Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
20. November 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Vor dem Beitritt des Königreichs Schweden zur Europäischen Union geschlossene Vereinbarung – Ausgleich von Einnahmeverlusten infolge der Abschaffung der Nutzungsgebühren für eine Schleuse – Begriff der Beihilfe – Begriff des Unternehmens – Wirtschaftliche Tätigkeit – Bestehende oder neue Beihilfe “
In der Rechtssache C‑401/24
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm, Schweden) mit Entscheidung vom 29. Mai 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juni 2024, in dem Verfahren
Staten genom Sjöfartsverket
gegen
Stockholms Hamn Aktiebolag
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter A. Kumin und S. Gervasoni (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Biondi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Staten genom Sjöfartsverket, vertreten durch H. Nilsson und B. Thomaeus, Advokater,
– der Stockholms Hamn AB, vertreten durch K. Stålnacke und G. Swedlund, Stadsadvokater,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Faroghi, I. Georgiopoulos und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juni 2025
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 107 AEUV und Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9) sowie von Art. 144 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1, im Folgenden: Beitrittsakte).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Staten genom Sjöfartsverket (schwedischer Staat, vertreten durch das Schifffahrtsamt, Schweden) (im Folgenden: Sjöfartsverk) und der Stockholms Hamn AB wegen der Rückzahlung von Beträgen, die diese Gesellschaft als Ausgleich für die Abschaffung der Nutzungsgebühren für eine Schleuse vom Sjöfartsverk erhalten hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
AEU-Vertrag
3 Art. 107 Abs. 1 AEUV bestimmt:
„Soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“
Beitrittsakte
4 Art. 144 der Beitrittsakte lautet:
„In Bezug auf die Beihilfen nach den Artikeln [107 und 108 AEUV]
a) gelten von den in den neuen Mitgliedstaaten vor dem Beitritt angewandten Beihilfen nur diejenigen als ‚bestehende‘ Beihilfen nach Artikel [108] Absatz 1 [AEUV], die der Kommission [der Europäischen Gemeinschaften] bis zum 30. April 1995 mitgeteilt werden;
b) gelten bestehende Beihilfen und Vorhaben zur Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen, die der Kommission vor dem Beitritt mitgeteilt werden, als am Tag des Beitritts notifiziert.“
Verordnung 2015/1589
5 Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 definiert „bestehende Beihilfen“ wie folgt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
b) ‚bestehende Beihilfen‘
i) unbeschadet der Artikel 144 und 172 der [Beitrittsakte] alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des [AEU-Vertrags] in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des [AEU-Vertrags] in dem entsprechenden Mitgliedstaat eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind“.
6 „Neue Beihilfen“ sind in Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589 definiert als „alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen“.
Verordnung (EG) Nr. 794/2004
7 Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 2004, L 140, S. 1), deren Bezeichnung durch die Verordnung (EU) 2015/2282 der Kommission vom 27. November 2015 (ABl. 2015, L 325, S. 1) dahin geändert wurde, dass sie nunmehr die Durchführung der Verordnung 2015/1589 betrifft, bestimmt:
„(1) Für den Zweck von Artikel 1 Buchstabe c) der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 ist die Änderung einer bestehenden Beihilfe jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem Gemeinsamen Markt haben kann. Eine Erhöhung der Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilfe bis zu 20 % wird jedoch nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe angesehen.
(2) Folgende Änderungen bestehender Beihilfen werden auf dem Anmeldeformular für das vereinfachte Verfahren in Anhang II mitgeteilt:
a) über 20 %ige Erhöhungen der Mittel für eine genehmigte Beihilferegelung;
b) die Verlängerung einer bestehenden genehmigten Beihilferegelung bis zu sechs Jahren, mit oder ohne Erhöhung der Fördermittel;
c) die Verschärfung der Kriterien für die Anwendung einer genehmigten Beihilferegelung, die Herabsetzung der Beihilfeintensität oder der förderfähigen Ausgaben.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
8 Zwei Wasserstraßen, von denen eine über den Södertälje-Kanal (Schweden) und die andere über Stockholm (Schweden) und die dortige Hammarby-Schleuse verläuft, verbinden die Ostsee mit dem Mälarsee, dem drittgrößten See Schwedens.
9 Das schwedische Sjöfartsverk ist die für die Passage von Schiffen durch den Södertälje-Kanal zuständige staatliche Behörde und betreibt u. a. die dortige Schleuse. Stockholms Hamn ist ein zu 100 % im Eigentum der Stadt Stockholm stehendes kommunales Unternehmen, das die Hammarby-Schleuse betreibt. Die Höhe der bei der Nutzung der Södertälje-Schleuse und der Hammarby-Schleuse erhobenen Gebühren war koordiniert, um eine gleichmäßige Verteilung des Verkehrs auf die beiden Verbindungen zwischen der Ostsee und dem Mälarsee sicherzustellen.
10 Mit einer am 26. Oktober 1978 erlassenen Regelung beschlossen die schwedischen Behörden, ab 1979 bestimmte Gebühren für die Nutzung der Södertälje-Schleuse abzuschaffen und zur Fortsetzung der Koordinierung der Schleusengebühren Schritte zu unternehmen, um die Nutzungsgebühren für die Hammarby-Schleuse ebenfalls abzuschaffen. Das Sjöfartsverk und die Stadt Stockholm schlossen daher im selben Jahr eine Vereinbarung, wonach die Stadt künftig auf die Erhebung von Gebühren für die Nutzung der Hammarby-Schleuse durch andere Schiffe als Freizeitschiffe verzichtet und dafür vom Sjöfartsverk eine jährliche Vergütung als Ausgleich erhält (im Folgenden: im Ausgangsverfahren fraglicher Ausgleich).
11 Gemäß der Vereinbarung sollte der im Ausgangsverfahren fragliche Ausgleich jedes Jahr anhand des Verbraucherpreisindexes angepasst werden. Die Vereinbarung sollte jeweils um fünf Jahre verlängert werden, wenn sie nicht mindestens sechs Monate vor dem Ablauf ihrer Geltungsdauer gekündigt wurde. Für jeden neuen Fünfjahreszeitraum wurde entsprechend der Entwicklung des Verkehrsaufkommens an der Hammarby-Schleuse während der vorherigen Laufzeit ein neuer jährlicher Ausgleichsbetrag festgelegt.
12 Der im Ausgangsverfahren fragliche Ausgleich wurde zunächst an die Stadt Stockholm und seit Beginn der 1990er Jahre an Stockholms Hamn gezahlt. Ab 2014 schwankten die Zahlungen zwischen 3 und 4 Mio. schwedische Kronen (SEK) (rund 260 000 bis 360 000 Euro) pro Jahr.
13 Ende 2021 kündigte das Sjöfartsverk die Vereinbarung vorzeitig. Bei den schwedischen Gerichten ist ein diese Kündigung betreffender Rechtsstreit anhängig.
14 Am 4. Mai 2023 erhob das Sjöfartsverk beim Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm, Schweden), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen Stockholms Hamn. Das Sjöfartsverk beantragte die Rückzahlung eines Betrags von 38 086 436 SEK (rund 3 378 242 Euro) zuzüglich Zinsen, der den Zahlungen entspricht, die es gemäß der Vereinbarung innerhalb der nationalen Verjährungsfrist von zehn Jahren geleistet hatte.
15 Nach Auffassung des Sjöfartsverk erfüllt der im Ausgangsverfahren fragliche Ausgleich die Voraussetzungen für die Einstufung als staatliche Beihilfe. Insbesondere stelle der Ausgleich einen Vorteil für Stockholms Hamn dar, da dieser Gesellschaft dadurch regelmäßige und von Verkehrsschwankungen oder anderen unternehmerischen Risiken unabhängige Einnahmen garantiert würden. Die Einstufung als staatliche Beihilfe werde zudem durch die Anwendung des Kriteriums des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers bestätigt, da kein privater Kapitalgeber Stockholms Hamn dafür entschädigen würde, dass sie die Erhebung von Schleusengebühren einstelle. Ferner seien die Kriterien, die der Gerichtshof im Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, EU:C:2003:415), dafür aufgestellt habe, dass bei Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen davon ausgegangen werden könne, dass sie keine staatliche Beihilfe darstellten (im Folgenden: Altmark-Kriterien), vorliegend nicht erfüllt. Schließlich stützt sich das Sjöfartsverk auf Art. 144 der Beitrittsakte und macht geltend, dass die für bestehende Beihilfen geltende Ausnahme auf diesen Ausgleich keine Anwendung finde, da er der Kommission nicht mitgeteilt worden sei und jedenfalls angesichts der jedem neuen Fünfjahreszeitraum vorangehenden Verhandlungen nicht als bestehende Beihilfe eingestuft werden könne.
16 Stockholms Hamn erwidert, dass ihre Tätigkeit des Betriebs einer Schleuse keine wirtschaftliche Tätigkeit sei, die unter die unionsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen falle. Jedenfalls handele es sich um eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die nicht zu einem überhöhten Ausgleich geführt habe. Außerdem wäre, selbst wenn der Ausgleich als staatliche Beihilfe einzustufen sein sollte, diese als bestehende Beihilfe gemäß der Verordnung 2015/1589 und unabhängig von dem im vorliegenden Fall nicht einschlägigen Art. 144 der Beitrittsakte zulässig. Die im Ausgangsverfahren fragliche Beihilfe könne darüber hinaus nicht als neu oder geändert angesehen werden, da zwischen den Parteien keine Nachverhandlungen über die Bedingungen der Vereinbarung und insbesondere die Höhe des Ausgleichs stattgefunden hätten.
17 Da das Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz Stockholm) der Auffassung ist, die Rechtsprechung des Gerichtshofs enthalte keine klaren Orientierungshilfen dazu, wie das Unionsrecht in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen anzuwenden sei, insbesondere in Bezug auf das Bestehen eines wirtschaftlichen Vorteils, die Anwendbarkeit der Beitrittsakte und die Einstufung als neue oder bestehende Beihilfe, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das Kriterium des Vorteils im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV so zu verstehen, dass eine jährliche Vergütung, die gemäß einer Vereinbarung von einer staatlichen Behörde aus staatlichen Mitteln an eine städtische Aktiengesellschaft gezahlt wird, um die von der Gesellschaft übernommene Verpflichtung auszugleichen, eine bestimmte Dienstleistung, in diesem Fall den Schleusenbetrieb, der bis zum Abschluss der Vereinbarung gebührenpflichtig war, gebührenfrei zu erbringen,
a) gänzlich als eine Beihilfe zu beurteilen ist, die durch die Begünstigung des Empfängers den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht,
b) als eine Beihilfe zu beurteilen ist, die durch die Begünstigung des Empfängers den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht, soweit die Vergütung unter Berücksichtigung von Änderungen beispielsweise des Verbraucherpreisindexes und des Verkehrsaufkommens des Schleusenbetriebs die früheren jährlichen Einnahmen des Empfängers aus Gebühren für die Dienstleistung übersteigt,
c) als eine Beihilfe zu beurteilen ist, die durch die Begünstigung des Empfängers den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht, soweit die Vergütung die jährlichen Kosten des Empfängers für die Erbringung der Dienstleistung übersteigt,
d) ausgehend von einem anderen Berechnungsmodell als eine Beihilfe zu beurteilen ist, die durch die Begünstigung des Empfängers den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht,
e) überhaupt nicht als eine Beihilfe zu beurteilen ist, die durch die Begünstigung des Empfängers den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht?
2. Ist eine Vereinbarung über eine jährliche Vergütung, die von einer staatlichen Behörde aus staatlichen Mitteln an eine städtische Aktiengesellschaft gezahlt wird, um die von der Gesellschaft übernommene Verpflichtung auszugleichen, eine Dienstleistung außerhalb des Bereichs der Landwirtschaft, in diesem Fall den Schleusenbetrieb, gebührenfrei zu erbringen, wobei diese Vereinbarung vor Schwedens Beitritt zur EU abgeschlossen wurde und nicht bei der Kommission angemeldet worden ist, als eine bestehende Beihilfe anzusehen, die gemäß Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 als rechtmäßig anzusehen ist, solange die Kommission nicht festgestellt hat, dass die Beihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist?
3. Falls die Antwort auf Frage 2 „ja“ lautet, ist eine solche jährliche Vergütung dennoch als neue Beihilfe anzusehen, wenn die Vereinbarung nach Schwedens Beitritt zur EU gemäß den ursprünglichen Bedingungen bei mehreren Gelegenheiten um jeweils fünf Jahre aufgrund ausgebliebener Kündigung verlängert worden ist und die jährliche Vergütung für jeden neuen Fünfjahreszeitraum, teilweise auf Basis des Verbraucherpreisindexes, teilweise auf Basis des Umfangs der gebührenfreien Dienstleistung, die während des vergangenen Vereinbarungszeitraums erbracht wurde, in diesem Fall des Verkehrsaufkommens des Schleusenbetriebs, geändert worden ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
18 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Ausgleich, der einer städtischen Aktiengesellschaft gemäß einer Vereinbarung von einer staatlichen Behörde aus staatlichen Mitteln dafür gezahlt wird, dass sie sich zur gebührenfreien Erbringung eines vor dem Abschluss der Vereinbarung gebührenpflichtigen Schleusendiensts auf einer Wasserstraße verpflichtet hat, eine staatliche Beihilfe darstellt.
19 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Einstufung einer nationalen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, dass alle nachfolgend genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil verschafft werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (Urteil vom 8. November 2022, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, C‑885/19 P und C‑898/19 P, EU:C:2022:859, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die städtische Aktiengesellschaft, die den im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleich erhalten hat, ein „Unternehmen“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ist, ob ein wirtschaftlicher Vorteil vorliegt und inwieweit der Handel und der Wettbewerb beeinträchtigt sind.
Zum Bestehen eines Unternehmens
21 Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV für die Einstufung als staatliche Beihilfe insbesondere voraussetzt, dass einem Unternehmen ein Vorteil gewährt wird. Insoweit ist festzustellen, dass zum einen für die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften des Unionsrechts jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von der Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung als Unternehmen gilt. Zum anderen ist eine wirtschaftliche Tätigkeit jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2015, EasyPay und Finance Engineering, C‑185/14, EU:C:2015:716, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Daher wird das vorlegende Gericht feststellen müssen, ob im vorliegenden Fall die städtische Aktiengesellschaft Stockholms Hamn in ihrer Eigenschaft als Betreiberin der Hammarby-Schleuse eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und somit als „Unternehmen“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV einzustufen ist.
23 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Frage, ob die Einheit, die die fragliche Tätigkeit ausübt, ein „Unternehmen“ ist, nicht darauf ankommt, ob sie privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Status hat. Der Staat selbst oder eine staatliche Einheit kann nämlich als Unternehmen tätig sein. Zudem kann ein Rechtsträger, insbesondere eine öffentliche Einheit, in Bezug auf nur einen Teil seiner Tätigkeiten als Unternehmen anzusehen sein, wenn die diesem Teil entsprechenden Tätigkeiten als wirtschaftliche Tätigkeiten einzustufen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juli 2012, Compass-Datenbank, C‑138/11, EU:C:2012:449, Rn. 35 und 37, und vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 42). Somit ist der Status der Einheit nach einzelstaatlichem Recht nicht entscheidend.
24 Der Umstand, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schleusendienst von Stockholms Hamn, einer im Alleineigentum der Stadt Stockholm stehenden Gesellschaft, erbracht wird, steht folglich nicht der Annahme entgegen, dass diese ein Unternehmen ist, das eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
25 Zweitens ist klarzustellen, dass Tätigkeiten, die in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen, keinen wirtschaftlichen Charakter haben, der die Anwendung der im AEU-Vertrag vorgesehenen Wettbewerbsregeln rechtfertigen würde (Urteil vom 12. Juli 2012, Compass-Datenbank, C‑138/11, EU:C:2012:449, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung); dies gilt insbesondere, wenn der Betrieb einer Infrastruktur untrennbar mit der Wahrnehmung von Aufgaben verbunden ist, die zu der öffentlichen Aufgabe gehören, mit der die Einrichtung, die sie betreibt, betraut ist und diese Einrichtung in Ausübung hoheitlicher Befugnisse handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2012, Mitteldeutsche Flughafen und Flughafen Leipzig-Halle/Kommission, C‑288/11 P, EU:C:2012:821, Rn. 44, sowie vom 22. Oktober 2015, EasyPay und Finance Engineering, C‑185/14, EU:C:2015:716, Rn. 40).
26 Wie der Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, scheint die wirtschaftliche Natur des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Schleusendiensts nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden zu können, dass er die Ausübung hoheitlicher Befugnisse umfasse. Weder aus dem Vorabentscheidungsersuchen noch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht nämlich hervor, dass dieser Schleusendienst die Ausübung solcher Befugnisse – z. B. die Kontrolle und die Sicherheit des Verkehrs auf den Wasserstraßen, Aufgaben der Schifffahrtspolizei oder die Überwachung zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung – durch Stockholms Hamn voraussetzen würde oder untrennbar damit verbunden wäre.
27 Drittens erfolgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Einstufung als wirtschaftliche Tätigkeit immer in Bezug auf eine ganz bestimmte Tätigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Im vorliegenden Fall besteht der Schleusendienst, um den es in der Vereinbarung geht und der zur Zahlung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs an Stockholms Hamn geführt hat, in der Durchführung all dessen, was erforderlich ist, damit andere Schiffe als Freizeitschiffe die Hammarby-Schleuse passieren können. Sofern nicht davon ausgegangen wird, dass dieser Dienst, insbesondere unter Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen er erbracht wird, untrennbar von dem für Freizeitschiffe erbrachten Schleusendienst ist, was zu beurteilen Sache des vorlegenden Gerichts ist, darf die Prüfung, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt, nur den für andere Schiffe als Freizeitschiffe erbrachten Dienst betreffen.
29 Viertens muss nach der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung der betreffende Schleusendienst, damit er als wirtschaftliche Tätigkeit eingestuft werden kann, im Angebot von Gütern oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt bestehen.
30 Nach ständiger Rechtsprechung steht der Umstand, dass Güter oder Dienstleistungen ohne Gewinnerzielungsabsicht angeboten werden, der Einstufung der Einheit, die diese Tätigkeiten auf dem Markt ausübt, als Unternehmen nicht entgegen, wenn ihr Angebot mit dem anderer Wirtschaftsteilnehmer konkurriert, die einen Erwerbszweck verfolgen. Zudem können Dienstleistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, als „wirtschaftliche Tätigkeiten“ qualifiziert werden. Das Wesensmerkmal des Entgelts besteht darin, dass es die wirtschaftliche Gegenleistung für die betreffende Leistung darstellt (Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Im vorliegenden Fall wird gemäß der schwedischen Regelung der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schleusendienst für die Adressaten gebührenfrei erbracht.
32 Wie der Generalanwalt in Nr. 16 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann eine Tätigkeit grundsätzlich nicht als „wirtschaftlich“ angesehen werden, wenn sie nicht zumindest befristet einen Rückfluss vorsieht, der es gestattet, Gewinn zu erzielen oder mindestens die Kosten zu decken.
33 Folglich kann der Umstand, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schleusendienst gebührenfrei erbracht wird, darauf hindeuten, dass keine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt.
34 Das vorlegende Gericht wird allerdings zu prüfen haben, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schleusendienst auf einem Markt, also im Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsteilnehmern, erbracht wird.
35 Hierzu ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass dieser Dienst die Verbindung zwischen der Ostsee und dem Mälarsee ermöglicht und dass die einzige andere Wasserstraße, die dies ermöglicht, der Södertälje-Kanal ist, dessen Passage vom schwedischen Staat betrieben wird und dessen Nutzung während der Laufzeit der Vereinbarung ebenfalls gebührenfrei war. Somit scheint keine Austauschbarkeit mit einem anderen Wirtschaftsteilnehmer, der einen Erwerbszweck verfolgt, im Sinne der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gegeben, und damit auch kein Wettbewerbsverhältnis zwischen den Schleusendiensten auf den beiden betroffenen Wasserstraßen, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
36 Folglich wird das vorlegende Gericht prüfen müssen, ob der von Stockholms Hamn erbrachte Schleusendienst ungeachtet seiner Gebührenfreiheit auf einem Markt im Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsteilnehmern erbracht wird und ob Stockholms Hamn angesichts des Kontexts, in dem dieser Dienst erbracht wird, als „Unternehmen“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft werden kann.
Zum Vorliegen eines Vorteils
37 Nach der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung muss eine nationale Maßnahme dem oder den begünstigten Unternehmen einen selektiven Vorteil gewähren, um als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft zu werden.
38 Diese Voraussetzung ist bei jeder staatlichen Maßnahme als erfüllt zu betrachten, die – unabhängig von ihrer Form und ihren Zielen – unmittelbar oder mittelbar ein oder mehrere Unternehmen begünstigen kann oder die diesen Unternehmen einen Vorteil verschafft, den sie unter normalen Marktbedingungen nicht hätten erhalten können (Urteil vom 17. November 2022, Volotea und easyJet/Kommission, C‑331/20 P und C‑343/20 P, EU:C:2022:886, Rn. 107 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Die Beurteilung der Voraussetzungen, unter denen ein solcher Vorteil gewährt wurde, erfolgt grundsätzlich durch Anwendung des Grundsatzes des privaten Wirtschaftsteilnehmers, es sei denn, dass es nicht möglich ist, das im konkreten Fall in Rede stehende staatliche Verhalten mit dem eines privaten Wirtschaftsteilnehmers zu vergleichen, insbesondere, weil der Staat in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt gehandelt hat (Urteil vom 17. November 2022, Volotea und easyJet/Kommission, C‑331/20 P und C‑343/20 P, EU:C:2022:886, Rn. 108 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Die Anwendbarkeit des Kriteriums des privaten Wirtschaftsteilnehmers hängt also davon ab, ob der betroffene Mitgliedstaat einem Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil in seiner Eigenschaft als privater Wirtschaftsteilnehmer und nicht in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt gewährt. Für diese Beurteilung sind insbesondere Art und Gegenstand der fraglichen Maßnahme, ihr Kontext sowie das verfolgte Ziel und die Regeln, denen sie unterliegt, von Bedeutung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Kommission/EDF, C‑124/10 P, EU:C:2012:318, Rn. 81 und 86, sowie vom 13. März 2025, Cividale u. a., C‑746/23 und C‑747/23, EU:C:2025:171, Rn. 42).
40 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Vereinbarung geschlossen wurde, nachdem die schwedischen Behörden beschlossen hatten, bestimmte Gebühren für die Passage einiger Binnenwasserstraßen auf regionaler Ebene abzuschaffen, und zwar mit dem Ziel, die gleichmäßige Verteilung des Verkehrs zwischen den betroffenen Wasserstraßen beizubehalten. Folglich scheinen, wie der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge ausführt, die dem Gerichtshof vorliegenden Angaben über die Gründe für die Zahlung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs an Stockholms Hamn eher in dem Sinne auszulegen zu sein, dass der schwedische Staat in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt und nicht als privater Wirtschaftsteilnehmer handelte.
41 Was die vom Gerichtshof im Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, EU:C:2003:415), aufgestellten Kriterien angeht, auf die sich Stockholms Hamn vor dem vorlegenden Gericht beruft, hat der Gerichtshof in Rn. 87 jenes Urteils präzisiert, dass eine staatliche Maßnahme nicht unter Art. 107 Abs. 1 AEUV fällt, soweit sie als Ausgleich anzusehen ist, der die Gegenleistung für Leistungen bildet, die von den Unternehmen, denen sie zugutekommt, zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen erbracht werden.
42 Der Gerichtshof hat vier kumulative Voraussetzungen aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit das Vorliegen eines Vorteils ausgeschlossen werden kann. Erstens muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein. Zweitens sind die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufzustellen, um zu verhindern, dass der Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich bringt, der das Unternehmen, dem er gewährt wird, gegenüber konkurrierenden Unternehmen begünstigt. Drittens darf der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken. Viertens ist, wenn die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut wird, im konkreten Fall nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, das die Auswahl desjenigen Bewerbers ermöglicht, der diese Dienste zu den geringsten Kosten für die Allgemeinheit erbringen kann, die Höhe des erforderlichen Ausgleichs auf der Grundlage einer Analyse der Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte (Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg, C‑280/00, EU:C:2003:415, Rn. 89 bis 93).
43 Im vorliegenden Fall handelte es sich bei der Gebührenfreiheit des von Stockholms Hamn während des maßgeblichen Zeitraums erbrachten Schleusenbetriebs für Handelsschiffe offenbar um eine gesetzlich auferlegte Verpflichtung, die anschließend in einer mit der hierzu beauftragten Verwaltungsbehörde geschlossenen Vereinbarung formalisiert wurde und mit der die schwedischen Behörden das Ziel verfolgten, im allgemeinen Interesse eine optimale Aufteilung des kommerziellen Seeverkehrs zu gewährleisten. Wie der Generalanwalt in Nr. 25 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass Stockholms Hamn während dieses Zeitraums mit einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung im Sinne der Altmark-Kriterien betraut war, was jedoch vom vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu beurteilen sein wird.
44 In Bezug auf die drei anderen Altmark-Kriterien ist entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 26 und 27 seiner Schlussanträge darauf hinzuweisen, dass anhand der vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben nicht festgestellt werden kann, inwieweit diese drei anderen Kriterien, durch die eine überhöhte Ausgleichsleistung vermieden werden soll, im vorliegenden Fall erfüllt sind. Zwar wird für die Höhe des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs im Wesentlichen auf die Gebühren abgestellt, die vor deren Abschaffung erhoben wurden, doch geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass zwischen diesen Gebühren und den durch den betreffenden Schleusendienst verursachten Kosten ein Zusammenhang bestand.
45 Das vorlegende Gericht wird daher unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte und insbesondere der vorstehenden Ausführungen zu beurteilen haben, ob das Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers oder die Altmark-Kriterien den Schluss zulassen, dass Stockholms Hamn mit der Zahlung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs ein Vorteil gewährt wurde.
Zur Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und zur Wettbewerbsverzerrung
46 Nach ständiger Rechtsprechung bedarf es für die Einstufung einer nationalen Maßnahme als staatliche Beihilfe nicht des Nachweises einer tatsächlichen Auswirkung der fraglichen Beihilfe auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten und einer tatsächlichen Wettbewerbsverzerrung, sondern nur der Prüfung, ob die Beihilfe geeignet ist, diesen Handel zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen. Der innergemeinschaftliche Handel wird insbesondere dann durch eine von einem Mitgliedstaat gewährte Beihilfe beeinflusst, wenn sie die Stellung bestimmter Unternehmen gegenüber anderen, konkurrierenden Unternehmen in diesem Handel stärkt (Urteil vom 14. Januar 2015, Eventech, C‑518/13, EU:C:2015:9, Rn. 65 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Die begünstigten Unternehmen brauchen dabei nicht selbst am innergemeinschaftlichen Handel teilzunehmen. Wenn nämlich ein Mitgliedstaat Unternehmen eine Beihilfe gewährt, kann die inländische Tätigkeit dadurch beibehalten oder verstärkt werden, so dass sich die Chancen der in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen, in den Markt dieses Mitgliedstaats einzudringen, verringern. Außerdem gibt es keine Schwelle und keinen Prozentsatz, bis zu der oder dem man davon ausgehen könnte, dass der Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt ist. Weder der verhältnismäßig geringe Umfang einer Beihilfe noch die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten Unternehmens schließt nämlich von vornherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten aus. Die Voraussetzung, wonach die fragliche Beihilfe geeignet sein muss, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, hängt daher nicht vom örtlichen oder regionalen Charakter der erbrachten Verkehrsdienste oder von der Größe des betreffenden Tätigkeitsgebiets ab (Urteil vom 14. Januar 2015, Eventech, C‑518/13, EU:C:2015:9, Rn. 67 bis 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Folglich hängen die Auswirkungen der im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahme auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten und auf den Wettbewerb davon ab, ob es einen Markt gibt, auf dem der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schleusendienst erbracht wird. Insoweit wird insbesondere die von den schwedischen Behörden vorgeschriebene Gebührenfreiheit zu berücksichtigen sein, die ein Hindernis dafür darstellen kann, dass in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen die Erbringung des betreffenden Dienstes in Betracht ziehen.
49 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein jährlicher Ausgleich, der einer städtischen Aktiengesellschaft gemäß einer Vereinbarung von einer staatlichen Behörde aus staatlichen Mitteln dafür gezahlt wird, dass sie sich zur gebührenfreien Erbringung eines vor dem Abschluss der Vereinbarung gebührenpflichtigen Schleusendiensts auf einer Wasserstraße verpflichtet hat, eine staatliche Beihilfe darstellt, wenn die Gesellschaft als Unternehmen angesehen werden kann und der Ausgleich ihr einen Vorteil verschafft, den sie unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte.
Zur zweiten und zur dritten Frage
50 Mit seiner zweiten und seiner dritten Vorlagefrage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob, falls der in einer vor dem Beitritt eines Staates zur Union geschlossenen Vereinbarung vorgesehene Ausgleich eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen sollte, dieser Ausgleich als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 einzustufen ist und, wenn ja, ob er nach diesem Beitritt als „neue Beihilfe“ anzusehen ist, sofern seine Anwendung mehrfach verlängert und seine Höhe im Einklang mit den ursprünglichen Bestimmungen der Vereinbarung, mit der er eingeführt wurde, angepasst wurde.
51 Die Einstufung einer staatlichen Beihilfe als bestehende oder als neue Beihilfe hat unterschiedliche verfahrensrechtliche Folgen. Bestehende Beihilfen dürfen nämlich gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV regelmäßig durchgeführt werden, solange die Kommission nicht ihre Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt festgestellt hat (Urteile vom 15. März 1994, Banco Exterior de España, C‑387/92, EU:C:1994:100, Rn. 19 und 20, sowie vom 18. Juli 2013, P, C‑6/12, EU:C:2013:525, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dagegen sieht Art. 108 Abs. 3 AEUV vor, dass Vorhaben zur Einführung neuer Beihilfen oder zur Umgestaltung bestehender Beihilfen der Kommission rechtzeitig zu melden sind und nicht durchgeführt werden dürfen, bevor das Verfahren zu einer abschließenden Entscheidung geführt hat (Urteil vom 20. Mai 2021, Azienda Sanitaria Provinciale di Catania, C‑128/19, EU:C:2021:401, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Der Begriff „bestehende Beihilfen“ umfasst nach Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 „unbeschadet der Artikel 144 und 172 der [Beitrittsakte] alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des [AEU‑Vertrags] in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des [AEU‑Vertrags] in dem entsprechenden Mitgliedstaat eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind“.
53 Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass die Zahlung des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs bereits begonnen hatte und es ihn folglich gab, bevor der AEU-Vertrag in Schweden im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 in Kraft trat.
54 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass der Kommission der im Ausgangsverfahren fragliche Ausgleich nicht mitgeteilt wurde und dass das vorlegende Gericht daher wissen möchte, ob Art. 144 der Beitrittsakte, nach dessen Buchst. a „[i]n Bezug auf die Beihilfen nach den Artikeln [107 und 108 AEUV]“ „von den in den neuen Mitgliedstaaten vor dem Beitritt angewandten Beihilfen nur diejenigen als ‚bestehende‘ Beihilfen nach Artikel [108 Abs. 1 AEUV gelten], die der Kommission bis zum 30. April 1995 mitgeteilt werden“, im vorliegenden Fall anwendbar ist.
55 Aus der Beitrittsakte und insbesondere aus ihrem Art. 137 Abs. 1 ergibt sich, dass Titel VI dieser Akte, zu dem Art. 144 gehört, auf landwirtschaftliche Erzeugnisse Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, P, C‑6/12, EU:C:2013:525, Rn. 44). Folglich ist Art. 144 der Beitrittsakte auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleich, der Schleusendienstleistungen betrifft, nicht anwendbar.
56 Demzufolge ist der im Ausgangsverfahren fragliche Ausgleich, obwohl er der Kommission nicht mitgeteilt wurde, als bestehende Beihilfe anzusehen, weil er die für eine solche Einstufung erforderlichen Voraussetzungen von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 erfüllt.
57 Allerdings ist zu klären, ob diese Einstufung durch die Verlängerungen und Anpassungen des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs in Frage gestellt werden kann. Nach der Vorlageentscheidung stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob die Änderungen betreffend die Dauer und die Höhe des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs, die nach Ablauf der im Jahr 1979 ursprünglich für fünf Jahre geschlossenen Vereinbarung vorgenommen wurden, als „Änderung einer bestehenden Beihilfe“ angesehen werden können, so dass dieser Ausgleich letztlich als „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589 einzustufen ist.
58 Gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 794/2004 ist die Änderung einer bestehenden Beihilfe „jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem [Binnenmarkt] haben kann“. Nach ständiger Rechtsprechung führt zudem nur eine wesentliche Änderung einer bestehenden Beihilfe, d. h. eine Änderung – subjektiver, objektiver oder zeitlicher Natur –, die ihre Bestandteile berührt und die Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt beeinflussen kann, zu einer neuen Beihilfe (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2018, Carrefour Hypermarchés u. a., C‑510/16, EU:C:2018:751, Rn. 41, und vom 13. Dezember 2018, Rittinger u. a. (C‑492/17, EU:C:2018:1019, Rn. 57).
59 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Gültigkeit der betreffenden Vereinbarung bis zu deren Kündigung im Jahr 2021 automatisch um jeweils fünf Jahre verlängert wurde. Diese automatische Verlängerung der Vereinbarung um fünf Jahre, solange diese nicht gekündigt wird, und die Anpassung der Höhe des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs sowohl jährlich anhand des Verbraucherpreisindexes als auch alle fünf Jahre anhand der Verkehrsentwicklung waren in der Vereinbarung vorgesehen und konnten daher seit dem Abschluss der Vereinbarung für die Beurteilung ihrer Vereinbarkeit berücksichtigt werden.
60 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs führen nur folgende Verlängerungen zur Änderung einer bestehenden Beihilfe: Verlängerungen durch Maßnahmen, die nach der Maßnahme erlassen wurden, mit der die betreffende Beihilfe, gegebenenfalls nach deren Genehmigung durch die Kommission, vorgesehen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. September 2003, Belgien/Kommission, C‑197/99 P, EU:C:2003:444, Rn. 109, und vom 20. Mai 2010, Todaro Nunziatina & C., C‑138/09, EU:C:2010:291, Rn. 47), oder Verlängerungen, die über die im Vertrag zur Einführung dieser Beihilfe vorgesehenen zeitlichen Grenzen hinausgehen, unter Ausschluss des normalen Funktionierens dieses Vertrags (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2016, DEI und Kommission/Alouminion tis Ellados, C‑590/14 P, EU:C:2016:797, Rn. 59).
61 Was die Anpassung der Höhe des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs betrifft, so fällt, wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge feststellt, zum einen die jährliche Anpassung der Höhe dieses Ausgleichs anhand des Verbraucherpreisindexes unter die automatischen Veränderungen der Höhe einer finanziellen Beihilfe bei Inflation und stellt keine wesentliche Änderung der Höhe des Ausgleichs dar. Zum anderen wird, was die Neufestsetzung des Grundbetrags des im Ausgangsverfahren fraglichen Ausgleichs zum Ablauf jedes Fünfjahreszeitraums angeht, vom vorlegenden Gericht zu beurteilen sein, ob diese Neufestsetzung, obwohl sie anhand einer über die Jahre hinweg unverändert gebliebenen Formel erfolgte, tatsächlich zu einer Reihe von Neuverhandlungen geführt hat, die als „Änderungen“ eingestuft werden können. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn für die Neufestsetzung erforderlich war, dass die Parteien sich über das zu berücksichtigende Verkehrsaufkommen einigen.
62 Ist dies tatsächlich der Fall, hätte das vorlegende Gericht zu prüfen, ob diese Änderungen als „wesentlich“ eingestuft werden können, wobei die Schwelle von 20 %, ab der eine Änderung der Ausgangsmittel als Änderung einer bestehenden Beihilfe gilt, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 nur auf Beihilferegelungen Anwendung findet, nicht aber auf Einzelbeihilfen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende.
63 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 1 Buchst. b Ziff. i und Buchst. c der Verordnung 2015/1589 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einem Ausgleich – sofern er eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt –, dessen Zahlung gemäß den ursprünglichen Bedingungen der Vereinbarung, mit der er eingeführt wurde, ohne eine Kündigung der Vereinbarung um jeweils fünf Jahren verlängert wurde und dessen Höhe zum einen jährlich anhand des Verbraucherpreisindexes und zum anderen jeweils zum Ablauf eines Fünfjahreszeitraums entsprechend dem Verkehrsaufkommen gemäß einer in der ursprünglichen Vereinbarung festgelegten und seither unveränderten Formel angepasst wurde, eine bestehende Beihilfe handelt.
Kosten
64 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 107 Abs. 1 AEUV
ist dahin auszulegen, dass
ein jährlicher Ausgleich, der einer städtischen Aktiengesellschaft gemäß einer Vereinbarung von einer staatlichen Behörde aus staatlichen Mitteln dafür gezahlt wird, dass sie sich zur gebührenfreien Erbringung eines vor dem Abschluss der Vereinbarung gebührenpflichtigen Schleusendiensts auf einer Wasserstraße verpflichtet hat, eine staatliche Beihilfe darstellt, wenn die Gesellschaft als Unternehmen angesehen werden kann und der Ausgleich ihr einen Vorteil verschafft, den sie unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte.
2. Art. 1 Buchst. b Ziff. i und Buchst. c der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV]
ist dahin auszulegen, dass
es sich bei einem Ausgleich – sofern er eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt –, dessen Zahlung gemäß den ursprünglichen Bedingungen der Vereinbarung, mit der er eingeführt wurde, ohne eine Kündigung der Vereinbarung um jeweils fünf Jahre verlängert wurde und dessen Höhe zum einen jährlich anhand des Verbraucherpreisindexes und zum anderen jeweils zum Ablauf eines Fünfjahreszeitraums entsprechend dem Verkehrsaufkommen gemäß einer in der ursprünglichen Vereinbarung festgelegten und seither unveränderten Formel angepasst wurde, um eine bestehende Beihilfe handelt.
Unterschriften