimmung aufgeführten] verwaltungsrechtlichen Sanktionen und Maßnahmen nach Maßgabe des nationalen Rechts zu verhängen“. Zu diesen Maßnahmen gehören die „Verfügung der Aussetzung der Vermarktung eines PRIIP“ (Art. 24 Abs. 2 Buchst. b) und „Geldbußen“ (Art. 24 Abs. 2 Buchst. e).

87.      Im 24. Erwägungsgrund der PRIIP-Verordnung wird die Bedeutung von Art. 24 erklärt, soweit er sich auf von den zuständigen Behörden auferlegte Maßnahmen bezieht. Diesem Erwägungsgrund zufolge wird mit dieser Verordnung selbst weder ein Pass eingeführt, der den grenzüberschreitenden Verkauf oder die grenzüberschreitende Vermarktung von PRIIP an Kleinanleger erlaubt, noch werden mit ihr bestehende Pass-Regelungen geändert. Gemäß diesem Erwägungsgrund wird im Rahmen solcher bestehender Pass-Regelungen die geltende Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den betreffenden zuständigen Behörden nicht geändert. „Die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dem das betreffende PRIIP vermarktet wird, sollte [indessen] für die Überwachung der Vermarktung dieses PRIIP zuständig sein. Die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Produkt vermarktet wird, sollte stets das Recht haben, die Vermarktung eines PRIIP in ihrem Hoheitsgebiet auszusetzen, wenn diese Verordnung nicht eingehalten wird“(32). Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es sich im Fall von „Geldbußen“, zu deren Verhängung die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 24 Abs. 2 der Verordnung ebenfalls „befugt“ sind, anders verhalten sollte. Bei Verstößen, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats begangen werden, sollte die von diesem Staat benannte zuständige Behörde in der Lage sein, unmittelbar auch Geldbußen zu verhängen.

88.      Die PRIIP-Verordnung geht daher davon aus, dass, auch wenn die Frage der Aufteilung der Zuständigkeiten und der Befugnisse zur Ausübung der Aufsicht durch die Behörden der Mitgliedstaaten als solche nicht direkt durch diese Verordnung geregelt wird(33), der Mitgliedstaat, in dem das betreffende Versicherungsprodukt vermarktet wird, in der Lage sein sollte, auf Verstöße in seinem Hoheitsgebiet zu reagieren. Eine solche Reaktion eines Mitgliedstaats scheint aus der Sicht dieser Verordnung und im Licht ihres 24. Erwägungsgrundes „[u]nbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden“ zu erfolgen.

89.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass NOVIS auch wegen Verstößen gegen die VV-Richtlinie(34) sanktioniert wurde. Diese Richtlinie sieht für die Ahndung von Verstößen analoge Lösungen wie die PRIIP-Verordnung vor.

90.      In Art. 31 Abs. 1 der VV-Richtlinie heißt es nämlich: „Unbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden und des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen und zu verhängen, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ihre zuständigen Behörden Verwaltungssanktionen und andere Maßnahmen zur Ahndung von Verstößen gegen die zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften verhängen können, und ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten.“ Gemäß Art. 31 Abs. 3 der VV-Richtlinie üben die zuständigen Behörden ihre Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse in Übereinstimmung mit ihrem jeweiligen nationalen Rechtsrahmen auf eine der folgenden Arten aus: unmittelbar, in Zusammenarbeit mit anderen Behörden oder durch Antragstellung bei den zuständigen Justizbehörden. Diese Bestimmung schließt es also nicht aus, dass Sanktionen für Verstöße gegen die Richtlinie unmittelbar vom Aufnahmemitgliedstaat verhängt werden.

91.      Aus der Analyse von Art. 22 der PRIIP-Verordnung und Art. 31 der VV-Richtlinie ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten nach diesen beiden Rechtsakten „[u]nbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden“ verpflichtet sind, verwaltungsrechtliche Sanktionen und Maßnahmen für Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Rechtsakte festzulegen und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um deren Anwendung sicherzustellen.

92.      Im Licht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Vorlagefrage wird die Verteilung der Zuständigkeiten und Aufsichtsbefugnisse zwischen den Behörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats durch die Solvabilität‑II-Richtlinie geregelt. Es bleibt daher zu prüfen, ob – auch aus der Sicht der Solvabilität‑II-Richtlinie – die Verpflichtung und die Befugnis, Verstöße gegen die PRIIP-Verordnung und die VV-Richtlinie zu ahnden, tatsächlich auch unter Außerachtlassung des in Art. 155 Abs. 1 bis 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie geregelten Verfahrens ausgeübt werden können, und zwar „[u]nbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden“, auf die in dieser Richtlinie Bezug genommen wird.

2.      Maßnahmen des Aufnahmemitgliedstaats und SolvabilitätII-Richtlinie

93.      Dieser Teil der Erörterung sollte mit der folgenden Beobachtung beginnen: In Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie heißt es in zwei Bestimmungen, dass „[d]ie Absätze 1, 2 und 3 … nicht die Befugnis[se] der Mitgliedstaaten [berühren]“, die in diesen Bestimmungen beschrieben werden. Es handelt sich um Art. 155 Abs. 4 und 5 der genannten Richtlinie.

94.      Der Gerichtshof hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit, diese Regelungen auszulegen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Vorgängerrichtlinie der Solvabilität‑II-Richtlinie bietet jedoch wertvolle Anhaltspunkte für die Auslegung dieser Bestimmungen.

95.      In dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache, in der das Urteil Onix Asigurări(35) erging, ging es um die Frage, ob Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 dem entgegensteht, dass die Aufsichtsbehörde eines Aufnahmemitgliedstaats in dringenden Fällen zum Schutz der Interessen der Versicherten und der zur Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen Berechtigten einem Versicherungsunternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat den Abschluss neuer Versicherungsverträge im Staatsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats untersagt. Die entsprechende Untersagungsverfügung war darauf gestützt worden, dass eine Voraussetzung für die Erteilung der Zulassung für die Tätigkeit wie die Voraussetzung der Zuverlässigkeit einer durch eine entsprechende Organisation und Kapitalbeteiligung mit dem Versicherungsunternehmen verbundenen Person nicht oder nicht mehr erfüllt sei(36).

96.      Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 sah eine ähnliche Lösung vor, wie sie jetzt in Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie zu finden ist. Dort hieß es nämlich: „Die Absätze 3, 4 und 5 berühren nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, in dringenden Fällen geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Unregelmäßigkeiten in ihrem Staatsgebiet zu verhindern oder zu ahnden. Dies schließt die Möglichkeit ein, ein Versicherungsunternehmen zu hindern, weitere neue Versicherungsverträge in ihrem Staatsgebiet abzuschließen.“

97.      Bei der Auslegung von Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 stellte der Gerichtshof fest, dass diese Bestimmung nicht so verstanden werden kann, dass sie sich nur auf Maßnahmen in Bezug auf im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats bereits „begangene“ Unregelmäßigkeiten bezieht. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist sie so auszulegen, dass sie den Erlass von Maßnahmen zur Verhinderung zukünftiger Unregelmäßigkeiten gestattet(37). Mit anderen Worten: Es geht um die Befugnis des Aufnahmemitgliedstaats, bei Unregelmäßigkeiten oder bei der Gefahr von Unregelmäßigkeiten Maßnahmen gegen das betreffende Versicherungsunternehmen ergreifen zu können(38).

98.      Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass Art. 40 der Richtlinie 92/49 „zwei unterschiedliche Verfahren“ einrichtet, mit deren Hilfe die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats – bei „Unregelmäßigkeiten“ oder bei der Gefahr von Unregelmäßigkeiten – Maßnahmen gegen das Versicherungsunternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ergreifen können.

99.      Das erste Verfahren war in Art. 40 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 92/49 geregelt. Diesen Bestimmungen entspricht Art. 155 Abs. 2 und 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie.

100. Das zweite Verfahren war in Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 geregelt. Der Gerichtshof führt aus: „[Diese Bestimmung] sieht abweichend von dem gewöhnlichen Verfahren gemäß Art. 40 Abs. 4 und 5 für den betreffenden Mitgliedstaat der Dienstleistung weder eine Verpflichtung vor, die zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats über diese Unregelmäßigkeiten zu informieren, noch eine Verpflichtung, ihnen seine Absicht mitzuteilen, geeignete Maßnahmen zu treffen“(39).

101. Der Gerichtshof unterscheidet ferner deutlich zwischen den beiden Verfahren, die in Art. 40 Abs. 4 und 5 bzw. in Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 geregelt sind.

102. Erstens ist das Verfahren gemäß Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 nur dann anwendbar, wenn es um dringende Fälle geht, die den sofortigen Erlass von geeigneten Maßnahmen erfordern(40).

103. Zweitens scheint der Gerichtshof die Auffassung zu vertreten, dass der Aufnahmemitgliedstaat durch Maßnahmen, die er im Rahmen des Verfahrens nach Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 ergreift, nicht die Befugnisse beanspruchen darf, die nach dem Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats fallen, in dem das Versicherungsunternehmen seinen Sitz hat(41). Die von ihm getroffenen Maßnahmen müssen nicht nur aus Gründen der Dringlichkeit gerechtfertigt sein, sondern es kann sich auch „nur um Sicherungsmaßnahmen“ handeln, so dass der Aufnahmemitgliedstaat mit der Anwendung dieser Maßnahmen nicht in den dem Herkunftsmitgliedstaat vorbehaltenen Bereich der Aufsicht eingreift. Der Gerichtshof stellt fest: „[Diese Maßnahmen] sind folglich nur anwendbar, solange eine Entscheidung der zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats abgewartet wird, die … die Konsequenz aus den Tatsachen zieht, die der Mitgliedstaat der Dienstleistung festgestellt hat“(42).

104. Im Urteil Onix Asigurări(43) ging es, das sei ergänzt, um die Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats für die Zulassung sowie die Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der Zulassung erfüllt sind. Dass dies ein Bereich ist, der dem Herkunftsmitgliedstaat vorbehalten ist, wurde in Art. 4 der Richtlinie 92/49 festgelegt, der einen ähnlichen normativen Inhalt wie Art. 14 der Solvabilität‑II-Richtlinie hat.

105. Wie bereits erörtert(44), entspricht Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Die Hinweise des Urteils Onix Asigurări(45) zu Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 können daher bei der Auslegung von Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie herangezogen werden. Dies bedeutet, dass der Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage der letztgenannten Bestimmung unter Außerachtlassung von Art. 155 Abs. 1, 2 und 3 der Solvabilität‑II-Richtlinie Maßnahmen ergreifen kann, wenn es erstens um dringende Fälle geht und zweitens die Maßnahmen ihrer Art nach nicht in den dem Herkunftsmitgliedstaat vorbehaltenen Zuständigkeitsbereich fallen.

106. Die Vorlagefragen in der vorliegenden Rechtssache beziehen sich jedoch nicht auf Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Im Übrigen deutet nichts darauf hin, dass das vorlegende Gericht annimmt, dass die tschechische Aufsichtsbehörde sich bei den in Bezug auf NOVIS erlassenen Maßnahmen auf die Dringlichkeit ihrer Anwendung gegenüber NOVIS berufen hat.

107. Die zweite Frage wiederum bezieht sich u. a. ausdrücklich auf Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie. Es ist jedoch festzustellen, dass sowohl Art. 155 Abs. 4 als auch Art. 155 Abs. 5 der Richtlinie eine Ausnahme von dem in den Abs. 1 bis 3 dieses Artikels vorgesehenen Verfahren vorsehen(46). Wenn also die Auslegung von Art. 40 Abs. 6 der Richtlinie 92/49 im Urteil Onix Asigurări(47) für die Auslegung von Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie von Bedeutung ist, so ist sie indirekt auch für die Auslegung von Art. 155 Abs. 5 dieser Richtlinie von Bedeutung.

108. Daraus ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie befasst sich mit Situationen, in denen dringender Handlungsbedarf besteht, um nachteilige Folgen von „Unregelmäßigkeiten“ zu verhindern, die von einem Versicherungsunternehmen begangen wurden. In einem solchen Fall muss der Aufnahmemitgliedstaat das in Art. 155 Abs. 1 bis 3 dieser Richtlinie vorgesehene Verfahren nicht beachten. Der Mitgliedstaat muss jedoch sicherstellen, dass die von ihm ergriffenen Maßnahmen den Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat nicht in Frage stellen, und diese Maßnahmen sind eng zu bestimmen.

109. Diesen Erwägungen folgend befreit Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie die Mitgliedstaaten ebenfalls von der Pflicht, das in Art. 155 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie vorgesehene Verfahren zu beachten. Gleichzeitig dürfen die Maßnahmen, die der Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage der in Art. 155 Abs. 5 der Richtlinie genannten Befugnisse ergreift, den Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat nicht in Frage stellen.

110. Schließlich ist Art. 155 Abs. 5 der Richtlinie auf Befugnisse des Aufnahmemitgliedstaats anzuwenden, die sich in ihrer Art von den in Abs. 4 dieses Artikels genannten unterscheiden. Die gleichzeitige Geltung dieser beiden Bestimmungen im Rahmen der Solvabilität‑II-Richtlinie wäre andernfalls sinnlos.

111. Wie Art. 155 Abs. 1 der Solvabilität‑II-Richtlinie betrifft auch Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie die Reaktion auf „Unregelmäßigkeiten“ bzw. das Risiko ihres Auftretens. Die Tatsache, dass sich diese beiden Bestimmungen auf dieselbe Art von Situationen („Unregelmäßigkeiten“) beziehen, erklärt, warum der Gerichtshof im Urteil Onix Asigurări(48) so viel Wert darauf gelegt hat, dass die Ausübung der in Art. 155 Abs. 4 der Solvabilität‑II-Richtlinie genannten Befugnisse durch den Aufnahmemitgliedstaat nicht in den dem Herkunftsmitgliedstaat vorbehaltenen Bereich der Aufsicht eingreift(49). In diesem Bereich sind die Behörden der Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, das in Art. 155 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie vorgesehene Verfahren zu beachten.

112. Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie bezieht sich hingegen auf die Ahndung von „Verstößen“, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats begangen werden. Meines Erachtens handelt es sich hierbei nicht um einen lang anhaltenden Zustand der rechtswidrigen Tätigkeit eines Versicherungsunternehmens oder die Gefahr eines solchen Zustands, dem nur durch ein Eingreifen „an der Quelle“, d. h. im Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Versicherungsunternehmens, abgeholfen werden kann. Denn ein solcher Zustand stellt eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 155 der Richtlinie dar. Vielmehr bezieht sich Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie auf Verstöße bei der Erfüllung der Pflichten eines Versicherungsunternehmens gegenüber den Versicherungsnehmern und Begünstigten im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats. Die Verhängung entsprechender Sanktionen stellt die grundsätzliche Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats für die Aufsicht über ein Versicherungsunternehmen mit Sitz in diesem Staat nicht in Frage.

113. Das oben besprochene Urteil Kommission/Italien(50) kann diese Auslegungslinie ebenfalls bestätigen. Zur Erinnerung: In diesem Fall ging es um die Verhängung von Sanktionen gegen eine Versicherungsgesellschaft wegen der Berechnung von Versicherungsprämien, die gegen die nationalen Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats verstießen, die auf Verträge mit Versicherungsnehmern im Aufnahmemitgliedstaat angewandt wurden. Wie bereits erörtert(51), könnte dieses Urteil darauf hindeuten, dass Art. 155 Abs. 5 der Solvabilität‑II-Richtlinie die Befugnis des Aufnahmemitgliedstaats bestätigt, in seinem Hoheitsgebiet begangene Verstöße gegen Vorschriften zu ahnden, die die Geschäftspraktiken von Versicherungsunternehmen regeln.

114. Die Befugnis zur Verhängung von Sanktionen bei Verstößen gegen die Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Ausübung der Versicherungstätigkeit gegenüber Versicherungsnehmern und Begünstigten im Hoheitsgebiet eines gegebenen Mitgliedstaats in den Händen der Aufsichtsbehörden dieses Staates zu belassen, dürfte schließlich unter dem Gesichtspunkt ihres wirksamen und möglichst schnellen Schutzes die angemessenste und effektivste Lösung sein.

3.      Schlussfolgerung zur zweiten Vorlagefrage

115. Folglich ergänzen sich die Bestimmungen zum einen der PRIIP-Verordnung und der VV-Richtlinie und zum anderen der Solvabilität‑II-Richtlinie insoweit, als sie die Verhängung von Sanktionen für Verstöße betreffen, die das Versicherungsunternehmen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats begeht.

116. Zum einen sehen die PRIIP-Verordnung und die VV-Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten „[u]nbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden“ verpflichtet sind, verwaltungsrechtliche Sanktionen und Maßnahmen für Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Rechtsakte festzulegen und alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um deren Anwendung sicherzustellen(52).

117. Zum anderen ist die Aufteilung der Zuständigkeiten und Befugnisse zwischen den Aufsichtsbehörden des Herkunfts- und des Aufnahmemitgliedstaats in der Solvabilität‑II-Richtlinie geregelt(53). In diesem Bereich müssen die Behörden der Mitgliedstaaten grundsätzlich das in Art. 155 Abs. 1 bis 3 der genannten Richtlinie vorgesehene Verfahren einhalten. Art. 155 Abs. 5 der Richtlinie sieht jedoch vor, dass die Aufnahmemitgliedstaaten abweichend von diesem Verfahren von ihrer Befugnis Gebrauch machen können, Verstöße in ihrem Hoheitsgebiet zu ahnden.

118. Angesichts der übereinstimmenden Schlussfolgerungen, zu denen die Auslegung der Bestimmungen zum einen der PRIIP-Verordnung und der VV-Richtlinie und zum anderen der Solvabilität‑II-Richtlinie führt, schlage ich vor, die zweite Vorlagefrage dahin gehend zu beantworten, dass Art. 155 der letztgenannten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Aufsichtsbehörden des Aufnahmemitgliedstaats nicht verpflichtet sind, zunächst die Melde- und Abhilfeverfahren nach den Abs. 1, 2 und 3 dieses Artikels der Richtlinie auszuschöpfen, wenn es um die Verhängung von Verwaltungssanktionen im Sinne der Abs. 5 und 6 dieses Artikels der Richtlinie wegen eines Verstoßes gegen die in der PRIIP-Verordnung oder der VV-Richtlinie festgelegten Verpflichtungen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geht.

V.      Ergebnis

119. Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 155 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II)

ist so auszulegen, dass

er auch für Fälle gilt, in denen die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats die Einhaltung der in der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP) oder der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Januar 2016 über Versicherungsvertrieb festgelegten Verpflichtungen durch ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat überwacht.

2.      Art. 155 der Solvabilität‑II-Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

die Aufsichtsbehörden des Aufnahmemitgliedstaats nicht verpflichtet sind, zunächst die Melde- und Abhilfeverfahren nach den Abs. 1, 2 und 3 dieses Artikels der Richtlinie auszuschöpfen, wenn es um die Verhängung von Verwaltungssanktionen im Sinne der Abs. 5 und 6 dieses Artikels der Richtlinie wegen eines Verstoßes gegen die in der PRIIP-Verordnung oder der Richtlinie 2016/97 festgelegten Verpflichtungen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geht.























































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