Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NICHOLAS EMILIOU
vom 19. Juni 2025(1 )
Rechtssache C ‑323/24
Deity Shoes, S. L.
gegen
Mundorama Confort, S. L.,
Stay Design, S. L
(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Alicante [Handelsgericht Nr. 1 Alicante, Spanien])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges und gewerbliches Eigentum – Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Art. 4 – Voraussetzungen für den Schutz eines Geschmacksmusters – Neuheit – Eigenart – Von einem Dritten im Voraus festgelegte Erscheinungsmerkmale – Personalisierung von Bauelementen aus einem bereits bestehenden Katalog – Erforderlicher Personalisierungsgrad – Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters – Möglichkeit, die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon zu schützen, wenn diese auf der Grundlage von bekannten Modetendenzen ausgearbeitet wird “
I. Einleitung
1. „These boots are made for walkin’ and that’s just what they’ll do.“(2 ) In der Rechtsprechung des Gerichts zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 6/2002(3 ) ist allgemein anerkannt, dass die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers eines Erzeugnisses (wie z. B. eines Schuhs) durch die technische Funktion dieses Erzeugnisses (wie z. B. den Umstand, dass ein Schuh am Fuß getragen wird und für einen bestimmten Zweck wie Gehen oder Laufen geeignet sein muss) sowie durch die auf das Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften, die zu einer Standardisierung bestimmter Merkmale führen, beschränkt wird(4 ). Der vorliegende Fall wirft u. a. folgende Frage auf: Ergibt sich auch aus Modetendenzen eine Beschränkung dieser Gestaltungsfreiheit?
2. Der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens betrifft drei Unternehmen der Schuhbranche, namentlich die Deity Shoes S. L. einerseits und die Mundorama Confort S. L. und die Stay Design S. L. andererseits. Das erstgenannte Unternehmen macht geltend, die beiden anderen Gesellschaften hätten seine Gemeinschaftsgeschmacksmuster für verschiedene Schuhmodelle (im Folgenden: angegriffene Geschmacksmuster) verletzt. Im Wege der Widerklage tragen Mundorama Confort und Stay Design vor, dass die angegriffenen Geschmacksmuster nichtig seien, da sie auf in den Katalogen der Lieferanten von Deity Shoes abgebildeten, bereits bestehenden Geschmacksmustern beruhten und sich nur geringfügig durch eine an die Wünsche des Kunden angepasste Gestaltung („Customizing“) – beispielsweise der Sohle, der Schnürsenkel oder der Schnallen, die von den jüngsten Modetendenzen beeinflusst seien – von diesen unterschieden. Ihrer Auffassung nach sind die angegriffenen Geschmacksmuster daher nicht das Ergebnis einer „echten Gestaltungstätigkeit“, einer „geistigen Anstrengung“ oder einer Innovation.
3. Mit seinen Fragen möchte der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Alicante (Handelsgericht Nr. 1 Alicante, Spanien) im Wesentlichen wissen, ob ein Geschmacksmuster unter diesen Umständen noch den Schutz als eingetragenes oder nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster(5 ) nach der Verordnung Nr. 6/2002 genießen kann. Das vorlegende Gericht fragt sich darüber hinaus, ob Modetendenzen die Gestaltungsfreiheit eines Entwerfers derart beschränken können, dass bereits kleine Unterschiede ausreichen, um mit dem in Rede stehenden Geschmacksmuster einen anderen Gesamteindruck als mit einem oder mehreren älteren Geschmacksmustern zu erwecken, und somit dem in Rede stehenden Geschmacksmuster „Eigenart“ im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 verleihen.
II. Rechtlicher Rahmen
4. Art. 4 („Schutzvoraussetzungen“) der Verordnung Nr. 6/2002 sieht vor:
„(1) Ein Geschmacksmuster wird durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat.
…“
5. Art. 5 („Neuheit“) der Verordnung Nr. 6/2002 sieht vor:
„(1) Ein Geschmacksmuster gilt als neu, wenn der Öffentlichkeit:
a) im Fall nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird,
b) im Fall eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung des Geschmacksmusters, das geschützt werden soll, oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag,
kein identisches Geschmacksmuster zugänglich gemacht worden ist.
(2) Geschmacksmuster gelten als identisch, wenn sich ihre Merkmale nur in unwesentlichen Einzelheiten unterscheiden.“
6. Art. 6 („Eigenart“) der Verordnung Nr. 6/2002 bestimmt:
„(1) Ein Geschmacksmuster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, und zwar:
a) im Fall nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird,
b) im Fall eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, vor dem Prioritätstag.
(2) Bei der Beurteilung der Eigenart wird der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters berücksichtigt.“
7. In Art. 10 („Schutzumfang“) dieser Verordnung heißt es:
„(1) Der Umfang des Schutzes aus dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster erstreckt sich auf jedes Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt.
(2) Bei der Beurteilung des Schutzumfangs wird der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung seines Geschmacksmusters berücksichtigt.“
8. Art. 14 („Recht auf das Gemeinschaftsgeschmacksmuster“) der Verordnung Nr. 6/2002 sieht vor:
„(1) Das Recht auf das Gemeinschaftsgeschmacksmuster steht dem Entwerfer oder seinem Rechtsnachfolger zu.
…“
9. In Art. 25 („Nichtigkeitsgründe“) dieser Verordnung heißt es:
„(1) Ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster kann nur dann für nichtig erklärt werden:
a) wenn kein Geschmacksmuster im Sinne von Artikel 3 Buchstabe a) vorliegt,
b) wenn es die Voraussetzungen der Artikel 4 bis 9 nicht erfüllt,
c) wenn dem Inhaber des Rechts infolge einer Gerichtsentscheidung kein Recht an dem Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Sinne von Artikel 14 zusteht,
…“
III. Sachverhalt, Verfahren vor dem Gerichtshof und Vorlagefragen
10. Am 10. Dezember 2021 erhob Deity Shoes beim Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Alicante (Handelsgericht Nr. 1 Alicante) Klage gegen Mundorama Confort und Stay Design wegen Verletzung der angegriffenen Geschmacksmuster.
11. Am 12. April 2022 erhoben Mundorama Confort und Stay Design Widerklage und beantragten die Nichtigerklärung dieser Geschmacksmuster(6 ).
12. Diese Unternehmen machten insbesondere geltend, dass bei der Entwicklung der angegriffenen Geschmacksmuster weder eine Innovation noch eine „echte Gestaltungstätigkeit“ vorliege und diese Geschmacksmuster nicht das Ergebnis einer „geistigen Anstrengung“ seien. Mit Ausnahme einiger Bauelemente, die an die Wünsche des Kunden angepasst worden seien (beispielsweise die Farbe, einzelne Werkstoffe, die Position der Schnallen, Schnürsenkel und anderer, der Verzierung dienender Elemente), entsprächen die angegriffenen Geschmacksmuster den Schuhmodellen in den Katalogen, die Deity Shoes von ihren chinesischen Lieferanten (im Folgenden: Lieferanten) zur Verfügung gestellt bekomme. Mundorama Confort und Stay Design sind der Ansicht, dass diese Geschmacksmuster somit nicht die in Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgesehenen Voraussetzungen der „Neuheit“ und der „Eigenart“ erfüllten.
13. Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Preis des Erzeugnisses für das Geschäftsmodell von Deity Shoes, das auf den Absatz großer Mengen abziele, eine wichtige Rolle spiele. Da sich jede Änderung oder Anpassung der in den Katalogen der Lieferanten enthaltenen Geschmacksmuster an die Wünsche des Kunden („Customizing“) in einer Erhöhung der Kosten ausdrücke, bestehe für ein Unternehmen wie Deity Shoes kein reeller Anreiz, wesentliche Änderungen gegenüber den in diesen Katalogen angebotenen Schuhmodellen vorzunehmen.
14. Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass die verschiedenen Möglichkeiten der Anpassung an die Kundenwünsche (wie z. B. die Farbe, einzelne Werkstoffe, die Position der Schnallen, Schnürsenkel und anderer, der Verzierung dienender Elemente) bereits in den Katalogen der Lieferanten abgebildet seien. Darüber hinaus unterlägen die in diesen Katalogen abgebildeten Modelle, die Möglichkeiten der Anpassung an die Wünsche des Kunden („Customizing“) sowie die angegriffenen Geschmacksmuster dem Einfluss bekannter Modetendenzen. Das Gericht möchte wissen, ob diese Modetendenzen die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers in der gleichen Weise beschränken können wie die technische Funktion eines Erzeugnisses oder die auf dieses Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften.
15. Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Alicante (Handelsgericht Nr. 1 Alicante) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist es, damit ein Muster unter die Schutzregelung der Verordnung Nr. 6/2002 fällt, erforderlich, dass eine echte Gestaltungstätigkeit in dem Sinne vorliegt, dass das Muster das Ergebnis der geistigen Anstrengung seines Entwerfers ist? Kann in diesem Sinne das Kombinieren von Bauelementen auf der Grundlage von bereits bestehenden Modellen als echte Gestaltungstätigkeit angesehen werden, wenn ihre Erscheinungsmerkmale größtenteils von den Lieferanten im Voraus festgelegt sind, so dass Änderungen bestimmter Elemente als punktuell und nebensächlich angesehen werden müssen?
2. Kann im Zusammenhang mit dem Vorstehenden angenommen werden, dass die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses, das aus der Anpassung von bereits durch chinesische Lieferanten in ihren Katalogen angebotenen Mustern an die Wünsche des Kunden („Customizing“) hervorgegangen ist, insgesamt oder teilweise „Eigenart“ im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 besitzen, wenn sich die Tätigkeit des Rechtsinhabers des Musters darauf beschränkt, diese Muster in der Europäischen Union unverändert oder mit punktuellen Änderungen an Bauelementen (wie Sohle, Nieten, Schnürsenkeln, Schnallen usw.) zu vermarkten, und die Erscheinungsmerkmale zu einem großen Teil bereits von den Lieferanten festgelegt sind? Ist der Umstand, dass auch die Bauelemente bereits von den Lieferanten selbst in ihren Katalogen angeboten worden sind, insoweit relevant?
3. Ist Art. 14 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen, dass als „Entwerfer“ eines Musters angesehen werden kann, wer ein von einem Lieferanten in einem Katalog angebotenes älteres Muster lediglich an die Wünsche des Kunden angepasst hat („Customizing“), indem er Bauelemente, die vom Lieferanten angeboten wurden, verändert hat, ohne diese Bauelemente zu gestalten? Kann insoweit verlangt werden, dass ein bestimmter Grad von Anpassung an die Wünsche des Kunden („Customizing“ ) als Beweis dafür, dass die endgültige Form vom älteren Muster erheblich abweicht, nachgewiesen wird, um die Eigenschaft als Entwerfer beanspruchen zu können?
4. Ist unbeschadet des Vorstehenden in einem Fall wie dem vorliegenden angesichts der besonderen Merkmale von Schuhen, die auf der Grundlage von Musterbüchern von Lieferanten gestaltet wurden, soweit sich die „Gestaltungstätigkeit“ auf die Auswahl von bereits bestehenden Mustern aus einem Musterbuch und gegebenenfalls die Abänderung von einigen seiner Bauelemente entsprechend den Modetendenzen beschränkt, davon auszugehen, dass diese Modetendenzen: a) die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers insoweit beschränken, als kleine Unterschiede zwischen dem eingetragenen (oder nicht eingetragenen) Muster und dem älteren Muster genügen können, um einen anderen Gesamteindruck zu erwecken, oder dass sie im Gegenteil b) die Eigenart des eingetragenen (oder nicht eingetragenen) Musters verringern, so dass diesen Elementen oder Bauelementen, die von bekannten Modetendenzen herrühren, eine geringere Bedeutung für den Gesamteindruck, den sie beim informierten Nutzer erwecken, zukommt, wenn dieser sie mit einem anderen älteren Muster vergleicht?
16. Das Vorabentscheidungsersuchen vom 13. Dezember 2023 ist am 2. Mai 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Deity Shoes und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.
IV. Würdigung
17. Damit ein Geschmacksmuster als nicht eingetragenes oder eingetragenes „Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ nach der Verordnung Nr. 6/2002 geschützt werden kann, müssen laut ihrem Art. 4 Abs. 1 zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Das Geschmacksmuster muss „neu“ sein und „Eigenart“ haben. Ein Muster gilt als neu und erfüllt somit die erste Voraussetzung, wenn der Öffentlichkeit kein identisches Muster zugänglich gemacht wurde, und zwar entweder vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde(7 ) (im Fall nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster) oder vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung des Geschmacksmusters, das geschützt werden soll (im Fall eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster)(8 ). Die zweite Voraussetzung betreffend die „Eigenart“ des Geschmacksmusters verlangt, dass dieses beim informierten Benutzer einen Gesamteindruck hervorruft, der sich von dem unterscheidet, den ein anderes, vor den oben genannten Zeitpunkten der Öffentlichkeit zugänglich gemachtes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft(9 ).
18. Vor diesem Hintergrund laufen die Vorlagefragen des Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Alicante (Handelsgericht Nr. 1 Alicante) im Wesentlichen auf zwei Themenbereiche hinaus. Zunächst besteht (schwerpunktmäßig im ersten Teil der ersten Frage und in der dritten Frage) Klärungsbedarf darüber, ob ein Geschmacksmuster das Ergebnis einer „echten Gestaltungstätigkeit“ oder einer „geistigen Anstrengung“ des Entwerfers sein muss, damit es als Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt werden kann. Ich werde zunächst erläutern, warum diesen Gesichtspunkten im vorliegenden Fall meines Erachtens keine Bedeutung zukommt (Abschnitt A). Sodann geht es (im zweiten Teil der ersten Frage sowie in der zweiten und in der vierten Frage) darum, ob ein Geschmacksmuster als Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt werden kann, wenn es durch ältere, in den Katalogen von Lieferanten enthaltene Geschmacksmuster im Voraus festgelegt ist und sich von diesen nur geringfügig durch Anpassung bestimmter, von Modetendenzen beeinflusster Bauelemente (die ebenfalls in den Katalogen enthalten sind) an Kundenwünsche („Customizing“) unterscheidet. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Modetendenzen als eine Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers insoweit angesehen werden können, als kleine Unterschiede zwischen einem oder mehreren älteren Geschmacksmustern und dem angegriffenen Geschmacksmuster genügen können, um mit Letzterem einen anderen Gesamteindruck als mit Ersteren zu erwecken und somit „Eigenart“ im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 zu besitzen (Abschnitt B).
A. Zur Frage, ob ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster das Ergebnis einer „echten Gestaltungstätigkeit“ oder einer „geistigen Anstrengung“ sein muss (erster Teil der ersten Frage und dritte Frage)
19. Meines Erachtens ist die Antwort auf die erste vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage recht einfach.
20. Wie ich bereits erläutert habe (siehe oben, Nr. 17), müssen die Voraussetzungen der „Neuheit“ und „Eigenart“ erfüllt sein, damit ein Geschmacksmuster den Schutz als eingetragenes oder nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster genießen kann.
21. Diese beiden Voraussetzungen sind abschließend und die Verordnung Nr. 6/2002 enthält keine zusätzliche Voraussetzung, nach der beim Entwurf des Geschmacksmusters im Sinne der vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen verwendeten Terminologie eine „echte Gestaltungstätigkeit“ stattfinden oder das Geschmacksmuster das Ergebnis einer „geistigen Anstrengung“ sein müsste. Sowohl Mundorama Confort als auch Stay Design räumen nämlich vor dem vorlegenden Gericht ein, dass weder Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung (der die Schutzvoraussetzungen aufzählt) noch Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (der die Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters wegen Nichterfüllung dieser Voraussetzungen betrifft) auf eine solche „echte Gestaltungstätigkeit“ oder „geistige Anstrengung“ Bezug nehmen.
22. Außerdem habe ich den Eindruck, dass das vorlegende Gericht mit der Verwendung dieser Begriffe eigentlich eine Klarstellung begehrt, ob für den Schutz von Gemeinschaftsgeschmacksmustern eine ähnliche Voraussetzung wie die der „Originalität“ gilt, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Richtlinie 2001/29/EG(10 ) aufgestellt wurde. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass ein Gegenstand bereits dann als ein Original angesehen werden kann und den Schutz nach Art. 2 Buchst. a dieser Richtlinie genießt, wenn er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt(11 ). Die verschiedenen Teile eines „Werks“ sind somit unter der Voraussetzung geschützt, dass sie bestimmte Elemente enthalten, die die eigene geistige Schöpfung ihres Urhebers zum Ausdruck bringen(12 ).
23. Meiner Ansicht nach ist jedoch offenkundig, dass für den Schutz eines Musters als Gemeinschaftsgeschmacksmuster keine vergleichbaren Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber zum Ausdruck gebracht hat, dass „Gegenstände, die als Muster oder Modell geschützt sind, grundsätzlich nicht Gegenständen gleichgesetzt werden können, die durch die Richtlinie 2001/29 geschützte Werke darstellen“(13 ). Außerdem „[verfolgen] der Schutz von Mustern und Modellen einerseits und der urheberrechtliche Schutz andererseits grundverschiedene Ziele … und [unterliegen] unterschiedlichen Regelungen“. Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, „erfasst der Schutz von Mustern und Modellen Gegenstände, die zwar neu und individualisiert sind, aber dem Gebrauch dienen und für die Massenproduktion gedacht sind“, während „[d]emgegenüber der mit dem Urheberrecht verbundene Schutz, der deutlich länger dauert, Gegenständen vorbehalten [ist], die als Werke eingestuft werden können“(14 ).
24. Was die Frage anbelangt, ob die Voraussetzungen der „Neuheit“ und „Eigenart“ im Sinne einer „echten Gestaltungstätigkeit“ oder „geistigen Anstrengung“ auszulegen sind, so weise ich zunächst darauf hin, dass sich diese Voraussetzungen, wie von der Kommission und Deity Shoes in ihren Erklärungen hervorgehoben, auf die Erscheinungsform und nicht auf den Entwurfsprozess des Geschmacksmusters beziehen und somit unabhängig von einer „geistigen Anstrengung“ oder schöpferischen Tätigkeit des Entwerfers sind. Tatsächlich bezeichnet der Begriff „Geschmacksmuster“ gemäß Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 6/2002 „die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt“(15 ).
25. Wie ich ferner bereits dargelegt habe, setzt der Begriff „Neuheit“ lediglich voraus, dass der Öffentlichkeit zuvor kein identisches Geschmacksmuster zugänglich gemacht wurde. Folglich ist ein Vergleich zwischen dem Muster, für das der Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster beantragt oder dessen Gültigkeit angefochten wird, und dem vorbestehenden Formenschatz der Geschmacksmuster erforderlich. Ob das in Rede stehende Geschmacksmuster auf einer besonderen „geistigen Anstrengung“ oder einer „echten Gestaltungstätigkeit“ beruht, ist hingegen nicht zu beurteilen.
26. Das Gleiche gilt für die Voraussetzung der „Eigenart“. Diesbezüglich weise ich darauf hin, dass gemäß dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 die Frage „[o]b ein Geschmacksmuster Eigenart besitzt, … danach beurteilt werden [sollte], inwieweit sich der Gesamteindruck, den der Anblick des Geschmacksmusters beim informierten Benutzer hervorruft, deutlich von dem unterscheidet, den der vorbestehende Formschatz bei ihm hervorruft, und zwar unter Berücksichtigung der Art des Erzeugnisses, bei dem das Geschmacksmuster benutzt wird oder in das es aufgenommen wird …“.
27. Dies vorausgeschickt, räume ich erstens ein, dass dieser Erwägungsgrund auch besagt, dass die Prüfung, ob ein Geschmacksmuster „Eigenart“ aufweist, unter Berücksichtigung „des jeweiligen Industriezweigs und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters“ zu erfolgen hat(16 ). Eine ähnliche Formulierung findet sich in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, der vorsieht, dass „[b]ei der Beurteilung der Eigenart … der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters berücksichtigt [wird]“. Dies könnte bedeuten, dass die „echte Gestaltungstätigkeit“ oder die „geistige Anstrengung“ bei der Entwicklung des Musters zu berücksichtigen ist.
28. Für mich ist jedoch klar, dass die Bezugnahme auf die „Gestaltungsfreiheit des Entwerfers“ im 14. Erwägungsgrund und in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht in diesem Sinne ausgelegt werden kann, ganz im Gegenteil. Die in der Einleitung erwähnte Rechtsprechung des Gerichts(17 ) zeigt nämlich, dass Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 so verstanden wurde, dass der Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht allein deshalb verweigert werden darf, weil einige Merkmale des Geschmacksmusters durch Vorgaben bedingt sind, die beispielsweise mit der technischen Funktion des Erzeugnisses zusammenhängen (ich werde auf diese Frage in Abschnitt B zurückkommen). Vereinfacht ausgedrückt darf einem Schuhmuster der Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht allein deshalb versagt werden, weil es in seiner allgemeinen Form einem Fuß ähnelt.
29. Im Rahmen der dritten Frage weist das vorlegende Gericht außerdem darauf hin, dass gemäß Art. 14 der Verordnung Nr. 6/2002 als „Entwerfer“ die Person anzusehen ist, die das Geschmacksmuster „entwickelt“ hat. Im Hinblick auf diese Bestimmung möchte dieses Gericht wissen, ob es für den Schutz eines Geschmacksmusters als Gemeinschaftsgeschmacksmuster erforderlich ist, dass die Person, die es entwickelt hat, eine „echte Gestaltungstätigkeit“ oder eine „geistige Anstrengung“ unternommen hat, um als dessen „Entwerfer“ angesehen zu werden. Wiederum teile ich diese Zweifel nicht.
30. Zunächst möchte ich festhalten, dass Art. 14 („Recht am Gemeinschaftsgeschmacksmuster“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorsieht, dass „[d]as Recht auf das Gemeinschaftsgeschmacksmuster … dem Entwerfer oder seinem Rechtsnachfolger zu[steht]“. Die Abs. 2 und 3 dieses Artikels regeln die Fälle, in denen mehrere Personen das Geschmacksmuster gemeinsam entwickelt haben bzw. das Geschmacksmuster „von einem Arbeitnehmer in Ausübung seiner Aufgaben oder nach den Weisungen seines Arbeitgebers entworfen“ wurde.
31. In Anbetracht dieser Erwägungen liegt es für mich auf der Hand, dass Art. 14 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht bezweckt, die „Neuheit“ und „Eigenart“ des Geschmacksmusters von der „echten Gestaltungstätigkeit“ oder der „geistigen Anstrengung“ des Entwerfers abhängig zu machen, sondern vielmehr festzulegen, welcher Person oder Einrichtung das Recht auf das Gemeinschaftsgeschmacksmuster zusteht.
32. In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Entwerfer“ nicht mit dem Begriff „Urheber“ aus der Richtlinie 2001/29 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte verwechselt werden darf. Bei der Auslegung dieser Richtlinie hat der Gerichtshof die Begriffe „Werk“ und „Urheber“ stets miteinander verknüpft(18 ). In der Verordnung Nr. 6/2002 wird jedoch keine ähnliche Verknüpfung zwischen „Werk“ und „Urheber“ oder vielmehr „Geschmacksmuster“ und „Entwerfer“ hergestellt. Der Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster kann ungeachtet der Person seines Entwerfers (wie seiner Persönlichkeit, seiner schöpferischen Entscheidungen oder seiner geistigen Schöpfung) gewährt werden. Art. 14 der Verordnung Nr. 6/2002 verdeutlicht, dass der Entwerfer selbst nur insoweit relevant ist, als es darum geht, welcher Person oder Einrichtung das Schutzrecht zusteht, nicht jedoch bei der Beurteilung dessen, ob das Geschmacksmuster als Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt werden kann. In diesem Sinne werden an den Urheber eines Werks gemäß der Richtlinie 2001/29 und an den Entwerfer eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters gemäß der Verordnung Nr. 6/2002 unterschiedliche Maßstäbe angelegt: Während ein Urheber ein originäres Werk schaffen muss, das seine Persönlichkeit widerspiegelt, muss ein Entwerfer lediglich ein Geschmacksmuster entwickeln, das „neu“ ist und „Eigenart“ besitzt.
33. Meines Erachtens ergibt sich aus diesen Gesichtspunkten, dass es für den Schutz eines Geschmacksmusters als Gemeinschaftsgeschmacksmuster nach der Verordnung Nr. 6/2002 nicht erforderlich ist, nachzuweisen, dass ein solches Geschmacksmuster das Ergebnis einer „echten Gestaltungstätigkeit“ oder „geistigen Anstrengung“ des Entwerfers ist. Ebenso wenig muss die Person oder Einrichtung, die das Geschmacksmuster entwickelt hat, eine solche „echte Gestaltungstätigkeit“ oder „geistige Anstrengung“ unternommen haben, um als „Entwerfer“ angesehen zu werden.
B. Zur relativen Bedeutung kleiner Unterschiede zwischen einem Geschmacksmuster und einem älteren Geschmacksmuster, wenn diese Unterschiede von Modetendenzen beeinflusst werden (zweiter Teil der ersten Frage sowie zweite und vierte Frage)
34. Der zweite vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Themenbereich (im zweiten Teil der ersten Frage sowie in der zweiten und in der vierten Frage) betrifft insbesondere die in Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 geregelte Voraussetzung der „Eigenart“ des Geschmacksmusters.
35. Zunächst möchte ich daran erinnern, dass das Gericht festgestellt hat, dass ein Geschmacksmuster „Eigenart“ besitzt, wenn es einen Gesamteindruck der Unähnlichkeit oder des Fehlens eines „déjà vu“ aus der Sicht des informierten Benutzers im Vergleich zum vorbestehenden Formschatz älterer Geschmacksmuster erweckt, ungeachtet der Unterschiede, die nicht markant genug sind, um diesen Gesamteindruck zu beeinträchtigen, aber unter Berücksichtigung von Unterschieden, die hinreichend ausgeprägt sind, um einen unähnlichen Gesamteindruck hervorzurufen(19 ).
36. Wie bereits erläutert (siehe oben, Nr. 27), muss im Rahmen dieser Beurteilung der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Geschmacksmusters herangezogen werden. Das Gericht hat anerkannt, dass in diesem Zusammenhang die Vorgaben zu berücksichtigen sind, die sich aus der technischen Funktion des Erzeugnisses (oder eines Bestandteils davon) sowie aus den auf das Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften ergeben, die zu einer Standardisierung bestimmter Merkmale führen und somit gemeinsame Merkmale aller beim betreffenden Erzeugnis verwendeten Geschmacksmuster sind(20 ).
37. Es hat ferner klargestellt, dass die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers als ein Faktor zur Beurteilung der Eigenart des betreffenden Geschmacksmusters anzusehen ist, und nicht etwa als ein eigenständiger Faktor, der den erforderlichen Differenzierungsgrad zwischen zwei Geschmacksmustern bestimmt(21 ). Konkret bedeutet dies, dass die folgende „umgekehrte Proportionalitätsregel“(22 ) gilt: Je beschränkter die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung eines Geschmacksmusters ist, desto eher reichen nach dieser Regel geringfügige Unterschiede zwischen den betreffenden Geschmacksmustern für die Erzeugung eines unterschiedlichen Gesamteindrucks beim informierten Benutzer aus.
38. Daraus folgt, dass ein hoher Grad an Gestaltungsfreiheit des Entwerfers die Schlussfolgerung untermauert, dass Geschmacksmuster ohne erhebliche Unterschiede beim informierten Benutzer denselben Gesamteindruck hervorrufen und das in Rede stehende Geschmacksmuster daher keine Eigenart besitzt. Umgekehrt stützt ein geringer Grad an Gestaltungsfreiheit des Entwerfers die Schlussfolgerung, dass hinreichend deutliche Unterschiede zwischen den Geschmacksmustern beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck hervorrufen und das in Rede stehende Geschmacksmuster daher Eigenart besitzt(23 ).
39. Auch wenn diese Ausführungen des Gerichts noch der Bestätigung durch den Gerichtshof bedürfen, stimme ich ihrem Inhalt vollumfänglich zu.
40. Ich möchte noch einmal auf das zuvor genannte Beispiel zurückkommen, das für den vorliegenden Fall von zentraler Bedeutung ist. Ein Schuh ist dafür gedacht, am Fuß getragen zu werden. Aufgrund dieser technischen Funktion muss ein Geschmacksmuster, das einen Schuh darstellt, zwangsläufig eine längliche Form aufweisen, damit es einen Fuß aufnehmen kann. Diese technische Funktion schränkt die Gestaltungsfreiheit des Designers zweifellos ein, weshalb unter diesen Umständen weniger bedeutenden Unterschieden, die beispielsweise den Absatz (Höhe und Form) oder die Form der Schuhspitze (spitz, rund oder viereckig) betreffen, gemäß der soeben erläuterten „umgekehrten Proportionalitätsregel“ im Gesamteindruck des Erzeugnisses größere Bedeutung beizumessen ist(24 ).
41. Meines Erachtens ist es nur folgerichtig, dass diesen weniger bedeutenden Unterschieden unter diesen Umständen eine größere Bedeutung zukommt. Dies steht zunächst einmal im Einklang damit, dass die Beurteilung der „Eigenart“ des Geschmacksmusters gemäß der Verordnung Nr. 6/2002 aus der Sicht des „informierten Benutzers“ erfolgen muss(25 ). Der Gerichtshof hat entschieden, dass „die Bezeichnung ‚informiert‘ voraus[setzt], dass der Benutzer, ohne dass er ein Entwerfer oder technischer Sachverständiger wäre, verschiedene Geschmacksmuster kennt, die es in dem betroffenen Wirtschaftsbereich gibt, dass er gewisse Kenntnisse in Bezug auf die Elemente besitzt, die diese Geschmacksmuster für gewöhnlich aufweisen, und dass er diese Produkte aufgrund seines Interesses an ihnen mit vergleichsweise großer Aufmerksamkeit benutzt“(26 ). Ein solcher Benutzer ist daher in der Lage, wahrzunehmen, welche Elemente des Geschmacksmusters sich aus der technischen Funktion des Erzeugnisses oder aus seiner Standardisierung aufgrund der auf dieses Erzeugnis anwendbaren geltenden gesetzlichen Vorschriften ergeben können, und den Elementen, die nicht in eine dieser beiden Kategorien fallen, eine größere Bedeutung beizumessen.
42. Zudem wäre es äußerst schwierig, ein Muster dem unionsrechtlichen Geschmacksmusterschutz zuzuführen, wenn solche weniger bedeutenden Unterschiede bei einer derart beschränkten Gestaltungsfreiheit des Entwerfers nicht ausreichend berücksichtigt würden. Im Prinzip könnte ein Wirtschaftsteilnehmer (derjenige, der als Erster ein Geschmacksmuster für das betreffende Erzeugnis hat schützen lassen) auf der Grundlage der Verordnung Nr. 6/2002 ein Monopol auf Merkmale erlangen, die praktisch alle Geschmacksmuster dieses Erzeugnisses aufweisen. Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, würde dies einem solchen Wirtschaftsteilnehmer erlauben, hinsichtlich eines Erzeugnisses von einem aus praktischer Sicht ausschließlichen Schutz, der einem Patentschutz gleichkäme, zu profitieren, ohne den für die Erlangung eines Patents geltenden Voraussetzungen zu unterliegen. Zudem könnte dies seine Konkurrenten daran hindern, ein Erzeugnis mit bestimmten funktionellen Merkmalen anzubieten, oder es würde die möglichen technischen Lösungen einschränken(27 ). Dies würde den Zielen des unionsrechtlichen Geschmacksmusterrechts zuwiderlaufen, die laut dem 7. Erwägungsgrund dieser Verordnung darin bestehen, einen „verbesserte[n] Schutz für gewerbliche Geschmacksmuster“ zu gewährleisten und zur „Innovation und zur Entwicklung neuer Erzeugnisse sowie zu Investitionen für ihre Herstellung“ zu ermutigen. Damit würde auch Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, dem zufolge „[e]in Gemeinschaftsgeschmacksmuster … nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind“, besteht, die praktische Wirksamkeit genommen.
43. Im Anschluss an diese Ausführungen bleibt zu klären, ob „Modetendenzen“ das Erscheinungsbild eines Geschmacksmusters in gleicher Weise beschränken können wie die technische Funktion oder die Standardisierung bestimmter Merkmale des Erzeugnisses. Sollte dies der Fall sein, dann könnten, wie das vorlegende Gericht in der vierten Frage darlegt, kleine (oder weniger bedeutende) Unterschiede zwischen dem in Rede stehenden eingetragenen oder nicht eingetragenen Geschmacksmuster und einem älteren Geschmacksmuster genügen, um mit dem in Rede stehenden Geschmacksmuster beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck zu erwecken.
44. Das Gericht hat insoweit festgestellt, dass die Frage, ob ein Geschmacksmuster einer allgemeinen Designtendenz folgt, für die Beurteilung einer etwaigen Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers nicht relevant ist. Es hat diese Klarstellung erstmals in dem Urteil in der Rechtssache Shenzhen Taiden/HABM – Bosch Security Systems (Fernmeldegeräte) vorgenommen (28 ). Bei dem betreffenden Geschmacksmuster handelte es sich um eine Konferenzeinheit (d. h. das in der Regel vorne auf jedem Tisch in einem Konferenzraum stehende System aus Lautsprecher und Mikrofon). Die Klägerin hatte geltend gemacht, dass viele Elemente des Geschmacksmusters nicht nur durch die technische Funktion des Geräts, sondern auch durch eine allgemeine Tendenz, vorzugsweise kleine, flache und rechteckige Geräte zu verwenden, die oftmals mit Scharnieren versehene Elemente aufwiesen, bedingt seien. Das Gericht hat dieses Vorbringen zurückgewiesen. In einem späteren Urteil erläuterte das Gericht, dass die Betrachtung einer allgemeinen Designtendenz als Faktor, der die Freiheit des Entwerfers beschränke, verneint wurde, da es gerade diese Freiheit sei, die es dem Entwerfer erlaube, neue Formen und Tendenzen zu entdecken oder innerhalb einer bestehenden Tendenz Neues zu schaffen(29 ).
45. Meines Erachtens bietet der vorliegende Fall dem Gerichtshof Gelegenheit, diesen Ansatz zu bestätigen.
46. Denn erstens bezweckt die Verordnung Nr. 6/2002 nicht den Schutz von Merkmalen, die sich aus der technischen Funktion eines Erzeugnisses oder aus den auf dieses Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften ergeben, sondern sie wurde vielmehr eingeführt, um u. a. von Modetendenzen beeinflusste Merkmale als Bauelemente eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters schützen zu können(30 ). Die Modebranche produziert eine Vielzahl von „Kollektionen“, die eine relativ kurze Lebensdauer auf dem Markt haben. Dies macht einen effizienten Geschmacksmusterschutz mit kurzer Laufzeit erforderlich, der mit dem durch diese Verordnung geschaffenen System vereinbar ist(31 ).
47. Zweitens fördert der Schutz von durch Modetendenzen beeinflussten Merkmalen die Innovation und entspricht somit dem Ziel der Verordnung Nr. 6/2002, auf das ich oben in Nr. 42 hingewiesen habe. In Modemagazinen wird derzeit beispielsweise auf einen Trend aufmerksam gemacht, bei dem verschiedene Arten von Schuhen – darunter Ballerinas, Sneaker und Cowboystiefel – mit der sogenannten „Mary-Jane-Schnalle“ versehen werden(32 ). Wenn diese Muster dem unionsrechtlichen Schutzsystem für Geschmacksmuster unterliegen, werden andere Wirtschaftsteilnehmer oder Entwerfer daran gehindert, sie zu kopieren und gleichzeitig ermutigt, neue Muster zu entwickeln.
48. Drittens unterscheiden sich von Modetendenzen beeinflusste Merkmale auch insofern von solchen, die mit der technischen Funktion des Erzeugnisses oder den auf dieses Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften zusammenhängen, als Letztere sowohl unvermeidlich (in dem Sinne, dass alle Geschmacksmuster des fraglichen Erzeugnisses ihnen zwingend entsprechen müssen) als auch dauerhaft oder langlebig sind. Meines Erachtens ist schwer erkennbar, wie eine ähnliche Schlussfolgerung für von Modetendenzen beeinflusste Merkmale, die naturgemäß vergänglich sind, gelten könnte.
49. Ich möchte hinzufügen, dass Designtendenzen untrennbar mit den „Erwartungen des Marktes“ verbunden sind, die naturgemäß starken Schwankungen unterliegen. Insoweit hat das Gericht bereits entschieden, dass die Erwartungen der Verbraucher keine normative Vorgabe darstellen, die die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers zwingend einschränken, und dass der Umstand, dass eine allgemeine Designtendenz geeignet ist, die Erwartungen der betroffenen Verbraucher zu erfüllen, nicht als ein Faktor angesehen werden kann, der die Freiheit des Entwerfers beschränkt, und zwar weil es diese Freiheit dem Entwerfer erlaubt, neue Formen und neue Linien zu entdecken oder innerhalb einer bestehenden Tendenz Neues zu schaffen. Folglich dürfen die „potenziellen Erwartungen des Marktes“ nicht berücksichtigt werden, um den Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers zu bestimmen(33 ).
50. In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich der Auffassung, dass Modetendenzen nicht als eine Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers insoweit angesehen werden können, als kleine Unterschiede zwischen älteren Geschmacksmustern und seinem nicht eingetragenen oder eingetragenen Geschmacksmuster genügen können, um mit Letzterem einen anderen Gesamteindruck als mit Ersteren zu erwecken und somit „Eigenart“ im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 zu besitzen.
51. Im Anschluss an diese Ausführungen erinnere ich daran, dass Mundorama Confort und Stay Design vor dem vorlegenden Gericht offenbar die Auffassung vertreten, dass die angegriffenen Geschmacksmuster keine „Eigenart“ im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 aufwiesen, da sie auf älteren, in den Katalogen der Lieferanten enthaltenen Geschmacksmustern beruhten und sich nur geringfügig durch eine an die Kundenwünsche angepasste Gestaltung („Customizing“) beispielsweise der Sohle, der Schnürsenkel oder der Schnallen von diesen unterschieden.
52. Insoweit weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass ein Geschmacksmuster auch dann als Gemeinschaftsgeschmacksmuster schutzfähig sein kann, wenn es sich aus spezifischen Elementen oder Teilen älterer Geschmacksmuster zusammensetzt, solange es beim Benutzer einen anderen Gesamteindruck hervorruft als diese bestimmten, einzeln benannten älteren Geschmacksmuster(34 ).
53. Meines Erachtens darf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht allein deshalb für nichtig erklärt werden, weil die Anpassung eines oder mehrerer älterer Geschmacksmuster an die Wünsche des Kunden („Customizing“) nur in begrenztem Umfang erfolgt. Diese Schlussfolgerung steht im Einklang mit den Zielen der Verordnung Nr. 6/2002, auf die ich in Nr. 42 hingewiesen habe.
C. Auswirkungen auf das Ausgangsverfahren
54. Die im vorigen Abschnitt gezogenen Schlussfolgerungen veranlassen mich zu den folgenden Bemerkungen bezüglich des Ausgangsverfahrens.
55. Zum einen bedeutet der bloße Umstand, dass die Unterschiede zwischen den angegriffenen Geschmacksmustern und den älteren, in den Katalogen der Lieferanten von Deity Shoes enthaltenen Geschmacksmustern (konkret die Anpassung von Bauelementen im Zusammenhang mit der Sohle, den Schnürsenkeln oder den Schnallen des in den angegriffenen Geschmacksmustern dargestellten Schuhs an die Wünsche des Kunden [„Customizing“]) auf Modetendenzen beruhen, nicht zwangsläufig, dass diesen Elementen bei der Beurteilung des Gesamteindrucks, den diese Geschmacksmuster beim „informierten Benutzer“ hervorrufen, und damit ihrer „Eigenart“, eine geringere Bedeutung beizumessen ist. Anders als die technische Funktion des Erzeugnisses oder die gesetzlichen Vorschriften, denen es unterworfen sein kann (und die zu einer gewissen Standardisierung des Erzeugnisses führen), dürfen Modetendenzen nicht als eine Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers angesehen werden. Wie das oben in Nr. 47 erwähnte Beispiel der „Mary-Jane-ifizierung“ von Schuhen zeigt, kann das Anbringen einer Schnalle an einem Schuh (mitunter) viel dazu beitragen, einen anderen Gesamteindruck hervorzurufen und dem Schuh somit „Eigenart“ zu verleihen. Ebenso steht der bloße Umstand, dass die angegriffenen Geschmacksmuster durch die Anpassung älterer Geschmacksmuster an die Wünsche des Kunden („Customizing“) entstanden sind, ihrem Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht entgegen und darf für sich genommen nicht zu ihrer Nichtigkeit führen.
56. Zum anderen hängt die Beurteilung, ob die angegriffenen Geschmacksmuster „Eigenart“ im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 besitzen und als Gemeinschaftsgeschmacksmuster schutzfähig sind, weiterhin davon ab, ob die Unterschiede zwischen diesen Geschmacksmustern und den älteren Geschmacksmustern hinreichend ausgeprägt sind oder nur unwesentliche Einzelheiten betreffen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu beurteilen. Insoweit beschränke ich mich auf den Hinweis, dass die Verordnung Nr. 6/2002 nicht darauf abzielt, ein Geschmacksmuster als Gemeinschaftsgeschmacksmuster zu schützen, das – abgesehen von unwesentlichen Unterschieden – eine bloße Kopie eines älteren Geschmacksmusters ist und beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck als ein solches älteres Geschmacksmuster hervorruft.
V. Ergebnis
57. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Alicante (Handelsgericht Nr. 1 Alicante, Spanien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
1. Die Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster
ist dahin auszulegen, dass es für den Schutz eines Geschmacksmusters als Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht erforderlich ist, dass eine „echte Gestaltungstätigkeit“ vorliegt oder dass das Geschmacksmuster das Ergebnis der „geistigen Anstrengung“ des Entwerfers ist. Ebenso wenig muss die Person oder Einrichtung, die das Geschmacksmuster entwickelt hat, eine solche „echte Gestaltungstätigkeit“ oder „geistige Anstrengung“ unternommen haben, um als der „Entwerfer“ angesehen zu werden.
2. Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002
ist dahin auszulegen, dass Modetendenzen im Gegensatz zu Vorgaben, die sich aus der technischen Funktion des Erzeugnisses oder den auf dieses Erzeugnis anwendbaren gesetzlichen Vorschriften ergeben, nicht als eine Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers insoweit angesehen werden können, als kleine Unterschiede zwischen einem oder mehreren älteren Geschmacksmustern und dem angegriffenen Geschmacksmuster genügen, um mit Letzterem beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck als mit Ersteren zu erwecken und somit „Eigenart“ im Sinne dieser Bestimmung zu besitzen. Folglich kann ein Geschmacksmuster, das sich von einem älteren Geschmacksmuster nur in unwesentlichen, von Modetendenzen beeinflussten Einzelheiten unterscheidet, keine „Eigenart“ im Sinne dieser Bestimmung besitzen und nicht als Gemeinschaftsgeschmacksmuster schutzfähig sein.