C-19/23 – Dänemark/ Parlament und Rat (Salaires minimaux adéquats)

C-19/23 – Dänemark/ Parlament und Rat (Salaires minimaux adéquats)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:11

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 14. Januar 2025(1)

Rechtssache C19/23

Königreich Dänemark

gegen

Europäisches Parlament,

Rat der Europäischen Union

„ Nichtigkeitsklage – Richtlinie (EU) 2022/2041 – Angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union – Nichtigerklärung der Richtlinie in vollem Umfang – Rechtsgrundlage – Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV – Begriff ‚Arbeitsbedingungen‘ – Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV – Zuständigkeit des Europäischen Parlaments und des Rates für den Erlass von Mindestvorschriften – Art. 153 Abs. 5 AEUV – Ausnahmen – ‚Arbeitsentgelt‘ und ‚Koalitionsrecht‘ – Unmittelbarer Eingriff – Art. 5 der Richtlinie – Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne – Liste von Mindestkriterien, die von den Mitgliedstaaten einzubeziehen sind – Art. 4 – Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung – Art. 12 – Anspruch auf Rechtsbehelfe – Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV – Begriff ‚Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen‘ – Besonderes Gesetzgebungsverfahren, für das Einstimmigkeit im Rat erforderlich ist – Unmöglichkeit des Erlasses der Richtlinie auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Buchst. f AEUV – Teilnichtigerklärung der Richtlinie – Abtrennbarkeit von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie “

I.      Einleitung

1.        Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV, der für eine sich auf Rechtsstaatlichkeit gründende Europäische Union von wesentlicher Bedeutung ist(2), wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen übertragen haben. So einfach sie erscheinen mag, wird die Aufgabe des Gerichtshofs, über die Wahrung dieses Grundsatzes zu wachen, dadurch erschwert, dass einige Bestimmungen des Vertrags, die die Verteilung von Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten betreffen, entweder Unklarheiten oder Überschneidungen aufweisen.

2.        Dies wird insbesondere im Bereich der Sozialpolitik der Union offenkundig, in dem die Verfasser der Verträge zum einen Zusammenhalt und Annäherung fördern und zum anderen eine Union aufbauen wollten, die der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme und der Schlüsselrolle der Sozialpartner Rechnung trägt, zwei Ziele, die nicht immer leicht miteinander zu vereinbaren sind. Während nämlich die erste Zielsetzung damit einhergeht, der Union mehr Befugnisse zu übertragen, spricht die zweite Zielsetzung eher für die Ansicht, dass bestimmte sozialpolitische Entscheidungen allein Sache der Mitgliedstaaten sind.

3.        Mit der vorliegenden, nach Art. 263 AEUV erhobenen Klage beantragt das Königreich Dänemark, unterstützt durch das Königreich Schweden, mit seinem Hauptantrag, die Richtlinie (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (im Folgenden: Mindestlohnrichtlinie)(3) in vollem Umfang für nichtig zu erklären. Beide Mitgliedstaaten bringen vor, das Europäische Parlament und der Rat verfügten nicht über die Zuständigkeit für den Erlass der Mindestlohnrichtlinie auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV. Nach diesen Bestimmungen sind das Europäische Parlament und der Rat ermächtigt, durch Richtlinien Mindestvorschriften auf dem Gebiet der „Arbeitsbedingungen“ zu erlassen. Art. 153 Abs. 5 AEUV stellt jedoch klar, dass diese Zuständigkeit sich u. a. nicht auf „das Arbeitsentgelt“ erstreckt.

4.        Vor diesem Hintergrund geht es bei der schwierigsten, durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen Frage darum, ob das Parlament und der Rat durch die Gesetzgebung in einem Bereich („Arbeitsentgelt“), der aus der Zuständigkeit der Union ausgenommen ist, gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoßen haben. Wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen erläutern werde, ist diese Frage meines Erachtens zu bejahen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      AEU-Vertrag

5.        Art. 153 AEUV bestimmt:

„(1)      Zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 151 unterstützt und ergänzt die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten:

b)      Arbeitsbedingungen,

f)      Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, vorbehaltlich des Absatzes 5,

(2)      Zu diesem Zweck können das Europäische Parlament und der Rat

b)      in den in Absatz 1 Buchstaben a bis i genannten Bereichen unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen durch Richtlinien Mindestvorschriften erlassen, die schrittweise anzuwenden sind. Diese Richtlinien sollen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen.

Das Europäische Parlament und der Rat beschließen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen.

In den in Absatz 1 Buchstaben c, d, f und g genannten Bereichen beschließt der Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der genannten Ausschüsse.

(5)      Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.“

B.      Mindestlohnrichtlinie

6.        Art. 1 der Mindestlohnrichtlinie bestimmt:

„(1)      Zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere der Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern, wird mit dieser Richtlinie ein Rahmen geschaffen für

a)      die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen mit dem Ziel, angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erreichen;

b)      die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung;

c)      die Verbesserung des effektiven Zugangs der Arbeitnehmer zum Recht auf Mindestlohnschutz, sofern dies im nationalen Recht und/oder in Tarifverträgen festgelegt ist.

(2)      Diese Richtlinie berührt nicht die Autonomie der Sozialpartner sowie deren Recht, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen.

(3)      Im Einklang mit Artikel 153 Absatz 5 AEUV berührt diese Richtlinie nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen sowie die Entscheidung der Mitgliedstaaten, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen, den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz zu fördern oder beides zu tun.

(4)      Die Anwendung dieser Richtlinie erfolgt in voller Übereinstimmung mit dem Recht auf Tarifverhandlungen. Diese Richtlinie darf nicht so ausgelegt werden, als verpflichte sie einen Mitgliedstaat

a)      in dem die Lohngestaltung ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns;

b)      dazu, Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären.

…“

7.        Art. 4 („Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Um die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen und die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern, ergreifen die Mitgliedstaaten unter Beteiligung der Sozialpartner gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten folgende Maßnahmen:

d)      zur Förderung von Tarifverhandlungen bei der Lohnfestsetzung gegebenenfalls Schutz von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen möchten, vor Eingriffen der jeweils anderen Seite oder ihrer Vertreter oder Mitglieder in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung.

(2)      Darüber hinaus legt jeder Mitgliedstaat, in dem die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt, einen Rahmen fest, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen. Dieser Mitgliedstaat erstellt außerdem einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen. Der Mitgliedstaat erstellt den Aktionsplan nach Anhörung der Sozialpartner oder im Einvernehmen mit ihnen oder, auf gemeinsamen Antrag der Sozialpartner, nach Maßgabe der Einigung der Sozialpartner. Der Aktionsplan enthält einen klaren Zeitplan und konkrete Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung unter uneingeschränkter Achtung der Autonomie der Sozialpartner. Der Mitgliedstaat überprüft den Aktionsplan regelmäßig und aktualisiert ihn bei Bedarf. Aktualisiert ein Mitgliedstaat den Aktionsplan, so tut er dies nach Anhörung der Sozialpartner oder im Einvernehmen mit ihnen oder, auf gemeinsamen Antrag der Sozialpartner, nach Maßgabe der Einigung der Sozialpartner. In jedem Fall wird ein Aktionsplan mindestens alle fünf Jahre überprüft. Der Aktionsplan und seine Aktualisierungen werden öffentlich zugänglich gemacht und der Kommission mitgeteilt.“

8.        Art. 5 („Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne“) der Mindestlohnrichtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen schaffen die erforderlichen Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne. Bei dieser Festlegung und Aktualisierung werden Kriterien zugrunde gelegt, die zu ihrer Angemessenheit beitragen, mit dem Ziel, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechterspezifische Lohngefälle zu verringern. Die Mitgliedstaaten legen diese Kriterien im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten in einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, in Beschlüssen ihrer zuständigen Stellen oder in dreiseitigen Vereinbarungen fest. Die Kriterien müssen klar definiert sein. Die Mitgliedstaaten können unter Berücksichtigung ihrer nationalen sozioökonomischen Bedingungen über das relative Gewicht dieser Kriterien, einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte, entscheiden.

(2)      Die nationalen Kriterien nach Absatz 1 umfassen mindestens die folgenden Aspekte:

a)      die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten;

b)      das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung;

c)      die Wachstumsrate der Löhne;

d)      langfristige nationale Produktivitätsniveaus und ‑entwicklungen.

(3)      Unbeschadet der in diesem Artikel festgelegten Verpflichtungen können die Mitgliedstaaten zusätzlich einen automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen der gesetzlichen Mindestlöhne auf der Grundlage geeigneter Kriterien und gemäß den nationalen Rechtsvorschriften und im Einklang mit Gepflogenheiten anwenden, sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt.

(4)      Die Mitgliedstaaten legen bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde. Zu diesem Zweck können sie auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden.

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig und rechtzeitig mindestens alle zwei Jahre oder – bei Mitgliedstaaten, die einen automatischen Indexierungsmechanismus gemäß Absatz 3 verwenden – mindestens alle vier Jahre aktualisiert werden.

(6)      Jeder Mitgliedstaat bestimmt oder richtet ein oder mehrere Beratungsgremien ein, welche die zuständigen Stellen in Fragen des gesetzlichen Mindestlohns beraten[,] und ermöglicht die Arbeitsfähigkeit dieser Gremien.“

9.        Art. 12 („Anspruch auf Rechtsbehelfe und Schutz vor Benachteiligung oder negativen Konsequenzen“) der Mindestlohnrichtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist, unbeschadet besonderer Formen von Rechtsbehelfen und Streitbeilegungsverfahren, die gegebenenfalls in Tarifverträgen festgelegt sind, bei Verstößen gegen Rechte in Bezug auf gesetzliche Mindestlöhne oder den Mindestlohnschutz, sofern solche Rechte im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind, Zugang zu einer wirksamen, rechtzeitigen und unparteiischen Streitbeilegung und Anspruch auf Rechtsbehelfe haben.“

III. Dem Rechtsstreit zugrunde liegender Sachverhalt

A.      Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie

10.      Die Europäische Kommission nahm im Oktober 2020 ihren Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie(4) an. Der Vorlage dieses Vorschlags vorangegangen war die folgende Erklärung von Ursula von der Leyen, Präsidentin der Kommission: „Die Würde der Arbeit ist unantastbar. Innerhalb der ersten 100 Tage meiner Amtszeit werde ich ein Rechtsinstrument vorschlagen, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält.“(5)

11.      Im Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie stellte die Kommission fest, dass „[v]iele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der [Union] derzeit nicht durch angemessene Mindestlöhne geschützt [sind]“ und dass 2018 „in neun Mitgliedstaaten … der gesetzliche Mindestlohn … nicht ausreichend Einkommen [bot], um als Mindestlohnempfängerin oder Mindestlohnempfänger über die Armutsgefährdungsschwelle zu kommen“. Ferner sei nach der Covid-19-Krise die Gewährleistung des Zugangs zu Beschäftigungsmöglichkeiten und zu angemessenen Mindestlöhnen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Union „für die Unterstützung einer nachhaltigen und inklusiven wirtschaftlichen Erholung von entscheidender Bedeutung“(6). In diesen Erklärungen soll nach Ansicht einiger Verfasser eine weitreichende Änderung dahin zum Ausdruck kommen, wie angemessene Mindestentgelte auf Unionsebene wahrgenommen werden, da sie nicht mehr als Hindernis für Wettbewerbsfähigkeit zwischen Mitgliedstaaten und Wirtschaftswachstum, sondern als Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung angesehen würden(7).

12.      In diesem Zusammenhang erläuterte die Kommission, dass mit ihrem Vorschlag ein Rahmen zur „Verbesserung der Angemessenheit der Mindestlöhne und des Zugangs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Mindestlohnschutz“ geschaffen werde. Ferner sollten mit der vorgeschlagenen Richtlinie „Tarifverhandlungen über Löhne in allen Mitgliedstaaten [ge]förder[t]“ werden, und zwar „unter Berücksichtigung und vollständiger Achtung der Besonderheiten der nationalen Systeme, der nationalen Zuständigkeiten, der Tarifautonomie und der Vertragsfreiheit der Sozialpartner“(8).

13.      Die Mindestlohnrichtlinie wurde am 19. Oktober 2022 in erster Lesung angenommen. Alle Mitgliedstaaten stimmten im Rat für dieses Rechtsinstrument, mit Ausnahme des Königreichs Dänemark und des Königreichs Schweden, die dagegen stimmten, und Ungarns, das sich der Stimme enthielt(9).

14.      In seiner begründeten Stellungnahme zum Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie vom 15. Dezember 2020 hatte das dänische Parlament bereits darauf hingewiesen, dass seiner Ansicht nach die Lohnbedingungen am besten auf nationaler Ebene zu regeln seien(10). In dem Gesetzgebungsverfahren, das zum Erlass der Richtlinie führte, erklärte die dänische Regierung gegenüber dem Rat, dass sie „grundsätzlich gegen die Einführung verbindlicher Vorschriften auf EU-Ebene in Bezug auf Mindestlöhne“ sei. Sie betonte ferner, dass es „von entscheidender Bedeutung [ist], dass die Autonomie der Sozialpartner … gewahrt wird“, und dass „die Lohnfestsetzung in die nationale Zuständigkeit fällt“(11).

B.      Wesentliche Aspekte der Mindestlohnrichtlinie für die vorliegende Rechtssache

15.      Laut Eurostat variierten die gesetzlichen monatlichen Mindestlöhne aller Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt 1. Januar 2022 erheblich, nämlich von 332 Euro in Bulgarien bis 2 257 Euro in Luxemburg(12). In ihrem „Bericht über die Folgenabschätzung (Zusammenfassung)“ als Begleitunterlage zum Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie(13) stellte die Kommission u. a. „das Fehlen klarer und solider Kriterien für die Festlegung und Aktualisierung von Mindestlöhnen“ und „die unzureichende Einbeziehung der Sozialpartner“ als Faktoren fest, auf die der unzureichende Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union zurückzuführen sei.

16.      Als Reaktion auf diese Bedenken wird nach Art. 1 Abs. 1 der Mindestlohnrichtlinie mit diesem Rechtsinstrument ein Rahmen geschaffen für a) die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen, b) die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung und c) die Verbesserung des effektiven Zugangs der Arbeitnehmer zum Recht auf Mindestlohnschutz, sofern dies im nationalen Recht und/oder in Tarifverträgen festgelegt ist. Nach meinem Verständnis werden mit der Mindestlohnrichtlinie somit drei voneinander zu trennende Ziele – jeweils in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a, b und c aufgeführt – verfolgt, die alle dem übergeordneten Ziel dienen sollen, „zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern“(14).

17.      Wenngleich die Mindestlohnrichtlinie insgesamt 19 Artikel enthält, die auf vier verschiedene Kapitel verteilt sind, sind drei dieser Artikel, nämlich die Art. 4, 5 und 12 der Richtlinie, für die vorliegende Rechtssache von besonderer Bedeutung. Jede dieser Bestimmungen bezieht sich auf eines der drei in Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Ziele.

18.      Erstens betrifft Art. 4 die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung (Art. 1 Abs. 1 Buchst. b, das zweite Ziel). Er gehört zu Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) der Mindestlohnrichtlinie. Aus Art. 4 Abs. 1 ergeben sich für alle Mitgliedstaaten eine Reihe von Verpflichtungen, „[u]m die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen und die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern“. Zu diesen Verpflichtungen gehört u. a. der „Schutz von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen möchten, vor Eingriffen der jeweils anderen Seite oder ihrer Vertreter oder Mitglieder in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung“ (Art. 4 Abs. 1 Buchst. d). Dagegen gelten die Verpflichtungen nach Art. 4 Abs. 2 nur für Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt. Diese Mitgliedstaaten sind verpflichtet, „einen Rahmen fest[zulegen], der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft“, und „einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen [zu erstellen]“, den sie regelmäßig überprüfen und aktualisieren müssen.

19.      Zweitens bezieht sich Art. 5 auf die „[Angemessenheit] gesetzlicher Mindestlöhne“ (Art. 1 Abs. 1 Buchst. a, das erste Ziel). Er ist der bedeutendste Artikel der Mindestlohnrichtlinie und in Kapitel II („Gesetzliche Mindestlöhne“) der Richtlinie enthalten, dessen Bestimmungen nur für Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen gelten. Insbesondere sind in Art. 5 Abs. 2 vier Mindestkriterien festgelegt, die zur Angemessenheit der Mindestlöhne beitragen sollen und im „Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne“ berücksichtigt werden müssen.

20.      Drittens bezieht sich Art. 12 der Mindestlohnrichtlinie, der zu Kapitel III („Allgemeine Bestimmungen“) gehört, auf den wirksamen Zugang der Arbeitnehmer zum gesetzlichen Mindestlohnschutz (Art. 1 Abs. 1 Buchst. c, das dritte Ziel). Ziel dieser Bestimmung ist, sicherzustellen, dass Arbeitnehmer bei Verstößen gegen ihre Rechte in Bezug auf gesetzliche Mindestlöhne oder den Mindestlohnschutz nach nationalem Recht und/oder Tarifverträgen Zugang zu einer wirksamen, rechtzeitigen und unparteiischen Streitbeilegung und Anspruch auf Rechtsbehelfe haben.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

21.      Das Königreich Dänemark hat mit Klageschrift, die am 18. Januar 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.

22.      Das Königreich Dänemark beantragt,

–        die Mindestlohnrichtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären;

–        hilfsweise, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie für nichtig zu erklären;

–        dem Parlament und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

23.      Das Parlament beantragt, die Klage als unbegründet abzuweisen und dem Königreich Dänemark die Kosten aufzuerlegen.

24.      Der Rat beantragt,

–        die Hauptanträge als unzulässig abzuweisen;

–        hilfsweise, die Klage insgesamt als unbegründet abzuweisen;

–        dem Königreich Dänemark die Kosten aufzuerlegen.

25.      Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. April und 25. Mai 2023 sind das Königreich Belgien und die Portugiesische Republik als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden.

26.      Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. und 26. Mai 2023 sowie vom 5. und 7. Juni 2023 sind die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg und die Kommission als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Parlaments und des Rates zugelassen worden.

27.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Mai 2023 ist das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Dänemark zugelassen worden.

V.      Würdigung

28.      Viele Jahre lang entwickelte sich die Sozialpolitik der Union am Rande der Verträge; die treibende Kraft der EU‑Integration war vielmehr die Schaffung eines gemeinsamen Marktes(15). Die Annahme des Protokolls über die Sozialpolitik und des Abkommens über die Sozialpolitik (im Folgenden: Sozialkapitel) im Anhang zum Vertrag von Maastricht war der erste Versuch, die Sozialpolitik der Union zu „konstitutionalisieren“; erst mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 wurde der Inhalt des Sozialkapitels förmlich im EG-Vertrag verankert(16).

29.      Seitdem ist eindeutig, dass „die Europäische Union nicht nur einen Binnenmarkt errichtet, sondern sich auch für die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft einsetzt, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, und u. a. den sozialen Schutz fördert“(17). Zur Verwirklichung dieser Ziele hat der Unionsgesetzgeber mehrere Rechtinstrumente auf der Grundlage von Art. 153 AEUV (oder früheren Fassungen dieser Bestimmung) erlassen, z. B. die Leiharbeitsrichtlinie(18), die Arbeitszeitrichtlinie(19) oder in jüngerer Zeit die Richtlinie (EU) 2019/1152 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union(20), die ebenso wie die Mindestlohnrichtlinie auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV erlassen wurde.

30.      Meines Wissens ist die Mindestlohnrichtlinie jedoch das erste Rechtsinstrument auf Unionsebene auf dem Gebiet der Mindestlöhne. Auch wenn nämlich im sechsten Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte(21) bereits angeführt wird, dass „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer … das Recht auf eine gerechte Entlohnung [haben], die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht“, und dass „angemessene Mindestlöhne gewährleistet [werden], die … den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien gerecht werden“, um „Armut trotz Erwerbstätigkeit“ zu verhindern, haben diese Formulierungen keine rechtliche Bindungswirkung, sondern sollen als Kompass für effiziente beschäftigungspolitische und soziale Ergebnisse dienen(22).

31.      Das Königreich Dänemark stützt seinen Hauptantrag, die Mindestlohnrichtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären, auf zwei Klagegründe. Erstens hätten das Parlament und der Rat gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV und damit gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verstoßen, der, wie in der Einleitung erwähnt, in Art. 5 Abs. 2 EUV verankert ist. Die dänische Regierung macht insoweit geltend, dass diese Richtlinie mit zwei der in Art. 153 Abs. 5 AEUV enthaltenen Ausnahmen unvereinbar sei, nämlich mit denjenigen für das Arbeitsentgelt sowie das Koalitionsrecht. Die Mindestlohnrichtlinie „greife unmittelbar“ in beide Ausnahmen ein; sie habe daher vom Unionsgesetzgeber nicht erlassen werden dürfen, ohne dass dieser seine Zuständigkeiten überschreite. Während nämlich das Parlament und der Rat für den Erlass von Richtlinien zur Festlegung von Mindestvorschriften in Bezug auf „Arbeitsbedingungen“ zuständig seien (nach Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV), könnten sie im Bereich des Arbeitsentgelts oder des Koalitionsrechts nicht gesetzgeberisch tätig werden.

32.      Zweitens bringt die dänische Regierung vor, dass die Mindestlohnrichtlinie, selbst wenn davon ausgegangen werde, dass sie vom Anwendungsbereich der Ausnahmen für das Arbeitsentgelt und das Koalitionsrecht nach Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht erfasst werde, vom Parlament und vom Rat auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV nicht habe wirksam erlassen werden können. Insoweit würden mit der Mindestlohnrichtlinie zwei Ziele mit gleichgewichtiger Bedeutung verfolgt, da mit ihr nicht nur die „Arbeitsbedingungen“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV), sondern auch die „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer[i]nteressen“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV) geregelt werden sollten. Zudem seien für diese beiden Rechtsgrundlagen jeweils verschiedene Gesetzgebungsverfahren erforderlich, da Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV Einstimmigkeit im Rat verlange, Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV dagegen nicht. Da diese Verfahren miteinander unvereinbar seien, sei die Mindestlohnrichtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären.

33.      Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die Mindestlohnrichtlinie nicht in vollem Umfang für nichtig zu erklären ist, beantragt das Königreich Dänemark hilfsweise die Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 dieses Rechtsinstruments. Insoweit macht dieser Mitgliedstaat als einzigen Klagegrund erneut geltend, dass das Parlament und der Rat beim Erlass dieser Bestimmungen gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV und damit gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verstoßen hätten. Die entscheidende Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist diejenige nach der Trennbarkeit von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie von den übrigen in dieser Richtlinie enthaltenen Bestimmungen.

34.      Vor Prüfung dieser verschiedenen Rügen möchte ich eine Vorbemerkung machen. Die vorliegende Klage steht nicht in einem Vakuum, sondern in untrennbarem Zusammenhang mit dem stetigen Widerstand Dänemarks und anderer nordischer Mitgliedstaaten gegen Maßnahmen der Union, die sie als Eingriff in ihr Arbeitsrecht und ihre Systeme der Arbeitsbeziehungen ansehen. Die Reaktionen in diesen Mitgliedstaaten auf das Urteil des Gerichtshofs Laval un Partneri(23), das die Entsendung lettischer Arbeitnehmer durch eine lettische Gesellschaft (Laval) auf Baustellen in Schweden und die anschließende Blockade dieser Baustellen durch eine schwedische gewerkschaftliche Organisation betraf, sind bislang die markantesten Beispiele für diesen Widerstand. Für die Arbeitsrechtsmodelle sowohl Dänemarks als auch Schwedens kennzeichnend ist ein „Laissez-faire“-Ansatz, d. h. ein hohes Maß an Autonomie der Sozialpartner, wobei Löhne und Arbeitsbedingungen von den Sozialpartnern ausgehandelt werden und nicht gesetzlich geregelt sind. Das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof in jenem Urteil kam, wonach Arbeitskampfmaßnahmen im Wesentlichen eine ungerechtfertigte Beschränkung der Freizügigkeit darstellen können, sowie die Betonung, die er auf die Bedeutung von Transparenz in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, einschließlich des Arbeitsentgelts, legte, wurden von einigen als Bedrohung für die Autonomie der Tarifverhandlungssysteme Dänemarks und Schwedens sowie für das Nichteingreifen des Staates in Maßnahmen gewerkschaftlicher Organisationen, das für diese Mitgliedstaaten kennzeichnend ist, angesehen(24).

35.      Vor diesem Hintergrund könnte in den von der dänischen und der schwedischen Regierung in der vorliegenden Rechtssache vorgebrachten Argumenten ein rein prinzipieller Widerstand, d. h. ein starrer Widerstand dieser Mitgliedstaaten gegen jede Form des Eingriffs in die Vertragsautonomie der Sozialpartner(25), gesehen werden, nicht aber ein Widerstand, der im Inhalt der in dieser Richtlinie selbst enthaltenen Verpflichtungen wurzelt. Insoweit ist festzustellen, dass die schwedische Regierung beispielsweise anerkannt hat, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie enthaltene Verpflichtung für sie nicht gelte, da diese Bestimmung nur für Mitgliedstaaten gelte, deren tarifvertragliche Abdeckung unterhalb von 80 % liege. Beide Regierungen stimmen ferner damit überein, dass die meisten der in diesem Rechtinstrument enthaltenen Verpflichtungen diejenigen wiedergäben, die sich bereits aus dem Übereinkommen über die Festsetzung von Mindestlöhnen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1970 ergäben, an das sie gebunden seien(26). Sie räumen daher ein, dass ihre nationalen Systeme, praktisch betrachtet, durch die Mindestlohnrichtlinie nicht in erheblichem Maße berührt würden.

36.      Meines Erachtens dürfen diese Erwägungen jedoch keine Auswirkungen auf den Ausgang der vorliegenden Rechtssache haben. Die Frage, wie Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Union verteilt sind, ist eine Frage verfassungsrechtlicher Art, die, wie in der Einleitung bereits erwähnt, für eine sich auf Rechtsstaatlichkeit gründende Union von wesentlicher Bedeutung ist. Erlässt der Unionsgesetzgeber eine Richtlinie auf einem Gebiet, für das er keine Gesetzgebungszuständigkeit hat, kann diese Richtlinie nicht aus Gründen rein praktischer Natur aufrechterhalten werden, etwa weil ihr Erlass für die wenigen (vorliegend zwei) Mitgliedstaaten, die gegen sie gestimmt haben, lediglich „milde“ Folgen haben wird. Erwägungen dieser Art dürfen meines Erachtens auf die Beurteilung des Gerichtshofs keinen Einfluss haben. Insoweit sei ergänzt, dass die Beweggründe oder Interessen eines Mitgliedstaats, eine Klage auf Nichtigerklärung eines Unionsrechtsakts zu erheben, im Rahmen eines Verfahrens auf der Grundlage von Art. 263 AEUV unerheblich sind, da die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung privilegierte Kläger sind und folglich ihre Klagebefugnis nicht nachweisen müssen.

A.      Hauptantrag: Ist die Mindestlohnrichtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären?

37.      Wie sich oben aus den Nrn. 31 und 32 ergibt, bezieht sich der Hauptantrag des Königreichs Dänemark im Wesentlichen auf die vom Unionsgesetzgeber getroffene Entscheidung für die Anwendung von Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV als Rechtsgrundlage für die Mindestlohnrichtlinie – diese Entscheidung ist von einigen Verfassern als „die umstrittenste“ Frage im Zusammenhang mit der Mindestlohnrichtlinie bezeichnet worden(27). Der Gerichtshof wird insoweit um Klärung ersucht, in welchem Verhältnis diese Bestimmungen jeweils zu Art. 153 Abs. 5 AEUV einerseits (erster Klagegrund) und Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV andererseits (zweiter Klagegrund) stehen.

1.      Erster Klagegrund: Die Mindestlohnrichtlinie wurde unter Verstoß gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV und damit gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erlassen

38.      Wie bereits erläutert, wurde die Mindestlohnrichtlinie vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV erlassen, und zwar mit der Begründung, dass mit ihr Arbeitsbedingungen geregelt werden sollten. Mit dem ersten Klagegrund macht die dänische Regierung jedoch geltend, dass dieses Rechtsinstrument mit zwei der in Art. 153 Abs. 5 AEUV enthaltenen Ausnahmen unvereinbar sei, nämlich mit denjenigen für „das Arbeitsentgelt“ und „das Koalitionsrecht“, für die keine Unionszuständigkeit bestehe.

39.      Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass in Anbetracht dessen, dass Art. 153 Abs. 5 AEUV eine Ausnahmebestimmung zu den Abs. 1 bis 4 dieses Artikels darstellt, die in Abs. 5 vorbehaltenen Bereiche eng auszulegen sind, damit nicht die Tragweite dieser anderen Absätze ungebührlich beeinträchtigt wird oder die mit Art. 151 AEUV verfolgten Ziele in Frage gestellt werden(28).

40.      Ferner hat der Gerichtshof bereits Hinweise dazu gegeben, wie die Ausnahme für das Arbeitsentgelt zu verstehen ist. Er hat nämlich in den Urteilen Del Cerro Alonso(29), Impact(30), Bruno u. a.(31) und Specht u. a.(32)in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass diese Ausnahme so zu verstehen ist, dass sie sich auf Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines Mindestlohns bezieht, mit denen das Unionsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb der Union eingreifen würde. Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ sich nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehenden Fragen erstrecken lässt, ohne dass einige in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführte Bereiche eines großen Teils ihrer Substanz beraubt würden. Dagegen ist die Ausnahme für das Koalitionsrecht vom Gerichtshof noch nicht ausgelegt worden.

41.      In den folgenden Abschnitten werde ich anhand dieser Rechtsprechung prüfen, ob die Mindestlohnrichtlinie gegen die Ausnahme für das Arbeitsentgelt in Art. 153 Abs. 5 AEUV verstößt (Abschnitt a). Anschließend werde ich prüfen, ob diese Richtlinie mit der in dieser Bestimmung enthaltenen Ausnahme für das Koalitionsrecht vereinbar ist (Abschnitt b).

a)      Vereinbarkeit der Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV

1)      Vorbringen der Beteiligten

42.      Zur Vereinbarkeit der Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV wurden vor dem Gerichtshof zwei Argumentationskomplexe vorgetragen. Die dänische und die schwedische Regierung sind der Ansicht, diese Richtlinie greife unmittelbar in das Arbeitsentgelt ein und sei daher mit dieser Bestimmung unvereinbar, während das Parlament, der Rat, die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten, die in der vorliegenden Rechtssache als Streithelfer beigetreten sind, der gegenteiligen Ansicht sind.

43.      Konkret sind die dänische und die schwedische Regierung der Ansicht, dass ungeachtet dessen, dass mit der Mindestlohnrichtlinie weder ein allgemeiner Mindestlohn in der Union festgelegt noch die Höhe des Arbeitsentgelts ausdrücklich festgesetzt werde, eine Feststellung dahin, dass der Unionsgesetzgeber für den Erlass dieser Richtlinie zuständig gewesen sei, auf eine Aushöhlung von Art. 153 Abs. 5 AEUV hinausliefe. Das Arbeitsentgelt sei von den Sozialpartnern auf der nationalen Ebene in Ausübung ihrer Vertragsautonomie festzulegen. Deshalb sei das Arbeitsentgelt aus dem Bereich der Zuständigkeiten der Union ausdrücklich ausgenommen.

44.      Ferner habe die Mindestlohnrichtlinie ausdrücklich die Angemessenheit der Mindestlöhne zum Ziel. Der Zweck der Mindestlohnrichtlinie bestehe nämlich darin, das Lohnniveau innerhalb der Union zu beeinflussen (zu erhöhen), indem den Mitgliedstaaten Anforderungen in einer Art und Weise auferlegt würden, die in ihre Lohnfestsetzungsmechanismen unmittelbar eingreife. Wie der Folgenabschätzung der Kommission zum Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie(33) zu entnehmen sei, solle dieses Rechtsinstrument in etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten zu einer Erhöhung der Mindestlöhne führen und eine tatsächliche Anhebung ihrer Höhe bewirken. Insbesondere seien die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen nach Art. 5 dieser Richtlinie verpflichtet, Mindestkriterien anzuwenden und Referenzwerte zugrunde zu legen. Mit dieser Bestimmung würden diesen Mitgliedstaaten nicht nur rechtsverbindliche Verpflichtungen auferlegt, sondern sie solle auch eine unmittelbare, erhöhende Wirkung auf die Höhe des Arbeitsentgelts entfalten und über einen Rahmen, den die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung von Mindestlöhnen anwenden müssten, eine Harmonisierung einführen.

45.      Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission und die anderen Streithelfer, tragen vor, dass, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. im Urteil Impact ergebe, das einschlägige Kriterium das eines unmittelbaren Eingriffs sei und dieses nicht mit der Frage zusammenhänge, ob das betreffende Rechtsinstrument Wirkungen auf die Höhe der Löhne habe; andernfalls würden die Zuständigkeiten der Union nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV unangemessen beschränkt. Nach Ansicht der deutschen Regierung besteht der Zweck der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ nicht darin, Bereiche, die sich auf das Arbeitsentgelt beziehen, vom Handlungsbereich der Union vollständig auszunehmen. Der Rat trägt weiter vor, dass die Vereinbarkeit mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ nicht allein anhand der Zahl der Bestimmungen beurteilt werden könne, die sich in einem bestimmten Rechtsinstrument auf das Arbeitsentgelt bezögen, sondern dass hierfür inhaltlich geprüft werden müsse, welcher Art diese Bestimmungen seien.

46.      Die vorgenannten Organe und Streithelfer weisen ferner darauf hin, dass mit der Mindestlohnrichtlinie nicht ein unionsweiter Mindestlohn eingeführt oder Lohnfestsetzungsmechanismen harmonisiert werden sollten. Die Mindestlohnrichtlinie lege lediglich einen Verfahrensrahmen fest und greife nicht unmittelbar in die Lohnfestsetzungsmechanismen der Mitgliedstaaten ein. Die Kommission fügt hinzu, dass zuvor bereits mehrere Rechtsakte des Unionsrechts in Bezug auf Arbeitsbedingungen vom Unionsgesetzgeber erlassen worden seien. Diese Rechtsakte hätten nicht gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoßen, da sie sich, ähnlich wie die Mindestlohnrichtlinie, nur mittelbar auf Löhne bezogen und die Höhe der Löhne in der Union nicht harmonisiert hätten.

47.      Das Parlament trägt weiter vor, dass es angesichts dessen, dass eines der Ziele der Sozialpolitik der Union in der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bestehe und das Arbeitsentgelt ein integraler Bestandteil dieser Bedingungen sei, nicht überraschend sei, dass die Mindestlohnrichtlinie die Lohnniveaus positiv beeinflussen könne. Der Rat, unterstützt durch die belgische und die portugiesische Regierung, weist außerdem darauf hin, dass der Begriff „Angemessenheit“ in Art. 5 der Mindestlohnrichtlinie nicht bedeute, dass Mindestlöhne in der Union harmonisiert würden. Diese Bestimmung hindere die Mitgliedstaaten nämlich nicht daran, über die Höhe der gesetzlichen Mindestlöhne zu entscheiden, und lege auch keinen Schwellenwert fest, unterhalb dessen Mindestlöhne als unangemessen anzusehen seien. Darüber hinaus beständen die dort festgelegten Kriterien lediglich aus qualitativen Merkmalen, die im Rahmen des nationalen Lohnfestsetzungsverfahrens anzuwenden seien. In diesem Zusammenhang wird von der deutschen Regierung zudem vorgetragen, dass es den Mitgliedstaaten weiterhin freistehe, andere Kriterien festzulegen und anzuwenden und sich auf ihre eigenen nationalen Gepflogenheiten zu stützen, und dass sie somit über einen hinreichenden Handlungsspielraum verfügten. Die französische Regierung weist darauf hin, dass das in Art. 5 der Mindestlohnrichtlinie festgelegte Verfahren sich auf weit und ungenau formulierte Kriterien stütze, die Teil einer nicht abschließenden Liste seien, die von den Mitgliedstaaten ergänzt werden könne.

2)      Würdigung

48.      Aus dem vorstehenden Vorbringen ergibt sich meines Erachtens erstens, dass alle Parteien und Streithelfer der vorliegenden Rechtssache, mit Ausnahme des Königreichs Dänemark und des Königreichs Schweden, die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV dahin verstehen, dass sie sich im Wesentlichen auf Maßnahmen beschränkt, die die Höhe der Löhne harmonisieren(34), und sich nicht auf solche erstreckt, die das Verfahren der Lohnfestsetzung betreffen. Zweitens verstehen diese Parteien und Streithelfer das vom Gerichtshof für diese Ausnahme entwickelte Rechtsprechungskriterium des unmittelbaren Eingriffs offenbar im Wesentlichen als ein sich auf das Maß oder die Intensität des Eingriffs beziehendes Kriterium. Die Union habe im Wesentlichen eine Zuständigkeit dafür, allgemeine und weich formulierte Anforderungen an die Gestaltung des in den Mitgliedstaaten bestehenden Rahmens der Lohnfestsetzung zu stellen, und könne sogar einen Rahmen schaffen, der Arbeitnehmern Zugang zu einem angemessenen Mindestlohn gewährleiste, sie dürfe jedoch nicht in die genauen Modalitäten der nationalen Rahmen eingreifen, um nationale Besonderheiten zu wahren(35). Drittens verstehen diese Parteien und Streithelfer den Zweck der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV offenbar dahin, dass sie die Autonomie der Sozialpartner für den Abschluss von Tarifverträgen gewährleisten soll. Ausgehend hiervon soll ihrer Ansicht nach die Mindestlohnlinie, sofern sie diese Autonomie nicht beeinträchtigt, mit dieser Ausnahme vereinbar sein.

49.      Die Mindestlohnrichtlinie enthält verschiedene Aussagen, die veranschaulichen, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ vom Unionsgesetzgeber beim Erlass dieser Richtlinie ebenfalls in dem oben in Nr. 48 dargestellten Sinne ausgelegt wurde. Im 19. Erwägungsgrund heißt es nämlich, dass die Mindestlohnrichtlinie im Einklang mit Art. 153 Abs. 5 AEUV „weder darauf ab[zielt], die Höhe der Mindestlöhne in der Union zu vereinheitlichen, noch[,] einen einheitlichen Mechanismus für die Festsetzung von Mindestlöhnen zu schaffen“. Es wird dort auch erklärt, dass dieses Rechtsinstrument „nationale Zuständigkeiten und [die] Vertragsfreiheit der Sozialpartner“ vollständig achtet und „kein Lohnniveau festlegt“(36). Darüber hinaus stellt Art. 1 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie klar, dass diese Richtlinie „die Autonomie der Sozialpartner [nicht berührt]“(37), während in Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie ausdrücklich auf Art. 153 Abs. 5 AEUV verwiesen und klargestellt wird, dass die Mindestlohnrichtlinie im Licht dieser Bestimmung „nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen [berührt]“(38). Diese Richtlinie enthält außerdem verschiedene Bezugnahmen auf die Besonderheiten der nationalen Gepflogenheiten(39).

50.      Aus dem Wortlaut und der Zahl dieser Bestimmungen ergibt sich meines Erachtens offenkundig, dass der Unionsgesetzgeber nicht übersehen hat, dass er sich beim Erlass der Mindestlohnrichtlinie in Bezug auf die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV auf „dünnem Eis“ bewegte (oder, wie einige Verfasser formulieren, einen „Drahtseilakt“ vollzog)(40). Im folgenden Abschnitt werde ich erläutern, warum die Auslegung dieser Ausnahme durch den Unionsgesetzgeber – der sich, wie bereits erläutert, alle Parteien und Streithelfer der vorliegenden Rechtssache mit Ausnahme des Königreichs Dänemark und des Königreichs Schweden anschließen – auf drei meiner Ansicht nach unzutreffenden Annahmen beruht. Ich werde auch darlegen, wie diese Ausnahme meines Erachtens im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verstehen ist.

i)      Anwendungsbereich der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV

–       Erste unzutreffende Annahme: Die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ ist auf Maßnahmen beschränkt, die die Höhe der Löhne harmonisieren

51.      In Art. 153 Abs. 5 AEUV wird der weit gefasste Wortlaut „das Arbeitsentgelt“ verwendet. Alle früheren Fassungen von Art. 153 Abs. 5 AEUV, nämlich Art. 137 Abs. 6 EGV und Art. 2 Abs. 6 des Sozialkapitels, hatten meines Wissens denselben Wortlaut, sie bezogen sich nämlich auf „das Arbeitsentgelt“ und nicht auf „die Höhe des Arbeitsentgelts“. Die Verwendung des Wortlauts „das Arbeitsentgelt“ legt nahe, dass auch andere Aspekte der Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten als die Höhe des Arbeitsentgelts vom Anwendungsbereich der Ausnahme in Art. 153 Abs. 5 AEUV erfasst werden. Demzufolge wollten die Verfasser der Unionsverträge meines Erachtens vom Handlungsbereich der Union Maßnahmen ausnehmen, zu denen auch die Harmonisierung der Höhe der Löhne gehört, die jedoch nicht hierauf beschränkt sind.

52.      Ihre gegenteilige Ansicht stützen einige der Beteiligten der vorliegenden Rechtssache (wie etwa die portugiesische Regierung) darauf, dass Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Impact(41) erklärt habe, dass „lediglich die Höhe des Arbeitsentgelts dem Zuständigkeitsbereich des [Unions]gesetzgebers entz[ogen sei]“(42). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil in jener Rechtssache Aussagen enthält, die dahin verstanden werden könnten, dass der Gerichtshof ebenfalls die Höhe der Löhne (im Gegensatz zum Arbeitsentgelt im Allgemeinen) hervorgehoben hat.  Der Gerichtshof hat nämlich ausgeführt, dass die Verfasser der Verträge es als angemessen erachtet hätten, „die Bestimmung des Lohn- und Gehaltsniveaus von einer Harmonisierung auszunehmen“, da „die Festsetzung des Lohn‑ und Gehaltsniveaus der Vertragsautonomie der Sozialpartner auf nationaler Ebene und der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet unterliegt(43).

53.      Der Gerichtshof ist jedoch im Urteil Impact meines Erachtens eindeutig nicht so weit gegangen, festzustellen, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ ausschließlich für das Lohn- und Gehaltsniveau (d. h. dessen genaue Bezifferung oder Höhe) gilt. Er hat vielmehr klargestellt, dass diese Ausnahme so verstanden werden muss, dass „sie sich auf Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines [unionsweiten] Mindestlohns bezieht“(44). Meines Erachtens zeigen die Begriffe „wie“ und „und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter“, dass der Gerichtshof nicht ausgeschlossen hat, dass ein unmittelbarer Eingriff in das Arbeitsentgelt auch dann vorliegen kann, wenn die streitige Maßnahme nicht darauf abzielt, die „Höhe der Löhne und Gehälter“ an sich zu harmonisieren.

54.      Im Licht dieses Urteils sehe ich keinen Grund, in Art. 153 Abs. 5 AEUV eine Beschränkung aufzunehmen (nämlich dahin, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ tatsächlich nur die Höhe der Löhne und Gehälter umfasse), die in dieser Bestimmung nicht ausdrücklich enthalten ist. Der Begriff „Arbeitsentgelt“ soll meines Erachtens alle Aspekte der Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten (einschließlich der Modalitäten oder Verfahren der Festsetzung der Höhe der Löhne und Gehälter) und nicht nur die Höhe des Arbeitsentgelts umfassen.

55.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Ausnahmen zwar grundsätzlich eng auszulegen sind, jedoch nicht so eng ausgelegt werden dürfen, dass ihnen ihre Wirksamkeit genommen wird. Wie oben in Nr. 39 bereits ausgeführt, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die durch Art. 153 Abs. 5 AEUV vorbehaltenen Bereiche, einschließlich des Arbeitsentgelts, eng auszulegen sind, um weder die Tragweite der Abs. 1 bis 4 unangemessen zu beeinträchtigen noch die mit Art. 151 AEUV verfolgten Ziele in Frage zu stellen(45). Aus dieser Feststellung folgt meines Erachtens jedoch nicht, dass „das Arbeitsentgelt“ auf die „Höhe des Arbeitsentgelts“ zu beschränken ist. Wäre dies der Fall, könnte der Unionsgesetzgeber alle anderen Aspekte der Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten harmonisieren, solange er nicht die Höhe der Löhne in der Weise harmonisiert, dass er eine konkrete Formel oder einen konkreten Betrag vorschreibt. Der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ würde, wie von der dänischen und der schwedischen Regierung vorgetragen, ihre Wirksamkeit genommen, da der Unionsgesetzgeber beispielsweise Richtlinien erlassen könnte, mit denen harmonisiert werden könnte, wie häufig Lohnverhandlungen von den Sozialpartnern durchzuführen sind, oder vorgeschrieben werden könnte, wie diese Verhandlungen zu führen sind – was dem erklärten Zweck dieser Ausnahme widerspräche, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie oben in Nr. 52 angeführt, darin besteht, die Vertragsautonomie der Sozialpartner zu wahren(46).

56.      Ich möchte noch zwei weitere Anmerkungen anschließen. Erstens hat der Gerichtshof klargestellt (und besteht zwischen allen Parteien und Streithelfern in der vorliegenden Rechtssache Einigkeit darüber), dass das Arbeitsentgelt ein integraler Bestandteil der Arbeitsbedingungen ist(47). Daher steht unausweichlich fest, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ unabhängig davon, wie weit oder eng sie ausgelegt wird, den Anwendungsbereich von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV berührt (der die Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers für die Arbeitsbedingungen betrifft), da es eine eindeutige Überschneidung zwischen dieser Bestimmung und Art. 153 Abs. 5 AEUV gibt. Diese Überschneidung besteht zwangsläufig selbst dann, wenn der Anwendungsbereich dieser Ausnahme auf sein absolutes Minimum beschränkt wird.

57.      Zweitens wurde die Feststellung des Gerichtshofs, dass die in Art. 153 Abs. 5 AEUV aufgeführten Ausnahmen, einschließlich derjenigen für das Arbeitsentgelt, eng zu verstehen seien, in einem besonderen Kontext formuliert. Die Urteile Del Cerro Alonso, Impact, Bruno u. a. und Specht u. a. betrafen sämtlich Rechtsinstrumente, die, anders als die Mindestlohnrichtlinie, die Regelung eines anderen Bereichs als des Arbeitsentgelts zum Ziel hatten. Konkret bezogen sich die Urteile Del Cerro Alonso und Impact auf Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverhältnisse(48), mit der die Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung auf befristet beschäftigte Arbeitnehmer gewährleistet, nicht aber „das Arbeitsentgelt“ geregelt werden soll. Ebenso ging es im Urteil Bruno u. a. um die Auslegung der Richtlinie 97/81/EG des Rates über Teilzeitbeschäftigte(49), die u. a. die Beseitigung von Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten (wiederum aber nicht die Regelung des „Arbeitsentgelts“) zum Ziel hatte. Schließlich betraf das Urteil Specht u. a. die Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(50). In dem vorgenannten Urteil hat der Gerichtshof klargestellt, dass diese Besoldungsbedingungen der Beamten in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fielen, da „Zweck [dieses Rechtsinstruments] die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten [ist]“, nicht jedoch die Regelung des „Arbeitsentgelts“ an sich.

58.      Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass der Gerichtshof mit seiner Feststellung, dass die in Art. 153 Abs. 5 AEUV aufgeführte Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ eng auszulegen ist, lediglich gewährleisten wollte, dass diese Bestimmung den Erlass von Rechtsinstrumenten, die nicht die Regelung des Arbeitsentgelts zum Ziel haben, nicht allein deshalb unmöglich machte, weil sie Auswirkungen auf das Arbeitsentgelt hatten. Betrachtet man diese Feststellung in ihrem richtigen Kontext, sollte mit ihr somit nicht der Anwendungsbereich dessen begrenzt werden, was als Arbeitsentgelt anzusehen ist (durch seine Beschränkung auf die Höhe des Arbeitsentgelts), sondern gewährleistet werden, dass Rechtsinstrumente, die nur mittelbar in diesen Bereich eingreifen, erlassen werden können.

59.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen komme ich zu dem Ergebnis, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art.153 Abs. 5 AEUV Maßnahmen umfasst, mit denen die Höhe des Arbeitsentgelts harmonisiert wird, aber nicht hierauf beschränkt ist; sie umfasst auch Maßnahmen, die andere Aspekte der Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten (einschließlich der Modalitäten oder Verfahren der Festsetzung der Höhe des Arbeitsentgelts) harmonisieren. Ein Verständnis der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ dahin, dass sie auf Maßnahmen beschränkt ist, die die Höhe der Löhne harmonisieren, beruht daher auf einer unzutreffenden Annahme.

–       Zweite unzutreffende Annahme: Der Unionsgesetzgeber kann allgemeine und weich formulierte Anforderungen an den Lohnfestsetzungsrahmen der Mitgliedstaaten stellen

60.      Wie oben in Nr. 40 erläutert, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV sich nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehenden Fragen erstreckt. Ferner ergibt sich aus dem vorstehenden Abschnitt, dass das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs in einem Kontext entwickelt wurde, in dem der Gerichtshof eine Differenzierung vornehmen wollte zwischen Rechtsinstrumenten, deren Ziel die Regelung/Harmonisierung des Arbeitsentgelts ist, und solchen, deren Ziel die Regelung eines anderen Bereichs als des Arbeitsentgelts ist (z. B. die Nichtdiskriminierung, wie im Fall der Richtlinien, die im Mittelpunkt der Urteile Bruno u. a. und Specht u. a. stehen) und die insoweit nur mittelbar in das Arbeitsentgelt eingreifen (da sie lediglich Auswirkungen auf die Höhe der Löhne haben).

61.      Aufgrund dieser Erwägungen steht meines Erachtens eindeutig fest, dass bestimmte weitere Richtlinien, die den Begriff „[Arbeits]entgelt“ verwenden – wie die Richtlinie 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen(51), die Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft(52), die Leiharbeitsrichtlinie(53), die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern(54), die Arbeitszeitrichtlinie(55) oder gar die Richtlinie 2008/94/EG über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers(56) –im Sinne von Art. 153 Abs. 5 AEUV ebenfalls nicht unmittelbar in das Arbeitsentgelt eingreifen. Diese Richtlinien fallen vielmehr in die Kategorie von Rechtsinstrumenten, die wie die Richtlinien, die den Urteilen Bruno u. a. und Specht u. a. zugrunde liegen, nur mittelbar in das Arbeitsentgelt eingreifen. Sie enthalten Bestimmungen, die in der Praxis die Höhe des Arbeitsentgelts berühren oder sich darauf auswirken. Ihr Ziel besteht jedoch nicht in der Regelung des Arbeitsentgelts, sondern lediglich darin, bestimmten Gruppen von Arbeitnehmern die gleichen Beschäftigungsbedingungen wie anderen zu gewähren(57) oder festzulegen, ob ein Arbeitnehmer in bestimmten konkreten Zusammenhängen, etwa bei Inanspruchnahme seines Jahresurlaubs oder bei Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers, Anspruch auf sein Arbeitsentgelt hat (unabhängig von der Höhe dieses Arbeitsentgelts und der Art und Weise seiner Festsetzung).

62.      Dagegen greift ein Rechtsinstrument unmittelbar in das Arbeitsentgelt ein und ist somit mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar, wenn sein Ziel in der Regelung des Arbeitsentgelts besteht, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine enge oder flexible Art und Weise der Regelung handelt.

63.      Insoweit ist zu betonen, dass das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs angesichts dessen, dass es vom Gerichtshof gerade formuliert wurde, um den Erlass bestimmter Rechtsinstrumente mit anderen Zielen als der Regelung des Arbeitsentgelts zu ermöglichen, nicht mit der Absicht festgelegt wurde, den Erlass einer Richtlinie, die die Regelung eines Aspekts der Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten zum Ziel hat (z. B. die Höhe der Mindestlöhne oder die Art und Weise ihrer Festsetzung), allein schon deshalb zuzulassen, weil die Anforderungen, die sie insoweit festlegt, allgemein und weich formuliert sind. Es soll auch nicht den Erlass einer solchen Richtlinie deshalb ermöglichen, weil sie lediglich auf eine Teilharmonisierung abzielt(58). Das gegenteilige Ergebnis liefe darauf hinaus, das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs durch ein Kriterium zu ersetzen, das sich auf den Umfang des Eingriffs und nicht auf seine Mittel- oder Unmittelbarkeit bezieht.

64.      Aufgrund dieser Gesichtspunkte steht meines Erachtens eindeutig fest, dass eine Auslegung des vom Gerichtshof für die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV entwickelten Kriteriums des unmittelbaren Eingriffs dahin, dass vom Unionsgesetzgeber allgemeine und weich formulierte Anforderungen festgelegt werden könnten oder dass eine Teilharmonisierung in Bezug auf „das Arbeitsentgelt“ vorgenommen werden könnte, auf einer unzutreffenden Annahme beruht. Ein Eingriff mag leicht oder begrenzt sein, bleibt aber unmittelbar, wenn das Ziel des Rechtsinstruments die Regelung des „Arbeitsentgelts“ ist.

65.      Ich möchte noch eine weitere Anmerkung anschließen. Meines Erachtens erlaubt das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs dem Unionsgesetzgeber auch nicht, im Bereich des Arbeitsentgelts Mindestvorschriften festzulegen, die den Mitgliedstaaten die Wahlmöglichkeit belassen, günstigere Vorschriften einzuführen. Insoweit ist erstens zu bedenken, dass für die unter Art. 153 Abs. 5 AEUV fallenden Bereiche überhaupt keine Zuständigkeit der Union besteht. Zweitens wollten, wie bereits erläutert, die Verfasser der Verträge mit der Einführung von Art. 153 Abs. 5 AEUV eindeutig im Wesentlichen eine Ausnahme („das Arbeitsentgelt“) von einem unter Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV fallenden Gebiet („Arbeitsbedingungen“) vorsehen. Demzufolge können die Kriterien, anhand derer der Gerichtshof prüft, ob der Unionsgesetzgeber seine Zuständigkeiten überschreitet, nicht in beiden Fällen dieselben sein; andernfalls wäre die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ sinnlos.

66.      Folglich ist, während für andere Arbeitsbedingungen als das Arbeitsentgelt das Kriterium der Mindestvorschriften gilt (mit der Folge, dass eine Unionszuständigkeit für dieses Gebiet zwar besteht, aber nur die Festlegung von Mindestvorschriften, d. h. Basisverpflichtungen, zulässt), im Bereich des Arbeitsentgelts keine Form der Harmonisierung zulässig, da für diesen Bereich keine Unionszuständigkeit besteht. Sollte der Unionsgesetzgeber Mindestvorschriften für das Arbeitsentgelt vorsehen, wäre er bereits dabei, seine Zuständigkeiten zu überschreiten und in diejenigen der Mitgliedstaaten einzugreifen. Außerdem würde, wie oben erwähnt, die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV ausgehöhlt, da das „Arbeitsentgelt“ genauso behandelt würde wie jede andere, unter Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV fallende Arbeitsbedingung.

–       Dritte unzutreffende Annahme: Greift eine Maßnahme nicht in die Vertragsautonomie der Sozialpartner ein, ist sie mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ vereinbar

67.      Wie bereits erläutert, hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Zweck der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ der Schutz der Vertragsautonomie der Sozialpartner ist(59). Dieser Zweck wird in Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht ausdrücklich erwähnt; der Gerichtshof hat auch nicht dazu Stellung genommen, aus welcher Quelle er seine Feststellung hergeleitet hat. Meines Erachtens lässt sich dieser Zweck jedoch in der Tat erstens daraus ableiten, dass die anderen, in dieser Bestimmung enthaltenen Ausnahmen (nämlich das Koalitions‑, das Streik- und das Aussperrungsrecht) sich sämtlich auf die Vorrechte der Sozialpartner (oder konkreter der Gewerkschaften) beziehen, und zum anderen aus dem Verweis in Art. 152 AEUV auf „die Rolle der Sozialpartner“, die die Union anerkennt und fördert.

68.      Allerdings kann meines Erachtens nicht ausgeschlossen werden, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ auch anderen Zwecken dient. Trotz intensiver Bemühungen habe ich in den mir zur Verfügung stehenden Vorarbeiten der Verträge keine Äußerung dahin finden können, dass ein eindeutiger und einziger Grund oder ein eindeutiges oder einziges Motiv (nämlich der Schutz der Vertragsautonomie der Sozialpartner) hinter der Entscheidung der Verfasser der Unionsverträge gestanden hätte, „das Arbeitsentgelt“ vom Zuständigkeitsbereich der Union auszunehmen. Allerdings steht sicherlich fest, dass die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ dadurch, dass sie eine Harmonisierung der in den Mitgliedstaaten jeweils geltenden Lohnniveaus verhindert, dazu beiträgt, wie von Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Impact ausgeführt, den Wettbewerb zwischen den auf dem Binnenmarkt tätigen Unternehmen aufrechtzuerhalten(60). Von einigen Verfassern wird ferner die Ansicht vertreten, dass für das Arbeitsentgelt keine Zuständigkeit bestehe, weil es sich bei der Lohnpolitik schlicht um einen sensiblen Bereich handele, der ein wichtiges Instrument für die innerstaatliche Wirtschaftspolitik und das Funktionieren des nationalen Arbeitsmarkts darstelle, und weil die Art und Weise, in der Tarifverhandlungssysteme und Arbeitsbeziehungen traditionell gestaltet seien, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sei(61).

69.      Vor diesem Hintergrund steht eines jedoch eindeutig fest: Ein Rechtsinstrument oder eine Maßnahme der Union, das bzw. die mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar ist, trägt zur Gewährleistung der Vertragsautonomie der Sozialpartner bei; jedoch folgt daraus, dass ein Rechtsinstrument oder eine Maßnahme der Union in die Vertragsautonomie der Sozialpartner nicht eingreift, noch nicht zwangsläufig, dass es bzw. sie mit dieser Ausnahme vereinbar ist. Einem solchen Umkehrschluss, der in der vorliegenden Rechtssache insbesondere von der deutschen Regierung vertreten wird, kann schlicht nicht gefolgt werden. Dies gilt meines Erachtens umso mehr, als die Bedeutung der Wahrung „der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere in den vertraglichen Beziehungen“, sowie der „[Erhaltung der] Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union“ nicht in besonderer Weise für „das Arbeitsentgelt“ gilt, sondern, wie Art. 151 AEUV klarstelltwenn auch vielleicht in geringerem Maße – ebenso für sämtliche sozialpolitischen Fragen relevant ist, für die der Unionsgesetzgeber über die Zuständigkeit verfügt, die Tätigkeit der Mitgliedstaaten zu ergänzen.

70.      Daher ist die Annahme unzutreffend, das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs durch ein Kriterium ersetzen zu können, mit dem festgestellt werden soll, ob das Rechtsinstrument die Vertragsautonomie der Sozialpartner hinreichend gewährleistet. Sie läuft nicht nur darauf hinaus, das Kriterium selbst und seinem Zweck miteinander zu vermengen, sondern konzentriert sich meines Erachtens auch lediglich auf einen Teil des Zwecks dieser Ausnahme.

ii)    Die Mindestlohnrichtlinie ist mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ nicht vereinbar

71.      Aus den vorstehenden Abschnitten ergibt sich, dass viele der Bestimmungen und Erwägungsgründe der Mindestlohnrichtlinie, auf die die Parteien und Streithelfer in der vorliegenden Rechtssache ihre Ansicht stützen, dass dieses Rechtsinstrument mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar sei, für diese Frage tatsächlich nicht relevant sind. Dies gilt insbesondere für Art. 1 Abs. 2 bis 4 der Mindestlohnrichtlinie, wonach die Mindestlohnrichtlinie die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung gesetzlicher Mindestlöhne verpflichtet (Art. 1 Abs. 4), den Mitgliedstaaten die Definition der „Angemessenheit“ sowie die Festlegung der genauen Höhe oder Bezifferung der Mindestlöhne überlässt (Erwägungsgründe 19 und 28 sowie Art. 1 Abs. 3) und die nationalen Besonderheiten und Vorrechte der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Höhe der „Löhne“ schützt (Art. 1 Abs. 2 und 3, die ich oben in Nr. 49 erwähnt habe). Meines Erachtens lässt sich auf diese Bestimmungen nicht die Ansicht stützen, dass die Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar sei. Sie könnten lediglich dazu dienen, das Maß und die Form der durch dieses Rechtsinstrument verwirklichten Harmonisierung zu bestimmen – eine Frage, die nur geklärt werden müsste, wenn unzweifelhaft wäre, dass der Unionsgesetzgeber für den Erlass der Mindestlohnrichtlinie zuständig war. Für die Vorfrage, ob diese Richtlinie gegen die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV und damit gegen den in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verstößt, sind sie jedoch nicht unmittelbar relevant. Wie bereits erläutert, kommt es insoweit nämlich nicht darauf an, inwieweit diese Richtlinie in nationale Besonderheiten eingreift, sondern darauf, ob sie zum Ziel hat, das Arbeitsentgelt zu regeln, da, wenn dies der Fall ist, dieses Rechtsinstrument unmittelbar in die hierfür in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehene Ausnahme eingreift.

72.      Wie oben in den Nrn. 67 bis 70 erläutert, folgt ferner daraus, dass ein Rechtsinstrument oder eine Maßnahme der Union in die Vertragsautonomie der Sozialpartner nicht eingreift, noch nicht zwangsläufig, dass es bzw. sie mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ vereinbar ist. Daher reicht allein der Umstand, dass mit der Mindestlohnrichtlinie in ihrer Gesamtheit zu Tarifverhandlungen angeregt werden soll oder diese gefördert werden sollen, wie aus Bestimmungen wie etwa den Erwägungsgründen 13, 19 und 24 sowie Art. 1 Abs. 2 und 3 und Art. 7 der Richtlinie hervorgeht, wonach die Mitgliedstaaten die Maßnahmen ergreifen, die erforderlich sind, um die Sozialpartner in die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne einzubeziehen(62), für die Vereinbarkeit dieses Rechtsinstruments mit Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht aus.

73.      Insoweit möchte ich noch eine weitere Vorbemerkung insbesondere zu Art. 1 Art. 3 der Mindestlohnrichtlinie machen, wonach „[diese Richtlinie i]m Einklang mit Artikel 153 Absatz 5 AEUV … nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen sowie die Entscheidung der Mitgliedstaaten [berührt], gesetzliche Mindestlöhne festzulegen, den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz zu fördern oder beides zu tun“. Wenn aus anderen Bestimmungen der Mindestlohnrichtlinie eindeutig hervorgeht, dass das Ziel dieser Richtlinie in der Regelung des Arbeitsentgelts besteht, kann sich meines Erachtens durch eine Aussage dieser Art an diesem Ziel nichts ändern. Das Gleiche gilt meines Erachtens für den 19. Erwägungsgrund der Mindestlohnrichtlinie, der weitgehend den Wortlaut dieses Artikels wiedergibt. Für das Merkmal des unmittelbaren Eingriffs ist nämlich, wie vom Rat vorgebracht, der Inhalt des betreffenden Rechtsinstruments in seiner Gesamtheit zu untersuchen, so dass der Gerichtshof seine Prüfung insoweit nicht auf Bestimmungen – wie vorliegend Art. 1 Abs. 3 der Mindestlohnrichtlinie – in denen Art. 153 Abs. 5 AEUV ausdrücklich erwähnt wird, beschränken kann.

74.      Um nun zur Bestimmung des Ziels der Mindestlohnrichtlinie zu kommen, sind zunächst einige offenkundige Punkte festzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Richtlinien, wie denjenigen, die zu den Urteilen Bruno u. a. und Specht u. a. geführt haben, nämlich der Richtlinie 97/81/EG des Rates über Teilzeitbeschäftigte und der Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, in deren Titeln „Löhne“ oder „das Arbeitsentgelt“ nicht erwähnt werden, oder weiteren, oben in Nr. 61 erwähnten Richtlinien handelt es sich bei der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Richtlinie um eine solche „über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“. Sie enthält schon in ihrem Titel den Begriff „Lohn“. Dies ist meines Erachtens ein eindeutiges und sogar offenkundiges Zeichen dafür, dass das Ziel der Mindestlohnrichtlinie in der Regelung des „Arbeitsentgelts“ besteht.

75.      Dieser erste Eindruck wird sodann durch Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie bestätigt, dessen Abs. 1 Buchst. a und b unmissverständlich bestimmt, dass mit dieser Richtlinie „[z]ur Verbesserung … insbesondere der Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern“, ein Rahmen geschaffen wird für „die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen“ und die Förderung von „Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“(63). Ausgehend von der oben in Nr. 54 vorgenommenen Klarstellung, dass „das Arbeitsentgelt“ im Sinne von Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht auf die Höhe des Arbeitsentgelts beschränkt ist, sondern auch die Modalitäten und Verfahren für die Festsetzung dieser Höhe einschließt, lässt diese Bestimmung meines Erachtens kaum Raum für Zweifel daran, dass das Ziel der Mindestlohnrichtlinie darin besteht, einen Aspekt des Arbeitsentgelts zu regeln, nämlich konkret, die Angemessenheit der Mindestlöhne und die Art und Weise, in der diese Löhne festzusetzen sind. Außerdem zeigt sie, dass der Unionsgesetzgeber die unionsweite Erhöhung des Mindestlohnniveaus (Konvergenz) zu keinem Zeitpunkt als nebensächliche oder mittelbare Folge des Erlasses dieser Richtlinie, sondern vielmehr als das Endziel oder übergeordnete Ziel dieses Rechtsinstruments vorgesehen hat. Hinzuzufügen ist, dass Art. 3 der Mindestlohnrichtlinie, der eine Liste einschlägiger Begriffsbestimmungen enthält, mit einer Definition der Begriffe „Mindestlohn“ und „gesetzlicher Mindestlohn“ beginnt; dies belegt, dass diese Begriffe für dieses Rechtsinstrument von zentraler Bedeutung sind.

76.      Im Licht dieser Bestimmungen dürfte meines Erachtens bereits eindeutig feststehen, dass der Unterschied zwischen der Mindestlohnrichtlinie und den Richtlinien, die den Urteilen Bruno u. a. und Specht u. a. zugrunde lagen, oder den weiteren, oben in Nr. 61 genannten Richtlinien nicht nur in ihrem Titel, sondern auch in ihrem Ziel selbst liegt. Wie bereits erläutert, enthalten diese Richtlinien sämtlich Bestimmungen, die die Höhe des Arbeitsentgelts berühren. Im Gegensatz zur Mindestlohnrichtlinie besteht ihr Ziel jedoch nicht in der Regelung der Art und Weise der Festsetzung des Arbeitsentgelts (vorliegend durch Tarifverhandlungen) oder in der Steigerung der Höhe des Arbeitsentgelts (durch Schaffung eines „Rahmen[s] … für die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen“, um zur „sozialen Aufwärtskonvergenz [beizutragen] und die Lohnungleichheit zu verringern“).

77.      Nach diesen Anmerkungen werde ich jetzt erläutern, warum Art. 5 dieses Rechtsinstruments – dessen Inhalt oben in Abschnitt III.B kurz dargestellt worden ist und der als die bedeutendste Bestimmung der Mindestlohnrichtlinie anzusehen ist – meines Erachtens bestätigt, dass der Zweck dieser Richtlinie in der Regelung des Arbeitsentgelts besteht, so dass sie gegen die hierfür in Art. 153 Abs. 5 AEUV geregelte Ausnahme verstößt. Anschließend werde ich weitere Bestimmungen dieses Rechtsinstruments prüfen.

–       Art. 5 der Mindestlohnrichtlinie

78.      Nach Art. 5 Abs. 1 der Mindestlohnrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen die Kriterien, die der Festlegung und Aktualisierung dieser Löhne zugrunde gelegt werden, klar definieren. Sie können dies im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten tun, und es steht ihnen frei, über das relative Gewicht dieser Kriterien zu entscheiden. Sie müssen jedoch auch sicherstellen, dass die von ihnen festgelegten Kriterien zur Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne mit dem Ziel beitragen, „einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechterspezifische Lohngefälle zu verringern“. Außerdem ist in Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie eine Liste von vier Mindestkriterien vorgesehen, die die Mitgliedstaaten im Rahmen des Verfahrens zur Festsetzung gesetzlicher Mindestlöhne berücksichtigen müssen(64). Zwar könnte diese Verpflichtung grundsätzlich auch als erfüllt angesehen werden, wenn diesen Kriterien von den Mitgliedstaaten nur geringes Gewicht beigemessen würde. Ein solcher Ansatz würde jedoch die in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Ziele vollständig aushöhlen. Außerdem lässt die eindeutige Aufzählung von vier Mindestkriterien in Art. 5 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie erkennen, dass diesen Kriterien eigentlich eine besondere Bedeutung beigemessen werden sollte(65).

79.      Aufgrund dieser Gesichtspunkte steht meines Erachtens eindeutig fest, dass die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen nach Art. 5 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie in der Praxis verpflichtet sind, sicherzustellen, dass die Höhe der Mindestlöhne auf der Grundlage zumindest der vier, in dieser Bestimmung aufgeführten Kriterien berechnet wird. Sie hat daher die Regelung der Höhe der gesetzlichen Mindestlöhne zum Ziel.

80.      Mehrere Beteiligte in der vorliegenden Rechtssache haben ihre Ansicht, dass die Mindestlohnrichtlinie gültig sei, erstens darauf gestützt, dass Art. 5 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einführung angemessener Mindestlöhne begründe, und zweitens darauf, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff der Angemessenheit unionsrechtlich keine autonome Bedeutung habe(66). Ich stimme mit diesen Beteiligten darin überein, dass in Art. 5 Abs. 1 und 2 der Mindestlohnrichtlinie eine Verpflichtung zur Einführung angemessener Mindestlöhne nicht ausdrücklich enthalten ist. Die Mitgliedstaaten unterliegen nach diesen Bestimmungen jedoch ausdrücklich der Verpflichtung, sicherzustellen, dass die Kriterien, die sie bei der Festlegung und Aktualisierung der Mindestlöhne anwenden, zu deren Angemessenheit beitragen. Zwischen diesen beiden Verpflichtungen besteht meines Erachtens in der Praxis kein Unterschied.

81.      Darüber hinaus ist das Argument, der Begriff „Angemessenheit“ in Art. 5 Abs. 1 der Mindestlohnrichtlinie habe unionsrechtlich keine autonome Bedeutung und könne eine solche auch niemals haben, meines Erachtens wenig überzeugend. Zu erinnern ist daran, dass der dritte Erwägungsgrund dieser Richtlinie auf Art. 31 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verweist, der das Recht jeder Arbeitnehmerin und jedes Arbeitnehmers „auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen“ vorsieht. Im 28. Erwägungsgrund der Mindestlohnrichtlinie heißt es weiter, dass zwar die „Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne … unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen sozioökonomischen Bedingungen … bestimmt und bewertet [wird]“, „Mindestlöhne [indes dann] als angemessen [gelten], wenn sie angesichts der Lohnskala im jeweiligen Mitgliedstaat gerecht sind und den Arbeitnehmern … einen angemessenen Lebensstandard sichern“.

82.      In Anbetracht dieser Erwägungsgründe stimme ich mit dem Vorbringen der dänischen Regierung in der mündlichen Verhandlung überein, dass Art. 5 Abs. 1 und 2 der Mindestlohnrichtlinie dahin verstanden werden kann, dass mit ihm das Recht auf einen angemessenen Mindestlohn konkretisiert werden soll, das sich nach Ansicht einiger Kommentatoren aus Art. 31 Abs. 1 der Charta ergeben soll, weil der in dieser Vorschrift enthaltene Verweis auf die „Würde“ die Grundlage für ein Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt bildet, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien einen zufriedenstellenden Lebensstandard gewährleistet(67). In der Gesamtbetrachtung könnte Art. 5 Abs. 1 und 2 der Mindestlohnrichtlinie somit dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten danach verpflichtet sind, sicherzustellen, dass die Kriterien, die sie bei der Festlegung der Höhe des Arbeitsentgelts anwenden, mit Art. 31 Abs. 1 der Charta vereinbar sind. Diese Auslegung hätte zwei Konsequenzen: Erstens müsste der Begriff „Angemessenheit“ in Art. 5 Abs. 1 der Mindestlohnrichtlinie von den Mitgliedstaaten in dem Sinne verstanden werden, dass er an den Begriff „Würde“ in Art. 31 Abs. 1 der Charta angelehnt (und somit als autonomer Begriff des Unionsrechts) aufzufassen ist. Zweitens könnten sich Arbeitnehmer im Fall eines Verstoßes der Mitgliedstaaten gegen ihre Verpflichtung, sicherzustellen, dass die nationalen Kriterien, die sie bei der Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne anwenden, zur „Angemessenheit“ dieser Löhne beitragen, auf ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 Abs. 1 der Charta berufen. Dies bestätigt, dass Art. 5 Abs. 1 und 2 der Mindestlohnrichtlinie bedeutende Auswirkungen auf die Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten haben könnte.

83.      Ich stelle ferner fest, dass mehrere (wenn nicht alle) derjenigen Beteiligten in der vorliegenden Rechtssache, die die Ansicht vertreten, dass die Mindestlohnrichtlinie gültig sei, vorgetragen haben, dass Art. 5 dieses Rechtsinstruments für die Mitgliedstaaten lediglich Verfahrenspflichten begründe, da er, wie sein Titel besage, das „Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne“ betreffe(68). Die portugiesische Regierung trägt insbesondere vor, dass die Mindestlohnrichtlinie lediglich die Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses in Bezug auf die Höhe der Mindestlöhne regele, diese Höhe aber in keiner Weise harmonisiere. Dieser Ansicht bin ich nicht.

84.      Ich kann nämlich nicht erkennen, inwieweit beispielsweise aus der Verpflichtung in Art. 5 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie, wonach dem Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne die Wachstumsrate der Löhne zugrunde zu legen ist, irgendetwas anderes folgen sollte, als dass die Höhe (der Betrag) der Mindestlöhne auf dieser Wachstumsrate basieren und dieser entsprechen muss. Was als Verfahrenspflicht dargestellt wird, ist in Wahrheit eine verdeckte materielle Verpflichtung. Unter diesen Umständen dürfte Art. 5 Abs. 1 und 2 der Mindestlohnrichtlinie tatsächlich gerade zum Ziel haben, in die Höhe der Mindestlöhne einzugreifen, auch wenn er „keine Zahlen in Euro und Cent festlegt“(69). Diese Auslegung wird durch den 18. Erwägungsgrund der Mindestlohnrichtlinie bestätigt, der dieses Rechtsinstrument als Richtlinie darstellt, mit der Verfahrenspflichten festgelegt werden, zugleich aber die Aussage enthält, dass mit ihr „auf Unionsebene Mindestanforderungen … für die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne festgelegt“ werden. Daraus folgt meines Erachtens, dass die in Art. 5 der Mindestlohnrichtlinie enthaltenen Verpflichtungen in Bezug auf die „Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne“ nicht verfahrensbezogener, sondern materieller Natur sind.

85.      Abgesehen von Art. 5 Abs. 1 und 2 ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten sich nach Art. 5 Abs. 3 der Mindestlohnrichtlinie nicht auf einen Indexierungsmechanismus stützen können, wenn dies zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt. Diese Verpflichtung ist meines Erachtens eindeutig ebenso mehr als rein verfahrensbezogener Natur. Sowohl die Kommission als auch das Parlament und der Rat haben nämlich in der mündlichen Verhandlung anerkannt, dass die Kommission aufgrund dieser Bestimmung ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten könne, wenn ein Mitgliedstaat einen Indexierungsmechanismus einführen würde, der tatsächlich zu einer Senkung seines gesetzlichen Mindestlohns führen würde.

86.      Jedenfalls folgt allein aus dem Umstand, dass eine Verpflichtung verfahrensbezogener Natur ist, meines Erachtens nicht, dass sie zwangsläufig mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar ist. Wie oben in den Nrn. 51 bis 60 erläutert, erfasst diese Ausnahme nämlich nicht nur die Höhe des Arbeitsentgelts, sondern auch die Art und Weise, in der Löhne festzulegen sind, und die Methode (oder das Verfahren), das die Mitgliedstaaten hierzu anwenden. Somit geht selbst eine reine Verfahrenspflicht in Bezug auf „das Arbeitsentgelt“ bereits zu weit und ist mit dieser Ausnahme unvereinbar.

87.      Daher greifen meines Erachtens auch Bestimmungen wie Art. 5 Abs. 4, 5 und 6 dieser Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten u. a. verpflichtet sind, „bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne [Referenzwerte] zugrunde [zu legen]“ (d. h. bei der Bestimmung der Höhe dieser Löhne), unmittelbar in das Arbeitsentgelt ein, da sie zum Ziel haben, die Art und Weise, in der Löhne zu bestimmen sind, und die von den Mitgliedstaaten hierzu angewendete Methode zu regeln.

–       Andere Bestimmungen der Mindestlohnrichtlinie

88.      Keine der anderen Bestimmungen der Mindestlohnrichtlinie steht zu der Feststellung im Widerspruch, dass diese Richtlinie in die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV unmittelbar eingreift. Insbesondere ist in Art. 2 der Mindestlohnrichtlinie lediglich vorgesehen, dass diese Richtlinie für „Arbeitnehmer“ gilt. Mit Art. 6 dieser Richtlinie soll sichergestellt werden, dass die Festlegung niedrigerer Sätze für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern (Abweichungen) und die Anwendung von Abschlägen aufgrund des Werts von Ausrüstung oder anderer Kosten (Abzüge) durch Mitgliedstaaten, die gesetzliche Mindestlöhne haben, mit den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht. Nach Art. 7 der Mindestlohnrichtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Sozialpartner in die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne einzubeziehen; Art. 8 dieses Rechtsinstruments betrifft den „[w]irksamen Zugang der Arbeitnehmer zu gesetzlichen Mindestlöhnen“. Alle diese Bestimmungen (mit Ausnahme von Art. 2) beziehen sich auf „Mindestlöhne“, und ihrem Wortlaut ist nichts zu entnehmen, was zu der Feststellung im Widerspruch stände, dass die Mindestlohnrichtlinie die Regelung des Arbeitsentgelts zum Ziel hat(70).

89.      Außerdem haben zwei Bestimmungen dieses Rechtsinstruments, nämlich die Art. 4 und 12 der Richtlinie, meines Erachtens zum Ziel, die von den Mitgliedstaaten angewendete Methode zur Lohnfestlegung zu harmonisieren und somit das Arbeitsentgelt zu regeln.

90.      Erstens trägt Art. 4 die Überschrift „Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“(71). Nach Abs. 1 der Vorschrift sind die Mitgliedstaaten zur „Förderung des Auf- und Ausbaus der Kapazitäten der Sozialpartner, Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung [zu führen]“, zur „Förderung konstruktiver, zielführender und fundierter Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern“ und zur Ergreifung von Maßnahmen verpflichtet, um sowohl die „Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“ zu schützen(72) als auch Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen möchten, vor Eingriffen in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung zu schützen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis d).

91.      Dieser Absatz soll zwar nicht den Inhalt von Tarifverträgen zur Lohnfestsetzung an sich regeln, sondern Tarifverträge lediglich durch eher vage Vorschriften fördern, die nach einer von einigen vertretenen Ansicht die Besonderheiten der nationalen Systeme wahren(73). Ich stimme jedoch mit der dänischen Regierung darin überein, dass erstens den Mitgliedstaaten mit Art. 4 Abs. 1 gleichwohl eine Reihe positiver Verpflichtungen auferlegt wird, die der Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung dienen, und dass zweitens hierdurch die Wahlentscheidung der Mitgliedstaaten, welche Methode der Lohnfestlegung sie anwenden können, eindeutig beschränkt wird. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass eine Bestimmung selbst dann, wenn sie lediglich eine „eingeschränkte“ Harmonisierung vornimmt (z. B. weil sie viel Raum für nationale Besonderheiten lässt oder weil sie lediglich, in eher weich gefasster Formulierung, einen Rahmen festlegt), immer noch eine Harmonisierung vornimmt – und damit etwas, wofür der Unionsgesetzgeber in den Bereichen, die unter Art. 153 Abs. 5 AEUV fallen, keine Zuständigkeit hat.

92.      Für Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie muss meines Erachtens ein ähnliches Ergebnis gelten. Diese Bestimmung gilt, wie oben in Nr. 18 bereits erläutert, nur für Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt. Diese Mitgliedstaaten sind verpflichtet, „einen Rahmen fest[zulegen], der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft“, und „einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen [zu erstellen]“, den sie regelmäßig überprüfen und aktualisieren müssen. Die dänische Regierung räumt selbst ein, dass die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Verpflichtungen weder sehr „konkret“ noch sehr „einschränkend“ seien, da die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet seien, eine konkrete tarifvertragliche Abdeckung zu erreichen, sondern lediglich, und zwar wenn ihre tarifvertragliche Abdeckung unterhalb von 80 % liege, einen Aktionsplan zu erlassen(74). Jedoch kann der Umstand, dass diese Bestimmung, beispielsweise im Hinblick darauf, wie die tarifvertragliche Abdeckung von den Mitgliedstaaten zu messen ist(75), eher vage bleibt, meines Erachtens nicht als Anzeichen dafür gewertet werden, dass sie mit Art. 153 Abs. 5 vereinbar ist. Auch vage Verpflichtungen, die den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gestaltung ihrer Lohnfestsetzungssysteme auferlegt werden, bleiben Verpflichtungen. Sie bleiben eine Regelung des Arbeitsentgelts, auch wenn diese Regelung vage oder unbestimmt erfolgt.

93.      Außerdem spricht meines Erachtens viel für das Vorbringen der dänischen Regierung, dass Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie, soweit er die Mitgliedstaaten, deren tarifvertragliche Abdeckung unterhalb von 80 % liege, verpflichte, einen Rahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu schaffen, durchaus eine Form des staatlichen Eingriffs in die Art und Weise der Lohngestaltung vorschreibe. Zwar können nach Art. 17 Abs. 3 dieser Richtlinie die Sozialpartner mit der Durchführung von Art. 4 Abs. 2, einschließlich der Aufstellung des Aktionsplans zur Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung, betraut werden, wenn sie dies gemeinsam beantragen. Die dänische Regierung weist jedoch zutreffend darauf hin, dass sich aus diesen beiden Bestimmungen in Verbindung miteinander ergebe, dass die Verpflichtung in Bezug auf diesen Aktionsplan vom Staat auf die Sozialpartner übertragen werden könne. Die Einführung einer solchen Verpflichtung auf der Ebene der Sozialpartner könnte in der Tat in ihre Autonomie in Bezug auf die „Lohnfestsetzung“ eingreifen – was im Widerspruch zum Zweck (oder einem Teil des Zwecks) der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV stände(76).

94.      Zweitens gewährt Art. 12 Abs. 1 der Mindestlohnrichtlinie dem einzelnen Arbeitnehmer bei Verstößen gegen seine Rechte in Bezug auf gesetzliche Mindestlöhne oder den Mindestlohnschutz Zugang zu „einer wirksamen, rechtzeitigen und unparteiischen Streitbeilegung und Anspruch auf Rechtsbehelfe“. Mir erscheint dies als eine eher „hinkende“ Bestimmung. Sie führt nämlich einen „Anspruch auf Rechtsbehelfe“ in Fällen von Verstößen gegen Rechte in Bezug auf gesetzliche Mindestlöhne oder den Mindestlohnschutz ein, jedoch nur „sofern solche Rechte im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind“. Dies steht meines Erachtens in einem Spannungsverhältnis zum Grundgedanken von Art. 47 der Charta, nämlich dass ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf grundsätzlich nur dann anerkannt wird, wenn durch das Unionsrecht (nicht aber lediglich durch nationales Recht oder Tarifverträge) garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt wurden. Daher könnte Art. 12 der Mindestlohnrichtlinie meines Erachtens dahin verstanden werden, dass er das Ergebnis weiter bekräftigt, zu dem ich für Art. 5 der Mindestlohnrichtlinie gekommen bin, nämlich dass diese Vorschrift dahin verstanden werden könnte, dass mit ihr das Recht auf einen angemessenen Mindestlohn konkretisiert werden soll, das sich aus Art. 31 Abs. 1 der Charta ergeben könnte. Jedenfalls ist Art. 12 der Mindestlohnrichtlinie für Mitgliedstaaten wie Dänemark und Schweden problematisch, wo in Tarifverträgen getroffene Bestimmungen traditionell und grundsätzlich von den Sozialpartnern (nicht aber von einzelnen Arbeitnehmern) durchgesetzt werden. Diese Bestimmung stellt nämlich klar, dass der Unionsgesetzgeber individuelles Vorgehen privilegiert, und greift damit meines Erachtens in die Gestaltung der Lohnfestsetzungssysteme der Mitgliedstaaten ein.

iii) Ergebnis zur Vereinbarkeit der Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“

95.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die Mindestlohnrichtlinie, wie insbesondere aus ihren Art. 1, 3, 4, 5 und 12 hervorgeht, die Regelung des „Arbeitsentgelts“ zum Ziel hat. Somit greift sie unmittelbar in die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV ein. Folglich hatte der Unionsgesetzgeber für den Erlass dieses Rechtsinstruments keine Zuständigkeit, so dass er gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV verstoßen hat.

96.      Aufgrund dieser Erwägungen sollte der Gerichtshof meines Erachtens zu dem Ergebnis kommen, dass die Mindestlohnrichtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären ist, ohne dass über den zweiten Teil des ersten Klagegrundes (nämlich ob die Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar ist) oder den zweiten Klagegrund oder den Hilfsantrag des Königreichs Dänemark entschieden werden müsste. Für den Fall jedoch, dass der Gerichtshof mit der ihm von mir vorgeschlagenen Lösung nicht übereinstimmen sollte, werde ich in den folgenden Abschnitten gleichwohl das Vorbringen der Parteien und Streithelfer zu diesen weiteren Fragestellungen prüfen.

b)      Vereinbarkeit der Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV

1)      Vorbringen der Beteiligten

97.      Die dänische und die schwedische Regierung tragen vor, das „Koalitionsrecht“ im Sinne von Art. 153 Abs. 5 AEUV sei (wie dies bei mehreren Rechtsinstrumenten, u. a. der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, der Fall sei) dahin zu verstehen, dass damit das Recht jedes Arbeitnehmers und jedes Arbeitgebers auf Beitritt zu einer Organisation oder Gewerkschaft und freie Teilnahme an Tarifverhandlungen gemeint sei.

98.      Diese Regierungen sind daher der Ansicht, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der Mindestlohnrichtlinie in Anbetracht dessen, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung verpflichtet seien, Maßnahmen zu ergreifen, um Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnähmen, vor Eingriffen in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung zu schützen, unmittelbar in das „Koalitionsrecht“ eingreife und somit mit Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar sei. Da ferner Mitgliedstaaten, deren tarifvertragliche Abdeckung unterhalb von 80 % liege, nach Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie verpflichtet seien, einen Rahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen festzulegen und mit den Sozialpartnern einen Aktionsplan zur Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung aufzustellen, berühre diese Bestimmung auch den rechtlichen Rahmen für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder Organisation und damit den Kernbereich des Koalitionsrechts.

99.      Der Rat, das Parlament und die Kommission sowie sämtliche weiteren Streithelfer stützen ihre gegenteilige Ansicht erstens darauf, dass das „Koalitionsrecht“ im Sinne von Art. 153 Abs. 5 AEUV Teil der Freiheit des Einzelnen sei, ohne Eingriff einer Vereinigung beizutreten, aus ihr auszutreten oder eine solche zu gründen. Es sei daher eine Voraussetzung für Tarifverhandlungen – d. h. dafür, dass Arbeitnehmervereinigungen durch kollektives Handeln Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festlegen könnten, und somit von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV umfasst –, wenngleich beide Begriffe sich nicht überschnitten. Sie tragen insoweit weiter vor, dass das „Koalitionsrecht“ und das „Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen“ jeweils durch gesonderte Bestimmungen der Charta geschützt seien. Zweitens sei die Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV eng auszulegen und im Wesentlichen auf Maßnahmen beschränkt, die unmittelbar in die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer eingriffen.

100. Drittens stelle die Mindestlohnrichtlinie keine Regelungen für das Koalitionsrecht auf, da sie lediglich einen Rahmen zur Erleichterung der Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen schaffe, ohne Verpflichtungen hinsichtlich des Beitritts zu, des Austritts aus oder der Auflösung von Vereinigungen oder Gewerkschaften festzulegen. Insbesondere würden in Art. 4 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie weder Regeln für die Gründung gewerkschaftlicher Organisationen festgelegt oder harmonisiert noch die Rechte und Pflichten dieser Organisationen festgelegt oder besondere Regelungen für die Teilnahme aufgestellt oder Arbeitnehmer/Arbeitgeber zu einer aktiven Beteiligung an gewerkschaftlichen Organisationen verpflichtet. Stattdessen konzentriere sie sich auf die Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens von Tarifverhandlungen. Jedenfalls stelle Art. 4 der Mindestlohnrichtlinie, selbst wenn davon ausgegangen würde, dass er Regelungen für das Koalitionsrecht festlege, keinen unmittelbaren Eingriff in dieses Recht dar. Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie greife nicht unmittelbar in das Koalitionsrecht ein, da die Schwelle von 80 % dort lediglich als Indikator und nicht als verbindliches oder striktes Ziel verwendet werde.

2)      Würdigung

101. Was die Vereinbarkeit der Mindestlohnrichtlinie mit der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV angeht, werden zwei zentrale Fragestellungen relevant. Erstens besteht zwischen den Parteien und Streithelfern Uneinigkeit über die Bedeutung und den Anwendungsbereich dieser Ausnahme, insbesondere darüber, in welchem (sich möglicherweise überschneidenden) Verhältnis sie zur Zuständigkeit der Union auf dem Gebiet „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV) steht. Insoweit ist zwischen ihnen das Verhältnis zwischen dem „Koalitionsrecht“ und dem „Recht auf Tarifverhandlungen“ streitig. Zweitens ist, da der Gerichtshof, wie oben in Nr. 40 ausgeführt, noch keine Gelegenheit hatte, zu der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV Stellung zu nehmen, zu klären, ob das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs, das vom Gerichtshof für die in dieser Bestimmung geregelte Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ entwickelt wurde, in diesem Kontext ebenfalls anwendbar ist.

102. Zur ersten Fragestellung ist darauf hinzuweisen, dass das Koalitionsrecht durch Art. 12 der Charta geschützt ist(77), während das Recht auf Kollektivverhandlungen von Art. 28 der Charta erfasst wird(78). Die dänische Regierung weist zur Stützung ihres Vorbringens, dass das Koalitionsrecht das Recht auf Tarifverhandlungen mit umfasse, zutreffend darauf hin, dass Art. 137 Abs. 6 EGV (dessen Wortlaut mit dem von Art. 153 Abs. 5 AEUV identisch sei) vor der Charta selbst erlassen worden sei. Daher könne der Umstand, dass das Koalitionsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen in der Charta als voneinander zu trennende Rechte behandelt würden, nicht maßgeblich dafür sein, wie sie im Sinne von Art. 153 AEUV zu verstehen seien. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass das Koalitionsrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989(79), auf deren Inhalt in Art. 136 EGV (jetzt Art. 151 AEUV) ausdrücklich verwiesen wurde und der in der Charta seinen Niederschlag gefunden hat(80), bereits als voneinander zu trennende Rechte betrachtet wurden(81). Hinzuweisen ist ferner darauf, dass in Art. 156 AEUV (dessen Wortlaut mit demjenigen von Art. 140 EGV identisch ist) das „Koalitionsrecht“ und die „Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ nebeneinander genannt sind, was meines Erachtens nicht erforderlich gewesen wäre, wenn diese Rechte nicht als eigenständige und voneinander zu trennende Rechte betrachtet würden.

103. Ausgehend von diesen Erwägungen steht meines Erachtens fest, dass das Koalitionsrecht das Recht auf Tarifverhandlungen nicht mit umfasst. Vielmehr handelt es sich um voneinander zu trennende Rechte: Das erstere bezieht sich auf das Recht von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, Organisationen (einschließlich Gewerkschaften) zu bilden und ihnen beizutreten, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen wahrzunehmen, während das letztere sich auf einen bestimmten Teil der Aufgabe dieser Organisationen bezieht, nämlich das Aushandeln und den Abschluss von Tarifverträgen.

104. Vor diesem Hintergrund habe ich Schwierigkeiten damit, mich dem Vorbringen der dänischen und der schwedischen Regierung anzuschließen. Diese Regierungen sind im Wesentlichen der Ansicht, dass die unter die Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV fallenden Bereiche, in Anbetracht dessen, dass die Ausübung des Koalitionsrechts eine Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen sei, in irgendeiner Weise die unter die „kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer[i]nteressen“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV) fallenden Bereiche mit umfassten und sich mit ihnen überschnitten. Ich stimme ihnen darin zu, dass der Schutz des Koalitionsrechts für den Schutz des Rechts auf Tarifverhandlungen unerlässlich ist, da die kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen die Schaffung von Organisationen voraussetzt, die die wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Arbeitnehmern und/oder Arbeitgebern kollektiv wahrnehmen sollen. Ich stimme indes mit der Ansicht des Parlaments und des Rates darin überein, dass aus diesem Zusammenhang nicht folgt, dass die unter die erstgenannte Bestimmung fallenden Bereiche die unter die letztgenannte Bestimmung fallenden Bereiche mit umfassen.

105. Insoweit ist meines Erachtens, wie oben in Nr. 39 ausgeführt, darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass, da Art. 153 Abs. 5 AEUV eine Ausnahmebestimmung zu den Abs. 1 bis 4 dieses Artikels darstellt, die durch Abs. 5 vorbehaltenen Bereiche eng auszulegen sind, damit nicht die Tragweite der Abs. 1 bis 4 ungebührlich beeinträchtigt wird oder die mit Art. 151 AEUV verfolgten Ziele in Frage gestellt werden(82). Aus dieser Feststellung ergeben sich meines Erachtens zwei Schlussfolgerungen. Erstens würde, wie vom Rat vorgebracht, wenn das Koalitionsrecht dahin verstanden würde, dass es das Recht auf Tarifverhandlungen mit umfasst, die Zuständigkeit nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV für das Gebiet der „Vertretung und kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen“ im Wesentlichen ausgehöhlt. Dann stände nämlich jede in Anwendung dieser Bestimmung erlassene Maßnahme zu der Ausnahme für das Koalitionsrecht in Art. 153 Abs. 5 AEUV im Widerspruch. Zweitens spricht die Feststellung des Gerichtshofs, dass die in dieser Bestimmung geregelten Ausnahmen eng auszulegen sind (was regelmäßig für die meisten Ausnahmen gilt), gegen das Vorbringen der dänischen und der schwedischen Regierung, die Verfasser der Unionsverträge hätten mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV eine begrenzte Zuständigkeit (für den Bereich der kollektiven Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen) aus einem Bereich ausgenommen, für den grundsätzlich keine Zuständigkeit der Union bestehe (das Koalitionsrecht)(83). Hinzuzufügen wäre meines Erachtens, dass in Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV ausdrücklich von der „Vertretung und kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, vorbehaltlich des Absatzes 5“ die Rede ist – womit klargestellt wird, dass die von dieser Bestimmung umfassten Bereiche sich mit den von Art. 153 Abs. 5 AEUV umfassten Bereichen nicht vollständig überschneiden(84).

106. Daraus folgt meines Erachtens, dass eine vom Unionsgesetzgeber erlassene Bestimmung oder Maßnahme nicht allein deshalb als mit der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar angesehen werden kann, weil sie das Recht auf Tarifverhandlungen betrifft. In der vorliegenden Rechtssache heißt dies beispielsweise, dass allein aufgrund des Umstands, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie die Förderung von Tarifverhandlungen zum Ziel hat, noch nicht die Feststellung getroffen werden kann, dass diese Richtlinie in ihrer Gesamtheit mit der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar ist.

107. Um jetzt zur zweiten Fragestellung zu kommen, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof das Kriterium des unmittelbaren Eingriffs für die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV ohne ausdrückliche Aussage dazu entwickelt hat, ob es auch im Kontext der ebenfalls in dieser Bestimmung enthaltenen Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ gilt. Meines Erachtens kann dieses Kriterium jedoch ohne große Schwierigkeiten auf diese Ausnahme angewendet werden. Der Grundgedanke ist nämlich der gleiche wie bei der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“: Die Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ soll vom Zuständigkeitsbereich der Union nicht jede Frage ausnehmen, die in „irgendeinem Zusammenhang“ mit dem Koalitionsrecht steht, sondern lediglich solche Rechtsinstrumente oder Bestimmungen, die eine Regelung dieses Rechts zum Ziel haben.

108. Ausgehend von diesen Erwägungen habe ich Schwierigkeiten damit, zu dem Schluss zu gelangen, dass die Mindestlohnrichtlinie eine Regelung des Koalitionsrechts zum Ziel hat. Wie von der französischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, stellen die Bestimmungen dieser Richtlinie nämlich keine Voraussetzungen für die Schaffung oder den Beitritt zu einer Organisation (wie etwa einer Gewerkschaft) auf. Einige ihrer Bestimmungen haben zum Ziel, Tarifverhandlungen zu fördern (Art. 4) und die Sozialpartner in die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne einzubeziehen (Art. 7). Wie soeben erläutert, ist das Recht auf Tarifverhandlungen jedoch vom Koalitionsrecht zu trennen, und der Unionsgesetzgeber hat nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV die Zuständigkeit, Rechtsinstrumente zu erlassen, die die „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen“ betreffen.

109. Zwar bezieht sich, wie vom Rat anerkannt, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der Mindestlohnrichtlinie auf Aspekte des Koalitionsrechts, nämlich die Gründung, Arbeitsweise oder Verwaltung von Gewerkschaften oder Arbeitgeberorganisationen(85). Mit dieser Bestimmung soll jedoch eindeutig nicht in dieses Recht eingegriffen, sondern dieses Recht lediglich gewährleistet werden, indem Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen vor Eingriffen geschützt werden. Ferner verpflichtet Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, deren tarifvertragliche Abdeckung unterhalb von 80 % liegt, zwar dazu, einen Aktionsplan zu erstellen, um diese Abdeckung zu erhöhen, diese Verpflichtung verlangt von den Mitgliedstaaten jedoch nicht, Arbeitnehmer dazu anzuhalten, einer Gewerkschaft beizutreten, sondern lediglich die Zahl der durch Tarifverträge geschützten Arbeitnehmer zu erhöhen.

110. Schließlich ist festzuhalten, dass die Ansicht der dänischen und der schwedischen Regierung sich auf Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie konzentriert. Sie gehen nicht auf den Inhalt anderer Bestimmungen dieser Richtlinie ein und bringen nicht einmal vor, dass es sich bei den vorgenannten Bestimmungen um die bedeutendsten Bestimmungen der Mindestlohnrichtlinie handele und in ihnen ihr „Ziel“ zum Ausdruck komme; es bereitet daher Schwierigkeiten, ihrem Vorbringen zu folgen, dass die Mindestlohnrichtlinie mit der Begründung in vollem Umfang für nichtig zu erklären sei, dass sie mit der Ausnahme für das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar sei.

111. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes meines Erachtens zurückzuweisen.

2.      Zweiter Klagegrund: Die Mindestlohnrichtlinie durfte nicht auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV erlassen werden, weil sie sich auch auf von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f umfasste Bereiche bezieht

112. Wie oben in Nr. 32 bereits ausgeführt, macht die dänische Regierung mit dem zweiten Klagegrund geltend, dass das Parlament und der Rat die Mindestlohnrichtlinie selbst dann nicht auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV hätten erlassen dürfen, wenn angenommen würde, dass sie vom Anwendungsbereich der Ausnahmen für „das Arbeitsentgelt“ und das „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht erfasst werde. Insbesondere verfolge diese Richtlinie zwei Ziele mit gleichgewichtiger Bedeutung, da sie nicht nur die „Arbeitsbedingungen“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV), sondern auch die „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer[i]nteressen …“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV) regeln solle. Für diese Rechtsgrundlagen seien jeweils verschiedene Gesetzgebungsverfahren erforderlich. Denn Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV verlange Einstimmigkeit im Rat, Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV dagegen nicht. Da diese Verfahren miteinander unvereinbar seien, sei die Mindestlohnrichtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären.

1)      Vorbringen der Beteiligten

113. Nach Ansicht der dänischen und der schwedischen Regierung bezieht sich die Mindestlohnrichtlinie nicht nur auf „Arbeitsbedingungen“ (Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV), sondern auch auf die kollektive Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen (Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV), da viele der Bestimmungen dieses Rechtsinstruments, einschließlich Art. 4 der Richtlinie, den Schutz dieser Interessen beträfen. Diese Bestimmungen hätten nur aufgrund einstimmiger Beschlussfassung im Rat erlassen werden dürfen. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass Art. 4 der Mindestlohnrichtlinie keine Nebenbestimmung zu anderen Bestimmungen dieser Richtlinie sei, da er allgemeine Verpflichtungen für alle Mitgliedstaaten festlege und daher eine weiter angelegte Wirkung haben dürfte als Bestimmungen, die sich nur an eine bestimme Zahl von Mitgliedstaaten richteten, wie etwa die Art. 5 bis 8 der Richtlinie.

114. Der Rat, das Parlament, die Kommission und die anderen Streithelfer sind der Ansicht, dass die Mindestlohnrichtlinie auf der richtigen Rechtsgrundlage erlassen worden sei. Das übergeordnete Ziel dieser Richtlinie beziehe sich auf „Arbeitsbedingungen“ im Sinne von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV und nicht auf die kollektive Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen im Sinne von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV. Mit diesem Rechtsinstrument solle nämlich die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne der Arbeitnehmer verbessert werden, u. a. durch die Förderung der Abdeckung durch Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung. Art. 4 der Mindestlohnrichtlinie konzentriere sich auf Tarifverhandlungen lediglich als Mittel zur Erreichung dieses übergeordneten Ziels.

2)      Würdigung

115. Hinzuweisen ist meines Erachtens darauf, dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts der Union auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen muss. Ergibt die Prüfung eines Unionsrechtsakts, dass er eine zweifache Zielsetzung hat oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf diejenige, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert. Verfolgt der Rechtsakt mehrere Zielsetzungen zugleich oder umfasst er mehrere Komponenten, die untrennbar miteinander verbunden sind, ohne dass die eine gegenüber der anderen nebensächlich ist, so dass verschiedene Vertragsbestimmungen anwendbar sind, muss er ausnahmsweise auf die entsprechenden verschiedenen Rechtsgrundlagen gestützt werden(86). Der Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage ist jedoch nicht möglich, wenn die für die verschiedenen fraglichen Rechtsgrundlagen jeweils vorgesehenen Verfahren miteinander unvereinbar sind(87).

116. Die von der dänischen und der schwedischen Regierung vertretene Ansicht, nach der im Wesentlichen die Mindestlohnrichtlinie zwei Ziele mit gleichgewichtiger Bedeutung verfolge (nämlich erstens die Schaffung eines Rahmens zur Sicherstellung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne und zweitens die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung), ließe sich, wie von diesen Regierungen vorgetragen, darauf stützen, dass Art. 4 dieser Richtlinie (der die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung betrifft) eine bedeutende Bestimmung ist, weil er für alle Mitgliedstaaten gilt, während Art. 5 der Richtlinie (der das Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne betrifft) nur für Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen gilt. Anders als Art. 5 ist Art. 4 somit eine bereichsübergreifende Bestimmung. Dies wird dadurch bestätigt, dass diese Bestimmung in Kapitel I der Mindestlohnrichtlinie mit dem Titel „Allgemeine Bestimmungen“ enthalten ist, während Art. 5 zu Kapitel II dieses Rechtsinstruments mit dem Titel „Gesetzliche Mindestlöhne“ gehört.

117. Auch könnte die Ansicht vertreten werden, dass aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Mindestlohnrichtlinie hervorgeht, dass diese Richtlinie einen Rahmen für die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne und die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung schafft, und dass dem Wortlaut dieser Bestimmung nichts dafür zu entnehmen ist, dass das letztgenannte dieser Ziele weniger bedeutend sei als das erstgenannte oder dass es ihm gegenüber lediglich instrumentellen Charakter habe. Ebenso heißt es im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass mit diesem Rechtsinstrument „Mindestanforderungen und Verfahrenspflichten für die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne festgelegt [werden]“. Im selben Erwägungsgrund heißt es weiter, dass durch die Mindestlohnrichtlinie „auch Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung gefördert [werden]“. Wiederum könnte davon ausgegangen werden, dass beiden Zielen vom Unionsgesetzgeber eine gleichgewichtige Bedeutung zugemessen wurde.

118. Meines Erachtens sind diese Erwägungen jedoch nicht ausreichend, um der von der dänischen und der schwedischen Regierung vertretenen Ansicht zu folgen. Zunächst geht, wie oben in Nr. 76 bereits festgestellt, aus dem Titel der Mindestlohnrichtlinie hervor, dass diese Richtlinie „angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ und nicht die Förderung von Tarifverhandlungen betrifft. Ferner ist, wie bereits mehrfach erwähnt, Art. 5 dieser Richtlinie (und nicht Art. 4) eindeutig ihre bedeutendste Bestimmung. Insoweit ist festzustellen, dass im 25. Erwägungsgrund der Mindestlohnrichtlinie klargestellt wird, dass der Grund dafür, dass diese Richtlinie die Förderung von Tarifverhandlungen stark betont, darin liegt, dass „[i]n Mitgliedstaaten mit einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung … der Anteil der Geringverdienenden tendenziell niedrig [ist], und die Mindestlöhne … sich in der Regel auf einem hohen Niveau [befinden]“. Im 22. Erwägungsgrund dieses Rechtsinstruments heißt es ebenso eindeutig, dass „[g]ut funktionierende Tarifverhandlungen … ein gutes Mittel [sind], um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer durch angemessene Mindestlöhne geschützt werden …“(88).

119. Aus diesen Gesichtspunkten folgt erstens, dass als das übergeordnete Ziel der Mindestlohnrichtlinie eher die Schaffung eines Rahmens für die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne und nicht die Förderung von Tarifverhandlungen zu nennen ist, und zweitens, dass Art. 4 dieses Rechtsinstruments als Mittel zur Erreichung dieses übergeordneten Ziels anzusehen ist. Demzufolge hat das Ziel der „Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie für das Ziel in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie, nämlich dasjenige der Schaffung eines Rahmens für die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen, instrumentellen Charakter. Für diese Ansicht spricht auch die Feststellung der Kommission im Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie, wonach „[die vorgeschlagene Richtlinie z]ur Erreichung [ihrer] Ziele … Tarifverhandlungen über Löhne in allen Mitgliedstaaten fördern [soll]“(89). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es weitere Sekundärrechtsakte der Union gibt, die neben ihrem Hauptziel die Rolle der Sozialpartner fördern sollen und die gleichwohl nicht auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV erlassen wurden(90).

120. Unter diesen Umständen musste die Mindestlohnrichtlinie meines Erachtens nicht auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV erlassen werden; somit ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.

B.      Hilfsantrag: Ist Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie für nichtig zu erklären?

121. Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die Mindestlohnrichtlinie nicht in vollem Umfang für nichtig zu erklären ist, beantragt das Königreich Dänemark hilfsweise die Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 dieses Rechtsinstruments wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Art. 153 Abs. 5 AEUV. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die teilweise Nichtigerklärung eines Unionsrechtsakts nur möglich, soweit sich die Teile, deren Nichtigerklärung beantragt wird, vom Rest des Rechtsakts trennen lassen. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn diese teilweise Nichtigerklärung zur Folge hätte, dass der Wesensgehalt des betreffenden Rechtsakts verändert würde(91).

122. Wie oben in den Nrn. 90 bis 93 erläutert, wird den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie eine Reihe positiver Verpflichtungen auferlegt, die der Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung dienen, und hierdurch die Entscheidung der Mitgliedstaaten, welche Methode der Lohnfestlegung sie anwenden können, in einer Weise beschränkt, die mit der Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar ist. Als letzte Frage zu prüfen bleibt somit, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie sich von den übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie trennen lässt.

1)      Vorbringen der Beteiligten

123. Einerseits sind die dänische, die schwedische und die deutsche Regierung der Ansicht, dass der Mindestlohnrichtlinie ihre Wirksamkeit nicht genommen würde, wenn nur Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie für nichtig erklärt würde. Die dänische und die schwedische Regierung weisen insoweit darauf hin, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. d im Vorschlag für die Mindestlohnrichtlinie nicht enthalten gewesen sei. Diese Bestimmung sei erst zu einem späteren Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens hinzugefügt worden. Die übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie könnten somit auch ohne diese Bestimmung weiterhin Wirkungen entfalten. Diese Regierungen tragen ferner vor, dass der Rat und das Parlament insoweit widersprüchliche Ansichten verträten, als einerseits Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie als vage anzusehen sein sollte, andererseits aber im Fall ihrer Nichtigerklärung die übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie ihre Wirksamkeit verlieren sollten.

124. Die deutsche Regierung hat in der mündlichen Verhandlung ihrerseits die Ansicht vertreten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie mit Art. 153 Abs. 5 AEUV vereinbar sei. Darüber hinaus jedoch sollen sich nach Ansicht dieser Regierung in dem Fall, dass der Gerichtshof zu einem anderen Ergebnis kommen sollte, diese Bestimmungen, theoretisch, von den übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie trennen lassen. Im Fall ihrer Nichtigerklärung blieben nämlich die wesentlichen Inhalte dieses Rechtsinstruments intakt. Art. 4 der Mindestlohnrichtlinie könne sogar vollständig für nichtig erklärt werden, ohne die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie zu beeinträchtigen, da er lediglich ein geeignetes Mittel zur Erreichung des übergeordneten Ziels dieser Richtlinie bereitstelle.

125. Andererseits sind das Parlament, der Rat, die Kommission und die anderen Streithelfer der Ansicht, dass die Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie den Anwendungsbereich und das Wesen dieses Rechtsinstruments erheblich verändern würde und dass diese Bestimmungen sich folglich vom übrigen Teil der Mindestlohnrichtlinie nicht trennen ließen. Die Förderung von Tarifverhandlungen sei nämlich ein bedeutendes Mittel dafür, dass Arbeitnehmern angemessene Mindestlöhne zuteilwürden. Ferner würde die Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie bestimmten allgemeinen Bestimmungen dieser Richtlinie (insbesondere Art. 1 der Richtlinie) ihre Wirksamkeit nehmen. Der Rat und die französische Regierung bringen ergänzend vor, dass im Fall der vollständigen Nichtigerklärung von Art. 4 der Mindestlohnrichtlinie nicht mehr allen Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie Verpflichtungen auferlegt würden. Vielmehr würde sie nur noch den Mitgliedstaaten Verpflichtungen auferlegen, die gesetzliche Mindestlöhne hätten.

2)      Würdigung

126. Was die Frage angeht, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie sich von den übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie trennen lässt, stimme ich erstens mit der dänischen und der schwedischen Regierung darin überein, dass die Argumentation des Parlaments und des Rates zum zweiten Klagegrund und zum Hilfsantrag in gewissem Maße widersprüchlich ist. Einerseits bringen diese Organe im Rahmen des zweiten Klagegrundes (wie oben in Nr. 114 ausgeführt) nämlich vor, dass Art. 4 der Mindestlohnrichtlinie sich auf Tarifverhandlungen lediglich als Mittel zur Erreichung des übergeordneten Ziels dieser Richtlinie konzentriere. Andererseits tragen sie in Bezug auf den Hilfsantrag vor, dass eine der Säulen der Mindestlohnrichtlinie die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung sei und im Fall der Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie den übrigen Bestimmungen dieses Rechtsinstruments ihre Wirksamkeit genommen würde.

127. Zweitens ergibt sich aus der Prüfung oben in den Nrn. 115 bis 120, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie zwar für die Erfüllung eines der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele von zentraler Bedeutung ist, nämlich desjenigen der „Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“ nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie, dieses Ziel jedoch für dasjenige der Schaffung eines Rahmens für die „Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne“ (Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Mindestlohnrichtlinie), welches das übergeordnete Ziel dieses Rechtsinstruments ist, tatsächlich instrumentellen Charakter hat.

128. Wie oben in Nr. 119 erläutert, stellt Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 nämlich lediglich ein Mittel zur Erreichung des übergeordneten Ziels bereit, das indes auch dann erreicht werden kann, wenn nur die übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie zugrunde gelegt werden. Wie von der deutschen Regierung zu Recht vorgebracht, folgt aus dem engen Zusammenhang, der zwischen Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie und den übrigen Bestimmungen dieses Rechtsinstruments besteht, nicht, dass es im Fall der Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 unmöglich wäre, mit dieser Richtlinie einen Rahmen für die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne zu schaffen. Diesen Rahmen zu schaffen, mag schwieriger sein, ist aber nicht unmöglich.

129. Aus diesen Erwägungen folgt, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Mindestlohnrichtlinie sich daher im Fall ihrer Nichtigerklärung von den übrigen Artikeln der Richtlinie trennen ließe und dass die Letzteren ihre Gültigkeit in vollem Umfang behalten könnten. Demzufolge schlage ich dem Gerichtshof für den Fall, dass er entscheiden sollte, dass die Mindestlohnrichtlinie nicht in vollem Umfang für nichtig zu erklären ist, vor, dem Hilfsantrag des Königreichs Dänemark stattzugeben und Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie für nichtig zu erklären.

C.      Schlussbemerkung

130. Abschließend möchte ich noch mit einigen wenigen Anmerkungen auf eine in der mündlichen Verhandlung erörterte Frage eingehen, nämlich ob der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Mindestlohnrichtlinie eine alternative Rechtsgrundlage, vorliegend Art. 175 AEUV, anstelle von Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV, hätte anwenden können.

131. Hinzuweisen ist meines Erachtens darauf, dass Art. 175 AEUV eine Zuständigkeit für den Erlass von Maßnahmen zur Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der Union vorsieht(92). Ich bin jedoch nicht davon überzeugt, dass die Mindestlohnrichtlinie allein deshalb, weil sie sozioökonomische Unterschiede in der Union verringern, die Aufwärtskonvergenz fördern und eine harmonischere Entwicklung der Union erleichtern würde, auf der Grundlage dieser Bestimmung hätte erlassen werden können.

132. Erstens betrifft Art. 175 AEUV nämlich hauptsächlich die Zuweisung von Unionsmitteln; um die Mindestlohnrichtlinie auf diese Bestimmung zu stützen, müsste diese daher recht kreativ ausgelegt werden.

133. Zweitens hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass ein ausdrücklicher Ausschluss einer Harmonisierung für bestimmte Bereiche im AEU-Vertrag zwar nicht zwangsläufig bedeutet, dass Harmonisierungsmaßnahmen nicht auf der Grundlage anderer Bestimmungen dieses Vertrags erlassen werden können, der Unionsgesetzgeber sich aber auf diese anderen Bestimmungen nicht berufen kann, wenn er damit diesen ausdrücklichen Ausschluss „umgeht“(93). In der vorliegenden Rechtssache hätte der Unionsgesetzgeber meines Erachtens, wenn er die Mindestlohnrichtlinie auf der Grundlage von Art. 175 AEUV erlassen hätte, die Ausnahme für „das Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV umgangen. Er hätte sich nämlich auf eine weiter angelegte Bestimmung (Art. 175 AEUV) gestützt, um eine Zuständigkeit (für das Arbeitsentgelt) in Anspruch zu nehmen, die durch Art. 153 Abs. 5 AEUV (als lex specialis) vom Zuständigkeitsbereich der Union ausdrücklich ausgenommen werden soll, und ein Rechtsinstrument zu erlassen, dessen Ziel gerade darin besteht, die unter diese Ausnahme fallenden Bereiche zu regeln.

134. Daher hätte die Mindestlohnrichtlinie meines Erachtens vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 175 AEUV nicht wirksam erlassen werden können.

VI.    Kosten

135. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klage des Königreichs Dänemark meines Erachtens begründet ist, sind seinem Antrag entsprechend dem Parlament und dem Rat die Kosten aufzuerlegen. Das Königreich Schweden, das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Portugiesische Republik und die Kommission, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, sind gleichwohl nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung zur Tragung ihrer eigenen Kosten zu verurteilen.

VII. Ergebnis

136. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        die Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union mit der Begründung in vollem Umfang für nichtig zu erklären, dass sie mit Art. 153 Abs. 5 AEUV und somit mit dem in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung unvereinbar ist;

–        dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union die Kosten aufzuerlegen;

–        dem Königreich Schweden, dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, der Portugiesischen Republik und der Europäischen Kommission ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.































































































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