C-687/23 – Banco Santander (Résolution bancaire Banco Popular III)

C-687/23 – Banco Santander (Résolution bancaire Banco Popular III)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:93

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 13. Februar 2025(1)

Rechtssache C687/23

D. E.

gegen

Banco Santander, SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Oberster Gerichtshof, Spanien])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2014/59/EU – Rahmen für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten – Abwicklung von Banco Popular – Zwangsweise Übertragung von Aktien ohne Gegenleistung – Vor Erlass des Abwicklungsbeschlusses erhobene Klage auf Nichtigerklärung und Haftungsklage – Begriff ‚angefallene‘ Verbindlichkeit – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf “

I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen reiht sich ein in die Rechtsprechung, die auf die Abwicklung der spanischen Bank Banco Popular Español, S.A. (im Folgenden: Banco Popular) am 7. Juni 2017 folgte(2).

2.        Durch diese Abwicklung verloren zahlreiche natürliche und juristische Personen ihre Anlagen. Dies führte zu einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten vor nationalen Gerichten und Unionsgerichten.

3.        Unter diesen Streitigkeiten gibt es einige Fälle, in denen die Nichtigerklärung und Rückerstattung gezahlter Beträge oder Schadensersatz gefordert werden, mit der Begründung, Banco Popular habe beim Verkauf gewisser Finanzinstrumente an natürliche und juristische Personen bestimmte Transparenzanforderungen und verbraucherrechtliche Anforderungen nicht eingehalten. Bei diesen Klagen geht es also nicht um den Wertverlust, den die Instrumente infolge der Abwicklung erlitten haben, sondern um die behauptete Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Zeichnung der betreffenden Instrumente.

4.        In seinen Urteilen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular)(3) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II)(4) hat der Gerichtshof entschieden, dass derartigen gerichtlichen Verfahren, soweit sie nach dem Datum des Abwicklungsbeschlusses eingeleitet wurden, die Richtlinie 2014/59/EU (im Folgenden: BRRD) entgegensteht(5).

5.        Das Novum in der vorliegenden Rechtssache besteht darin, dass der Rechtsstreit im Ausgangsverfahren eingeleitet wurde, bevor die Abwicklung erfolgte. Macht dies einen Unterschied? Das ist im Wesentlichen die Frage, die dem Gerichtshof im vorliegenden Fall gestellt wird.

II.    Sachverhalt, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

6.        Im Jahr 2009 emittierte Banco Popular Anleihen mit der Bezeichnung „Bonos Subordinados Canjeables por Obligaciones Subordinadas de Banco Popular Español, S.A. I/2009“ (im Folgenden: nachrangige Anleihen I/2009).

7.        Am 3. Oktober 2009 zeichnete D. E. in seiner Eigenschaft als alleiniger Geschäftsführer der Gesellschaft Lera Blava, S.L.U. (im Folgenden: Gesellschaft) für diese Gesellschaft 15 solcher Wandelanleihen zu einem Gesamtbetrag von 15 000 Euro.

8.        Am 25. Mai 2012 stimmte D. E., auch im Namen der Gesellschaft handelnd, dem Umtausch der nachrangigen Anleihen I/2009 mit Fälligkeit im Oktober 2013 in andere nachrangige Pflichtwandelanleihen (im Folgenden: nachrangige Anleihen II/2012) zu. Letztere wurden im November 2015 fällig.

9.        Am 14. Januar 2013 übertrug die Gesellschaft als Zahlung ausstehender Gehälter das Eigentum an diesen Wandelanleihen an D. E.

10.      Am 25. November 2015 erfolgte die in den Emissionsbedingungen vorgesehene Pflichtwandlung der nachrangigen Anleihen II/2012 in Aktien von Banco Popular. Damit wurde D. E. Aktionär von Banco Popular.

11.      Am 6. Oktober 2016 erhob D. E. im eigenen Namen Klage gegen Banco Popular mit dem Antrag auf Nichtigerklärung der nachrangigen Anleihen I/2009 und II/2012 wegen irrtumsbedingten Nichtzustandekommens der nach Unionsrecht, insbesondere der MiFID‑I-Richtlinie(6), erforderlichen Einigung sowie auf Erstattung des ursprünglich angelegten Betrags. Hilfsweise beantragte D. E. den Ersatz des Schadens, der dadurch entstanden sei, dass die Gesellschaft die sich aus der MiFID‑I-Richtlinie ergebenden Informationspflichten nicht erfüllt habe.

12.      Am 31. Mai 2017 gab der Juzgado de Primera Instancia (Gericht erster Instanz, Spanien) dem von D. E. gestellten Antrag auf Nichtigerklärung statt und erklärte die Zeichnung der nachrangigen Anleihen I/2009 und II/2012 für nichtig(7). Ausweislich der nationalen Akte stellte das Gericht fest, dass Banco Popular keinerlei Beurteilung der „Angemessenheit“ in Bezug auf D. E. – sei es in dessen persönlicher Eigenschaft oder als Geschäftsführer der Gesellschaft – vornahm, um festzustellen, ob D. E., in diesen Eigenschaften, über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen verfügte, um die Risiken im Zusammenhang mit den in Rede stehenden Wandelanleihen zu erfassen(8). Banco Popular Español legte gegen dieses Urteil Berufung ein zur Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante, Spanien).

13.      Am 7. Juni 2017 erließ der Einheitliche Abwicklungsausschuss den Abwicklungsbeschluss für Banco Popular, der von der Kommission am selben Tag genehmigt wurde.

14.      Die Abwicklung, für die das Bail-in‑Instrument und das Instrument der Unternehmensveräußerung(9) kombiniert wurden, erfolgte im Einzelnen wie folgt: Im ersten Schritt wurde der Wert der bestehenden Aktien von Banco Popular durch Anwendung des Bail-in‑Instruments auf null herabgesetzt. Im nächsten Schritt wurden diese Aktien gelöscht. Genauso wurde mit den durch die Umwandlung eines Teils der ausstehenden Verbindlichkeiten von Banco Popular (Tier‑1-Verbindlichkeiten) entstandenen Aktien verfahren. Ein anderer Teil dieser ausstehenden Verbindlichkeiten (Tier‑2-Verbindlichkeiten) wurde in neue Aktien umgewandelt, die an Banco Santander S.A. (im Folgenden: Banco Santander) übertragen wurden. Sodann wurde Banco Popular an Banco Santander, die Beklagte im Ausgangsverfahren, veräußert, die im Wege der Verschmelzung durch Aufnahme sämtliche verbleibenden Vermögenswerte der Banco Popular erwarb, deren Rechtspersönlichkeit damit erlosch. Auch im Ausgangsverfahren ist Banco Santander die Rechtsnachfolgerin von Banco Popular.

15.      Am 29. März 2019 wurde das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts von der Audiencia Provincial (Provinzgericht) mit der Begründung aufgehoben, dass es für D. E. schon an der Klagebefugnis fehle. Die Klage hätte vielmehr von der Gesellschaft erhoben werden müssen.

16.      Gegen das Urteil legte D. E. Kassationsbeschwerde zum Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) ein. Obwohl sich beide Parteien dagegen aussprachen, beschloss der Oberste Gerichtshof, in der vorliegenden Sache um Vorabentscheidung zu ersuchen. Nach Angaben des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) hat die unterschiedliche Auslegung u. a. von Art. 53 Abs. 3 der BRRD durch spanische Gerichte zur Einlegung zahlreicher Rechtsmittel zum Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) geführt; für die Lösung einiger dieser Fälle dürften Auslegungshinweise des Gerichtshofs von Nutzen sein.

17.      Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind die Bestimmungen in Art. 34 Abs. 1 Buchst. a und b in Verbindung mit Art. 53 Abs. 1 und 3 sowie Art. 60 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b und c BRRD dahin auszulegen, dass etwaige Forderungen oder Ansprüche, die sich aus einer Verurteilung des Nachfolgeunternehmens von Banco Popular zur Leistung von Schadensersatz infolge einer Haftungsklage aufgrund der Vermarktung von Finanzprodukten (in Aktien der Bank umwandelbare nachrangige Pflichtwandelanleihen), die nicht zu den Instrumenten des zusätzlichen Kapitals gehören, auf die sich die Maßnahmen zur Abwicklung von Banco Popular beziehen, und die vor Beschluss der Maßnahmen zur Abwicklung von Banco Popular (7. Juni 2017) in Aktien umgewandelt wurden, ergeben, als „nicht angefallene“ Verpflichtungen oder Ansprüche und damit als unter die Regelung über Herabschreibungen oder Löschungen in Art. 53 Abs. 3 BRRD fallende Verbindlichkeiten eingestuft werden können, so dass sie als erfüllt gelten und gegen Banco Santander als Nachfolgeunternehmen von Banco Popular nicht geltend gemacht werden können, wenn die Klage, aus der sich die Verurteilung zu Schadensersatz ergeben würde, vor Abschluss des Abwicklungsverfahrens der Bank erhoben wurde?

2.      Oder sind die genannten Bestimmungen vielmehr dahin auszulegen, dass es sich bei diesen Forderungen oder Ansprüchen um zum Zeitpunkt der Abwicklung der Bank „angefallene“ Forderungen bzw. „angefallene“ Ansprüche – Art. 53 Abs. 3 BRRD – oder „bereits angefallene Verbindlichkeiten“ – Art. 60 Abs. 2 Buchst. b – handelt, die als solche von der Folge der Erfüllung oder Löschung dieser Verpflichtungen oder Ansprüche ausgeschlossen sind und folglich gegenüber Banco Santander als Nachfolgeunternehmen von Banco Popular geltend gemacht werden können, wenn die Klage, aus der sich die Verurteilung zu Schadensersatz ergeben würde, vor Abschluss des Abwicklungsverfahrens der Bank erhoben wurde?

III. Würdigung

A.      Hintergrund, Vorbringen der Parteien und Gliederung der vorliegenden Schlussanträge

18.      Die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft die Auslegung des Begriffs „Anfall“, so wie dieser in Art. 53 Abs. 3 und Art. 60 Abs. 2 Buchstabe b BRRD verwendet wird.

19.      Art. 53 Abs. 3 BRRD bestimmt:

„Kürzt eine Abwicklungsbehörde den Nennwert oder den geschuldeten Restbetrag einer Verbindlichkeit unter Wahrnehmung der in Artikel 63 Absatz 1 Buchstabe e genannten Befugnis auf null, gelten die betreffende Verbindlichkeit und etwaige daraus resultierende Verpflichtungen oder Ansprüche, die zum Zeitpunkt der Ausübung der Befugnis noch nicht angefallen sind, als erfüllt und können in einem späteren, das in Abwicklung befindliche Institut oder ein etwaiges Nachfolgeunternehmen betreffenden Liquidationsverfahren nicht geltend gemacht werden“(10).

20.      Die einschlägige Stelle in Art. 60 Abs. 2 BRRD bestimmt:

„(2)      Wird der Nennwert eines relevanten Kapitalinstruments herabgeschrieben, so

b)      besteht abgesehen von etwaigen bereits angefallenen Verbindlichkeiten und einer etwaigen Haftung für Schäden, die sich aus einem in Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Ausübung der Herabschreibungsbefugnis eingelegten Rechtsmittel ergeben kann, bei oder in Verbindung mit diesem Betrag des Instruments, der herabgeschrieben worden ist, gegenüber dem Inhaber des relevanten Kapitalinstruments keinerlei Verbindlichkeit mehr“(11).

21.      In der BRRD wird der Begriff „Anfall“ nicht definiert. Hinzu kommt, dass in einigen Sprachfassungen der BRRD in Art. 53 Abs. 3 und Art. 60 Abs. 2 Buchstabe b jeweils dasselbe Wort verwendet wird, wohingegen in anderen – u. a. in der spanischen Fassung – zwei verschiedene Wörter verwendet werden(12). Die Bestimmung des gemeinsamen Verständnisses dieses Begriffs wird dadurch erschwert.

22.      Dass jedenfalls in der Richtlinie nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen wird, um dem Begriff Bedeutung zu verleihen, zeigt jedoch, dass dem Begriff eine autonome unionsrechtliche Bedeutung zuzuschreiben ist(13).

23.      Im Hinblick darauf, dass „angefallene“ Verbindlichkeiten nicht vom Bail-in erfasst werden, spricht der Wortlaut sowohl von Art. 53 Abs. 3 als auch von Art. 60 Abs. 2 Buchst. b BRRD dafür, dass die Entscheidung, ob eine Verbindlichkeit „angefallen“ ist oder nicht, Folgen hat. Gemäß Art. 60 Abs. 2 Buchst. b BRRD „besteht“ nämlich gegenüber dem Inhaber des relevanten herabgeschriebenen Kapitalinstruments keinerlei Verbindlichkeit „mehr“, wohingegen eine Verbindlichkeit der betreffenden Person gegenüber fortbesteht, sofern deren Anspruch zu dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss gefasst wird, „angefallen“ ist.

24.      Zudem wird in Art. 53 Abs. 3 BRRD der Begriff „geschuldeter Restbetrag“ verwendet; dieser Betrag wird bei Verwendung des Bail-in‑Instruments gekürzt. In der genannten Vorschrift wird klargestellt, dass die Anwendung dieses Instruments durch die Abwicklungsbehörden bewirkt, dass lediglich die geschuldeten Verpflichtungen der in Abwicklung befindlichen Bank – d. h. lediglich die bestehenden, aber noch nicht zahlbaren (d. h. fälligen) Schulden – als erfüllt gelten. Dies lässt vermuten, dass der Begriff „Anfall“, anhand dessen in diesem Zusammenhang bestimmt wird, ob eine Verbindlichkeit vom Bail-in ausgenommen ist, diejenigen Verpflichtungen betrifft, die eine Bank bereits eingegangen ist und die im Zeitpunkt des Abwicklungsbeschlusses bereits zahlbar (d. h. fällig) sind.

25.      Wird in dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss ergeht, vor einem Gericht über die Verpflichtung zur Entschädigung von Gläubigern für Rechtswidrigkeiten im Zusammenhang mit dem Erwerb von der Bank ausgegebener Finanzinstrumente gestritten, so ist diese Verpflichtung als „etwaige“ Verbindlichkeit der in Abwicklung befindlichen Bank anzusehen. Bis zur gerichtlichen Entscheidung über die Verpflichtung ist deren Bestehen ungewiss. Wird jedoch die Zahlungsverpflichtung gerichtlich bestätigt, so ergeben sich die daraus resultierende Verbindlichkeit und deren Fälligkeit rückwirkend, d. h. mit Wirkung vor dem Datum des Abwicklungsbeschlusses.

26.      Sind solche „etwaigen“ Verbindlichkeiten in dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss ergeht, „angefallen“ im Sinne der BRRD?

27.      Zwei Auslegungen kommen in Betracht.

28.      Einerseits könnte man derartige Verbindlichkeiten als „angefallen“ ansehen, da im Fall ihrer gerichtlichen Bestätigung feststünde, dass sie bereits vor dem Abwicklungsbeschluss bestanden hätten und deshalb zahlbar gewesen wären. Andererseits könnte man derartige Verbindlichkeiten wegen ihrer Abhängigkeit vom Ausgang eines Gerichtsverfahrens als im Zeitpunkt des Abwicklungsbeschlusses lediglich „etwaig“ angefallen ansehen. Mit anderen Worten: Sie könnten als im Zeitpunkt der Abwicklung ausstehende Schulden verstanden und deshalb als „nicht angefallen“ angesehen werden.

29.      Nach der vom Gerichtshof in den Urteilen in den Rechtssachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) vorgenommenen Auslegung sind solche erst nach Erlass des Abwicklungsbeschlusses gerichtlich geltend gemachten „etwaigen“ Verbindlichkeiten nicht angefallen, sodass sie vom Bail-in-Beschluss erfasst werden. Dies hat die Wirkung, dass Gläubiger solcher „etwaigen“ Verbindlichkeiten beim Bail-in ihre Ansprüche gegen die in Abwicklung befindliche Bank verlieren. Dieser Verlust hat offensichtlich Einfluss auf die aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte der Gläubiger, u. a. auf das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Dennoch hat der Gerichtshof in den genannten Urteilen entschieden, dass das öffentliche Interesse an der Vermeidung eines finanziellen Zusammenbruchs und an der Aufrechterhaltung der Finanzstabilität die aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte der Gläubiger überwiegt.

30.      Unter Bezugnahme auf diese beiden Urteile sind Banco Santander wie auch die Regierungen Spaniens, Italiens und Portugals alle der Auffassung, dass Verbindlichkeiten, die sich aus Gerichtsverfahren ergeben könnten, selbst wenn das Gerichtsverfahren vor dem Abwicklungsbeschluss eingeleitet worden sein sollte, nicht als „angefallen“ anzusehen seien.

31.      Dazu erklären sie, dass derartige Ansprüche wahrscheinlich mit einem Abfluss von Mitteln der in Abwicklung befindlichen Bank verbunden wären und somit möglicherweise die Wirksamkeit des Abwicklungsbeschlusses beeinträchtigen würden. Deshalb seien lediglich Ansprüche oder Rechte, die durch Urteil eines zuständigen nationalen Gerichts vor dem Datum des Abwicklungsbeschlusses als fällig festgestellt worden seien, als „angefallen“ im Sinne der BRRD anzusehen.

32.      Die Kommission ist jedoch gegenteiliger Auffassung: Unter den Begriff „Anfall“, so wie er in Art. 53 Abs. 3 BRRD verwendet werde, solle auch eine Verbindlichkeit oder Verpflichtung fallen, die im Abwicklungszeitpunkt nur „vorläufig“ fällig sei und durch ein späteres Urteil, selbst wenn dieses erst nach dem Abwicklungsbeschluss erginge, lediglich bestätigt würde.

33.      Nach Ansicht der Kommission ergibt sich diese Auslegung aus der Anforderung in Art. 36 BRRD, dass eine „faire, vorsichtige und realistische“ Bewertung vorzunehmen ist. Eine solche Bewertung müsse auch Eventualverbindlichkeiten aus anhängigen Gerichtsverfahren berücksichtigen. Überdies scheine es nicht gerechtfertigt, einer Person Schadensersatz zu verweigern, die diesen bereits vor dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss erging, gerichtlich geltend gemacht hatte.

34.      Der vorliegende Fall wirft also die Frage auf, ob die Abwägung zwischen dem Interesse an Finanzstabilität und dem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für aus dem Unionsrecht erwachsende und bereits vor dem Abwicklungsbeschluss gerichtlich geltend gemachte Gläubigerrechte genauso ausfallen muss wie bei Klagen, die erst nach dem Abwicklungsbeschluss erhoben wurden.

35.      Der Form nach wird diese Frage als Ersuchen um Hinweis dazu gestellt, ob „etwaige“ Verbindlichkeiten, die in dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss ergeht, bereits Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sind, als „angefallen“ im Sinne der BRRD anzusehen sind. Um diese Frage zu beantworten, werde ich wie folgt vorgehen. Zunächst werde ich erklären, weshalb ich dieses Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erachte (B). In der Sache werde ich zunächst kurz die Überlegung rekapitulieren, die den beiden Urteilen des Gerichtshofs zugrunde liegt, in denen dieser entschieden hat, dass die BRRD Klagen, die nach dem Abwicklungsbeschluss erhoben werden, entgegensteht (C). Sodann werde ich mich der Frage zuwenden, ob diese Überlegung auch auf Klagen zutrifft, die vor dem Abwicklungsbeschluss erhoben wurden (D). Meine Würdigung wird mich dazu führen, vorzuschlagen, dass der Gerichtshof feststellt, dass der Zweck des mit der BRRD aufgestellten Abwicklungsrahmens das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf für die Geltendmachung aus dem Unionsrecht erwachsender Verbraucher- und Anlegerrechte nicht zu überwiegen vermag, wenn die betreffenden Rechte vor dem Abwicklungsbeschluss gerichtlich geltend gemacht werden (IV).

B.      Zulässigkeit

36.      Banco Santander hält dieses Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen seien für die Entscheidung des Streits im Ausgangsverfahren nicht von Belang, da nach Angaben von Banco Santander das nationale Gericht davon abgesehen haben soll, die Klagebefugnis des Klägers in der ersten Instanz nach nationalem Recht zu prüfen.

37.      Insoweit erinnere ich daran, dass die Prüfung der Erforderlichkeit und Erheblichkeit der Vorlagefragen grundsätzlich im Verantwortungsbereich des nationalen Gerichts liegt, weshalb für dessen Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage nur ablehnen, wenn die Antwort offensichtlich in keiner Weise für den Ausgangsrechtsstreit von Nutzen sein kann(14).

38.      Die spanische Regierung erklärt, dass das vorlegende Gericht auf die Beantwortung der Vorlagefragen angewiesen sei, da das vorlegende Gericht, falls der Gerichtshof befände, dass die BRRD einer solchen Klage entgegenstünde, die Klage von D. E. abweisen müsste, ohne dass es erforderlich wäre, zunächst zu prüfen, ob dieser überhaupt klagebefugt gewesen wäre.

39.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist also nicht offensichtlich unzulässig. Deshalb sollte der Gerichtshof die Fragen des vorlegenden Gerichts beantworten.

C.      Die beiden früheren Urteile und der Sachverhalt im vorliegenden Fall

40.      Wie bereits erwähnt, ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vor dem Hintergrund der beiden Urteile in den Sachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) zu sehen. In diesen Urteilen hat der Gerichtshof entschieden, dass der Beschluss, Banco Popular  abzuwickeln, der Einleitung von Gerichtsverfahren entgegenstand, mit denen die Kläger jeweils Schadensersatz forderten, weil bestimmte Vorschriften über die Vermarktung von Finanzinstrumenten von Banco Popular nicht eingehalten worden seien.

41.      Die Rechtssache, in der das Urteil Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) erging, betraf eine Nichtigkeitsklage, die von zwei natürlichen Personen erhoben wurde, die 2016 im Zuge einer Kapitalerhöhung, die Gegenstand eines öffentlichen Angebots gewesen war, Aktien von Banco Popular erworben hatten. Im Jahr 2018, nach der Abwicklung der Bank und der Herabsetzung ihres Stammkapitals auf null, machten diese natürlichen Personen geltend, dass ihre ursprüngliche Einwilligung in den Aktienkaufvertrag u. a. wegen unvollständiger oder ungenauer Angaben in dem in Rede stehenden Prospekt ungültig gewesen sei. Im erstinstanzlichen Urteil war das nationale Gericht der Auffassung, dass die Vorschriften über die sich aus dem Unionsrecht ergebende zivilrechtliche Haftung für Prospektangaben, so wie diese in der Prospektrichtlinie(15) niedergelegt sind, Vorrang haben könnten gegenüber den durch die BRRD auferlegten Grundsätzen des Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten(16). Es befand den in Rede stehenden Aktienkaufvertrag deshalb für nichtig und ordnete die Rückgewähr des von den Klägern gezahlten Betrags nebst Zinsen an(17).

42.      Diese Auslegung hat der Gerichtshof nicht bestätigt. In seiner Vorabentscheidung, um die im Zuge des Rechtsmittelverfahrens ersucht wurde, hat der Gerichtshof vielmehr entschieden, dass nach der BRRD von Rechten, die auf anderen unionsrechtlichen Instrumenten beruhen, abgewichen werden kann. Der Ausnahmecharakter des Abwicklungsverfahrens, so der Gerichtshof, „bedeutet, dass die Anwendung anderer Bestimmungen des Unionsrechts ausgeschlossen werden kann, wenn diese geeignet sind, dem Abwicklungsverfahren die praktische Wirksamkeit zu nehmen oder dessen Durchführung zu erschweren“(18).

43.      Um die volle Wirksamkeit des in der BRRD vorgesehenen Abwicklungsverfahrens sicherzustellen, ist es deshalb Aktionären, deren Aktien durch einen Abwicklungsbeschluss erloschen sind, verwehrt, Klage auf Nichtigerklärung oder Schadensersatz zu erheben, nachdem der Abwicklungsbeschluss ergangen ist.

44.      Diese Überlegung hat der Gerichtshof in der Rechtssache Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) auch auf Klagen erstreckt, die von Anleiheinhabern erhoben wurden, deren Anleihen vor der Abwicklung in Aktien umgewandelt und dann gelöscht worden waren(19), sowie auf Klagen von Anleiheinhabern, deren Anleihen während der Abwicklung in Aktien umgewandelt, aber dann ohne Gegenleistung an Banco Santander übertragen worden waren(20). Wie in der Rechtssache Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) hatten auch die Gläubiger in der Rechtssache Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) nach der Abwicklung Klage auf Nichtigerklärung und Haftungsklage erhoben und die Klage auf die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Zeichnung der später in Aktien umgewandelten Finanzinstrumente gestützt(21). Auch in diesen beiden Fällen hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Haftungsklage oder Klage auf Nichtigerklärung der ursprünglichen Anleihen nicht erhoben werden kann, nachdem der Abwicklungsbeschluss ergangen ist(22).

45.      Eine ähnliche Konstellation liegt auch hier vor. Am meisten ähnelt sie dem Sachverhalt in den Rechtssachen C‑775/22 und C‑779/22, den ersten beiden der drei verbundenen Rechtssachen im Urteil Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II), da die Anleihen, hinsichtlich derer D. E. die Rechtmäßigkeit des Anleiheerwerbs in Zweifel zieht, vor der Abwicklung von Banco Popular in Aktien umgewandelt worden waren. Allerdings unterscheiden sich die beiden Fälle in einem wichtigen Punkt: In den früheren Verfahren hatten die Kläger das Verfahren erst nach der Abwicklung von Banco Popular eingeleitet, wohingegen D. E. seine Klage bereits acht Monate, bevor der Abwicklungsbeschluss erging, erhoben hatte.

46.      Es ist daher zunächst erforderlich, nachzuvollziehen, aus welchen Gründen der Gerichtshof zu der Entscheidung gelangt ist, dass nach Erlass des Abwicklungsbeschlusses die BRRD Klagen auf Nichtigerklärung oder Haftungsklagen entgegensteht. Erst dann kann man die Frage stellen, ob diese Gründe auch zutreffen, wenn solche Klagen vor dem Datum des Abwicklungsbeschlusses erhoben werden.

47.      In den Rechtssachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Abweichung von anderen unionsrechtlichen Bestimmungen, die dem Einzelnen Rechte verleihen, mit dem „übergeordnete[n] öffentliche[n] Interesse“ daran erklärt werden kann, in einem außergewöhnlichen und dringenden wirtschaftlichen Kontext „die Finanzstabilität der Mitgliedstaaten zu wahren“(23).

48.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass im Fall der Anwendung solch anderer unionsrechtlicher Bestimmungen (etwa der Prospektrichtlinie) diese „geeignet [wären], dem Abwicklungsverfahren die praktische Wirksamkeit zu nehmen oder dessen Durchführung zu erschweren“(24).

49.      Dies liegt daran, dass im Fall einer erfolgreichen Nichtigkeitsklage bzw. Haftungsklage die in Abwicklung befindliche Bank oder deren Rechtsnachfolger gehalten wäre, die Beträge in voller Höhe zurückzugewähren, die bei der Zeichnung der infolge des Abwicklungsbeschlusses herabgeschriebenen Aktien (oder in Aktien umgewandelten Anleihen) investiert wurden. Solche Maßnahmen, so der Gerichtshof, würden die gesamte Bewertung infrage stellen, auf der der Abwicklungsbeschluss beruht(25).

50.      Während der Bewertung handelt es sich bei den Verpflichtungen zur Rückgewähr oder Schadensersatzzahlung, die in einem anhängigen Gerichtsverfahren bestätigt werden könnten, lediglich um „etwaige“ Verbindlichkeiten der in Abwicklung befindlichen Bank, da das Bestehen dieser Ansprüche vom Ausgang des anhängigen Gerichtsverfahrens abhängig ist. Überdies hätte die Abwicklungsbehörde, wenn zum Zeitpunkt der als Grundlage für den Abwicklungsbeschluss dienenden Bewertung noch kein Verfahren eingeleitet worden wäre, keine Kenntnis von solchen „etwaigen“ Verbindlichkeiten.

51.      Der Gerichtshof hat deshalb entschieden, dass „etwaige“ Verbindlichkeiten, die erst nach dem Datum, an dem der Abwicklungsbeschluss ergeht, gerichtlich geltend gemacht werden, als „nicht angefallen“ anzusehen sind und deshalb in jeder Hinsicht als erfüllt gelten müssen, so wie es in Art. 53 Abs. 3 BRRD vorgesehen ist und auch in ihrem Art. 60 Abs. 2 Unterabs. 1 impliziert wird(26).

52.      Dies liegt daran, dass durch eine erfolgreiche Klage rückwirkend Verbindlichkeiten entstünden, die bei Erlass des Abwicklungsbeschlusses noch nicht berücksichtigt wurden, wodurch der Betrag der dem Bail-in unterliegenden Kapitalinstrumente verringert würde(27).

53.      Mit anderen Worten: Der Gerichtshof hat entschieden, dass aus dem Begriff „angefallene“ Verpflichtungen oder Ansprüche im Sinne von Art. 53 Abs. 3 BRRD diejenigen Arten von Ansprüchen ausgenommen sind, die sich aus erst nach Erlass des in Rede stehenden Abwicklungsbeschlusses erhobenen erfolgreichen Klagen ergäben(28).

54.      In den Rechtssachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) wurde der Gerichtshof jedoch nicht ersucht, darüber zu entscheiden, ob diese Logik auch Nichtigkeitsklagen und Haftungsklagen entgegensteht, die vor Erlass eines Abwicklungsbeschlusses erhoben werden.

55.      Die Verbindlichkeiten einer in Abwicklung befindlichen Bank sind in einem solchen Szenario ebenfalls lediglich „etwaige“ Verbindlichkeiten, da deren Bestehen bis zum Ausgang des Gerichtsverfahrens ungewiss ist. In einem solchen Szenario ist das Verfahren jedoch in dem Zeitpunkt, in dem die Verbindlichkeiten der in Abwicklung befindlichen Bank bewertet werden, bereits bei Gericht anhängig.

56.      Die Frage, ob „etwaige“ Verbindlichkeiten, die von einem Gerichtsverfahren abhängig sind, das vor dem Abwicklungsbeschluss eingeleitet wurde, über das jedoch in dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss erging, noch nicht entschieden worden war, als „angefallen“ im Sinne der BRRD anzusehen sind, ist also noch offen.

57.      Auch wenn die Überlegung, auf die die Urteile in den Rechtssachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) gestützt sind, weitgehend auf eine Situation wie diejenige im vorliegenden Fall anwendbar ist, gibt es zusätzliche Umstände, die meines Erachtens eine andere Auslegung rechtfertigen. Auf diese Umstände werde ich im Folgenden eingehen.

D.      Sind „etwaige“ Verbindlichkeiten, die Gegenstand eines vor dem Abwicklungsbeschluss eingeleiteten Gerichtsverfahrens sind, „angefallen“ oder „nicht angefallen“?

1.      Zweck der BRRD – können Ansprüche in anhängigen Gerichtsverfahren den Abwicklungsbeschluss untergraben?

58.      Wie ich bereits erklärt habe, liegt den Urteilen in den Rechtssachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II) die Überlegung zugrunde, dass es den Zweck der BRRD – die Stabilität des Finanzsystems sicherzustellen – gefährden könnte, wenn die Bewertung der Vermögenswerte der Bank, auf deren Grundlage der Abwicklungsbeschluss ergeht, später infolge eines nach Erlass des Abwicklungsbeschlusses eingeleiteten Gerichtsverfahrens geändert werden könnte.

59.      Meines Erachtens lässt sich diese Überlegung nicht auf „etwaige“ Verbindlichkeiten erstrecken, d. h. auf solche Verbindlichkeiten, die sich ergeben könnten, falls die vor Erlass des Abwicklungsbeschlusses erhobene Klage Erfolg hat.

60.      Hinsichtlich der Bewertung der Vermögenswerte der in Abwicklung befindlichen Bank besteht ein bedeutender Unterschied zwischen vor der Bewertung erhobenen Klagen und erst danach erhobenen Klagen. Was die Ersteren angeht, ist es so, dass der Bewerter – und folglich die Abwicklungsbehörde – von ihnen Kenntnis hat oder zumindest haben kann. Dagegen sind die Letzteren weder für den Bewerter noch für die zuständige Behörde vorhersehbar.

61.      Würde im Hinblick auf diesen Unterschied eine Auslegung, bei der derartige Verfahren als „angefallene“ Verbindlichkeit verstanden würden, das Abwicklungsverfahren gefährden und den Abwicklungsbeschluss seiner praktischen Wirkung berauben?

62.      Die Kommission ist der Ansicht, dass es – sofern die Bewertungsgrundsätze eingehalten würden – die Wirksamkeit des Abwicklungsverfahrens nicht untergrübe, wenn bereits erhobene Klagen als angefallene Verbindlichkeiten behandelt würden.

63.      Banco Santander ist dagegen der Ansicht, dass eine solche Behandlung etwaiger, jedoch ungewisser Verbindlichkeiten vor dem Erwerb einer in Abwicklung befindlichen Bank abschrecken und somit, wenn – wie bei der Abwicklung von Banco Popular – das Instrument der Unternehmensveräußerung mit einem Bail-in kombiniert würde, die Wirksamkeit des Instruments der Unternehmensveräußerung infrage stellen könnte.

64.      Gemäß Art. 36 Abs. 1 BRRD muss jede Abwicklungsmaßnahme auf „eine[r] faire[n], vorsichtige[n] und realistische[n] Bewertung der Vermögenswerte und Verbindlichkeiten“ des in Abwicklung befindlichen Unternehmens beruhen(29).

65.      Anders ausgedrückt, muss die Bewertung ein realistisches Bild davon geben, inwieweit eine „etwaige Verbindlichkeit“ einen Wertverlust der Vermögenswerte der in Abwicklung befindlichen Bank darstellen könnte.

66.      Es ist nicht möglich, in der Bewertung eines in Abwicklung befindlichen Unternehmens „etwaige“ Verbindlichkeiten aus zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeleiteten Gerichtsverfahren zu berücksichtigen; dies gilt jedoch nicht für zu diesem Zeitpunkt bereits anhängige Verfahren.

67.      Deshalb vermögen „etwaige“ Verbindlichkeiten, die vom Ausgang eines anhängigen Gerichtsverfahrens abhängen, soweit sie im Abwicklungszeitpunkt berücksichtigt werden können, den Abwicklungsprozess nicht zu untergraben.

68.      Allerdings ist in der BRRD nicht angegeben, wie die in ihrem Art. 36 vorgesehenen Verbindlichkeiten festzustellen sind(30).

69.      Aus dem ersten Bewertungsbericht im Rahmen der Abwicklung von Banco Popular vom 5. Juni 2017 geht hervor, dass er „unter Berücksichtigung der … in Kapitel II aufgeführten Bewertungsmethoden-Kriterien“(31) der einschlägigen technischen Regulierungsstandards der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde erstellt wurde(32). Im einschlägigen Teil dieser Standards heißt es, dass „[d]er Bewerter … besonderes Augenmerk auf Rechtsstreitigkeiten und Regulierungsmaßnahmen [legt], bei denen die erwarteten Zahlungsströme in unterschiedlichem Maße mit Unsicherheiten in Bezug auf ihre Höhe und/oder ihren zeitlichen Verlauf behaftet sind“(33).

70.      Aus dem zweiten Bewertungsbericht vom 6. Juni 2017, auf den in der Stellungnahme von Banco Santander Bezug genommen wird, ist ersichtlich, dass bei der Bewertung von Banco Popular Minderungen des geschätzten beizulegenden Zeitwerts wegen Rechtsstreitigkeiten über „irreguläre Praktiken beim Verkauf von Wandelanleihen“ in den Abschlüssen berücksichtigt wurden.(34) Wie im erläuternden Dokument zum dritten Bewertungsbericht erklärt wird, handelt es sich dabei unter anderem um Ansprüche im Zusammenhang mit den nachrangigen Anleihen II/2012, für die ein „unteres“ Szenario und ein „oberes“ Szenario angegeben sind; um genau diese Finanzinstrumente geht es im vorliegenden Fall(35).

71.      Banco Santander meint, dass es wegen der äußersten Dringlichkeit, mit der eine Abwicklung in der Regel erfolge, vorkommen könne, dass eine Bewertung auf Grundlage eines Berichts erstellt werde, der nicht sämtliche anhängigen Gerichtsverfahren berücksichtige.

72.      Es ist durchaus möglich, dass einige anhängige Rechtsstreitigkeiten nicht berücksichtigt sind, doch eine solche Ungewissheit ist bei jeder Bestandsaufnahme gegeben, weshalb diese als Teil des allgemeinen Risikos des erwerbenden Unternehmens anzusehen ist.

73.      Zudem sind, worauf die spanische Regierung hingewiesen hat, etwaige Verbindlichkeiten aus Gerichtsverfahren der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Art zumindest in gewissem Umfang aus den Abschlüssen einer börsennotierten Bank ersichtlich. Insoweit merke ich an, dass aus den Nrn. 3 und 5 des Abwicklungsbeschlusses hervorgeht, dass Banco Popular die Muttergesellschaft der Banco-Popular-Gruppe ist und an der spanischen Börse, d. h. an einem geregelten Markt im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 14 der MiFID‑I-Richtlinie, notiert ist. Gemäß der Verordnung über internationale Rechnungslegungsstandards müssen kapitalmarktorientierte Gesellschaften in derartigen Märkten konsolidierte Abschlüsse erstellen, die gewissen internationalen Rechnungslegungsstandards(36), die von der Kommission in das Unionsrecht übernommen werden(37), genügen. Unter den zahlreichen(38) Standards, die die Kommission zu dem Zeitpunkt, in dem der Abwicklungsbeschluss im vorliegenden Fall erging, in das Unionsrecht übernommen hatte, gab es spezifische Anforderungen, in den Abschlüssen die Unsicherheiten zu berücksichtigen, die sich unter anderem durch etwaige Kosten aus dem „künftigen Ausgang von Gerichtsverfahren“ ergeben(39).

74.      Deshalb halte ich das Vorbringen, dass anhängige Gerichtsverfahren, einschließlich solcher wegen irregulärer Praktiken beim Verkauf von Kapitalinstrumenten, nicht aus der für die Zwecke der Abwicklung erstellten Bewertung einer Bank hervorgehen würden, für weder überzeugend noch zutreffend. Dies umso mehr, wenn die Bewertung nach den Grundsätzen einer „fairen, vorsichtigen und realistischen Bewertung“ im Sinne von Art. 36 BRRD durchgeführt wurde(40).

75.      Anders als im Fall von Klagen, die erst nach Erlass des Abwicklungsbeschlusses erhoben werden, kann daher von zuvor erhobenen Klagen nicht angenommen werden, dass diese die Bewertung, auf deren Grundlage der Abwicklungsbeschluss ergeht, in Frage zu stellen vermögen.

76.      Der Zweck der BRRD erfordert es also nicht, derartige Ansprüche aus dem Begriff der „angefallenen“ Verbindlichkeiten im Sinne von Art. 53 Abs. 3 und Art. 60 Abs. 2 BRRD auszunehmen.

2.      Abwägung zwischen dem Zweck des Abwicklungsverfahrens und dem Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz

77.      Angesichts der Dringlichkeit der Abwicklung und der Ungewissheit, ob es unter solchen Umständen möglich ist, dass in einer Bewertung sämtliche „etwaige“ Verbindlichkeiten berücksichtigt werden, könnte man die Ansicht vertreten, dass eine Lösung, bei der Ansprüche aus zum Datum des Abwicklungsbeschlusses anhängigen Gerichtsverfahren als „nicht angefallen“ und deshalb als durch das Bail-in erfüllt gelten sollten, weit einfacher erschiene. Möglicherweise wäre sogar für potenzielle Erwerber einer ausfallenden Bank der Anreiz, in die Übernahme der Vermögenswerte einzuwilligen, größer, wenn die Vermögenswerte, die sie erwürben, frei von allen „etwaigen“ Verbindlichkeiten wären, auch von solchen aus anhängigen Gerichtsverfahren. Auf diese Weise wäre dem Zweck, die Wirksamkeit des Abwicklungsverfahrens sicherzustellen, möglicherweise besser gedient.

78.      Man sollte jedoch nicht vergessen, dass bei einer solchen Lösung die Erfüllung auch hinsichtlich derjenigen Rechte einträte, die Rechtspersonen aus dem Unionsrecht erwachsen, beispielsweise aus der Prospektrichtlinie und der MiFID‑I-Richtlinie.

79.      Solche Rechte sind durch das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz geschützt, einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der heute in Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union seinen Ausdruck findet. Dieses Grundrecht garantiert jedem, der geltend macht, in seinen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten verletzt worden zu sein, den Zugang zu einem zur Gewährung wirksamen Rechtsschutzes befugten Gericht.

80.      Die von Banco Santander und den Regierungen Spaniens, Italiens und Portugals vertretene Auffassung, nach der anhängige gerichtliche Verfahren für die Zwecke der BRRD als „nicht angefallen“ zu behandeln sind, läuft letztlich darauf hinaus, den sich daraus ergebenden Eingriff in das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf für gerechtfertigt zu erachten.

81.      In der Entscheidung in der Rechtssache Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II), in der sich die Kläger unter anderem auf ihr Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz beriefen, hat der Gerichtshof daran erinnert, dass dieses kein absolutes Recht ist und dass es im Hinblick auf andere wichtige öffentliche Interessen – beispielsweise zur Wahrung der Finanzstabilität – eingeschränkt werden kann(41).

82.      In seiner Abwägung hat der Gerichtshof dann, ohne ins Detail zu gehen, dem Interesse an der Stabilität des Finanzsystems Vorrang eingeräumt gegenüber dem wirksamen Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenden Anlegerrechte. Unter Bezugnahme auf seine frühere Rechtsprechung hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „zwar ein klares öffentliches Interesse daran besteht, in der gesamten Union einen wirksamen und einheitlichen Schutz der Investoren zu gewährleisten, dass aber nicht davon ausgegangen werden kann, dass dieses Interesse in jedem Fall Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems hat“(42).

83.      Allerdings hat der Gerichtshof in der vorstehend zitierten Randnummer vorsichtig formuliert, dass dem Interesse der Investoren nicht „in jedem Fall“ Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Stabilität des Finanzsystems eingeräumt werden kann.

84.      Werden anhängige Gerichtsverfahren als „angefallene“ Verbindlichkeiten behandelt, so wird das Ziel der Finanzstabilität dadurch nicht in derselben Weise untergraben, wie es bei erst nach dem Datum des Abwicklungsbeschlusses erhobenen Klagen der Fall wäre. Anhängige Klagen könnten nämlich in der Bewertung, auf deren Grundlage der Abwicklungsbeschluss ergeht, berücksichtigt werden. Insofern unterscheidet sich das vorliegende Verfahren von den Fragestellungen in den Rechtssachen Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular) und Banco Santander (Bankenabwicklung Banco Popular II).

85.      Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall D. E. – anders als die Anleger in den beiden letztgenannten Rechtssachen, die ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht zur Verteidigung ihrer aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte noch nicht ausgeübt hatten, als durch den Abwicklungsbeschluss in diese Rechte eingegriffen wurde – bereits vor dem Abwicklungsbeschluss seine Rechte und Verpflichtungen geltend gemacht und den Rechtsweg beschritten hatte, wodurch sich der für ihn geltende Rahmen änderte.

86.      Ließe man zu, dass der Abwicklungsbeschluss für sich genommen zur Beendigung anhängiger Gerichtsverfahren führte, so wäre dies ein erheblicher Eingriff in das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf(43).

87.      Meines Erachtens ist es angesichts der Umstände dieses Falles erforderlich, dass der Gerichtshof zum einen dem Recht der Anleger, ihre aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durch vor dem Abwicklungsbeschluss eingeleitete Gerichtsverfahren wirksam zu schützen, mehr Gewicht beimisst, und zum anderen dem Ziel der Finanzstabilität geringeres Gewicht beimisst, da Letzteres selbst dann erreicht werden kann, wenn dem wirksamen Rechtsschutz Vorrang eingeräumt wird.

88.      Indem D.  E. ganze acht Monate vor dem Abwicklungsbeschluss – und damit wohl völlig unabhängig vom späteren Abwicklungsverfahren – ein Gerichtsverfahren einleitete, um seine aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu schützen, schuf er eine Lage, die sich von der anderer Inhaber der nachrangigen Anleihen II/2012 unterschied(44).

89.      Der Grundsatz iura vigilantibus, dem Genüge getan wird, wenn bei der Abwägung den anhängigen Klagen das ihnen gebührende Gewicht beigemessen wird, ist ein weiteres Argument für die vorstehende Schlussfolgerung, dass es einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellte, wenn der Gerichtshof die BRRD dahin auslegte, dass sie die rückwirkende Einschränkung bereits vor dem Abwicklungsbeschluss eingeleiteter und zum Zeitpunkt des Abwicklungsbeschlusses noch anhängiger Gerichtsverfahren zuließe.

90.      Eine solche Lösung würde auch das Vertrauen in die Rechtspflege stärken, während die gegenteilige Entscheidung dieses Vertrauen beeinträchtigen könnte.

91.      Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich die Einschränkung des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz für aus dem Unionsrecht erwachsende Anlegerrechte nicht mit dem Ziel der Wahrung der Finanzstabilität rechtfertigen lässt, wenn der Rechtsweg zum Schutz eines aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechts bereits vor dem Abwicklungsbeschluss und unabhängig von diesem beschritten wurde.

3.      Zusätzliche Fragestellungen

a)      Wer sollte die Kosten der Verletzung aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte der Gläubiger der in Abwicklung befindlichen Bank tragen?

92.      Darüber hinaus sind einige weitere von Banco Santander vorgebrachte Argumente zu bedenken.

93.      Banco Santander meint, dass anhängige Verfahren als „nicht angefallene“ Verbindlichkeiten behandelt werden sollten, da andernfalls solche „etwaige“ Verbindlichkeiten auf Banco Santander als die Nachfolgerbank übertragen würden, obwohl Banco Santander mit den zum anhängigen Gerichtsverfahren führenden Handlungen von Banco Popular nichts zu tun gehabt habe.

94.      Im vorliegenden Fall stützt sich D. E. auf die Verletzung einer zwingenden Bestimmung der MiFID‑I-Richtlinie, die die Käufer vor dem Erwerb für sie nicht angemessener Finanzinstrumente schützen soll. Zu diesen Vorschriften gehört die in Art. 19 Abs. 5 der MiFID‑I-Richtlinie vorgesehene Beurteilung der „Angemessenheit“; nach der genannten Vorschrift sind Finanzinstitute grundsätzlich(45) gehalten, noch vor dem Abschluss von Wertpapierdienstleistungen oder Wertpapiergeschäften vom Kunden Angaben zu dessen für das Verständnis der mit dem betreffenden Geschäft verbundenen Risiken relevanten Kenntnissen und Erfahrungen einzuholen und den Kunden erforderlichenfalls zu warnen(46).

95.      Die Verletzung dieser Vorschriften kann dazu führen, dass die Vereinbarung über den Kauf des betreffenden Finanzinstruments nichtig ist und der Erwerber Anspruch auf Rückgewähr des Kaufpreises nebst Zinsen oder auf Schadensersatz hat.

96.      Im Hinblick darauf, dass D. E. im Abwicklungszeitpunkt Anteilseigner von Banco Popular war, sollte sein Anspruch, so meint Banco Santander, nach dem Grundsatz, dass Verluste zuerst von den Anteilseignern getragen werden(47), als nicht angefallen – und somit als vor der Übertragung der „angefallenen“ Verbindlichkeiten an das Nachfolgeunternehmen erfüllt – behandelt werden.

97.      Meines Erachtens würde der Rückgewährs- oder Schadensersatzanspruch von D. E., der im Fall seines Obsiegens im Rechtsstreit bestätigt würde, weder die Löschung der vor der Entscheidung des nationalen Gerichts von D. E. gehaltenen Aktien im Abwicklungsverfahren noch die Umwandlung der Anleihen von D. E. in Aktien und deren entschädigungsloser Löschung oder Übertragung verhindern. Sollte D. E. im anhängigen Gerichtsverfahren obsiegen, so hätte er die Stellung einer anderen Art von Gläubiger. Sein Anspruch wäre nicht der Anspruch eines Anleiheanlegers, sondern ergäbe sich aus den irregulären Praktiken beim Verkauf dieser Anleihen, deren Inhaber er dann nicht mehr wäre. Die Verpflichtung von Banco Santander zur Erfüllung dieses Anspruchs hätte bereits bestanden und wäre bereits zahlbar gewesen (d. h., der Anspruch wäre fällig gewesen), bevor der Abwicklungsbeschluss erging – genauso wie die anderen „angefallenen“ Verbindlichkeiten.

98.      Banco Santander ist allerdings der Ansicht, dass ein solcher Anspruch dennoch als zum Abwicklungszeitpunkt „nicht angefallen“ behandelt werden sollte. Der D. E. durch den Bail-in-Beschluss entstandene Verlust sei nämlich als eine Art Verlust einzustufen, die jedem anderen Gläubiger einer zum Abwicklungszeitpunkt offenen Forderung entstehe, d. h. als die Art von Anspruch, der durch den Bail-in erfüllt werde. Die Rechte derartiger Gläubiger ergäben sich aus dem Grundsatz „keine Schlechterstellung von Gläubigern“(48). Nach diesem Grundsatz könne ein Gläubiger, hinsichtlich dessen nach Bewertung und Vergleich zweier Verfahren (Abwicklung und reguläres Insolvenzverfahren) festgestellt werde, dass er Anspruch auf Zahlung seiner Forderung oder eines Teils seiner Forderung habe, gemäß Art. 75 BRRD die Auszahlung des Differenzbetrags aus dem Finanzierungsmechanismus für die Abwicklung verlangen(49). Eine solche Verbindlichkeit sollte, so Banco Santander, der gegenseitigen Unterstützung unterliegen und nicht dem Nachfolger der in Abwicklung befindlichen Bank entstehen. Bei einer solchen Lösung wäre es D. E. jedoch offenkundig nicht möglich, den gesamten ihm geschuldeten Betrag zurückgewährt zu bekommen, selbst wenn er nach dem erfolgreichen Ausgang des Gerichtsverfahrens Anspruch auf diesen Betrag hätte.

99.      Würde jedoch diese „etwaige“ Verbindlichkeit auf die Nachfolgerbank, in diesem Fall Banco Santander, übertragen, so behielte D. E., sofern er im Gerichtsverfahren obsiegte, seinen Anspruch in voller Höhe. Im Ergebnis stünde diese Lösung im Einklang mit der Abwägung, die für Fälle vorgeschlagen wird, in denen ein Gläubiger zum Schutz seiner aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte Klage erhebt, bevor der Abwicklungsbeschluss ergeht.

100. Ich sehe nicht, inwiefern es problematisch sein sollte, dass Banco Santander eine derartige „etwaige“ Verbindlichkeit im Rahmen der Konditionen der Unternehmensveräußerung übernimmt, da die Auswirkungen solcher Verbindlichkeiten auf den Wert des Vermögens von Banco Popular im Bewertungsbeschluss berücksichtigt worden waren. Der Umstand, dass Banco Santander nicht für Unionsrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden kann, die vor der Abwicklung von Banco Popular begangen wurden, lässt den Umstand unberührt, dass Banco Santander als Teil der Abwicklungsregelung das mit Banco Popular verbundene Geschäftsrisiko in gewissem Umfang übernommen hat.

101. Vor diesem Hintergrund spräche allerdings nichts dagegen, dass die Abwicklungsbehörde im Abwicklungsbeschluss vorsieht, dass derartige „etwaige“ Verbindlichkeiten, selbst wenn sie „angefallen“ sein sollten, nicht auf die Nachfolgerbank übertragen würden, sondern dass derartige Verbindlichkeiten, so sie sich ergeben sollten, stattdessen der gegenseitigen Unterstützung unterlägen, sei es durch einen Abwicklungsfinanzierungsmechanismus oder durch den Einheitlichen Abwicklungsfonds(50).

102. Dies ist jedoch eine Ermessensfrage, die sich in den Entscheidungen widerspiegelt, die im jeweiligen Abwicklungsverfahren sowie in den Verhandlungen zwischen den Abwicklungsbehörden und dem erwerbenden Unternehmen getroffen werden. Fehlt es an derartigen Regelungen, kann sich Banco Santander zu einem Zeitpunkt, zu dem die betreffenden Verhandlungen bereits mittels des Instruments der Unternehmensveräußerung abgeschlossen wurden, nicht darauf berufen, dass sie für die ihr gemäß dem Abwicklungsrahmen übertragenen Verbindlichkeiten nicht haftbar gemacht werden könne.

103. Mit anderen Worten: Das Vorbringen von Banco Santander, dass die Nachfolgerbank nicht für sich aus Gerichtsverfahren gegen die ausfallende Bank ergebende Ansprüche haften sollte, selbst dann nicht, wenn der Erwerber vor seinem Angebot zum Erwerb der besagten Bank von derartigen „etwaigen“ Verbindlichkeiten gewusst habe oder hätte gewusst haben können, haben keinen Einfluss auf meinen Vorschlag, anhängige Gerichtsverfahren als „angefallene“ Verbindlichkeiten zu behandeln.

b)      Möglichkeit rechtsmissbräuchlicher Klagen

104. Banco Santander macht des Weiteren geltend, dass die Auslegung, nach der es sich bei „etwaigen“ Ansprüchen, die vom Ausgang anhängiger Gerichtsverfahren abhängig sind, um „angefallene“ Verbindlichkeiten handele, bei künftigen Abwicklungen dazu führen würde, dass Anteilsinhaber und Gläubiger die Wirkung des Bail-in‑Instruments umgehen könnten, indem sie vor Erlass des Abwicklungsbeschlusses Gerichtsverfahren einleiteten. Ließe man derartige Praktiken zu, würden sie die mit der Heranziehung des Bail-in‑Instruments verbundenen Befugnisse der Abwicklungsbehörden zur Herabschreibung und Reduzierung von Eigenkapital oder geschuldeten Restbeträgen einschränken.

105. Es ist in der Tat möglich, dass Gläubiger, die frühzeitig von der Möglichkeit eines Abwicklungsbeschlusses erfahren, versuchen könnten, ihre Anlagen durch die Einleitung von Gerichtsverfahren abzusichern – was, sofern sie als „angefallene“ Verbindlichkeiten im Sinne der BRRD angesehen würden, verhindern würde, dass ihre Anlagen in Anwendung des Bail-in‑Instruments herabgeschrieben würden.

106. Natürlich kann es sein, dass es zu derartigen Rechtsstreitigkeiten kommt, es ist jedoch auch zu bedenken, dass die Einleitung von Gerichtsverfahren mit Kosten verbunden ist, die, wenn die Klage keine Erfolgsaussichten hat, nicht gedeckt sein werden. Zudem sollen Abwicklungsbeschlüsse mit Dringlichkeit und geheim getroffen werden. Selbst wenn Anleger vermuten sollten, dass es zur Abwicklung kommen könnte, ist es deshalb unwahrscheinlich, dass ihnen die Einzelheiten bekannt sind.

107. Dennoch mag es einen Grund geben, lediglich solche vom Ausgang eines Gerichtsverfahrens abhängigen Ansprüche als „angefallen“ anzusehen, die bis zu einem bestimmten Datum vor dem Abwicklungsbeschluss eingeleitet werden; beispielsweise bis zu dem Stichtag für die Zwecke der Bewertung der ausfallenden Bank, auf deren Grundlage der Abwicklungsbeschluss gefasst wird.

108. Dazu führt Banco Santander aus, dass die von Deloitte erstellte Bewertung auf die Situation am 31. März 2017 abgestellt habe, wohingegen der Abwicklungsbeschluss am 7. Juni 2017 ergangen sei. Nach dem 31. März 2017 erhobene Klagen könnten deshalb genauso behandelt werden wie Klagen, die erst nach dem Abwicklungsbeschluss erhoben wurden: nämlich als zum Zeitpunkt des Abwicklungsbeschlusses „nicht angefallen“.

109. Dieses Argument verdient Beachtung, wirkt sich jedoch im vorliegenden Fall nicht auf die Position von D. E. aus, da dessen Klage bereits acht Monate vor dem Abwicklungsbeschluss erhoben wurde.

110. Das Vorbringen von Banco Santander, das darauf beruht, dass eine Auslegung des Gerichtshofs, nach der frühere Klagen als „angefallene“ Verbindlichkeiten zu behandeln sind, missbraucht werden könnte, kann daher nicht als so bedeutsam angesehen werden, dass die für eine solche Auslegung sprechenden anderen Argumente dahinter zurücktreten müssten.

IV.    Ergebnis

111. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) wie folgt zu beantworten:

Art. 53 Abs. 1 und Abs. 3 sowie Art. 60 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates sind in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass Forderungen oder Ansprüche aus Gerichtsverfahren, die bei den zuständigen Gerichten eines Mitgliedstaats gegen ein Finanzinstitut oder Unternehmen vor dem Zeitpunkt eingeleitet werden, in dem hinsichtlich des Finanzinstituts oder Unternehmens ein Abwicklungsbeschluss ergeht, aber zu diesem Zeitpunkt noch anhängig sind, „angefallene“ Verbindlichkeiten darstellen.




















































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