C-150/24 – Aroja

C-150/24 – Aroja

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:667

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 4. September 2025(1)

Rechtssache C150/24 [Aroja](i)

A

gegen

Rikoskomisario B

(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein oikeus [Oberstes Gericht, Finnland])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Asyl und Einwanderung – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Art. 15 Abs. 5 und 6 – Inhaftierung über die in Art. 15 Abs. 5 vorgesehene grundsätzliche Höchsthaftdauer hinaus – Verlängerung der grundsätzlichen Höchsthaftdauer – Berechnung der bereits verstrichenen Haftdauer – Zusammenrechnung früherer Haftzeiten – Zu berücksichtigende Umstände – Art. 15 Abs. 3 Satz 2 – Überprüfung der Entscheidung, die Haftdauer zu verlängern – Überprüfung durch eine Justizbehörde – Nationale Regelung, wonach die Einleitung dieser Überprüfung von einem Antrag der inhaftierten Person abhängt – Zeitpunkt und Wirksamkeit der gerichtlichen Überprüfung – Fehlen einer zeitnahen gerichtlichen Überprüfung – Freilassung des inhaftierten Drittstaatsangehörigen “

1.        Mit seinen drei Fragen ersucht das Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland) den Gerichtshof um Klärung bezüglich der Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(2), und zwar insbesondere im Hinblick auf die Berechnung der Höchstdauer der Haft von Drittstaatsangehörigen und die für eine Verlängerung der Haftdauer geltenden Verfahrensgarantien.

2.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen erfolgte im Rahmen eines Verfahrens zwischen A, einem illegal in Finnland aufhältigen Drittstaatsangehörigen, und Rikoskomisario B (Kriminalkommissar B) bezüglich der Rechtmäßigkeit des dritten Zeitraums, in dem der betroffene Drittstaatsangehörige für die Zwecke der Abschiebung in sein Herkunftsland inhaftiert war.

3.        Die Besonderheit dieser Rechtssache besteht darin, dass der betreffende Drittstaatsangehörige in Finnland für die Zwecke der Abschiebung in sein Herkunftsland Marokko insgesamt viermal inhaftiert war. Konkret war er vom 10. September 2022 bis zum 23. November 2022, vom 5. Dezember 2022 bis zum 15. März 2023 (im Folgenden: zweite Haftzeit), vom 11. September 2023 bis zum 18. Januar 2024 (im Folgenden: dritte Haftzeit) und vom 7. Februar 2024 bis zum 13. März 2024 inhaftiert. Die vor dem Korkein oikeus (Oberstes Gericht), dem vorlegenden Gericht, aufgeworfene Frage betrifft die Rechtmäßigkeit der dritten Haftzeit, die bereits abgelaufen ist, sowie die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Verfügung vom 11. September 2023(3).

4.        Die vorliegende Rechtssache verdeutlicht die Herausforderung, vor der der Gerichtshof steht, wenn es darum geht, zwei gegensätzliche Ziele miteinander in Einklang zu bringen: die Gewährleistung der menschenwürdigen Behandlung und der individuellen Rechte von Migranten einerseits und die Sicherstellung ihrer wirksamen Abschiebung andererseits. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Zielen bleibt ungelöst und ist naturgemäß schwer aufzulösen(4).

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2008/115

5.        Für die vorliegende Rechtssache sind die Erwägungsgründe 2, 4, 9, 13 und 16 sowie Art. 15 der Richtlinie 2008/115 maßgeblich.

6.        Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2)      Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

a)      entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

b)      oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3)      Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4)      Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5)      Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)      Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

2.      DublinIII-Verordnung

7.        Art. 17 („Ermessensklauseln“) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist(5) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) bestimmt in seinem Abs. 1:

„Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. …

…“

8.        Art. 24 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung betrifft das Stellen von Wiederaufnahmegesuchen durch einen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die betreffende Person ohne Aufenthaltstitel aufhält und in dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Diese Vorschrift lautet: „Wird das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist unterbreitet, so gibt der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die betreffende Person ohne Aufenthaltstitel aufhält, dieser Person Gelegenheit, einen neuen Antrag zu stellen.“

B.      Finnisches Recht

9.        Das Ulkomaalaislaki (301/2004) (Ausländergesetz [301/2004]) vom 30. April 2004 in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (813/2015) (im Folgenden: Ausländergesetz) sieht in § 117a vor:

„Allgemeine Voraussetzungen für Sicherungsmaßnahmen

Gegen einen Ausländer kann eine Sicherungsmaßnahme im Sinne der §§ 118 bis 122 dieses Gesetzes verhängt werden, wenn dies erforderlich ist,

1)      um die Bedingungen für die Einreise oder den Aufenthalt im Land zu klären oder

2)      um die Vollstreckung einer Entscheidung über die Abschiebung des Ausländers bzw. zur sonstigen Kontrolle seiner Ausreise aus dem Land vorzubereiten oder sicherzustellen.

Sofern nachfolgend nichts anderes geregelt ist, bleibt die Sicherungsmaßnahme so lange in Kraft, bis die Bedingungen für die Einreise oder den Aufenthalt im Land geklärt sind, die Entscheidung über die Ausreise aus dem Land vollstreckt ist oder der Fall auf andere Weise abgeschlossen wurde. Die Beendigung einer Sicherungsmaßnahme ist jedoch unverzüglich anzuordnen, sobald sie nicht mehr erforderlich ist, um den Erlass der Entscheidung oder ihre Vollstreckung sicherzustellen.“

10.      § 121 des Ausländergesetzes bestimmt:

„Bedingungen für die Inhaftierung

Reichen die Sicherungsmaßnahmen nach §§ 118 bis 120 nicht aus, so kann der Ausländer aufgrund einer Einzelfallprüfung in Haft genommen werden, wenn

1)      unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Ausländers oder der sonstigen Umstände berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Ausländer sich versteckt halten, fliehen oder in sonstiger Weise den Erlass einer ihn betreffenden Entscheidung oder die Vollstreckung eines Bescheids über seine Abschiebung erheblich erschweren würde;

2)      die Inhaftnahme erforderlich ist, um die Identität des Ausländers zu klären;

3)      der Ausländer sich einer Straftat schuldig gemacht hat oder schuldig gemacht zu haben verdächtigt wird und die Inhaftierung zur Sicherstellung der Vorbereitung oder Vollstreckung eines Abschiebungsbescheids erforderlich ist;

4)      der Ausländer als Inhaftierter einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz hauptsächlich zur Verzögerung oder Vereitelung der Vollstreckung eines Abschiebungsbescheids gestellt hat;

…“

11.      § 123 des Ausländergesetzes legt die Verwaltungsbehörden fest, die für die Entscheidung über eine Inhaftnahme zuständig sind. In § 124 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes werden die Verpflichtung der zuständigen Behörde, dem Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz) unverzüglich die Inhaftnahme anzuzeigen, sowie die Verpflichtung dieses Gerichts, die eine Inhaftnahme betreffende Rechtssache innerhalb von vier Tagen ab der Inhaftierung zu verhandeln, geregelt. Nach § 126 Abs. 1 des Ausländergesetzes hat das Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz) die sofortige Freilassung des inhaftierten Ausländers anzuordnen, wenn die Haftvoraussetzungen nicht erfüllt sind.

12.      In § 127 („Freilassung der inhaftierten Person“) des Ausländergesetzes heißt es:

„Die befasste Behörde hat die Freilassung des Inhaftierten unverzüglich anzuordnen, wenn die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Haft nicht mehr erfüllt sind. Der Inhaftierte muss spätestens sechs Monate nach der Entscheidung über seine Inhaftierung freigelassen werden. Die Haftdauer kann jedoch noch länger, nicht jedoch mehr als zwölf Monate dauern, wenn die inhaftierte Person beim Vollzug der Rückführung nicht kooperiert oder aus einem Drittland die erforderlichen Rückführungsdokumente nicht erlangt werden und sich die Vollstreckung der Abschiebung aus diesen Gründen verzögert.

…“

13.      § 128 („Überprüfung durch das Gericht erster Instanz“) dieses Gesetzes bestimmt:

„Wurde die Freilassung des in Haft genommenen Ausländers nicht angeordnet, muss das Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz), in dessen Zuständigkeitsbereich der Ort der Aufrechterhaltung der Haft des Inhaftierten fällt, auf dessen Antrag die sich auf die Inhaftierung … beziehende Rechtssache überprüfen. Die Angelegenheit ist unverzüglich, spätestens jedoch vier Tage nach Antragstellung zur Verhandlung anzuberaumen. Ein die Inhaftierung betreffendes Verfahren braucht jedoch nicht früher als zwei Wochen nach der Entscheidung des Gerichts erster Instanz, mit der es die Aufrechterhaltung der Haft an dem betreffenden Ort angeordnet hat, wiederaufgenommen werden. Bei Berechnung der in diesem Absatz genannten Fristen finden die Bestimmungen von § 5 des Laki säädettyjen määräaikain laskemisesta (Gesetz über die Berechnung von Fristen) (150/1930) keine Anwendung.

Das Gericht erster Instanz nimmt die Sache auf Antrag des Inhaftierten früher als in Abs. 1 vorgesehen wieder auf, wenn dazu aufgrund eines sich nach der vorangegangenen Verhandlung ergebenden Umstands Anlass besteht. Die befasste Behörde unterrichtet den Inhaftierten und seinen Rechtsbeistand unverzüglich über wesentliche Änderungen der Umstände, die Anlass zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens geben, es sei denn, nach § 127 Abs. 1 wurde die Freilassung der Inhaftierten Person angeordnet.

…“

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

14.      Am 10. September 2022 reiste der marokkanische Staatsangehörige A illegal nach Finnland ein. Zum Zeitpunkt seiner Einreise galt für ihn ein Einreiseverbot für den Schengen-Raum, das das Königreich der Niederlande gegen ihn verhängt hatte, nachdem er dort während eines von ihm anhängig gemachten Asylverfahrens verschwunden war. Vor der Einreise nach Finnland hatte er auch in Schweden und der Schweiz einen Asylantrag gestellt.

15.      Am Tag seiner Ankunft wurde A in Finnland aus den in § 121 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 des Ausländergesetzes genannten Gründen, die Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie umsetzen, inhaftiert. Diese Haft endete am 23. November 2022.

16.      Mit Bescheid vom 25. Oktober 2022 ordnete die Maahanmuuttovirasto (Einwanderungsbehörde, Finnland) (im Folgenden: Einwanderungsbehörde) die Rückführung des Drittstaatsangehörigen A nach Marokko an.

17.      Am 29. Oktober 2022 beantragte A in Finnland Asyl. Die Einwanderungsbehörde wies den Asylantrag am 24. November 2022 als offensichtlich unbegründet ab, wies A nach Marokko aus und verhängte gegen ihn für die Dauer von zwei Jahren ein Einreiseverbot.

18.      Am 5. Dezember 2022 wurde A zum zweiten Mal inhaftiert; diese Haft endete am 15. März 2023.

19.      Mit Zwischenurteil vom 5. Januar 2023 wies das Turun hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Turku, Finnland) den Antrag von A auf Untersagung der Vollstreckung des Ausweisungsbescheids ab.

20.      Am 11. September 2023 wurde A zum dritten Mal inhaftiert. Aus der Verfügung des Kriminalkommissars B vom 11. September 2023, mit der die dritte Haftzeit angeordnet wurde, geht hervor, dass A unter Berücksichtigung der früheren Haftzeiten zu jenem Zeitpunkt bereits insgesamt fünf Monate und 23 Tage in Haft gewesen war. Dieser Verfügung zufolge lagen die Voraussetzungen für eine Überschreitung der grundsätzlichen Höchstdauer von sechs Monaten jedoch vor, da sich die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung verzögert hatte, weil A bei dem Vollzug der Rückführung nicht kooperiert hatte und man aus dem Königreich Marokko noch nicht die erforderlichen Rückkehrdokumente erhalten hatte. Daraufhin befasste die Polizei das Helsingin käräjäoikeus (Gericht erster Instanz Helsinki, Finnland) mit der Überprüfung der Voraussetzungen für eine Fortdauer der Haft und übermittelte dem Gericht ihre oben genannte Verfügung vom 11. September 2023. Ausweislich dieser Verfügung wurde A ebenfalls über diese Entscheidung informiert. Am 15. September 2023 fand eine Verhandlung vor diesem Gericht statt.

21.      Die dritte Haftzeit wurde am 7. Dezember 2023 vom Etelä-Karjalan käräjäoikeus (Gericht erster Instanz Süd-Karelien, Finnland) erneut geprüft, das von Amts wegen eine Verhandlung anberaumt hatte, als sich herausstellte, dass die grundsätzliche Höchsthaftdauer von sechs Monaten möglicherweise überschritten worden war. Mit seinem Urteil, das am selben Tag erging, entschied dieses Gericht erstens, dass die verschiedenen Haftzeiten zu addieren seien, da ihr Zweck darin bestehe, die Vollstreckung derselben Rückkehrentscheidung sicherzustellen. Zweitens war es der Auffassung, dass die für eine Überschreitung der Sechsmonatsfrist vorgesehenen Voraussetzungen und alle übrigen materiellen Voraussetzungen für die Fortdauer der Haft erfüllt seien. Drittens war dieses Gericht der Ansicht, dass A nicht allein schon aus dem Grund freizulassen sei, dass eine Gerichtsverhandlung von Amts wegen erst anberaumt worden sei, als die Gesamtdauer der Haft bereits sechs Monate überschritten habe. Es ordnete daher an, dass A weiterhin in Haft zu behalten sei.

22.      Am selben Tag erhob A gegen dieses Urteil Beschwerde beim Itä-Suomen hovioikeus (Berufungsgericht Ostfinnland, Finnland), das die Beschwerde mit Urteil vom 19. Dezember 2023 abwies. In seiner Begründung führte das Berufungsgericht u. a. aus, dass in § 128 des Ausländergesetzes geregelt sei, dass die Überprüfung einer Inhaftierung durch das Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz) auf Antrag des Inhaftierten erfolge und dass A keine Überprüfung beantragt habe, obwohl die Polizei in ihrer Verfügung vom 11. September 2023 auf die Voraussetzungen für eine Überschreitung der Sechsmonatsfrist hingewiesen habe. Aus diesen Gründen sei A nicht allein schon deshalb freizulassen gewesen, weil das erstinstanzliche Gericht nicht vor Ablauf der sechsmonatigen Höchstdauer von Amts wegen über diese Voraussetzungen entschieden habe.

23.      A legte beim Korkein oikeus (Oberstes Gericht) ein Rechtsmittel ein und bestritt die Rechtmäßigkeit der Haft allein mit der Begründung, dass die Frage der Überschreitung der sechsmonatigen Höchstdauer in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht ordnungsgemäß behandelt worden sei. Kriminalkommissar B beantragte, das Rechtsmittel zurückzuweisen. Er machte geltend, dass die am 11. September 2023 begonnene dritte Haftzeit wegen der in der Rechtssache eingetretenen Veränderungen neu sei, so dass die grundsätzliche Höchstdauer von sechs Monaten noch nicht einmal erreicht sei, und dass A aus den von ihm vorgetragenen Gründen nicht hätte freigelassen werden müssen, weil die Haftgründe in jedem Fall erfüllt seien.

24.      Die dritte Haftzeit dauerte bis zum 18. Januar 2024, dem Tag, an dem A nach Dänemark floh.

25.      Am 7. Februar 2024 wurde A nach seiner nach Maßgabe der Dublin‑III-Verordnung erfolgten Rückführung von Dänemark nach Finnland zum vierten Mal inhaftiert. Kraft einer Verfügung des Kriminalkommissars wurde er am 13. März 2024 freigelassen.

26.      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit allein die Rechtmäßigkeit der dritten Haftzeit betrifft. Es führt sodann aus, dass die Haftzeiten des betroffenen Drittstaatsangehörigen auf der Notwendigkeit nach § 121 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 des Ausländergesetzes beruhten, die Vorbereitung einer Abschiebung oder die Vollstreckung einer Abschiebungsverfügung zu gewährleisten, sowie auch auf der Notwendigkeit, die Identität der betreffenden Person gemäß Nr. 2 dieses Absatzes festzustellen. In Bezug auf die Haftzeiten zwischen dem 29. Oktober 2022, als der Asylantrag gestellt worden sei, und dem 5. Januar 2023, an dem das die Vollstreckung betreffende Zwischenurteil des Turun hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Turku) ergangen sei, mit dem der Antrag von A auf Untersagung der Vollstreckung des Ausweisungsbescheids abgewiesen worden sei, deuteten die Unterlagen darauf hin, dass die Inhaftierung hinsichtlich des § 121 Abs. 1 des Ausländergesetzes auch auf der Notwendigkeit beruht habe, die Bearbeitung der Asylsache sicherzustellen.

27.      Zur Begründung der Aufrechterhaltung der Haft habe sich die Polizei insbesondere auf das Verschwinden von A in verschiedenen Mitgliedstaaten, darunter auch Finnland, während des Asylverfahrens, auf seine negative Einstellung zu seiner Ausweisung nach Marokko, auf die von ihm während seines Aufenthalts in Finnland begangenen Straftaten, auf die falschen Angaben zu seinem Geburtsdatum und seiner Identität bei seiner Ankunft in Finnland sowie auf einen Verstoß gegen die als Alternative zu einer Inhaftierung angeordnete Meldepflicht im Sommer 2023 bezogen. Teils seien diese Gründe erst nach Ablauf der zweiten Haftzeit eingetreten und stellten somit neue Gründe für die dritte Haftzeit dar, die am 11. September 2023 begonnen habe. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wurden die Voraussetzungen für eine Überschreitung der Höchstdauer von sechs Monaten in der Verhandlung vor dem Helsingin käräjäoikeus (Gericht erster Instanz Helsinki) am 15. September 2023 jedoch weder aufgrund der vorgetragenen Umstände geprüft noch gab es in der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts Ausführungen dazu.

28.      Insofern ersucht das vorlegende Gericht erstens um Klärung, wie die Höchsthaftdauer nach Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 zu berechnen ist. Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach die gerichtliche Überprüfung der Fortdauer der grundsätzlichen Hafthöchstdauer von sechs Monaten auf Antrag des inhaftierten Drittstaatsangehörigen zu erfolgen hat. Ferner äußert es Zweifel hinsichtlich des Zeitpunkts einer solchen Überprüfung, und zwar insbesondere, ob sie vor Ablauf der Sechsmonatsfrist erfolgen muss oder ob sie durchgeführt werden kann, nachdem die Haftdauer bereits verlängert wurde. Schließlich ersucht das vorlegende Gericht um Klärung hinsichtlich der unionsrechtlichen Folgen, falls festgestellt wird, dass die Sechsmonatsfrist unrechtmäßig ohne gerichtliche Überprüfung verlängert wurde, und zwar insbesondere, ob das nationale Gericht die unverzügliche Freilassung des betreffenden Drittstaatsangehörigen hätte anordnen sollen, obwohl die materiell-rechtlichen Haftvoraussetzungen immer noch bestanden. Es weist darauf hin, dass die vorliegende Rechtssache die Verletzung einer Vorschrift mit unmittelbarer Wirkung betreffe, was den richterlichen Ermessensspielraum im Fall von Verfahrensfehlern möglicherweise einschränke.

29.      Vor diesem Hintergrund hat das Korkein oikeus (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. a)      Ist Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass bei Berechnung der darin genannten Höchsthaftdauer alle früheren Haftzeiten zu berücksichtigen sind? Wenn eine solche Verpflichtung nicht in allen Fällen besteht: Welche Gesichtspunkte sind bei Beurteilung der Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer einer vorherigen Haftzeit bei der Berechnung der Höchstdauer zu berücksichtigen ist?

b)      Wie ist insbesondere eine Situation unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zu beurteilen, bei denen einerseits die wesentliche Rechtsgrundlage für die Aufrechterhaltung der Haft, d. h. die Sicherstellung der Abschiebung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, im Wesentlichen gleich geblieben ist, andererseits aber teils neue Tatsachen und Rechtsgrundlagen zur Begründung einer erneuten Inhaftnahme geltend gemacht wurden, die betreffende Person sich zwischen den Haftzeiten in einen anderen Mitgliedstaat begab und von dort nach Finnland zurückgeführt wurde und zwischen der Beendigung der vorangegangenen Haftzeit und der erneuten Inhaftierung mehrere Monate vergangen sind?

2. a)      Steht Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung entgegen, die die Einleitung der gerichtlichen Überprüfung einer Überschreitung der sechsmonatigen Höchsthaftdauer vom Antrag des Inhaftierten selbst abhängig macht?

b)      Ist die in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene gerichtliche Überprüfung der Entscheidung der Verwaltungsbehörde, die grundsätzliche Höchsthaftdauer von sechs Monaten zu überschreiten, vor Erreichen der Höchstdauer vorzunehmen, und muss sie, falls dies nicht der Fall sein sollte, unverzüglich nach der Entscheidung der betreffenden Verwaltungsbehörde erfolgen?

3.      Wenn keine gerichtliche Überprüfung nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 im Zusammenhang mit einer Überschreitung der in Abs. 5 dieser Vorschrift genannten sechsmonatigen Höchsthaftdauer durchgeführt wurde: Muss dann der Inhaftierte freigelassen werden, selbst wenn im Zeitpunkt der verspätet erfolgten gerichtlichen Überprüfung festgestellt wird, dass alle materiellen Voraussetzungen für die Haftfortdauer erfüllt sind, und die Sache sodann verfahrensrechtlich ordnungsgemäß behandelt wird? Wenn in einer solchen Situation keine automatische Verpflichtung zur Freilassung besteht: Welche Gesichtspunkte sind aus Sicht des Unionsrechts bei der Bestimmung der Folgen einer verspätet erfolgten gerichtlichen Überprüfung insbesondere unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen?

30.      Die finnische, die tschechische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, Kriminalkommissar B, die finnische Regierung und die Kommission haben in der Sitzung vom 30. April 2025 zudem mündlich verhandelt.

III. Würdigung

A.      Zur ersten Vorlagefrage

31.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung, ob die Höchsthaftdauer erreicht wurde, alle Zeiten, während der die betroffene Person zuvor zum Zweck der Vollstreckung derselben Rückkehrentscheidung nach Art. 15 festgehalten wurde, zusammenzurechnen sind. Sofern dies nicht der Fall ist, möchte das Gericht wissen, ob es für die Entscheidung, ob vorangegangene Haftzeiten zu berücksichtigen sind, erheblich ist, dass die erneute Haftzeit sich auf neue rechtliche und sachliche Gründe stützte, dass der Betroffene sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben hatte, aus dem er nach Finnland zurückgeführt wurde, und dass zwischen der Beendigung der vorangegangenen Haftzeit und der erneuten Inhaftierung mehrere Monate vergangen waren.

32.      Insbesondere hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob verschiedene Haftzeiten, die jeweils durch Zeiten der Freiheit unterbrochen wurden, automatisch zu addieren sind oder ob bestimmte frühere Haftzeiten unberücksichtigt bleiben können. Zwar deute die bestehende Rechtsprechung, vor allem das Urteil vom 30. November 2009, Kadzoev(6), auf eine einheitliche Herangehensweise hin, doch habe der Gerichtshof bisher nicht abschließend zu diesem Punkt entschieden(7).

1.      Sind alle Haftzeiten nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115, die sich auf dieselbe Rückkehrentscheidung beziehen, ausnahmslos zu addieren?

33.      Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 kann die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, der in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist und bei dem keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, nur in Betracht kommen, um die Rückkehr dieser Person vorzubereiten und/oder ihre Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn Fluchtgefahr besteht oder die Person die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgeht oder behindert(8).

34.      Im Übrigen ergibt sich aus Art. 15 Abs. 1 letzter Unterabsatz und Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115, dass die Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen so kurz wie möglich sein muss und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken darf, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden(9), und dass, wenn sich herausstellt, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen, die die Inhaftnahme gerechtfertigt haben, nicht mehr gegeben sind, die Haft nicht länger gerechtfertigt ist und die betreffende Person unverzüglich freizulassen ist(10).

35.      Überdies sieht Art. 15 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie vor, dass jeder Mitgliedstaat eine Höchsthaftdauer festlegt, die sechs Monate nicht überschreiten darf und nur dann verlängert werden darf, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen der nationalen Behörden aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen aus Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird, und dann auch nur um höchstens weitere zwölf Monate(11). Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 sieht somit unterschiedliche Gründe für die Inhaftierung und ihre Verlängerung vor. Nach Abs. 1 kann eine Inhaftnahme angeordnet werden, wenn entweder Fluchtgefahr besteht oder die betreffenden Drittstaatsangehörigen das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern. Kann die Abschiebung nicht binnen sechs Monaten durchgeführt werden, erlaubt Abs. 6 eine Verlängerung – bis zu insgesamt 18 Monaten – in Fällen, in denen mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Person besteht oder es bei der Übermittlung von Unterlagen aus Drittstaaten zu Verzögerungen kommt. Im Urteil Kadzoev hat der Gerichtshof betont, dass Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 auf keinen Fall eine Überschreitung der in dieser Bestimmung festgelegten maximalen Zeiträume zulässt(12).

36.      Insbesondere bestimmt der letzte Satz von Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115: „Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.“ Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie verlangt zudem die unverzügliche Freilassung der betroffenen Person, wenn die Haft nicht länger gerechtfertigt ist, d. h., wenn „sich heraus[stellt], dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind“. Die inhaftierte Person ist daher unverzüglich freizulassen, sobald die maximale Haftdauer von 18 Monaten bzw. die einzelstaatlich festgelegte Frist (die im vorliegenden Fall für Finnland zwölf Monate beträgt) erreicht ist(13).

37.      Entsprechend hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 15 Abs. 1 und Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2008/115 einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nicht vorsieht, dass die Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nach Ablauf einer Höchstdauer von 18 Monaten automatisch als rechtswidrig gilt, und nicht gewährleistet, dass sich die Haftdauer nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstreckt, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden(14).

38.      Diese Auslegung stützt sich unmittelbar auf die Tatsache, dass die in Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Höchstdauer, wie der Gerichtshof im Urteil El Dridi klargestellt hat(15), den Freiheitsentzug der Drittstaatsangehörigen, denen eine zwangsweise Abschiebung droht, begrenzen soll. Da nämlich die Inhaftnahme des Betreffenden – vor allem im Zusammenhang mit der Rückführung eines illegal Aufhältigen im Rahmen der Richtlinie 2008/115 – einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Recht auf Freiheit darstellt(16), wird die Befugnis der zuständigen nationalen Behörden, Drittstaatsangehörige in Haft zu nehmen, durch die Vorschriften in Kapitel IV der Richtlinie stark eingeschränkt, und zwar so, dass erstens die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das verfolgte Ziel und den zu diesem Zweck eingesetzten Mitteln und zweitens die Einhaltung der Grundrechte der Drittstaatsangehörigen sichergestellt sind.

39.      Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs – insbesondere dem Urteil in der Rechtssache Politsei- ja Piirivalveamet(17) – folgt daher, dass eine Haftmaßnahme nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 nur dann angeordnet werden darf, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht und diese Maßnahme dem alleinigen Zweck dient, die Wirksamkeit des Rückführungsverfahrens sicherzustellen(18), und zwar unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit(19). Dementsprechend verfolgt die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung(20). Wie von dem betroffenen Drittstaatsangehörigen geltend gemacht, seien bei einer solchen Maßnahme, die einen schwerwiegenden Eingriff darstelle, strenge Garantien einzuhalten, u. a. in Bezug auf Vorhersehbarkeit und Schutz vor Willkür(21).

40.      Abschließend ist festzustellen, dass der im Unionsrecht verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz, dass Inhaftnahme ein letztes Mittel darstellen muss, und das Verbot des willkürlichen Freiheitsentzugs den Ausnahmecharakter einer Inhaftnahme nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 unterstreichen. Zwar schreiben diese Grundsätze nicht etwa ausdrücklich eine konkrete Methode zur Berechnung von Haftzeiten vor, doch im Zusammenspiel – und unter Berücksichtigung der Anforderung, dass Haft nur dazu dienen darf, die Wirksamkeit des Rückführungsverfahrens sicherzustellen – implizieren sie, dass die Berechnungsmethode diese fundamentalen Garantien widerspiegeln und wahren muss. Nur durch eine übergreifende Herangehensweise lässt sich gewährleisten, dass die Gesamtdauer des Freiheitsentzugs einzig auf das beschränkt ist, was im konkreten Einzelfall erforderlich und verhältnismäßig ist. Eine alternative Vorgehensweise, die frühere Haftzeiten außer Acht lässt, läuft Gefahr, die von Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie vorgesehenen Fristen zu umgehen und dadurch die drei vorgenannten Grundsätze zu unterlaufen. Würden aufeinander folgende Haftzeiten, die sich auf dasselbe Rückkehrverfahren beziehen, nicht addiert, so könnte dies den Mitgliedstaaten in der Praxis ermöglichen, die Höchstdauer von 18 Monaten zu umgehen, indem die Haft im Rahmen derselben Rückkehrentscheidung fortgesetzt wird. Eine solche Praxis würde zu einer zeitlich unbeschränkten Haftdauer führen, was mit den oben genannten Grundsätzen unvereinbar ist. Daher müssen Haftzeiten, die sich auf dasselbe Rückkehrverfahren beziehen, grundsätzlich addiert werden, um die strengen in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Fristen einzuhalten.

2.      Die Bedeutung der tatsächlichen Umstände bei der Berechnung von Haftzeiten

a)      Zwischen den Haftzeiten liegende Unterbrechungen

41.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der betroffene Drittstaatsangehörige in der vorliegenden Rechtssache vor der dritten Haftzeit fast ein halbes Jahr lang frei gewesen sei und während dieser Zeit der ihm aufgegebenen milderen Zwangsmaßnahme der Meldung nicht nachgekommen sei sowie Finnland in Richtung Schweden verlassen habe und von dort nach Finnland zurückgeführt worden sei.

42.      In der Sitzung hat Kriminalkommissar B geltend gemacht, dass, falls seit der letzten Haft einige Zeit vergangen sei, falls neue Rechtsargumente vorgebracht worden oder neue Tatsachen eingetreten seien und falls die erfolgreiche Rückführung des Betroffenen als wahrscheinlich anzusehen sei, es möglich sein sollte, unabhängig von etwaigen vorherigen Haftzeiten eine erneute Haftzeit zu beginnen. Eine andere Auslegung könne dazu führen, dass eine Situation entstünde, in der es unmöglich werde, Rückführungsmaßnahmen zu Lebzeiten des Betroffenen zu vollziehen. Dies würde einer wirksamen Verfolgung der Ziele der Richtlinie 2008/115 zuwiderlaufen.

43.      Insofern stellt sich die Frage, ob eine lange Unterbrechung, die mit der unrechtmäßigen Ausreise des betroffenen Drittstaatsangehörigen aus dem die Rückkehrentscheidung erlassenden Mitgliedstaat einhergeht, es rechtfertigt, die Berechnung neu zu beginnen.

44.      Wie bereits ausgeführt, muss die Haftdauer insoweit gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 so kurz wie möglich sein und darf sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. Gemäß Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und muss der Betroffene unverzüglich freigelassen werden, wenn sich herausstellt, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Abs. 1 nicht mehr gegeben sind(22). Aus dem Urteil Kadzoev folgt zudem, dass Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 auf keinen Fall eine Überschreitung der in dieser Bestimmung vorgesehenen maximalen Haftdauer zulässt(23). Die aus diesem Urteil hervorgegangene Rechtsprechung bestätigt, dass bei der Prüfung, ob die Höchstdauer eingehalten wurde, gemäß Art. 15 dieser Richtlinie alle Haftzeiten, die sich auf ein Rückkehrverfahren beziehen, zu addieren sind(24). Die dieser Rechtsprechung zugrunde liegende Logik besagt, dass derartige Haftmaßnahmen Teil eines einzigen Rückkehrprozesses sind und daher bei der Berechnung der zulässigen Dauer als ein Ganzes zu betrachten sind. Wenn die Haft also im Zusammenhang mit demselben unter die Richtlinie 2008/115 fallenden Rückkehrverfahren steht, würde ein Neubeginn der Berechnung der zulässigen Haftdauer nach einer Unterbrechung dem kumulativen Charakter der dort festgelegten Frist zuwiderlaufen.

45.      Eine solche Auslegung wird auch durch das Urteil in der Rechtssache John/Griechenland(25) gestützt, in dem der EGMR entschied, dass die fortgesetzte Inhaftierung des Beschwerdeführers auch nach förmlicher Freilassung und erneuter Inhaftnahme einen willkürlichen und gegen Art. 5 Abs. 1 der Charta verstoßenden Freiheitsentzug darstelle. Die neue Ausweisungsverfügung habe lediglich die gleichen Gründe wie die vorhergehende wiederholt und keine neuen Rechtfertigungsgründe für die erneute Inhaftnahme enthalten(26). Mit anderen Worten: Die zweite Haftzeit unterschied sich nicht wirklich von der ersten, da sie auf denselben Ausweisungsgründen beruhte, ohne neue Rechtfertigungsgründe heranzuziehen, und auf eine Weise vollzogen wurde, die lediglich den Anschein von Rechtmäßigkeit erweckte.

46.      Daraus folgt meines Erachtens, dass die Berechnung von Haftzeiten nicht während der Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung im Rahmen eines einzigen Abschiebungsverfahrens „neu gestartet“ werden kann, wenn sich der zugrunde liegende Zweck und der prozessuale Kontext nicht geändert haben. Sofern die Rückkehrentscheidung in Kraft bleibt, rechtfertigt eine Unterbrechung der Haft – unabhängig von ihrer Dauer – nicht den völligen Neubeginn der Berechnung der Haftzeit.

47.      Anders sähe es aus, wenn die Inhaftierung auf einer neuen Rückkehr- oder Abschiebungsentscheidung beruhte, die unabhängig von der ursprünglichen Rückkehrentscheidung aufgrund völlig neuer Gründe erlassen wurde und einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt. In solch einem Fall könnte die Haft als Teil eines gesonderten Abschiebungsverfahrens behandelt werden. Andernfalls muss die Haft als Teil desselben Abschiebungsverfahrens betrachtet werden; die bereits in Haft verbrachte Zeit muss dann auf die Höchstdauer nach Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 angerechnet werden. Wenn beispielsweise ein Rückkehrverfahren tatsächlich und endgültig eingestellt wurde und ein Drittstaatsangehöriger viele Jahre später erneut illegal in den Mitgliedstaat einreist, kann diese erneute Einreise zu einer neuen Rechts- und Sachlage führen, wie etwa zu einem illegalen Aufenthalt dieser Person im Hoheitsgebiet ohne Aufenthaltsgenehmigung oder sonstige Rechtsgrundlage für ihren Aufenthalt. Eine solche Rechts- und Sachlage kann den Erlass einer neuen Rückkehrentscheidung nach Art. 6 der Richtlinie 2008/115 rechtfertigen, und somit ein neues Rückkehrverfahren einleiten. Eine auf einer solchen neuen Entscheidung beruhende Haftmaßnahme würde sich auf ein anderes gesondertes Rückkehrverfahren beziehen und nicht die Fortsetzung eines früheren darstellen. Eine solche Fallkonstellation setzt jedoch die tatsächliche Einstellung des ersten Verfahrens nach langer Abwesenheit des Betroffenen voraus und damit Untätigkeit seitens der Behörden, wobei es hier in der Regel um Jahre, nicht Monate, geht. Andernfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Rückkehrverfahren tatsächlich eingestellt wurde. Mit anderen Worten: Damit ein neues Verfahren eingeleitet werden kann, müssen die Umstände deutlich über das hinausgehen, was als prozessuale Verzögerung oder vorübergehende Hindernisse angesehen werden kann.

48.      Folglich führt die Tatsache, dass der Drittstaatsangehörige möglicherweise das Hoheitsgebiet des für die Rückführung zuständigen Mitgliedstaats vorübergehend verlassen hat oder weniger intensiven Zwangsmaßnahmen nicht nachgekommen ist, nicht zu einer Unterbrechung des Rückkehrverfahrens, es sei denn, dass nachgewiesen wird, dass die zuständigen Behörden das Verfahren tatsächlich und endgültig eingestellt haben.

49.      In der vorliegenden Rechtssache hat die finnische Regierung in der Sitzung vorgetragen, dass es keine förmliche Entscheidung über die Einstellung des Rückkehrverfahrens gebe. Vielmehr bleibe der Fall so lange offen, bis der betreffende Drittstaatsangehörige abgeschoben worden sei, wobei die zuständigen Behörden während des gesamten Verfahrens aktiv auf die Rückführung hinarbeiteten. Dementsprechend sind die Haftmaßnahmen in Ermangelung einer tatsächlichen und endgültigen Einstellung des Rückkehrverfahrens und angesichts der fortgesetzten Bemühungen der Behörden, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zurückzuführen, als Teil eines einzigen laufenden Rückkehrverfahrens anzusehen. Daraus folgt, dass die Berechnung der Höchsthaftdauer nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 bei erneuter Inhaftnahme nicht neu beginnen kann, da sich der zugrunde liegende Zweck und der prozessuale Kontext des Abschiebungsverfahrens nicht geändert haben. Die Tatsache, dass der betreffende Drittstaatsangehörige möglicherweise das Hoheitsgebiet des für die Rückführung zuständigen Mitgliedstaats vorübergehend verlassen hat – ob legal oder illegal – oder weniger intensiven Zwangsmaßnahmen nicht nachgekommen ist, führt nicht zu einer Unterbrechung des Rückkehrverfahrens, es sei denn, dass nachgewiesen wird, dass die zuständigen Behörden das Verfahren tatsächlich und endgültig eingestellt haben.

b)      Die Rückführung verhindernde Handlungen

50.      Wie bereits dargestellt(27), führt die Tatsache, dass der Drittstaatsangehörige möglicherweise das Hoheitsgebiet des für die Rückführung zuständigen Mitgliedstaats vorübergehend verlassen hat oder weniger intensiven Zwangsmaßnahmen nicht nachgekommen ist, nicht zu einer Unterbrechung des Rückkehrverfahrens, es sei denn, dass nachgewiesen wird, dass die zuständigen Behörden das Verfahren tatsächlich und endgültig eingestellt haben.

51.      Zwar kann das ungenehmigte Überschreiten von Grenzen oder die Nichteinhaltung der verhängten Maßnahmen eine erneute Inhaftnahme auf Grundlage einer neuen Prüfung nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 rechtfertigen, doch nicht den völligen Neubeginn der Berechnung der Haftdauer. Eine neue Rechnung findet nur statt, wenn das Rückkehrverfahren tatsächlich und endgültig eingestellt und später neu begonnen wurde, wie beispielsweise durch eine neue Rückkehrentscheidung(28). Dies muss eindeutig festgestellt werden, um den in der Richtlinie verankerten und von der Rechtsprechung betonten Grundsatz der begrenzten und verhältnismäßigen Inhaftierung zu wahren und um Willkür bei der Inhaftierung(29) und somit willkürliche Verlängerungen der Haftdauer zu vermeiden.

52.      Kommt es bei der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu einer langen Unterbrechung, so hängt, wie bereits ausgeführt, die Frage, ob eine neue Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, in erster Linie davon ab, ob der Rückkehrprozess tatsächlich und endgültig eingestellt wurde(30). Liegen derartige Umstände nicht vor, werden alle früheren Haftzeiten auch weiterhin auf die nach der Richtlinie 2008/115 zulässige Höchstdauer angerechnet.

53.      Hinzu kommt, dass zwar vom betreffenden Drittstaatsangehörigen während des Rückkehrverfahrens begangene Taten zu berücksichtigen sind (vor allem als Hinweis auf eine mögliche Fluchtgefahr gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115), ein solches Verhalten allein jedoch weder die ursprüngliche Haft noch ihre Verlängerung nach Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie rechtfertigen kann. Insofern muss die Inhaftierung für die Zwecke der Rückführung strikt auf das Ziel beschränkt bleiben, die Rückkehr oder Abschiebung zu ermöglichen, und verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sein(31).

54.      Insbesondere wird die fortgesetzte Inhaftierung des Betroffenen rechtswidrig, wenn eine Abschiebung realistischerweise nicht mehr möglich ist, z. B. aufgrund anhaltender Untätigkeit des Drittstaats, und zwar unabhängig vom Verhalten des Betroffenen im Zusammenhang mit der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung. In derartigen Fällen kann das Verhalten dieser Person – selbst bei mangelnder Kooperationsbereitschaft – nicht schwerer wiegen als das Erfordernis, dass die Inhaftierung eng an eine realistische Aussicht auf Abschiebung gekoppelt sein muss.

55.      In Bezug hierauf wurden in der Sitzung vor dem Gerichtshof Rechtsausführungen dazu gemacht, ob Maßnahmen ergriffen werden dürfen, wenn das Rückkehrverfahren erfolglos abgeschlossen wurde. Dies war Gegenstand des Urteils in der Rechtssache JZ(32), in dem der Gerichtshof unter Bezugnahme auf das Urteil in der Rechtssache Achughbabian(33) im Kern entschied, dass die Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten gestattet, strafrechtliche Sanktionen, wie etwa Freiheitsstrafen, zu verhängen, wenn das Rückkehrverfahren abgeschlossen wurde, die Abschiebung aber fehlgeschlagen ist, wie z. B. in Fällen, in denen der Betroffene die Abschiebung behindert(34). Hierbei ist jedoch zu beachten, dass das Urteil JZ(35) der Auffassung, dass aufeinander folgende Haftzeiten, die sich auf dasselbe Rückkehrverfahren beziehen, gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 zu addieren seien, nicht widerspricht, sondern vielmehr einen anderen rechtlichen Hintergrund betrifft, nämlich eine Situation, in der das Rückkehrverfahren ohne Erfolg abgeschlossen wurde: Der Betroffene hat das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats auch nach Abschluss des Rückkehrverfahrens und Ablauf der maximalen Haftdauer nicht verlassen. Während der Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung sollte im Rahmen dieser Richtlinie der Grundsatz der Zusammenrechnung von Haftzeiten weiterhin Anwendung finden.

56.      In der vorliegenden Rechtssache deutet nichts darauf hin, dass die dritte Haftzeit des betroffenen Drittstaatsangehörigen von den beiden vorangegangenen Haftzeiten unabhängig ist. Dementsprechend kann eine Haftzeit, die nach insgesamt fünf Monaten und 23 Tagen auferlegt wird, nicht als neue Haftzeit, die „die Uhr zurückstellt“, angesehen werden, es sei denn, dass das Abschiebungsverfahren im Wege einer tatsächlichen und endgültigen Einstellung rechtmäßig und wirksam abgeschlossen wurde und ein erneutes Rückkehrverfahren auf einer neuen Rechtsgrundlage und angesichts neuer Umstände, die deutlich über prozessuale Verzögerungen oder vorübergehende Hindernisse hinausgehen, eingeleitet wurde. Eine andere Entscheidung würde die Fristen und den Schutzzweck der Richtlinie 2008/115 untergraben. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob die Rückkehrentscheidung im Anschluss an die vorangegangenen Haftzeiten wirksam und vollstreckbar blieb.

c)      Unterbliebene Mitwirkung des Drittstaats

57.      Gemäß Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 kann das Ausbleiben einer Reaktion des Drittstaats bzw. dessen mangelnde Kooperationsbereitschaft, wie z. B. das Nichtausstellen von Reisedokumenten, eine Verlängerung der Haft rechtfertigen, sofern der Mitgliedstaat nachweisen kann, dass er angemessene Bemühungen unternommen hat, um die Rückführung sicherzustellen. Ist die Verzögerung jedoch nicht allein auf die Untätigkeit des Drittstaats zurückzuführen und hat der Mitgliedstaat sich weder aktiv um Alternativen bemüht noch seine Bemühungen weiterverfolgt oder intensiviert, erfüllt der Mitgliedstaat unter Umständen nicht das Kriterium der „angemessenen Bemühungen“. Die fortgesetzte Inhaftierung könnte dann rechtswidrig sein. Diese Problematik steht in engem Zusammenhang mit der nach Art. 15 Abs. 1 und 4 der Richtlinie erforderlichen Wirksamkeit und gebotenen Sorgfalt.

58.      Wenn keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht, muss die Haftdauer, wie bereits ausgeführt, so kurz wie möglich sein und beendet werden, sobald die in Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Fristen abgelaufen sind. Das bloße Ausbleiben einer Reaktion seitens des Drittstaats rechtfertigt daher nicht die fortgesetzte, zeitlich unbegrenzte Inhaftierung. Der Mitgliedstaat muss nachweisen, dass er weiterhin proaktiv und mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, wie beispielsweise durch wiederholte Kontaktversuche, über konsularische Kanäle oder im Wege von Kooperationsvereinbarungen, um die Rückführung des betreffenden Drittstaatsangehörigen sicherzustellen.

59.      In der vorliegenden Rechtssache können Verzögerungen bei der Beschaffung von Unterlagen von den Behörden eines Drittstaats zwar nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 eine Verlängerung der Haft über die grundsätzliche Höchsthaftdauer von sechs Monaten hinaus rechtfertigen, doch steht eine solche Verlängerung unter dem strikten Vorbehalt, dass die zuständigen finnischen Behörden alle angemessenen Bemühungen unternehmen müssen, die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen sicherzustellen. Zeichnet sich ab, dass der betreffende Drittstaat nicht innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens kooperiert oder dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht, verlangen Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Beendigung der Inhaftierung(36).

60.      Schließlich weise ich darauf hin, dass die allgemeine Systematik der Richtlinie 2008/115(37) im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verlangt, dass eine Inhaftnahme nicht automatisch oder präventiv verhängt wird, sondern nur als letztes Mittel, wenn die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens nicht durch andere Maßnahmen sichergestellt werden kann(38). Angesichts der Tatsache, dass der Rückkehrprozess mit Verzögerungen verbunden sein kann, die nicht dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zurechenbar sind, wie etwa die unterbliebene Mitwirkung eines Drittstaats oder diplomatische Hindernisse, muss der jeweilige Mitgliedstaat prüfen, ob weniger intensive Zwangsmaßnahmen angemessener sind. Dies gilt zumindest während der Zeiträume, in denen das Asylverfahren noch anhängig oder eine Abschiebung noch nicht durchführbar ist. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die engen Fristen für eine Inhaftierung bereits vorzeitig erreicht werden und somit möglicherweise die Wirksamkeit einer Abschiebung untergraben, sobald diese durchführbar ist.

61.      Was das Fehlen einer realistischen Aussicht auf Abschiebung betrifft, sei darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2008/115 keine Regelungen dazu enthält, wie mit Drittstaatsangehörigen zu verfahren ist, die nicht zurückgeführt werden können – also Personen, die aus praktischen Gründen nicht abgeschoben werden können, denen die Mitgliedstaaten aber keinen Rechtsstatus gewähren(39). Infolgedessen bleiben sie rechtlich ausgegrenzt(40). Eine solche Regelungslücke untergräbt sowohl die Wirksamkeit der Rückkehrpolitik als auch den Schutz der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen. In einem solchen Szenario sind Drittstaatsangehörige wiederholten Inhaftnahmen ausgesetzt.

3.      Rechtmäßigkeit einer Inhaftnahme, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung der Richtlinie 2008/115 von vornherein nicht erfüllt wurden; verfrühte Nutzung des Rückkehrverfahrens

62.      Hinsichtlich der Rechtsgrundlage, auf die sich die Inhaftnahme stützte, hat der Gerichtshof im Urteil Kadzoev(41) festgestellt, dass die Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung gemäß der Richtlinie 2008/115 und diejenige von Personen, die internationalen Schutz beantragen, insbesondere gemäß der Richtlinie 2013/33/EU(42), unterschiedlichen rechtlichen Regelungen unterliegen. Der Zeitraum, in dem eine Person kraft einer Entscheidung festgehalten wird, die auf unionsrechtlichen Vorschriften über internationalen Schutz beruht, kann nicht als Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 angesehen werden.

63.      Wie in der Vorlageentscheidung klargestellt(43), geht es im Sachverhalt des Ausgangsverfahrens darum, dass alle vorangegangenen Haftzeiten unter Art. 15 der Richtlinie 2008/115 fielen und dem Zweck dienten, die Vollstreckung derselben Rückkehrentscheidung sicherzustellen. In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Frage, wie die Höchstdauer der Haftzeit zu berechnen sei, wenn die Haft sich sowohl auf die Richtlinie 2008/115 als auch auf eine andere Rechtsgrundlage stütze (ob gleichzeitig oder mit Unterbrechungen), nicht Teil seiner Vorlage zur Vorabentscheidung sei(44). Mit anderen Worten: Das vorlegende Gericht hat sich entschieden, den Gerichtshof nicht dazu zu befragen, ob und wie einander sich überschneidende oder unterschiedliche Rechtsgrundlagen die Berechnung der Haftzeit beeinflussen sollten, da die Haft des betroffenen Drittstaatsangehörigen – jedenfalls in erster Linie und die meiste Zeit – allein auf der Richtlinie 2008/115 beruhte. Demzufolge ist die Problematik unterschiedlicher Rechtsgrundlagen aus Sicht des vorlegenden Gerichts in der vorliegenden Rechtssache ohne praktische Relevanz.

64.      Da das vorlegende Gericht diese Frage ausdrücklich aus seiner Vorlage zur Vorabentscheidung ausgenommen hat, sollte der Gerichtshof sie als irrelevant oder hypothetisch betrachten, zumal die Inhaftierung wohl primär auf der Richtlinie 2008/115 beruhte.

65.      Die vorliegende Rechtssache wirft jedoch eine gesonderte Frage auf: War die Anwendung der Richtlinie 2008/115 in Bezug auf die Haftzeit vom 10. September bis zum 29. Oktober 2022 vor allem im Licht der Verfahrensgarantien nach Art. 24 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung rechtmäßig?

66.      Reist ein Drittstaatsangehöriger, dem zuvor in anderen Mitgliedstaaten internationaler Schutz versagt wurde, in einen neuen Mitgliedstaat ein, ohne einen weiteren Asylantrag zu stellen, und wird das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Art. 24 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Frist unterbreitet, so muss dieser Mitgliedstaat (hier: die Republik Finnland), gemäß Art. 24 Abs. 3 dieser Verordnung der betreffenden Person Gelegenheit geben, einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat zu stellen, in dessen Hoheitsgebiet sich die betreffende Person illegal aufhält(45). Bevor ihm eine solche Möglichkeit tatsächlich gewährt wird, kann der Betroffene daher nicht in sein Herkunftsland zurückgeführt werden.

67.      Was in der vorliegenden Rechtssache die Haftzeit vom 10. September bis zum 29. Oktober 2022 betrifft, so hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass der betroffene Drittstaatsangehörige vor seiner Ankunft in Finnland auch in den Niederlanden, in Schweden und in der Schweiz Asyl beantragt habe. Die von der finnischen Einwanderungsbehörde bei den anderen Mitgliedstaaten gestellten Wiederaufnahmegesuche seien erfolglos geblieben, und das Turun hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Turku) habe entschieden, dass diese Behörde sich berechtigterweise für zuständig gehalten habe, den Asylantrag des Betroffenen nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung zu prüfen.

68.      Da der betroffene Drittstaatsangehörige offenkundig berechtigt war, einen neuen Antrag gemäß Art. 24 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung zu stellen, und nicht in sein Herkunftsland überstellt werden konnte, bevor ihm diese Gelegenheit gegeben wurde, ist es denkbar, dass die Haft nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 für den Zeitraum vom 10. September bis zum 29. Oktober 2022 nicht hätte angeordnet werden dürfen. Darüber zu befinden ist Sache des vorlegenden Gerichts. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft)(46), entschieden hat, dass die mit der Überprüfung von Haftmaßnahmen nach der Richtlinie 2008/115 betrauten Justizbehörden von Amts wegen untersuchen müssen, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme erfüllt sind. Dies gilt auch, wenn die inhaftierte Person keine Rechtswidrigkeit geltend macht.

69.      Sofern die Haft jedoch zu Unrecht auf den Regelungen der Richtlinie 2008/115 beruhte, sind die betreffenden Zeiträume bei der Berechnung der maximalen in Art. 15 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie vorgesehenen Haftdauer zu berücksichtigen. Die dort festgelegte maximale Haftdauer stellt die absolute zeitliche Höchstgrenze für einen Freiheitsentzug nach dieser Richtlinie zum Zweck der Abschiebung dar. Würde die zu Unrecht auf die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 gestützte in Haft verbrachte Zeit von der Berechnung ausgenommen, könnten die Mitgliedstaaten diese Höchstfristen umgehen, indem sie die Rechtsgrundlage nachträglich neu einstufen oder neu bewerten. Dies würde die praktische Wirksamkeit von Art. 15 dieser Richtlinie untergraben und gegen die Verfahrensgarantien für die betroffenen Drittstaatsangehörigen verstoßen. Wenn eine Inhaftierung also rechtswidrig war, da sie auf einer falschen Rechtsgrundlage beruhte (beispielsweise, weil aufgrund des Rechts auf Einreichung eines neuen Asylantrags noch kein Rückkehrverfahren anhängig war), muss dieser Zeitraum demzufolge bei der Überprüfung der gemäß Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 zulässigen Gesamtdauer berücksichtigt werden.

4.      Zwischenergebnis

70.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Auffassung, dass Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung, ob die dort vorgesehenen Höchsthaftdauern erreicht wurden, alle Zeiten, in denen der betroffene Drittstaatsangehörige zuvor zum Zweck der Vollstreckung derselben Rückkehrentscheidung gemäß Art. 15 dieser Richtlinie festgehalten wurde, zu berücksichtigen sind. Sofern die Rückkehrentscheidung in Kraft bleibt und das Abschiebungsverfahren nicht tatsächlich und endgültig eingestellt wurde, rechtfertigt eine Unterbrechung der Haft es nicht, bei Ermittlung der Haftdauer die Berechnung neu zu beginnen. Dies gilt auch dann, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige zwischen den einzelnen Haftzeiten freigelassen wurde oder das Hoheitsgebiet vorübergehend verlassen hat, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Ferner ist zu prüfen, ob unter Berücksichtigung von Art. 17 und Art. 24 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung die Inhaftierung nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in der Zeit vom 10. September bis zum 29. Oktober 2022 unter Umständen rechtmäßig war.

B.      Zur zweiten Vorlagefrage

71.      Mit seiner zweiten Frage, die aus zwei Teilen besteht, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob erstens Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass diese Vorschrift einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Einleitung einer gerichtlichen Überprüfung der grundsätzlichen Hafthöchstdauer gemäß Abs. 5 dieser Vorschrift nur auf Antrag der inhaftierten Person erfolgt, und zweitens zu welchem Zeitpunkt die in Satz 2 dieser Vorschrift genannte gerichtliche Überprüfung der Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde, die Haft über die grundsätzliche Höchstdauer hinaus zu verlängern, durchzuführen ist.

72.      Auf Ersuchen des Gerichtshofs werde ich meine Analyse auf den zweiten Teil der zweiten Frage konzentrieren(47), der die gerichtliche Überprüfung gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 hinsichtlich der Verlängerung einer Haftdauer über sechs Monate hinaus betrifft.

73.      Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 verlangt, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn gerichtlich überprüft wird. Wird die Haft gemäß Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 über sechs Monate hinaus verlängert, muss eine solche Verlängerung durch konkrete Gründe gerechtfertigt sein, wie beispielsweise die mangelnde Kooperation des betreffenden Drittstaatsangehörigen oder Verzögerungen bei der Beschaffung der erforderlichen Unterlagen aus Drittstaaten.

74.      Der Gerichtshof erkennt in seiner Rechtsprechung an, dass die Inhaftnahme und die Haftverlängerung vergleichbar sind, weil dem betreffenden Drittstaatsangehörigen durch beide zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung die Freiheit entzogen wird(48). Die Entscheidung, mit der die Haftverlängerung angeordnet wird, muss daher dieselben Verfahrensgarantien einhalten, die bei der Inhaftnahme nach Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115 gelten(49). Zu diesen Garantien zählen auch das Recht auf gerichtliche Kontrolle und auf Verhältnismäßigkeit sowie das Erfordernis, dass die Inhaftnahme im konkreten Fall erforderlich ist.

75.      Eine Verlängerung der Haft stellt allerdings eine Fortdauer des schwerwiegenden Eingriffs in das Recht des Einzelnen auf Freiheit dar(50). Da eine solche Verlängerung diesen Eingriff über die nach Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigte grundsätzliche Haftdauer ausdehnt, erfordert sie eine erneute gerichtliche Bewertung, um sicherzustellen, dass sie im Licht der konkreten in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie genannten Gründe auch weiterhin rechtmäßig, erforderlich und verhältnismäßig ist(51). Diese Garantien verleihen den in den Art. 6 und 47 der Charta verankerten Grundrechten, nämlich dem Recht auf Freiheit und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, Wirkung(52).

76.      Insbesondere muss jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115, der eine Konkretisierung des in Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellt, dafür sorgen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person „innerhalb kurzer Frist“ gerichtlich überprüft wird, wenn die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde(53). Da die ursprüngliche Entscheidung über die Inhaftnahme einer gerichtlichen Überprüfung unterliegen muss, muss eine jegliche Verlängerung dieser Haft – bei der es sich ja um einen noch schwerwiegenderen Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit handelt – notwendigerweise ebenfalls einer solchen, wenn nicht sogar strengeren Überprüfung unterliegen. Eine über Gebühr verzögerte gerichtliche Überprüfung kann nicht die Funktion einer effektiven Kontrolle der Rechtmäßigkeit des fortgesetzten Freiheitsentzugs wahrnehmen. Daher ist eine solche Überprüfung unverzüglich und so schnell wie möglich vorzunehmen(54).

77.      Wie bereits ausgeführt, muss jeder Mitgliedstaat insofern dafür sorgen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person „innerhalb kurzer Frist“ gerichtlich überprüft wird, wenn die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde(55). Es entspricht also der Systematik und den Zielen von Art. 15 der Richtlinie 2008/115, dass eine solche gerichtliche Überprüfung im Zusammenhang mit der Haftverlängerung über die Sechsmonatsfrist hinaus grundsätzlich vor Ablauf der ursprünglichen Haftzeit eingeleitet werden sollte, damit der wirksame Schutz des Rechts auf Freiheit sichergestellt ist. Dieser Ansatz sorgt dafür, dass die in Art. 15 Abs. 5 dieser Richtlinie vorgesehene Höchstdauer eingehalten wird und die in Art. 15 Abs. 6 genannten Ausnahmefälle einer sinnvollen Überprüfung unterliegen.

78.      Zu beachten ist jedoch, dass die Richtlinie 2008/115 nicht ausdrücklich verlangt, dass die gerichtliche Überprüfung einer Haftverlängerung vor Ablauf der grundsätzlichen Sechsmonatsfrist eingeleitet wird. Art. 15 Abs. 3 Satz 2 bestimmt lediglich, dass eine solche Inhaftierung der gerichtlichen Überprüfung unterliegt, ohne eine bestimmte Frist oder Verfahrensweise vorzuschreiben. Entsprechend dem Grundsatz der Verfahrensautonomie können die Mitgliedstaaten die Verfahrensmodalitäten nach ihrem Ermessen ausgestalten. Eine nach Fristablauf stattfindende Überprüfung könnte daher immer noch den Vorgaben der Richtlinie entsprechen, vorausgesetzt, dass sie schnell und effektiv durchgeführt wird und so angemessenen Schutz vor willkürlicher Haft bietet. Gleichwohl ist auch eine verzögerte Überprüfung in Anbetracht der Schwere eines fortgesetzten Freiheitsentzugs mit besonderer Dringlichkeit durchzuführen, um die Beachtung des Rechts auf Freiheit zu gewährleisten(56).

79.      In der vorliegenden Rechtssache weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Voraussetzungen für eine Verlängerung weder anhand der vorgetragenen Beweise geprüft worden seien noch habe es in der Entscheidung des Helsingin käräjäoikeus (Gericht erster Instanz Helsinki) Ausführungen dazu gegeben. Das vorlegende Gericht ist somit offenbar der Auffassung, dass die nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 erforderliche gerichtliche Prüfung erst dann erfolgt sei, als schließlich eine andere Justizbehörde, nämlich das Etelä-Karjalan käräjäoikeus (Gericht erster Instanz Süd-Karelien), am 7. Dezember 2023 von Amts wegen eingeschritten sei. Es ist darauf hinzuweisen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige in der Sitzung vorgetragen hat, dass die Sechsmonatsfrist bereits um zwei Monate und 19 Tage überschritten worden sei, bevor eine gerichtliche Überprüfung der Rechtsmäßigkeit seiner Haftverlängerung stattgefunden habe.

80.      In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften zu den verfahrensrechtlichen Fristen für die nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 erforderliche gerichtliche Prüfung bleiben die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie hierfür zuständig(57). Insofern erscheint ein Zeitraum von zwei Monaten und 19 Tagen, in dem keine ordnungsmäßige gerichtliche Überprüfung stattfand, angesichts der Schwere des Eingriffs in das in Art. 6 der Charta gewährleistete Grundrecht auf Freiheit deutlich zu lang. Derartige Verzögerungen gefährden die Wirksamkeit des nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 erforderlichen gerichtlichen Schutzes, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, sicherzustellen, dass bei längerer Haftdauer die Überprüfung der Inhaftnahme, die in gebührenden Zeitabständen zu erfolgen hat, der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegt(58).

81.      Nach alledem bin ich der Auffassung, dass, wenn eine Verwaltungsbehörde entscheidet, die Haftdauer zu verlängern, die gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 erforderliche gerichtliche Überprüfung grundsätzlich vor Beginn der Verlängerung eingeleitet werden muss. Findet die gerichtliche Überprüfung hingegen nach Ablauf der ursprünglichen Haftzeit statt, muss diese Überprüfung angesichts der Schwere des Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit in Übereinstimmung mit dem Erfordernis, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung gemäß Art. 15 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie zeitnah gerichtlich zu überprüfen, gleichwohl innerhalb kurzer Frist durchgeführt werden.

C.      Zur dritten Vorlagefrage

82.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof offenbar allgemeiner zu den Gesichtspunkten befragt, die nach Unionsrecht bei der Bestimmung der Folgen einer verspätet erfolgten gerichtlichen Überprüfung zu berücksichtigen sind. Meines Erachtens geht die Beantwortung einer solch allgemeinen Frage jedoch über das hinaus, was dieses Gericht benötigt, um über den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens zu entscheiden.

83.      Ich schlage daher vor, diese Frage durch Umformulieren enger zu fassen, so dass zu klären ist, ob Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass in Ermangelung einer zeitnahen gerichtlichen Überprüfung der Verwaltungsentscheidung, mit der die Haft des Inhaftierten über die in Art. 15 Abs. 5 vorgesehene grundsätzliche Höchsthaftdauer hinaus verlängert wird, mit der Verpflichtung einhergeht, den Betroffenen unverzüglich freizulassen, selbst wenn zum Zeitpunkt der Durchführung der verspäteten gerichtlichen Überprüfung alle materiellen Voraussetzungen für eine Inhaftierung gemäß Art. 15 dieser Richtlinie erfüllt sind. Sofern dies nicht der Fall ist, bittet das vorlegende Gericht um Klärung, welche Gesichtspunkte maßgeblich sind, um zu bestimmen, unter welchen Umständen eine inhaftierte Person unverzüglich freizulassen ist.

84.      Hierzu weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil FMS u. a. bereits entschieden hat, dass Art. 15 der Richtlinie 2008/115 unbedingt und hinreichend genau ist und damit unmittelbare Wirkung hat(59). Außerdem ist diese Vorschrift im Licht des in Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auszulegen(60). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person „innerhalb kurzer Frist“ gerichtlich überprüft wird, wenn die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde(61). Findet keine gerichtliche Überprüfung statt oder wird sie erheblich verzögert, so untergräbt dies den Wesensgehalt von Art. 47 und verstößt somit gegen Unionsrecht(62). Dementsprechend wird eine Inhaftierung mit Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115 und Art. 47 der Charta unvereinbar, wenn keine zeitnahe und wirksame gerichtliche Überprüfung stattfindet, und zwar unabhängig davon, ob die materiellen Voraussetzungen für die Haft später erfüllt werden.

85.      Überdies hat der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt, dass die betreffende Person unverzüglich freizulassen ist, wenn die Haft als nicht rechtmäßig angesehen wird(63), und dass die nationalen Gerichte in der Lage sein müssen, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde, die die Inhaftnahme angeordnet hat, durch eine eigene Entscheidung zu ersetzen und die Freilassung der betreffenden Person oder eine Alternative zur Inhaftnahme anzuordnen(64). Der Gerichtshof hat bestätigt, dass ein Gericht, wenn kein anderes Gericht zuständig ist, befugt ist, die Freilassung unmittelbar anzuordnen, wenn eine Inhaftierung gegen Unionsrecht verstößt(65).

86.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwischen Fällen unterscheidet, in denen die Haft gegenwärtig rechtswidrig ist, und jenen, in denen sie lediglich zu einem früheren Zeitpunkt rechtswidrig war. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil FMS u. a. bestätigt hat, ist der Betroffene unverzüglich freizulassen, wenn die Haft zum Zeitpunkt ihrer gerichtlichen Überprüfung einer rechtmäßigen Grundlage entbehrt(66). Sofern die Inhaftnahme einer Person anfangs rechtswidrig war, im weiteren Verlauf aber auf der Grundlage einer anderen eigenständigen Rechtsgrundlage gerechtfertigt ist, wie im Urteil Bouskoura(67) ausgeführt, ist eine unverzügliche Freilassung nicht erforderlich. In diesem Urteil geht es konkret um eine Änderung des Rechtsrahmens: von der Inhaftierung unter der Dublin‑III-Verordnung zu einer Inhaftierung unter der Richtlinie 2008/115, also nach zwei verschiedenen Rechtsgrundlagen. In derartigen Fällen hat der Drittstaatsangehörige möglicherweise Anspruch auf eine Entschädigung für den vorangegangenen rechtswidrigen Freiheitsentzug(68). Demgegenüber geht es in der vorliegenden Rechtssache um aufeinander folgende Haftzeiten, die auf derselben Rechtsgrundlage, nämlich Art. 15 der Richtlinie 2008/115, auferlegt wurden. Insofern ist es Sache der nationalen Behörden, jede neue Haftzeit zu rechtfertigen, insbesondere etwaige Verlängerungen nach Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie.

87.      Meiner Auffassung nach gelten die Grundsätze, die der Gerichtshof in seiner in Nrn. 84 und 85 der vorliegenden Schlussanträge zitierten Rechtsprechung entwickelt hat, gleichermaßen für die gerichtliche Überprüfung von Entscheidungen, eine Inhaftierung gemäß Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 zu verlängern, die auf eine ursprüngliche Inhaftnahme folgt, die im Rahmen einer auf Grundlage von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie ergriffene Maßnahme angeordnet wurde, da jeglicher Freiheitsentzug nach ihrem Art. 15 einer effektiven und zeitnahen gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen ist.

88.      Daraus folgt, dass, falls die gerichtliche Überprüfung über Gebühr verzögert wird und die Verlängerung der Haft ohne zeitnahe gerichtliche Überprüfung die grundsätzliche Sechsmonatsfrist nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 überschreitet, eine solche Haft als rechtswidrig anzusehen ist. Die in Art. 15 Abs. 2 dieser Richtlinie verankerte Verfahrensgarantie einer gerichtlichen Überprüfung innerhalb kurzer Frist ist eine wesentliche Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Haft. Wird zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt, dass die materiellen Voraussetzungen für die Inhaftierung erfüllt sind, kann dies den Verstoß nicht rückwirkend heilen. Wenn also dieses verfahrensrechtliche Erfordernis nicht beachtet wird, ist der Drittstaatsangehörige unverzüglich freizulassen, und zwar unabhängig davon, ob die materiellen Voraussetzungen der Haft zum Zeitpunkt ihrer verspäteten Überprüfung vorliegen.

IV.    Ergebnis

89.      In Anbetracht des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland) wie folgt zu antworten:

Art. 15 Abs. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

–        bei der Bestimmung, ob die in Art. 15 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie vorgesehenen Höchsthaftdauern erreicht wurden, alle Zeiträume, in denen der betroffene Drittstaatsangehörige zuvor zum Zweck der Vollstreckung derselben Rückkehrentscheidung nach Maßgabe dieser Vorschrift festgehalten wurde, zu berücksichtigen sind. Sofern die Rückkehrentscheidung in Kraft bleibt und das Abschiebungsverfahren nicht tatsächlich und endgültig eingestellt wurde, rechtfertigt eine Unterbrechung der Haft es nicht, bei Ermittlung der Haftdauer die Berechnung neu zu beginnen. Dies gilt auch dann, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige zwischen den einzelnen Haftzeiten freigelassen wurde oder das Hoheitsgebiet vorübergehend verlassen hat, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben;

–        die gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 erforderliche gerichtliche Überprüfung grundsätzlich vor Beginn einer Verlängerung der ursprünglichen Haftdauer vorzunehmen ist. Findet die gerichtliche Überprüfung hingegen nach Ablauf der ursprünglichen Haftzeit statt, muss diese Überprüfung angesichts der Schwere eines Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit in Übereinstimmung mit dem Erfordernis, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung gemäß Art. 15 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie zeitnah gerichtlich zu überprüfen, gleichwohl innerhalb kurzer Frist durchgeführt werden;

–        falls die gerichtliche Überprüfung über Gebühr verzögert wird und die Verlängerung der Haft ohne zeitnahe gerichtliche Überprüfung die grundsätzliche Sechsmonatsfrist nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 überschreitet, eine solche Haft als rechtswidrig anzusehen ist. Die in Art. 15 Abs. 2 dieser Richtlinie verankerte Verfahrensgarantie einer gerichtlichen Überprüfung innerhalb kurzer Frist ist eine wesentliche Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Haft. Wird zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt, dass die materiellen Voraussetzungen für die Inhaftierung erfüllt sind, kann dies den Verstoß nicht rückwirkend heilen. Wenn also dieses verfahrensrechtliche Erfordernis nicht beachtet wird, ist der Drittstaatsangehörige unverzüglich freizulassen, und zwar unabhängig davon, ob die materiellen Voraussetzungen der Haft zum Zeitpunkt ihrer verspäteten Überprüfung vorliegen.







































































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