URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
1. August 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 203 – In der Rechnung falsch ausgewiesener Mehrwertsteuerbetrag – Art. 238 – Vereinfachte Rechnungslegung – Nichtsteuerpflichtigen und Steuerpflichtigen, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, in Rechnung gestellte Leistungen – Verpflichtung zur Zahlung des zu Unrecht in Rechnung gestellten Teils der Mehrwertsteuer – Keine Gefährdung des Steueraufkommens “
In der Rechtssache C‑794/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Beschluss vom 14. Dezember 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2023, in dem Verfahren
Finanzamt Österreich
gegen
P GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen, des Präsidenten der Vierten Kammer I. Jarukaitis (Berichterstatter) und des Richters A. Arabadjiev,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und F. Koppensteiner als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.‑L. Krüger als Bevollmächtigte,
– der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, C. Bento, R. Laires und A. Rodrigues als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch F. Behre und M. Herold als Bevollmächtigte, dann durch M. Herold als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Dezember 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 203 und 238 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom 6. November 2018 (ABl. 2018, L 282, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt Österreich (im Folgenden: Finanzamt) und der P GmbH wegen der Ablehnung eines Antrags auf Berichtigung der Mehrwertsteuererklärung von P durch das Finanzamt. Die Berichtigung sollte erfolgen, da P in ihren Rechnungen einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hatte, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet worden war.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“
4 Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
5 Art. 220 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder stellt sicher, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:
1. Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person;
…“
6 Art. 238 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Nach Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses können die Mitgliedstaaten unter den von ihnen festzulegenden Bedingungen vorsehen, dass Rechnungen für Lieferungen von Gegenständen oder für Dienstleistungen in folgenden Fällen nur die in Artikel 226b genannten Angaben enthalten:
a) wenn der Rechnungsbetrag höher als 100 [Euro,] aber nicht höher als 400 [Euro] ist, oder den Gegenwert in Landeswährung;
b) wenn die Einhaltung aller in den Artikeln 226 oder 230 genannten Verpflichtungen aufgrund der Handels- oder Verwaltungspraktiken in dem betreffenden Wirtschaftsbereich oder aufgrund der technischen Bedingungen der Erstellung dieser Rechnungen besonders schwierig ist.
(3) Die Vereinfachung nach Absatz 1 darf nicht angewandt werden, wenn Rechnungen gemäß Artikel 220 Absatz 1 Nummern 2 und 3 ausgestellt werden müssen oder wenn die steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen oder die steuerpflichtige Dienstleistung von einem Steuerpflichtigen durchgeführt wird, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, oder dessen Niederlassung in dem betreffenden Mitgliedstaat im Sinne des Artikels 192a nicht an der Lieferung oder Dienstleistung beteiligt ist, und wenn die Steuer vom Erwerber bzw. Dienstleistungsempfänger geschuldet wird.“
Österreichisches Recht
7 § 11 Abs. 1, 6 und 12 des Umsatzsteuergesetzes 1994 (BGBl. 663/1994) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG 1994) sieht vor:
„(1)
1. Führt der Unternehmer Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 aus, ist er berechtigt, Rechnungen auszustellen. Führt er die Umsätze an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen oder an eine juristische Person, soweit sie nicht Unternehmer ist, aus, ist er verpflichtet, Rechnungen auszustellen. Führt der Unternehmer eine steuerpflichtige Werklieferung oder Werkleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück an einen Nichtunternehmer aus, ist er verpflichtet eine Rechnung auszustellen. Der Unternehmer hat seiner Verpflichtung zur Rechnungsausstellung innerhalb von sechs Monaten nach Ausführung des Umsatzes nachzukommen.
…
(6) Bei Rechnungen, deren Gesamtbetrag 400 Euro nicht übersteigt, genügen neben dem Ausstellungsdatum folgende Angaben:
1. Der Name und die Anschrift des liefernden oder leistenden Unternehmers;
2. die Menge und die handelsübliche Bezeichnung der gelieferten Gegenstände oder die Art und der Umfang der sonstigen Leistung;
3. der Tag der Lieferung oder sonstigen Leistung oder der Zeitraum, über den sich die Leistung erstreckt;
4. das Entgelt und der Steuerbetrag für die Lieferung oder sonstige Leistung in einer Summe und
5. der Steuersatz.
…
(12) Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen Steuerbetrag, den er nach diesem Bundesgesetz für den Umsatz nicht schuldet, gesondert ausgewiesen, so schuldet er diesen Betrag auf Grund der Rechnung, wenn er sie nicht gegenüber dem Abnehmer der Lieferung oder dem Empfänger der sonstigen Leistung entsprechend berichtigt. Im Falle der Berichtigung gilt § 16 Abs. 1 sinngemäß.“
8 § 16 Abs. 1 UStG 1994 bestimmt:
„Hat sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 und 2 geändert, so haben
1. der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag … und
2. der Unternehmer, an den dieser Umsatz ausgeführt worden ist, den dafür in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug entsprechend zu berichtigen. Die Berichtigungen sind für den Veranlagungszeitraum vorzunehmen, in dem die Änderung des Entgelts eingetreten ist.“
9 § 239a der Bundesabgabenordnung in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:
„Soweit eine Abgabe, die nach dem Zweck der Abgabenvorschrift wirtschaftlich von einem Anderen als dem Abgabepflichtigen getragen werden soll, wirtschaftlich von einem Anderen als dem Abgabepflichtigen getragen wurde, haben zu unterbleiben:
1. die Gutschrift auf dem Abgabenkonto,
2. die Rückzahlung, Umbuchung oder Überrechnung von Guthaben und
3. die Verwendung zur Tilgung von Abgabenschuldigkeiten,
wenn dies zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Abgabepflichtigen führen würde.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
10 P ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach österreichischem Recht. Sie betreibt einen Indoor-Spielplatz. Im Jahr 2019 unterzog P die Eintrittsgelder für diesen Spielplatz dem Mehrwertsteuersatz von 20 %. Sie stellte ihren Kunden bei Zahlung der Eintrittsgelder Registrierkassenbelege aus, wobei sie aufgrund deren geringer Beträge nach den in § 11 Abs. 6 UStG 1994 vorgesehenen Regelungen zur vereinfachten Rechnungslegung vorging. P wies die entsprechende Steuer in ihrer Mehrwertsteuererklärung für das Jahr 2019 aus, korrigierte diese jedoch in der Folge, da die Eintrittsgelder dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 13 % zu unterziehen seien.
11 Mit Bescheid vom 18. Jänner 2021 setzte das Finanzamt die von P für das Jahr 2019 geschuldete Mehrwertsteuer fest, ohne diese Berichtigung zu berücksichtigen. In seinem Bescheid führte es aus, P habe die Erlöse aus den Eintrittsgeldern für den Indoor-Spielplatz zu einem Mehrwertsteuersatz von 20 % versteuert und den Betrag dieser Steuer auf ihren Registrierkassenbelegen ausgewiesen. Das Finanzamt lehnte die nachträgliche Berichtigung des Mehrwertsteuersatzes ab, da zum einen weder die Rechnungen geändert noch die der Differenz zwischen dem Mehrwertsteuersatz von 20 % und dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz entsprechende Gutschriften an die Kunden weitergeleitet werden könnten und eine solche Berichtigung zum anderen zu einer ungerechtfertigten Bereicherung dieser Gesellschaft führen würde, da die Kunden von P Mehrwertsteuer zu einem Steuersatz von 20 % gezahlt hätten.
12 P erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde und machte geltend, die Leistungen seien „praktisch ausschließlich“ an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Privatpersonen erbracht worden, so dass eine Gefährdung des Steueraufkommens auszuschließen und eine Berichtigung der Rechnungen nicht erforderlich sei.
13 Mit Beschluss vom 21. Juni 2021 ersuchte das Bundesfinanzgericht (Österreich), das mit dem Rechtsstreit befasst worden war, den Gerichtshof um Vorabentscheidung darüber, ob Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Rahmen dieses Rechtsstreits angewendet werden könne, obwohl keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliege.
14 In seinem Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Dienstleistung erbracht und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, nach dieser Bestimmung den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, wenn keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt, weil diese Dienstleistung ausschließlich an Endverbraucher erbracht wurde, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind.
15 Im Anschluss an dieses Urteil änderte das Bundesfinanzgericht den Bescheid über die von P für das Jahr 2019 geschuldete Mehrwertsteuer mit Erkenntnis vom 27. Jänner 2023 ab.
16 Es ging davon aus, dass die Leistungen von P „(fast) ausschließlich“ von Endverbrauchern in Anspruch genommen worden seien, die das Recht auf Vorsteuerabzug nicht geltend machen können. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden könne, dass Kunden die von P in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer zu Recht oder zu Unrecht als Vorsteuer abgezogen hätten, sei eine Schätzung vorzunehmen, aus wie vielen Rechnungen sich gemäß Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Mehrwertsteuerschuld habe ergeben können. Das Bundesfinanzgericht nahm an, dass eine Gefährdung des Steueraufkommens hinsichtlich eines auf 0,5 % geschätzten Teils des Gesamtumsatzes des Indoor-Spielplatzes vorliege, d. h. im Hinblick auf etwa 112 der insgesamt 22 557 von P ausgestellten Rechnungen.
17 Das Finanzamt legte beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) Revision gegen das Erkenntnis vom 27. Jänner 2023 ein. Es macht geltend, dass dieses Erkenntnis vom Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), abweiche. Aus diesem Urteil, in dem der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen unter der Prämisse geprüft habe, dass die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Dienstleistung ausschließlich an Endverbraucher erbracht worden sei, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt gewesen seien, lasse sich nicht entnehmen, dass die geschuldete Mehrwertsteuer anhand einer im Schätzungswege vorgenommenen Aufteilung zwischen einerseits Endverbrauchern und andererseits Steuerpflichtigen, die zum Vorsteuerabzug berechtigt seien, bemessen werden könne.
18 Dem vorlegenden Gericht zufolge könne angesichts dessen, dass die Gefährdung des Steueraufkommens mangels Berichtigung der Rechnungen nicht rechtzeitig und vollständig beseitigt worden sei, angenommen werden, dass P die gesamten, in sämtlichen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbeträge schulde.
19 Sollte die Gefährdung des Steueraufkommens jedoch auf der Ebene der einzelnen fehlerhaften Rechnung zu beurteilen sein, wie die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:657) vorgeschlagen hat, fragt sich das vorlegende Gericht, nach welchen Kriterien, allenfalls im Wege einer Schätzung, zu ermitteln ist, in Bezug auf welche Rechnungen eine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt.
20 In diesem Zusammenhang sei unklar, wie die Wendung „Endverbraucher, der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist“ im Sinne des Urteils vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), zu verstehen sei.
21 Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Leistung erbracht hat und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, nach dieser Bestimmung den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, wenn die in der konkreten Rechnung ausgewiesene Leistung an einen Nichtsteuerpflichtigen erbracht wurde, auch wenn dieser Steuerpflichtige weitere gleichartige Leistungen an andere Steuerpflichtige erbracht hat?
2. Ist als „Endverbraucher, der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist“, im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), nur ein Nichtsteuerpflichtiger zu verstehen oder auch ein Steuerpflichtiger, der die konkrete Leistung nur für private Zwecke (oder für sonstige nicht zum Vorsteuerabzug berechtigende Zwecke) in Anspruch nimmt und deshalb nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist?
3. Nach welchen Kriterien ist bei einer vereinfachten Rechnungslegung nach Art. 238 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu beurteilen, für welche Rechnungen (allenfalls im Rahmen einer Schätzung) der Steuerpflichtige den zu Unrecht in Rechnung gestellten Betrag nicht schuldet, weil keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Leistung erbracht und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, den einem Nichtsteuerpflichtigen zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer schuldet, selbst wenn er gleichartige Leistungen auch an andere Steuerpflichtige erbracht hat.
23 Insoweit sieht Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor, dass die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet wird, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer vom Aussteller einer Rechnung geschuldet, auch wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt (Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C‑378/21, EU:C:2022:968, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Gefährdung des Steueraufkommens entgegenwirken soll, die sich aus dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Recht auf Vorsteuerabzug ergeben kann. Dieser Artikel kommt folglich zur Anwendung, wenn die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde und eine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt, weil der Adressat der in Rede stehenden Rechnung sein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann (Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C‑378/21, EU:C:2022:968, Rn. 20 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass, wenn ein Teil der Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde, Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur bezüglich des Teils der Mehrwertsteuer zur Anwendung kommt, der den zutreffend in Rechnung gestellten Betrag übersteigt. In diesem Fall liegt nämlich eine Gefährdung des Steueraufkommens vor, da ein Steuerpflichtiger, dem eine solche Rechnung ausgestellt wird, sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben könnte, ohne dass die zuständige Steuerbehörde in der Lage wäre, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts erfüllt sind (Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C‑378/21, EU:C:2022:968, Rn. 23).
26 Daraus folgt, dass die Anwendung von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur davon abhängt, ob eine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt, was auf der Grundlage einer konkreten Rechnung zu beurteilen ist, und nicht davon abhängen kann, ob die in Rede stehenden Leistungen des betreffenden Steuerpflichtigen nicht nur an nicht mehrwertsteuerpflichtige Personen, sondern auch an andere Mehrwertsteuerpflichtige erbracht werden. Um zu beurteilen, ob eine solche Gefährdung vorliegt, ist daher zu prüfen, ob der Empfänger einer bestimmten Rechnung tatsächlich mehrwertsteuerpflichtig ist und folglich das Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann.
27 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Leistung erbracht und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, den einem Nichtsteuerpflichtigen zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, selbst wenn er gleichartige Leistungen auch an andere Steuerpflichtige erbracht hat.
Zur zweiten Frage
28 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass nicht nur nicht steuerpflichtige Personen, sondern auch Steuerpflichtige, die in einer bestimmten Situation nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, als „Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind“, im Sinne des Urteils vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), einzustufen sind.
29 Insoweit hat der Gerichtshof in Rn. 25 seines Urteils vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), entschieden, dass Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Dienstleistung erbracht und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, nach dieser Bestimmung den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, wenn keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt, weil diese Dienstleistung ausschließlich an Endverbraucher erbracht wurde, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind.
30 Wie in Rn. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs außerdem hervor, dass die Gefährdung des Steueraufkommens, der mit der in Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Pflicht entgegengewirkt werden soll, grundsätzlich nicht vollständig beseitigt ist, solange der Empfänger einer Rechnung, in der die Mehrwertsteuer zu Unrecht ausgewiesen ist, diese noch dazu nutzen kann, sein Abzugsrecht auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, EU:C:2013:54, Rn. 30 bis 32), da nicht auszuschließen ist, dass die Finanzverwaltung aufgrund komplexer Umstände und Rechtsbeziehungen die Gründe, die einer Ausübung dieses Rechts entgegenstehen könnten, nicht rechtzeitig ermitteln kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2009, Stadeco, C‑566/07, EU:C:2009:380, Rn. 30).
31 Daher ist die Wendung „Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind“ eng auszulegen und davon auszugehen, dass eine solche Gefährdung vorliegt, wenn der Empfänger einer fehlerhaften Rechnung steuerpflichtig ist, und zwar selbst dann, wenn dieser Empfänger die betreffende Leistung möglicherweise für private Zwecke oder für sonstige nicht zum Vorsteuerabzug berechtigende Zwecke in Anspruch nimmt.
32 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass nur nicht steuerpflichtige Personen als „Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind“, im Sinne des Urteils vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968), einzustufen sind. Somit fallen Steuerpflichtige, die in einer bestimmten Situation nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, nicht unter diese Wendung.
Zur dritten Frage
33 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie dem entgegensteht, dass im Fall einer vereinfachten Rechnungslegung gemäß ihrem Art. 238 eine Steuerbehörde oder ein nationales Gericht durch Schätzung ermittelt, für welchen Anteil der Rechnungen ein Steuerpflichtiger, der zu Unrecht Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, diese Steuer nach Art. 203 dieser Richtlinie schuldet.
34 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit eine Situation betrifft, in der der betreffende Steuerpflichtige eine sehr hohe Anzahl an Rechnungen ausgestellt hat, da die Rechnungslegung im Rahmen eines Massengeschäfts erfolgte, ohne dass die Identität der Empfänger dieser Rechnungen bekannt war.
35 Es ist daher zu bestimmen, wie in einem solchen Fall zum Zweck der Berichtigung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer die Kleinbetragsrechnungen zu ermitteln sind, für die der Steuerpflichtige nach Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mehrwertsteuer schuldet, wenn es sich bei den Empfängern der Leistungen und Rechnungen sowohl um Endverbraucher als auch um vorsteuerabzugsberechtigte Steuerpflichtige handelt.
36 Wie im Wesentlichen aus Nr. 33 der Schlussanträge der Generalanwältin hervorgeht, regelt die Mehrwertsteuerrichtlinie weder diese Frage noch die Frage der Beweislast im Hinblick auf diese Ermittlung. Folglich kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Kriterien festzulegen, nach denen die Fälle zu bestimmen sind, in denen ein Steuerpflichtiger einen zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuerbetrag schuldet. Diese Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ist jedoch durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt, d. h., die oben genannten Kriterien dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C‑397/21, EU:C:2022:790, Rn. 33 und 39).
37 Während der Grundsatz der Äquivalenz im vorliegenden Fall nicht berührt wird, verlangt der Grundsatz der Effektivität, dass nationale Vorschriften – insbesondere über die Feststellung, für welchen Anteil der Rechnungen der betreffende Steuerpflichtige, der zu Unrecht Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, die so in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer schuldet – nicht dazu führen, dass diesem Steuerpflichtigen eine Möglichkeit der Berichtigung oder der Erstattung des irrtümlich gezahlten Mehrwertsteuerbetrags vorenthalten wird, da das Unionsrecht eine entsprechende Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, wenn insbesondere keine Gefährdung des Steueraufkommens des betreffenden Mitgliedstaats vorliegt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob dies unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C‑397/21, EU:C:2022:790, Rn. 36 und 40).
38 Wie in Rn. 26 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist auf der Grundlage jeder konkreten Rechnung zu beurteilen, ob eine Gefährdung des Steueraufkommens im Sinne von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegt, indem geprüft wird, ob deren Empfänger tatsächlich mehrwertsteuerpflichtig ist.
39 Außerdem sind, um den Anteil der Rechnungen zu ermitteln, die einen falschen Mehrwertsteuerbetrag ausweisen und anderen Steuerpflichtigen ausgestellt wurden, alle relevanten Umstände zu berücksichtigen, wie etwa die Art der erbrachten Dienstleistung, die Modalitäten ihrer Erbringung und der Rechnungslegung hierfür, sowie alle statistischen Informationen zu den Empfängern dieser Dienstleistung, über die deren Erbringer verfügt. Insoweit kommt im vorliegenden Fall dem Umstand, dass es sich bei den Kunden des betreffenden Steuerpflichtigen eher selten um andere Steuerpflichtige handelt, besondere Bedeutung zu.
40 Im Hinblick auf die Möglichkeit der Vornahme einer Schätzung, um den Anteil der fehlerhaften Rechnungen zu ermitteln, die anderen Steuerpflichtigen ausgestellt wurden, ist festzustellen, dass das Unionsrecht dem, wie die Generalanwältin in den Nrn. 42 und 43 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, grundsätzlich nicht entgegensteht, sofern im Rahmen einer solchen Schätzung die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit beachtet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Fontana, C‑648/16, EU:C:2018:932, Rn. 36 und 37).
41 Was als Erstes den Grundsatz der steuerlichen Neutralität angeht, gewährleistet das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen. Die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats würde den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer unverhältnismäßig beeinträchtigen, wenn sie den Steuerpflichtigen mit der Mehrwertsteuer belastete, auf deren Erstattung er einen Anspruch hat, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem bezweckt, Unternehmer vollständig von der Mehrwertsteuer zu entlasten, die im Rahmen sämtlicher ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten angefallen oder entrichtet worden ist (Urteil vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 23 und 24).
42 Im Fall der Ausstellung fehlerhafter Rechnungen, die einen zu hohen Mehrwertsteuerbetrag ausweisen, wird dieser Grundsatz durch die von den Mitgliedstaaten vorzusehende Möglichkeit gewahrt, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 28).
43 Was als Zweites den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, verlangt dieser, dass die zur Vornahme einer Schätzung der Anzahl fehlerhafter Rechnungen, die Steuerpflichtigen ausgestellt wurden, verwendeten Daten genau, verlässlich und aktuell sein müssen. Außerdem kann eine solche Schätzung nur zu einer widerlegbaren Vermutung führen, die vom steuerpflichtigen Aussteller dieser Rechnungen auf der Grundlage von Gegenbeweisen entkräftet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Fontana, C‑648/16, EU:C:2018:932, Rn. 42).
44 Insoweit verlangt die Gewährleistung der Verteidigungsrechte des Steuerpflichtigen u. a., dass dieser vor Erlass einer ihn beschwerenden Maßnahme in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Elementen, auf die die Behörden ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigen, sachdienlich vorzutragen und insbesondere die Richtigkeit der in Rede stehenden Schätzung zu bestreiten sowie die Umstände darzulegen, die dieses Bestreiten rechtfertigen. Außerdem verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass das hierfür erforderliche Beweismaß nicht übermäßig hoch sein darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Fontana, C‑648/16, EU:C:2018:932, Rn. 43 und 44).
45 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie dem nicht entgegensteht, dass im Fall einer vereinfachten Rechnungslegung gemäß ihrem Art. 238 eine Steuerbehörde oder ein nationales Gericht durch Schätzung ermittelt, für welchen Anteil der Rechnungen ein Steuerpflichtiger, der zu Unrecht Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, diese Steuer nach Art. 203 dieser Richtlinie schuldet, sofern bei einer solchen Schätzung alle relevanten Umstände berücksichtigt werden und der Steuerpflichtige unter Beachtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Verteidigungsrechte die Möglichkeit hat, die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse in Frage zu stellen.
Kosten
46 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom 16. November 2018 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
ein Steuerpflichtiger, der eine Leistung erbracht und in seiner Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hat, der auf der Grundlage eines falschen Steuersatzes berechnet wurde, den einem Nichtsteuerpflichtigen zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer nicht schuldet, selbst wenn er gleichartige Leistungen auch an andere Steuerpflichtige erbracht hat.
2. Die Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2018/1695 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
nur nicht steuerpflichtige Personen als „Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind“, im Sinne des Urteils vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C ‑378/21, EU:C:2022:968), einzustufen sind. Somit fallen Steuerpflichtige, die in einer bestimmten Situation nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, nicht unter diese Wendung.
3. Die Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2018/1695 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
sie dem nicht entgegensteht, dass im Fall einer vereinfachten Rechnungslegung gemäß Art. 238 der Richtlinie 2006/112 in geänderter Fassung eine Steuerbehörde oder ein nationales Gericht durch Schätzung ermittelt, für welchen Anteil der Rechnungen ein Steuerpflichtiger, der zu Unrecht Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, diese Steuer nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 in geänderter Fassung schuldet, sofern bei einer solchen Schätzung alle relevanten Umstände berücksichtigt werden und der Steuerpflichtige unter Beachtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Verteidigungsrechte die Möglichkeit hat, die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse in Frage zu stellen.
Jääskinen
Jarukaitis
Arabadjiev
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. August 2025.
Der Kanzler
Der Kammerpräsident
A. Calot Escobar
N. Jääskinen