20. November 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Art. 24 Buchst. d und Art. 211 Abs. 2 – Übertragung von Befugnissen auf die Europäische Kommission – Befugnis, einen Gesetzgebungsakt zu ‚ergänzen‘ – Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 – Art. 172 Abs. 1 und 2 – Gültigkeit – Rückwirkung der Bewilligung einer aktiven Veredelung “
In der Rechtssache C‑617/24
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Beschluss vom 4. September 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 2024, in dem Verfahren
Siegfried PharmaChemikalien Minden GmbH
gegen
Hauptzollamt Bielefeld
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Schalin (Berichterstatter) sowie der Richter M. Gavalec und Z. Csehi,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Siegfried PharmaChemikalien Minden GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin C. Pötters und Steuerberater R. Vobbe,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers und F. Moro als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 172 Abs. 1 und 2 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (ABl. 2015, L 343, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Siegfried PharmaChemikalien Minden GmbH (im Folgenden: Siegfried Pharma) und dem Hauptzollamt Bielefeld (Deutschland) (im Folgenden: Hauptzollamt) wegen eines Antrags auf Erteilung der rückwirkenden Bewilligung einer aktiven Veredelung.
Rechtlicher Rahmen
Zollkodex
3 Im 39. Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) heißt es:
„Zum Schutz der finanziellen Interessen der [Europäischen] Union und der Mitgliedstaaten und zur Ergänzung der Vorschriften über die Zollschuld und die Sicherheitsleistungen … sollte der [Europäischen] Kommission die Befugnis übertragen werden, gemäß Artikel 290 AEUV delegierte Rechtsakte in Bezug auf den Ort des Entstehens der Zollschuld, die Bemessung des Betrags der Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben, die Sicherheitsleistungen für diese Abgaben und die Erhebung, die Erstattung, den Erlass und das Erlöschen der Zollschuld zu erlassen.“
4 Aus Art. 5 Nr. 2 Buchst. a des Zollkodex ergibt sich, dass zu den „zollrechtlichen Vorschriften“ u. a. „der Zollkodex sowie die auf Unionsebene und auf einzelstaatlicher Ebene zu seiner Ergänzung oder Durchführung erlassenen Vorschriften“ gehören.
5 Titel I Kapitel 2 Abschnitt 3 („Zollrechtliche Entscheidungen“) des Zollkodex enthält Art. 22 Abs. 2 und 4, der bestimmt:
„(2) Die Zollbehörden überprüfen unverzüglich und spätestens innerhalb von 30 Tagen ab dem Eingang des Antrags auf eine Entscheidung, ob die Bedingungen für die Annahme des Antrags erfüllt sind.
Stellen die Zollbehörden fest, dass der Antrag alle Informationen enthält, die sie für diese Entscheidung benötigen, so teilen sie dem Antragsteller innerhalb der in Unterabsatz 1 genannten Frist mit, dass sie den Antrag annehmen.
…
(4) Sofern in der Entscheidung oder in den zollrechtlichen Vorschriften nichts anderes bestimmt ist, wird die Entscheidung an dem Tag wirksam, an dem sie dem Antragsteller zugestellt wird beziehungsweise als ihm zugestellt gilt. …“
6 Art. 24 des Zollkodex sieht vor:
„Die Kommission wird ermächtigt, delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 284 zu erlassen, um Folgendes festzulegen:
…
d) die Fälle gemäß Artikel 22 Absatz 4, in denen die Entscheidung an einem anderen Tag als dem Tag wirksam wird, an dem sie dem Antragsteller zugestellt wird beziehungsweise als ihm zugestellt gilt,
…“
7 Art. 211 des Zollkodex bestimmt:
„(1) Eine Bewilligung der Zollbehörden ist erforderlich für
a) die Inanspruchnahme der aktiven oder passiven Veredelung, der vorübergehenden Verwendung oder der Endverwendung,
…
(2) Die Zollbehörden erteilen eine Bewilligung rückwirkend, wenn alle folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
a) [E]s besteht eine nachgewiesene wirtschaftliche Notwendigkeit,
…
e) dem Antragsteller wurde in den drei Jahren vor Annahme des Antrags keine rückwirkende Bewilligung erteilt,
…
h) wird die Erneuerung einer für denselben Vorgang und dieselben Waren bereits erteilten Bewilligung beantragt, so wird der Antrag binnen drei Jahren nach Ablauf der Gültigkeit der ursprünglichen Bewilligung gestellt.
…“
8 Art. 212 des Zollkodex sieht vor:
„Die Kommission wird ermächtigt, delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 284 zu erlassen, um Folgendes festzulegen:
a) die Bedingungen für die Erteilung der Bewilligung für die Verfahren gemäß Artikel 211 Absatz 1,
…“
9 Art. 284 („Ausübung der Befugnisübertragung“) des Zollkodex überträgt der Kommission u. a. die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte nach den Art. 24 und 212 des Zollkodex und legt die Bedingungen für die Ausübung dieser Befugnisübertragung fest.
Delegierte Verordnung 2015/2446
10 In den Erwägungsgründen 1 und 14 der Delegierten Verordnung 2015/2446 heißt es:
„(1) Nach Artikel 290 [AEUV] wird durch [den Zollkodex] der Kommission die Befugnis zur Ergänzung bestimmter nicht wesentlicher Elemente des Zollkodex übertragen. …
…
(14) In bestimmten Fällen sollte eine Entscheidung ab einem anderen Datum als dem, an dem sie bei dem Antragsteller eingeht oder als eingegangen gilt, wirksam werden, insbesondere wenn der Antragsteller um ein anderes Datum des Wirksamwerdens ersucht hat oder Voraussetzung für das Wirksamwerden der Entscheidung die Erfüllung bestimmter Förmlichkeiten durch den Antragsteller ist. Im Interesse von Eindeutigkeit und Rechtssicherheit sollten die entsprechenden Fälle gründlich definiert werden.“
11 Art. 172 („Rückwirkende Bewilligung“) dieser Delegierten Verordnung bestimmt:
„(1) Erteilen die Zollbehörden gemäß Artikel 211 Absatz 2 des Zollkodex eine Bewilligung rückwirkend, wird die Bewilligung frühestens ab dem Datum der Annahme des Antrags wirksam.
(2) Unter außergewöhnlichen Umständen können die Zollbehörden zulassen, dass eine Bewilligung gemäß Absatz 1 frühestens ein Jahr, im Fall von Waren, die unter Anhang 71-02 fallen, frühestens drei Monate vor dem Datum der Annahme des Antrags wirksam wird.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
12 Im November 2018 stellte Siegfried Pharma beim Hauptzollamt einen Antrag auf Bewilligung einer aktiven Veredelung gemäß Art. 211 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex für aus China eingeführte Waren. Dieser Antrag enthielt nicht alle erforderlichen Informationen und Unterlagen, was das Hauptzollamt Siegfried Pharma mitteilte. Siegfried Pharma ergänzte ihren Antrag nicht unverzüglich; bis zum 18. Juli 2019 meldete sie Waren zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr an. Hierfür entrichtete sie Zölle in Höhe von 1 173 497,14 Euro.
13 Am 12. April 2021 beantragte Siegfried Pharma beim Hauptzollamt unter Bezugnahme auf ihren früheren Antrag die rückwirkende Bewilligung einer aktiven Veredelung nach Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex für die von ihr aus China eingeführten Waren. Damit wollte sie die durch die Entrichtung der Zölle entstandenen wirtschaftlichen Nachteile nachträglich beseitigen. Mit Bescheid vom 11. Juli 2021 lehnte das Hauptzollamt den Antrag mit der Begründung ab, dass Siegfried Pharma noch immer nicht alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt habe. Ferner habe sie die wirtschaftliche Notwendigkeit im Sinne von Art. 211 Abs. 2 Buchst. a nicht nachgewiesen.
14 Siegfried Pharma legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein und machte geltend, dass die in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Voraussetzung der wirtschaftlichen Notwendigkeit erfüllt sei und dass die Kommission ihre Befugnisse überschritten habe, indem sie in Art. 172 der Delegierten Verordnung 2015/2446 die Rückwirkung einer solchen Bewilligung zeitlich begrenzt habe. Es gebe nämlich keine Befugnisnorm für den Erlass dieses Artikels; jedenfalls aber habe sie den in Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex festgelegten rechtlichen Rahmen überschritten.
15 Nachdem das Hauptzollamt diesen Einspruch mit Entscheidung vom 26. Juli 2023 zurückgewiesen hatte, erhob Siegfried Pharma beim Finanzgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen diese Entscheidung. Das Gericht stellt fest, dass nach Art. 172 Abs. 1 und 2 der Delegierten Verordnung 2015/2446 (im Folgenden: in Rede stehende Bestimmung) die rückwirkende Erteilung einer Bewilligung gemäß Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex an Siegfried Pharma nicht zum Erlöschen der Zollschuld dieses Unternehmens führen würde. Der Antrag auf Bewilligung einer aktiven Veredelung sei nämlich erst am 14. Juli 2021 vom Hauptzollamt im Sinne von Art. 22 Abs. 2 des Zollkodex angenommen worden, während die letzte zollpflichtige Einfuhr im Jahr 2019, d. h. mehr als ein Jahr vor dem Zeitpunkt der Annahme dieses Antrags, erfolgt sei.
16 Das vorlegende Gericht äußert Zweifel an der Gültigkeit der in Rede stehenden Bestimmung, da die Kommission nicht befugt gewesen sei, Bestimmungen zur zeitlichen Begrenzung rückwirkender Bewilligungen zu erlassen. Die Kommission habe sich zum Erlass der in Rede stehenden Bestimmung auf Art. 24 Buchst. d des Zollkodex gestützt. Im Übrigen sei die Kommission nach Art. 212 Buchst. a des Zollkodex befugt, delegierte Rechtsakte zu erlassen, um die Bedingungen für die Erteilung der Bewilligung für die Verfahren gemäß Art. 211 Abs. 1 des Zollkodex, also u. a. für aktive Veredelungen, festzulegen. Dagegen beziehe sich Art. 212 Buchst. a des Zollkodex nicht ausdrücklich auf Art. 211 Abs. 2, der gerade die rückwirkende Bewilligung betreffe.
17 Dem Wortlaut von Art. 24 Buchst. d und Art. 212 Buchst. a des Zollkodex lasse sich nicht entnehmen, ob die Kommission Rechtsakte im Sinne von Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV zur „Ergänzung“ oder zur „Änderung“ nicht wesentlicher Vorschriften des Zollkodex erlassen dürfe.
18 Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex keine zeitliche Begrenzung der Rückwirkung von Bewilligungen vorsehe, was nahelege, dass die in Rede stehende Bestimmung solche Begrenzungen nicht habe einführen können. Außerdem könne es sich beim zeitlichen Rahmen um einen „wesentlichen Aspekt“ des Zollrechts der Union handeln, so dass er nicht Gegenstand einer Befugnisübertragung gemäß Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV sein könne.
19 Darüber hinaus bezweifelt das vorlegende Gericht, dass die in Rede stehende Bestimmung dem Begründungserfordernis nach Art. 296 Abs. 2 AEUV genügt, da die allgemein gehaltene Begründung im 14. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 nicht ausreichend sei.
20 Daher hat das Finanzgericht Düsseldorf das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist die in Rede stehende Bestimmung gültig?
Zur Vorlagefrage
21 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Rede stehende Bestimmung ungültig ist, zum einen weil die Kommission die Grenzen der in Art. 24 Buchst. d und Art. 212 Buchst. a des Zollkodex vorgesehenen Befugnisübertragungen überschritten habe und zum anderen weil die Begründung der in Rede stehenden Bestimmung den Anforderungen von Art. 296 Abs. 2 AEUV nicht genüge.
22 Der erste vom vorlegenden Gericht angeführte Ungültigkeitsgrund betrifft die Frage, ob die Kommission die Grenzen der Befugnisübertragungen nach Art. 24 Buchst. d und Art. 212 Buchst. a des Zollkodex überschritten hat, indem sie vorgesehen hat, dass eine rückwirkende Bewilligung einer aktiven Veredelung frühestens zum Zeitpunkt der Annahme des Antrags oder ausnahmsweise frühestens ein Jahr vor diesem Zeitpunkt wirksam wird.
23 Nach Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV „kann der Kommission [in Gesetzgebungsakten] die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen“.
24 Diese Möglichkeit, Befugnisse zu übertragen, soll es dem Unionsgesetzgeber erlauben, sich auf die wesentlichen Elemente einer Regelung sowie auf ihre nicht wesentlichen Elemente, deren gesetzliche Regelung er für sachgerecht hält, zu konzentrieren und der Kommission die Aufgabe anzuvertrauen, bestimmte nicht wesentliche Elemente des erlassenen Gesetzgebungsakts zu „ergänzen“ oder aber solche Elemente im Rahmen einer ihr eingeräumten Ermächtigung zu „ändern“. Die beiden in Art. 290 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Kategorien delegierter Befugnisse unterscheiden sich somit deutlich voneinander (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 40 und 54).
25 Nach Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 müssen in dem Gesetzgebungsakt, mit dem diese Delegation vorgenommen wird, Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt werden. Dieses Erfordernis impliziert, dass die Übertragung einer delegierten Befugnis dem Erlass von Vorschriften dient, die sich in einen rechtlichen Rahmen einfügen, wie er durch den Basisgesetzgebungsakt definiert ist (Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem ergibt sich aus Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2, dass die wesentlichen Aspekte einer Materie in der Grundregelung zu erlassen sind und nicht Gegenstand einer Übertragung von Durchführungsbefugnissen sein können. Diese wesentlichen Aspekte sind nach der Rechtsprechung diejenigen, deren Erlass politische Entscheidungen erfordert, die in die eigene Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen (Urteil vom 11. Mai 2017, Dyson/Kommission, C‑44/16 P, EU:C:2017:357, Rn. 59 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Im vorliegenden Fall ist vorab darauf hinzuweisen, dass sich Art. 284 des Zollkodex allgemein darauf beschränkt, der Kommission die Befugnis zum Erlass u. a. der in den Art. 24 und 212 des Zollkodex genannten delegierten Rechtsakte zu übertragen, und die Bedingungen für die Ausübung dieser Befugnisübertragung festlegt.
27 Außerdem lässt auch der Wortlaut von Art. 24 Buchst. d und Art. 212 Buchst. a des Zollkodex nicht erkennen, ob die Kommission zur Ergänzung oder Änderung des Zollkodex befugt war.
28 Diese Bestimmungen ermächtigen die Kommission nämlich, delegierte Rechtsakte gemäß Art. 284 des Zollkodex zu erlassen, um die Fälle gemäß Art. 22 Abs. 4 des Zollkodex, in denen die Entscheidung an einem anderen Tag als dem Tag wirksam wird, an dem sie dem Antragsteller zugestellt wird bzw. als ihm zugestellt gilt, bzw. die Bedingungen für die Erteilung der Bewilligung für die Verfahren gemäß Art. 211 Abs. 1 „festzulegen“.
29 Art. 290 Abs. 1 AEUV sieht aber nur zwei Kategorien delegierter Befugnisse vor, nämlich solche, die es erlauben, den Gesetzgebungsakt zu „ergänzen“, und solche, die es erlauben, ihn zu „ändern“. Somit ist die Möglichkeit, bestimmte nicht wesentliche Elemente eines solchen Rechtsakts „festzulegen“, in diesem Artikel nicht vorgesehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 32).
30 Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, trifft der Unionsgesetzgeber, wenn er der Kommission die Befugnis einräumt, einen Gesetzgebungsakt zu „ergänzen“, keine abschließende gesetzliche Regelung, sondern beschränkt sich darauf, die wesentlichen Elemente festzulegen, und überlässt es der Kommission, diese zu konkretisieren. Deren Ermächtigung ist darauf beschränkt, nicht wesentliche Elemente der betreffenden Regelung, die der Gesetzgeber nicht definiert hat, unter Beachtung des vom Gesetzgeber erlassenen Gesetzgebungsakts in seiner Gesamtheit im Einzelnen auszuarbeiten. Mit der Übertragung der Befugnis, einen Gesetzgebungsakt zu „ändern“, soll der Kommission hingegen erlaubt werden, die vom Gesetzgeber in diesem Rechtsakt festgelegten nicht wesentlichen Elemente abzuändern oder aufzuheben. Macht die Kommission von einer solchen Befugnis Gebrauch, ist sie nicht verpflichtet, die Elemente zu beachten, deren „Änderung“ durch die ihr eingeräumte Ermächtigung gerade bezweckt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 41 und 42).
31 Die in der vorstehenden Randnummer festgestellten Unterschiede zwischen den beiden Kategorien der in Art. 290 Abs. 1 AEUV geregelten delegierten Befugnisse stehen der Annahme entgegen, dass der Kommission die Befugnis eingeräumt werden kann, die Art der ihr übertragenen Befugnis selbst zu bestimmen. Unter diesen Umständen und um die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens zu gewährleisten, obliegt es dem Gesetzgeber nach dieser Bestimmung, die Art der Befugnis, die er der Kommission zu übertragen beabsichtigt, festzulegen (Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 46).
32 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass es im 39. Erwägungsgrund des Zollkodex heißt, dass der Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und der Mitgliedstaaten und zur „Ergänzung“ der Vorschriften über die Zollschuld und die Sicherheitsleistungen die Befugnis übertragen werden sollte, gemäß Art. 290 AEUV delegierte Rechtsakte u. a. in Bezug auf das Erlöschen der Zollschuld zu erlassen. Sowohl der erste Erwägungsgrund als auch der Titel der Delegierten Verordnung 2015/2446 zeigen, dass die Kommission die ihr durch Art. 284 des Zollkodex übertragene Befugnis in dieser Weise verstanden hat.
33 Zweitens konkretisiert die in Rede stehende Bestimmung Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex, u. a. indem sie die Rückwirkung einer Bewilligung für eine aktive Veredelung begrenzt.
34 Zwar ermächtigt Art. 212 Buchst. a des Zollkodex die Kommission nur, die Bedingungen für die Erteilung der Bewilligung für die Verfahren gemäß Art. 211 Abs. 1 des Zollkodex festzulegen, so dass sich diese Ermächtigung nicht auf Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex erstreckt.
35 Allerdings war es nicht erforderlich, Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex in Art. 212 Buchst. a des Zollkodex zu erwähnen, da die Kommission nach Art. 24 Buchst. d in Verbindung mit Art. 22 Abs. 4 des Zollkodex bereits befugt war, die Vorschriften des Zollkodex hinsichtlich der zeitlichen Wirkungen von zollrechtlichen Bewilligungen, insbesondere von Bewilligungen für aktive Veredelungen, zu ergänzen.
36 Aus Art. 22 Abs. 4 des Zollkodex, zu dessen Ergänzung die Kommission aufgrund von Art. 24 Buchst. d des Zollkodex befugt ist, ergibt sich nämlich, dass die Entscheidung einer Zollbehörde über die Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften an dem Tag wirksam wird, an dem sie dem Antragsteller zugestellt wird bzw. als ihm zugestellt gilt, sofern in dieser Entscheidung oder in den zollrechtlichen Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Gemäß Art. 5 Nr. 2 Buchst. a des Zollkodex gehören zu den „zollrechtlichen Vorschriften“ u. a. der Zollkodex sowie die auf Unionsebene und auf einzelstaatlicher Ebene zu seiner Ergänzung oder Durchführung erlassenen Vorschriften. Folglich ist die Delegierte Verordnung 2015/2446 unzweifelhaft Teil der zollrechtlichen Vorschriften im Sinne von Art. 5 Nr. 2 Buchst. a des Zollkodex und konnte mithin das Datum des Wirksamwerdens einer Entscheidung einer Zollbehörde über die Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften ändern.
37 Darüber hinaus bedeutet das Schweigen des Unionsgesetzgebers in Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex zum zeitlichen Aspekt der Rückwirkung von Bewilligungen für die aktive Veredelung keineswegs, dass es der Kommission untersagt ist, die Möglichkeit der Erteilung einer solchen Bewilligung zeitlich zu begrenzen. Vielmehr handelt es sich um ein Beispiel dafür, dass der Unionsgesetzgeber, wenn er der Kommission die Befugnis einräumt, einen Gesetzgebungsakt zu ergänzen, keine abschließende gesetzliche Regelung trifft, sondern sich darauf beschränkt, die wesentlichen Elemente festzulegen, und es der Kommission überlässt, diese zu konkretisieren, wie oben in Rn. 30 ausgeführt wurde.
38 Im Übrigen ist umso weniger anzunehmen, dass Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex die Frage des Wirksamwerdens von Entscheidungen über rückwirkende Bewilligungen bereits geregelt hat, als er in erster Linie die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Bewilligung regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, Beeren‑, Wild‑, Feinfrucht, C‑825/19, EU:C:2021:869, Rn. 33). Insbesondere zielen die in Art. 211 Abs. 2 Buchst. e und h genannten Voraussetzungen nicht darauf ab, den Zeitpunkt des Wirksamwerdens festzulegen. Hiernach dürfen solche Bewilligungen dem Antragsteller nämlich nicht in den drei Jahren vor Annahme des Antrags erteilt worden sein. Außerdem muss ein Antrag auf Erneuerung einer Bewilligung binnen drei Jahren nach Ablauf der Gültigkeit der ursprünglichen Bewilligung gestellt werden.
39 Drittens ändert die in Rede stehende Bestimmung dadurch, dass sie u. a. die Rückwirkung einer Bewilligung für aktive Veredelungen begrenzt, keine wesentliche Vorschrift des Zollkodex. Die bloße zeitliche Begrenzung der Rückwirkung einer solchen Bewilligung, die im Zollkodex allgemein vorgesehen ist, bedeutet nämlich keineswegs, dass politische Entscheidungen getroffen werden müssen, die in die eigene Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen, da durch diese Begrenzung nicht die grundsätzlichen Ausrichtungen der Unionspolitik umgesetzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 1992, Deutschland/Kommission, C‑240/90, EU:C:1992:408, Rn. 37).
40 Viertens ist es erforderlich, dass die Rückwirkung von Entscheidungen über rückwirkende Bewilligungen zeitlich nicht unbegrenzt ist, sondern im Zollrecht geregelt und näher bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund dient die in Rede stehende Bestimmung der Gewährleistung der im 14. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 genannten Ziele der Eindeutigkeit und Rechtssicherheit sowie des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Rechtssubjekte. Dieser Grundsatz verlangt u. a., dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn der Zeitpunkt des Wirksamwerdens nicht auf Unionsebene harmonisiert wäre, könnte die Praxis der Zollbehörden der Mitgliedstaaten in diesem Bereich bei vergleichbaren Sachverhalten erheblich voneinander abweichen, ohne dass dies objektiv gerechtfertigt wäre.
41 Fünftens und letztens stellen Bestimmungen wie Art. 211 Abs. 2 des Zollkodex, die die Anwendung einer Zollbefreiung vorsehen, eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass in die Union eingeführte Erzeugnisse generell zollpflichtig sind. Als abweichende Bestimmungen sind sie daher eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Februar 2011, Marishipping and Transport, C‑11/10, EU:C:2011:91, Rn. 16, und vom 12. Dezember 2024, Malmö Motorrenovering, C‑781/23, EU:C:2024:1014, Rn. 21).
42 Somit wendet die in Rede stehende Bestimmung, indem sie u. a. die Rückwirkung der gemäß Art. 211 Abs. 2 erteilten Bewilligung einer aktiven Veredelung begrenzt, lediglich die Regel der engen Auslegung der von diesem Grundsatz abweichenden Bestimmungen an und trägt damit zum Schutz der finanziellen Interessen der Union bei, der u. a. im 39. Erwägungsgrund des Zollkodex erwähnt wird.
43 Nach alledem ist festzustellen, dass der erste vom vorlegenden Gericht angeführte Ungültigkeitsgrund nicht zur Ungültigkeit der in Rede stehenden Bestimmung führen kann.
44 Der zweite vom vorlegenden Gericht angeführte Ungültigkeitsgrund betrifft die Frage, ob die Begründung der in Rede stehenden Bestimmung dem in Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Begründungserfordernis genügt.
45 Nach der Rechtsprechung muss die in Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung die Überlegungen des Unionsorgans, das den fraglichen Rechtsakt erlassen hat, klar und eindeutig erkennen lassen, damit die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Sie braucht jedoch nicht sämtliche rechtlich oder tatsächlich erheblichen Gesichtspunkte zu enthalten. Zudem kann sich bei Handlungen mit allgemeiner Geltung die Begründung darauf beschränken, die Gesamtlage anzugeben, die zum Erlass des fraglichen Rechtsakts geführt hat, und die allgemeinen Ziele zu bezeichnen, die mit diesem Rechtsakt erreicht werden sollen. Lässt sich dem angegriffenen Rechtsakt der von dem Organ verfolgte Zweck in seinen wesentlichen Zügen entnehmen, wäre es folglich unnötig, eine besondere Begründung für jede der fachlichen Entscheidungen zu verlangen, die das Organ getroffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 88 bis 90).
46 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass im 14. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 die Gründe dafür dargelegt werden, dass der Zeitpunkt des Wirksamwerdens von zollrechtlichen Entscheidungen festgelegt werden sollte. Demnach sollten im Interesse der Eindeutigkeit und der Rechtssicherheit die Fälle, in denen eine solche Entscheidung ab einem anderen Datum als dem, an dem sie bei dem Antragsteller eingeht oder als eingegangen gilt, wirksam wird, gründlich definiert werden, und zwar insbesondere dann, wenn der Antragsteller um ein anderes Datum des Wirksamwerdens ersucht hat.
47 Folglich lässt sich der von der Kommission verfolgte Zweck in seinen wesentlichen Zügen der Delegierten Verordnung 2015/2446 entnehmen, so dass die Kommission dem Begründungserfordernis genügt hat; mithin führt die Prüfung des zweiten vom vorlegenden Gericht angeführten Ungültigkeitsgrundes, der eine etwaige Nichteinhaltung des Begründungserfordernisses durch die Kommission betrifft, nicht zur Ungültigkeit der in Rede stehenden Bestimmung.
48 Die Begründung der Delegierten Verordnung 2015/2446 brauchte umso weniger detailliert zu sein, als die in Rede stehende Bestimmung in einem Kontext ergangen ist, der den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern wohlbekannt war, da sie im Wesentlichen die frühere Rechtslage fortgeschrieben hat. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, sah Art. 508 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1993, L 253, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom 4. Mai 2001 (ABl. 2001, L 141, S. 1) geänderten Fassung nämlich ebenso wie die in Rede stehende Bestimmung eine auf ein Jahr begrenzte Rückwirkung der Bewilligung einer aktiven Veredelung vor.
49 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass deren Prüfung nichts ergeben hat, weshalb die in Rede stehende Bestimmung ungültig wäre.
Kosten
50 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, weshalb Art. 172 Abs. 1 und 2 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union ungültig wäre.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. November 2025.
Der Kanzler
Der Kammerpräsident
A. Calot Escobar
F. Schalin