C-610/23 – Al Nasiria

C-610/23 – Al Nasiria

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2025:60

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 6. Februar 2025(1)

Rechtssache C610/23 [Al Nasiria](i)

FO

gegen

Ypourgos Metanastefsis kai Asylou

(Vorabentscheidungsersuchen des Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis [Verwaltungsgericht Thessaloniki, Griechenland])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Internationaler Schutz – Richtlinie 2013/32 – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Art. 46 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Umfassende Ex‑nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs – Entscheidung, den Rechtsbehelf ohne inhaltliche Prüfung zurückzuweisen – Fehlendes persönliches Erscheinen des Rechtsbehelfsführers bei der Prüfung seines Rechtsbehelfs vor der zuständigen Einrichtung “

I.      Einleitung

1.        Die vorliegende Rechtssache betrifft das in Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU(2) niedergelegte Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der ihr Antrag abgelehnt wird. Konkret wirft sie die Frage auf, ob diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der die Vermutung aufgestellt wird, dass ein Antragsteller, der vor dem mit der Prüfung seines Rechtsbehelfs befassten Gericht nicht persönlich erscheint, seinen Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt hat mit der Folge, dass der Rechtsbehelf als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen wird, ohne dass eine inhaltliche Prüfung erfolgt.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

2.        Kapitel V („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2013/23 enthält einen Artikel, nämlich Art. 46 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“), in dem es heißt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen

a)      eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz, einschließlich einer Entscheidung,

i)      einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten;

(3)      Zur Einhaltung des Absatzes 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Exnunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95/EU[(3)] zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird.

(4)      Die Mitgliedstaaten legen angemessene Fristen und sonstige Vorschriften fest, die erforderlich sind, damit der Antragsteller sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann. Die Fristen dürfen die Wahrnehmung dieses Rechts weder unmöglich machen noch übermäßig erschweren.

(11)      Die Mitgliedstaaten können ferner in ihren nationalen Rechtsvorschriften die Bedingungen für die Vermutung der stillschweigenden Rücknahme oder des Nichtbetreibens eines Rechtsbehelfs nach Absatz 1 durch den Antragsteller sowie das anzuwendende Verfahren festlegen.“

B.      Nationales Recht

1.      Gesetz 4375/2016

3.        Durch Art. 4 Abs. 1 des Nomos 4375/2016, Organosi kai leitourgia Ypiresias Asylou, Archis Prosfygon, Ypiresias Ypodochis kai Taftopoiisis systasi Genikis Grammateias Ypodochis, prosarmogi tis Ellinikis Nomothesias pros tis diataxeis tis Odigias 2013/32/EE tou Evropaikou Koinovouliou kai tou Symvouliou „schetika me tis koines diadikasies gia ti chorigisi kai anaklisi tou kathestotos diethnous prostasias (anadiatyposi)“ (EE 2013, L 180), diataxeis gia tin ergasia dikaiouchon diethnous prostasias kai alles diataxeis (Gesetz 4375/2016 über den Aufbau und die Funktion des Asyldienstes, der Flüchtlingsbehörde und des Aufnahme- und Identifizierungsdienstes, die Einrichtung eines Generalsekretariats für die Aufnahme, über die Anpassung der griechischen Rechtsvorschriften an die [Richtlinie 2013/32/EU], Bestimmungen betreffend die Arbeit von Personen mit internationalem Schutzstatus und weitere Bestimmungen) (FEK Α’ 51/3.4.2016), in der durch den Nomos 4399/2016 (Gesetz 4399/2016) geänderten Fassung) (im Folgenden: Gesetz 4375/2016) wurden die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse eingerichtet. Diese Ausschüsse haben ihren Sitz in Athen und sind örtlich für Griechenland zuständig(4). Sie sind für die Entscheidung über Rechtsbehelfe von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zuständig, damit Entscheidungen der Ypiresia Asylou (Asylbehörde, Griechenland), mit denen der Antrag dieser Personen erstinstanzlich abgelehnt worden ist, in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüft werden. Die Zahl dieser Ausschüsse wird durch eine Ministerialverordnung festgelegt.

2.      Gesetz 4636/2019

4.        Die Richtlinien 2011/95 und 2013/32 wurden durch den im Ausgangsverfahren zeitlich anwendbaren Nomos 4363/2019, Peri Diethnous Prostasias kai alles diataxeis (Gesetz 4636/2019 über den internationalen Schutz und weitere Bestimmungen, im Folgenden: Gesetz 4636/2019) (FEK A’ 169/1.11.2019) in griechisches Recht umgesetzt.

5.        Nach Art. 92 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes 4636/2019 hat eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht, gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag auf internationalen Schutz erstinstanzlich als unbegründet zurückgewiesen worden ist, einen Rechtsbehelf(5) bei den Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüssen einzulegen.

6.        Des Weiteren sieht Art. 97 Abs. 2 des Gesetzes 4636/2019 vor, dass der Rechtsbehelfsführer verpflichtet ist, im Verfahren vor den Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüssen persönlich zu erscheinen. Die einzigen Fälle, in denen er nicht persönlich erscheinen muss, sind in Art. 78 Abs. 3 aufgeführt. Es handelt sich um Fälle, in denen sich die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in einer Aufnahme- oder Unterbringungseinrichtung aufhält, einer Beschränkung ihrer Freizügigkeit unterworfen oder ihr die Verpflichtung auferlegt worden ist, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten. In diesen Fällen kann sich der Rechtsbehelfsführer entweder durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen oder eine durch den Leiter der Aufnahme- oder Unterbringungseinrichtung unterzeichnete Bescheinigung übermitteln. Erscheint die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht persönlich bzw. übermittelt sie keine Bescheinigung nach Art. 78 Abs. 3 des Gesetzes 4636/2019, wird vermutet, dass sie den Rechtsbehelf nur eingelegt hat, um den Vollzug einer früheren oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung über ihre Abschiebung oder anderweitige Rückführung zu verzögern oder zu verhindern. In diesem Fall wird ihr Rechtsbehelf als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7.        FO, ein Drittstaatsangehöriger, stellte am 28. Februar 2019 beim Perifereiako Grafeio Asylou Samou (regionales Asylbüro, Samos, Griechenland) einen Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung, dass sein Leben in seinem Herkunftsland in Gefahr sei.

8.        Nachdem festgestellt worden war, dass er schwere Formen physischer Gewalt erlitten hatte, erschien FO am 24. Februar 2020 im Perifereiako Grafeio Asylou Thessalonikis (regionales Asylbüro Thessaloniki, Griechenland). Er erklärte, dass gegen ihn eine Stammesentscheidung vorliege, mit der seine Tötung verlangt werde, und legte ein Dokument zur Stützung seines Vorbringens vor.

9.        Mit Entscheidung vom 18. Mai 2020 lehnte das regionale Asylbüro den Antrag von FO auf internationalen Schutz ab, da das Vorbringen von FO als nicht glaubhaft angesehen wurde. Das vorgelegte Dokument wurde aufgrund des vagen Charakters der darin enthaltenen Aussagen und der Unmöglichkeit, die Authentizität des Dokuments zu überprüfen, nicht als Beweis zugelassen.

10.      Am 27. August 2021 legte FO gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf beim zuständigen Unabhängigen Rechtsbehelfsausschuss ein. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihm mitgeteilt, dass als Termin für die Prüfung seines Rechtsbehelfs der 11. Oktober 2021 festgesetzt worden sei. Ihm wurde ferner mitgeteilt, dass er, auch wenn er nicht zu einer Erörterung geladen würde, am Tag der Prüfung seines Rechtsbehelfs persönlich erscheinen müsse, es sei denn, er halte sich rechtmäßig in einem Aufnahme- und Identifizierungszentrum auf oder sei einer Beschränkung seiner Freizügigkeit oder seines Wohnsitzes an einem Ort außerhalb der Region Attika (Griechenland) unterworfen.

11.      FO erschien zu dem für die Erörterung festgesetzten Termin nicht persönlich vor diesem Ausschuss. Daher wies der Ausschuss, nachdem er festgestellt hatte, dass sich der Rechtsbehelfsführer weder in einem Aufnahme- und Identifizierungszentrum aufhielt noch einer Beschränkung seiner Freizügigkeit unterworfen war und dass auch kein Fall höherer Gewalt vorlag, den Rechtsbehelf auf der Grundlage von Art. 97 Abs. 2 des Gesetzes 4636/2019 ohne inhaltliche Prüfung als offensichtlich unbegründet zurück. Außerdem verhängte er gemäß Art. 22 Abs. 4 des Nomos 3907/2011(6) eine Rückkehrmaßnahme ohne die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise aus dem Land.

12.      FO erhob beim Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki, Griechenland), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aufhebung dieser Entscheidung des zuständigen Unabhängigen Rechtsbehelfsausschusses und machte geltend, sein Rechtsbehelf sei unrechtmäßig mit der bloßen Begründung, er sei bei dessen Erörterung abwesend gewesen, und ohne angemessene inhaltliche Prüfung des Rechtsbehelfs zurückgewiesen worden, obwohl es ihm aufgrund finanzieller Schwierigkeiten, die ihn davon abgehalten hätten, sich von Thessaloniki, wo er seinen Wohnsitz habe, nach Athen (Griechenland) zu begeben, nicht möglich gewesen sei, zu der Erörterung zu erscheinen.

13.      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass der mit der Einrichtung der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse verfolgte Zweck darin bestanden habe, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewährleisten, wie es in Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) vorgesehen sei.

14.      Um die erforderlichen Verfahrensgarantien zu gewährleisten, seien diese Ausschüsse, die in der Begründung des Gesetzes 4399/2016 als „gerichtsähnliche Einrichtungen“ bezeichnet würden, mehrheitlich mit Richtern der allgemeinen Verwaltungsgerichte besetzt. Die Mitglieder dieser Ausschüsse genössen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben persönliche und funktionale Unabhängigkeit.

15.      Außerdem werde die Einhaltung des Grundsatzes der Unparteilichkeit gewährleistet, da diese Ausschüsse im Verhältnis zu den beteiligten Parteien den Status eines Dritten hätten und nicht die Verwaltung verträten.

16.      Ferner seien die Entscheidungen dieser Ausschüsse über verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe, die nach eingehender Prüfung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht und mit einer vollständigen, spezifischen und konkreten Begründung erlassen würden, für die Parteien verbindlich, da sie nur im Wege der Einlegung eines Rechtsmittels, nämlich einer Aufhebungsklage vor einem Verwaltungsgericht, angefochten werden könnten.

17.      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen seien die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse zwar keine Gerichte im Sinne des Syntagma (Verfassung Griechenlands), jedoch stellten sie Ausschüsse mit rechtsprechender Zuständigkeit im Sinne von Art. 89 Abs. 2 des Syntagma (Verfassung Griechenlands) dar.

18.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Richtlinie 2013/32 keine spezifischen Regelungen hinsichtlich des Erscheinens der Rechtsbehelfsführer vor der Einrichtung, die den wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 46 der Richtlinie 2013/32 prüfe, oder hinsichtlich der Folgen der Nichteinhaltung dieser Verfahrenspflicht enthalte. Es könne daher der Schluss gezogen werden, dass die im nationalen Recht vorgesehene Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, und die Regelung, den Rechtsbehelf im Fall der Nichteinhaltung dieser Verpflichtung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen, unter den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fielen, wobei jedoch der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten seien.

19.      Im Hinblick auf den Äquivalenzgrundsatz möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das in Rede stehende Verfahren mit einem Verfahren vor mit verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfen befassten Verwaltungsbehörden oder mit dem Verfahren für Anfechtungs- oder Aufhebungsklagen vor dem Verwaltungsgericht vergleichbar ist. In diesen anderen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren sei das persönliche Erscheinen nicht zwingend vorgeschrieben, und ein Rechtsanwalt könne den Rechtsbehelfsführer vertreten.

20.      Im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Auffassung vertreten werden könne, dass Art. 97 Abs. 2 des Gesetzes 4636/2019 aus Gründen eines reibungslosen Ablaufs und einer schnellen Durchführung der Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz gerechtfertigt sei. Das in dieser Vorschrift vorgesehene Erfordernis stelle sicher, dass Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, weiterhin ein Interesse am Ausgang ihres Rechtsbehelfsverfahrens hätten und sich noch im griechischen Hoheitsgebiet aufhielten.

21.      Dagegen könne jedoch eingewandt werden, dass die vorgenannte Vorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich mache oder übermäßig erschwere. Zum einen erlege sie Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, eine unverhältnismäßig hohe Belastung auf, da sie diese verpflichte (sofern sie nicht unter eine der in Art. 78 Abs. 3 des Gesetzes 4636/2019 vorgesehenen Ausnahmen fielen), sich zum Sitz der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse in Athen zu begeben, nur um ihre Anwesenheit zu melden, und nicht, um angehört zu werden. Ein Rechtsanwalt oder eine andere bevollmächtige Person könne die Rechtsbehelfsführer dabei nicht vertreten. Zum anderen sehe die Vorschrift als Folge der Nichteinhaltung dieser Verfahrenspflicht die Vermutung vor, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich sei, so dass der Rechtsbehelf als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen sei.

22.      Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass die Richtlinie 2013/32 vorsehe, dass die Nichteinhaltung von Kommunikationspflichten zu der Vermutung führen könne, dass der Antrag zurückgenommen werde, nicht aber dazu, dass er als unbegründet abgelehnt werde. Eine solche Ablehnung setze eine vorherige Prüfung des Antrags voraus. Das vorlegende Gericht stellt weiter fest, dass die Ablehnung eines Antrags als offensichtlich unbegründet schwerwiegende Folgen habe, nämlich den Ausschluss einer Frist zur freiwilligen Ausreise und den Erlass eines Einreiseverbots.

23.      Schließlich scheine die Tatsachengrundlage, von der die Vermutung des Art. 97 Abs. 2 des Gesetzes 4636/2019 ausgehe, nicht der allgemeinen Erfahrung und der Logik zu entsprechen. Der Umstand, dass der Rechtsbehelfsführer vor dem zuständigen Unabhängigen Rechtsbehelfsausschuss nicht persönlich erscheine, könne nämlich auf Gründe zurückzuführen sein, die mit einer Absicht, den Vollzug einer früheren oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung über seine Abschiebung oder Rückführung zu verhindern oder zu verzögern, nichts zu tun hätten. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Entscheidungen der betreffenden Ausschüsse nicht am selben Tag erlassen würden und daher das Erscheinen der Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, beim Erörterungstermin vor den Ausschüssen den Vollzug der Rückkehrentscheidung im Fall der Zurückweisung des Rechtsbehelfs in keiner Weise erleichtere.

24.      Unter diesen Umständen hat das Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kann der Gesetzgeber – angesichts der Bedeutung des in Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU geregelten Rechtsbehelfs – für den Fall, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, vor dem mit der Prüfung ihres Rechtsbehelfs befassten Ausschuss nicht persönlich erscheint, die Vermutung festlegen, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich ist, und als Rechtsfolge vorsehen, dass er ohne umfassende inhaltliche Exnunc-Prüfung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen wird (was auch zur Folge hat, dass keine Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß Art. 22 Abs. 4 des Gesetzes 3907/2011 und Art. 7 der Richtlinie 2008/115(7) gewährt wird)?

2.a)      Falls festgestellt wird, dass diese Frage unter den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fällt, sind dann im Rahmen der Prüfung des Äquivalenzgrundsatzes als vergleichbare nationale Verfahrensvorschriften diejenigen anzusehen, die die Verfahren vor den mit Rechtsbehelfen des nationalen Rechts befassten Verwaltungsausschüssen regeln, oder die Verfahrensvorschriften, die für die Erhebung von Anfechtungsklagen (oder Aufhebungsklagen) vor den Verwaltungsgerichten gelten?

b)      Ist die vorgesehene Verpflichtung, persönlich zu erscheinen (oder in den in Art. 78 Abs. 3 des Gesetzes 4636/2019 vorgesehenen Fällen eine Bescheinigung gemäß dieser Bestimmung zu übermitteln), mit dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts, insbesondere der effektiven Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, vereinbar? Ist es ferner in diesem Zusammenhang von Bedeutung, ob zum einen die in Art. 97 Abs. 2 des Gesetzes 4636/2019 vorgesehene Vermutung der missbräuchlichen Einlegung des Rechtsbehelfs der allgemeinen Erfahrung entspricht und dass zum anderen im Rahmen der (erstinstanzlichen) Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz dasselbe Verhalten zur Vermutung der stillschweigenden Rücknahme des Antrags und nicht zu dessen Ablehnung als offensichtlich unbegründet führen würde?

25.      Die griechische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkungen zur Einordnung der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse als „Gericht[e]“

26.      Die Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen die nationale Regelung zur Umsetzung von Art. 46 der Richtlinie 2013/32, der ein Verfahren für einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidungen der Asylbehörde vorsieht(8).

27.      Art. 46 Abs. 1 Buchst. a bestimmt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Antragsteller insbesondere gegen eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben.

28.      Im 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 wird ausgeführt, dass einem Grundprinzip des Unionsrechts zufolge u. a. gegen die Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem Gericht gegeben sein muss.

29.      Daraus folgt, dass das in Art. 46 vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem „Gericht“ ausgeübt werden muss.

30.      Mit der im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Regelung werden die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse eingerichtet, die für die Entscheidung über Rechtsbehelfe von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zuständig sind, damit erstinstanzliche ablehnende Entscheidungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüft werden(9).

31.      Bevor ich konkrete Aspekte der nationalen Regelung im Hinblick auf Art. 46 der Richtlinie 2013/32 untersuche, halte ich es für wichtig, zu prüfen, ob die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse als „Gericht[e]“ im Sinne von Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 angesehen werden können, die geeignet sind, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewährleisten(10).

32.      Zur Beurteilung der Frage, ob es sich bei einer Einrichtung um ein „Gericht“ für die Zwecke der Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz handelt, hat der Gerichtshof die gleichen Kriterien herangezogen, die er im Zusammenhang mit der Beurteilung der Frage entwickelt hat, ob es sich bei einer vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt(11).

33.      Der Gerichtshof stellt bei dieser rein unionsrechtlichen Frage in ständiger Rechtsprechung auf eine Reihe von Merkmalen ab, zu denen u. a. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit gehören(12).

34.      Im Urteil D. und A. hat der Gerichtshof konkret geprüft, ob das Refugee Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Flüchtlingssachen, Irland) die vorstehenden Kriterien erfüllte und entschieden, dass das in dieser Rechtssache in Rede stehende nationale Rechtssystem einen wirksamen Rechtsschutz für Asylbewerber vorsieht. Der Gerichtshof hat insofern insbesondere den Umstand berücksichtigt, dass die Entscheidungen des Refugee Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Flüchtlingssachen) auch vor dem High Court (Hohes Gericht, Irland) angefochten werden können(13).

35.      Im vorliegenden Fall erläutert das vorlegende Gericht ausführlich die Verfahrensgarantien, die in der nationalen Regelung zur Einrichtung der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse, d. h. dem Gesetz 4375/2016, vorgesehen sind. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts erfüllen diese Ausschüsse alle der in Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge genannten Kriterien für die Einstufung als „Gericht“.

36.      Die dem Gerichtshof vorliegenden Akten enthalten keine Anhaltspunkte, die Zweifel an der Erfüllung dieser Kriterien aufkommen ließen.

37.      Was insbesondere das Kriterium der Unabhängigkeit angeht, führt das vorlegende Gericht aus, dass die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse in der Präambel des Gesetzes 4375/2016 als „gerichtsähnliche“ Einrichtungen eingestuft würden, die hauptsächlich aus Richtern zusammengesetzt seien und deren Mitglieder persönliche und funktionale Unabhängigkeit genössen(14). Das vorlegende Gericht weist zudem darauf hin, dass die Entscheidungen dieser Ausschüsse der gerichtlichen Kontrolle durch die allgemeinen Verwaltungsgerichte unterlägen. Daher seien die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse zwar keine Gerichte im Sinne des Syntagma (Verfassung Griechenlands), stellten jedoch Ausschüsse mit rechtsprechender Zuständigkeit im Sinne von Art. 89 Abs. 2 des Syntagma (Verfassung Griechenlands) dar(15).

38.      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kann die Einstufung der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse als „Gerichte“ im Sinne von Art. 46 der Richtlinie 2013/32 nicht in Zweifel gezogen werden.

B.      Zu den Vorlagefragen

39.      Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 46 der Richtlinie 2013/32 im Licht des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes sowie von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, der Verfahrenspflicht, vor der Einrichtung, die ihren Rechtsbehelf gegen eine über ihren Antrag ergangene Entscheidung prüft, persönlich zu erscheinen, nicht nachkommt, die Vermutung aufstellt, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich ist, und vorsieht, dass der Rechtsbehelf ohne inhaltliche Prüfung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.

40.      Gemäß der im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Regelung sind Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, verpflichtet, vor der Einrichtung, die ihren Rechtsbehelf prüft, d. h. vor den Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüssen, persönlich zu erscheinen. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Verpflichtung, vor diesen Ausschüssen persönlich zu erscheinen, nicht bedeutet, dass der Antragsteller von dem Ausschuss angehört wird.

41.      Die nationale Regelung sieht bestimmte Ausnahmen von der Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, vor, nämlich, wenn sich der Antragsteller in einer Aufnahme- oder Unterbringungseinrichtung aufhält oder wenn er einer Beschränkung seiner Freizügigkeit unterworfen worden ist. In diesen Fällen wird die Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, durch die Verpflichtung ersetzt, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen oder die in der nationalen Regelung vorgesehene Bescheinigung zu übermitteln. Darüber hinaus ist die Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, im Fall höherer Gewalt – wie schwerer Krankheit, schwerer körperlicher Invalidität oder unüberwindbarer Umstände – ausgesetzt(16). Abgesehen von diesen Ausnahmen sieht die nationale Regelung für den Fall, dass der Antragsteller seiner Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, nicht nachkommt, die Vermutung vor, dass der Antragsteller den Rechtsbehelf missbräuchlich nur zu dem Zweck eingelegt hat, den Vollzug einer früheren oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung über seine Abschiebung oder anderweitige Rückführung zu verzögern oder zu verhindern. Diese Vermutung hat zur Folge, dass der Rechtsbehelf als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen wird, ohne dass eine inhaltliche Prüfung erfolgt.

42.      Ausweislich seiner Überschrift bezieht sich Art. 46 der Richtlinie 2013/32 auf das Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 garantiert Antragstellern daher das Recht, Entscheidungen über ihren Antrag einschließlich einer Entscheidung, einen Antrag als unbegründet zu betrachten, anzufechten.

43.      Art. 46 Abs. 3 dieser Richtlinie definiert den Umfang dieses Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, indem er klarstellt, dass die durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass das Gericht, vor dem die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz angefochten wird, „eine umfassende Exnunc-Prüfung [vornimmt], die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie [2011/95]“ zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht „beurteilt wird“(17).

44.      Auch geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Merkmale des in Art. 46 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Rechtsbehelfs im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen sind, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt. Art. 47 der Charta entfaltet aus sich heraus Wirkung und muss nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann. Daher kann für Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie, der im Licht von Art. 47 der Charta ausgelegt wird, nichts anderes gelten(18).

45.      Allerdings überlässt es Art. 46 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 den Mitgliedstaaten, die Vorschriften festzulegen, die erforderlich sind, damit Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wahrnehmen können(19).

46.      Es sei darauf hingewiesen, dass Art. 46 keine Verpflichtung dahingehend enthält, dass Antragsteller vor dem für die Entscheidung über ihren Rechtsbehelf zuständigen Gericht persönlich erscheinen müssen. Jedoch räumt Art. 46 Abs. 4 den Mitgliedstaaten beim Erlass der Vorschriften, die für die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf für Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, erforderlich sind, einen Ermessensspielraum ein, der eine solche Verfahrenspflicht umfassen kann.

47.      Die Kommission und die griechische Regierung stimmen zwar in dieser Aussage überein, sind aber unterschiedlicher Meinung darüber, ob Art. 46 es den Mitgliedstaaten erlaubt, die in der nationalen Regelung genannten konkreten Folgen im Fall eines Verstoßes gegen die Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, vorzusehen, d. h. die Vermutung, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich ist, und die Zurückweisung des Rechtsbehelfs als offensichtlich unbegründet, ohne dass eine inhaltliche Prüfung erfolgt.

48.      Die Kommission macht im Wesentlichen geltend, dass diese Folgen gegen Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 verstießen. Darüber hinaus verstoße die Zurückweisung eines Rechtsbehelfs als offensichtlich unbegründet, ohne dass eine inhaltliche Prüfung erfolge, gegen Art. 13 und Art. 18 der Richtlinie 2011/95. Aus diesen Vorschriften gehe hervor, dass die Mitgliedstaaten dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuerkennen müssten, wenn er die Voraussetzungen für diesen Status nach der Richtlinie 2011/95 erfülle. Es stehe den Mitgliedstaaten nicht frei, diesen Status mit der Begründung zu verweigern, dass der Antragsteller am Tag der Prüfung seines Rechtsbehelfs nicht persönlich erschienen sei.

49.      Die griechische Regierung macht hingegen im Wesentlichen geltend, dass die in der nationalen Regelung vorgesehene Vermutung, dass der Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt worden sei, mit der Folge, dass er als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen sei, wenn der Antragsteller nicht persönlich erscheine, auf Art. 46 Abs. 11 der Richtlinie 2013/32 beruhe. Aus dieser Vorschrift ergebe sich, dass die Mitgliedstaaten nicht nur die Bedingungen festlegen könnten, unter denen vermutet werden könne, dass ein Antragsteller seinen Rechtsbehelf stillschweigend zurückgenommen habe oder nicht weiter betreibe, sondern auch die in solchen Fällen anzuwendenden Verfahrensvorschriften.

50.      Um diese Standpunkte beurteilen zu können, werde ich zunächst prüfen, ob die Mitgliedstaaten eine Vermutung der missbräuchlichen Einlegung eines Rechtsbehelfs vorsehen dürfen, bevor ich die in der anwendbaren nationalen Regelung festgelegte Vermutung prüfe.

1.      Zur Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Vermutung vorzusehen, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs missbräuchlich ist

51.      Erstens geht aus Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 hervor, dass das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht – zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht – verpflichtet ist, die nach dieser Vorschrift vorgesehene umfassende, sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckende Exnunc-Prüfung durchzuführen(20).

52.      Art. 46 Abs. 3 ist jedoch in Verbindung mit Art. 46 Abs. 4 und Art. 46 Abs. 11 zu sehen.

53.      Wie bereits erwähnt(21), folgt aus Art. 46 Abs. 4, dass die Mitgliedstaaten die Vorschriften für die Einlegung des Rechtsbehelfs erlassen, wozu die Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, gehören kann. Die Möglichkeit eines Mitgliedstaats, Fristen und sonstige Vorschriften festzulegen, die erforderlich sind, damit der Antragsteller seinen Rechtsbehelf geltend machen kann, schließt die Möglichkeit ein, die Folgen einer Nichteinhaltung dieser Fristen oder anderen Vorschriften zu regeln.

54.      Zweitens können die Mitgliedstaaten nach Art. 46 Abs. 11 der Richtlinie 2013/32 die Bedingungen für die Vermutung der „stillschweigenden Rücknahme … eines Rechtsbehelfs“ durch den Antragsteller „sowie das anzuwendende Verfahren“ festlegen.

55.      Für die Auslegung dieser Bestimmung ist zunächst zu klären, ob Art. 28 Abs. 1 und Art. 32 der Richtlinie 2013/32 einschlägig sind. Art. 28 Abs. 1 regelt das Verfahren bei stillschweigender Rücknahme des Antrags oder Nichtbetreiben des Verfahrens. In diesem Fall müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Asylbehörde entweder entscheidet, die Antragsprüfung einzustellen oder, sofern die Asylbehörde den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung als unbegründet ansieht, den Antrag abzulehnen. Art. 32 Abs. 1 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag nur dann als unbegründet betrachten können, wenn die Asylbehörde festgestellt hat, dass der Antragsteller nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 erfüllt.

56.      Art. 32 Abs. 2 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten im Fall von unbegründeten Anträgen, bei denen einer der in Art. 31 Abs. 8 aufgeführten Umstände (einschließlich des Falls, dass der Antragsteller den Antrag nur zur Verzögerung oder Behinderung der Vollstreckung einer bereits getroffenen oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung stellt, die zu seiner Rückführung führen würde(22)) gegeben ist, einen Antrag ferner als offensichtlich unbegründet betrachten können, wenn dies so in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist.

57.      Wie die griechische Regierung und die Kommission im Wesentlichen festgestellt haben, betreffen Art. 28 Abs. 1 und Art. 32 der Richtlinie 2013/32 jedoch die Verfahren zur Prüfung des Antrags in erster Instanz durch die Asylbehörde. Art. 46 betrifft das Rechtsbehelfsverfahren vor einem Gericht gegen eine Entscheidung der Asylbehörde. Es handelt sich um zwei verschiedene Verfahren.

58.      Die in der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Regelungen über offensichtlich unbegründete Anträge und die von der Asylbehörde festzustellenden Vermutungen betreffen daher nicht das gerichtliche Verfahren. Dies wird auch das Fehlen einer Bezugnahme in Art. 46 auf Art. 28 Abs. 1 und Art. 32 bestätigt. In dem Verfahren vor einem mit einem Rechtsbehelf befassten Gericht können die Mitgliedstaaten nach Art. 46 Abs. 11 die Vermutung der stillschweigenden Rücknahme oder des Nichtbetreibens eines Rechtsbehelfs durch den Antragsteller und auch das anzuwendende Verfahren festlegen.

59.      Nach dieser Klarstellung stellt sich sodann die Frage, ob ein Mitgliedstaat die Vermutung aufstellen kann, dass der Antragsteller den Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt hat, um den Vollzug einer früheren Entscheidung über seine Rückführung zu verzögern oder zu verhindern. Zwar nimmt Art. 46 Abs. 11 nicht ausdrücklich auf eine solche Vermutung Bezug, doch hindert die Vorschrift die Mitgliedstaaten nicht daran, Vermutungen vorzusehen, mit denen ähnliche Zwecke verfolgt werden wie mit einer Vermutung der stillschweigenden Rücknahme oder des Nichtbetreibens des Rechtsbehelfs. Wie die griechische Regierung im Wesentlichen ausgeführt hat, soll mit der Vermutung, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs rechtsmissbräuchlich ist, sichergestellt werden, dass Anträge auf internationalen Schutz schnell bearbeitet werden und die Effizienz der Justiz gewahrt wird, damit sich die Justiz auf diejenigen Antragsteller konzentrieren kann, die ein echtes Interesse am Ausgang ihres Rechtsbehelfs haben. Der ordnungsgemäße und zügige Ablauf des Verfahrens zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz sowie die schnelle Bearbeitung von Anträgen tragen dem Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die solchen Schutz beantragen, Rechnung(23).

60.      Wenn das nationale Recht dies vorsieht, kann der Anwendungsbereich einer Vermutung der stillschweigenden Rücknahme oder des Nichtbetreibens eines Rechtsbehelfs daher die Vermutung umfassen, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich ist. Nach Art. 46 Abs. 11 können die Mitgliedstaaten sodann die Bedingungen, unter denen diese Vermutung festzustellen ist, sowie das anzuwendende Verfahren festlegen.

61.      Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der dem Schutz der Rechte der Bürger dienenden Rechtsbehelfe festzulegen, wobei diese jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz)(24).

62.      Nach der oben in Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung sind die Bedingungen, unter denen diese Vermutung festzustellen ist, sowie das anzuwendende Verfahren im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen.

63.      Auf der Grundlage dieser Erwägungen werde ich die in der nationalen Regelung vorgesehene Vermutung prüfen.

2.      Zur in der nationalen Regelung vorgesehenen Vermutung im Licht des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes sowie von Art. 47 der Charta

64.      Die notwendige und hinreichende Bedingung für die Festlegung der Vermutung, dass der Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt worden ist, ist im vorliegenden Fall der Umstand, dass der Antragsteller vor dem Unabhängigen Rechtsbehelfsausschuss nicht persönlich erscheint(25). Das in diesem Fall anzuwendende Verfahren ist die Zurückweisung des Rechtsbehelfs als offensichtlich unbegründet, ohne dass eine inhaltliche Prüfung erfolgt, und der Erlass einer Rückkehrmaßnahme ohne die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise.

65.      Aus obigen Ausführungen ergibt sich, dass die Bedingungen für eine Vermutung, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs missbräuchlich ist, und die Vorschriften des anzuwendenden Verfahrens in den Anwendungsbereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fallen, vorbehaltlich der Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes sowie der Einhaltung von Art. 47 der Charta(26).

66.      Was erstens den Äquivalenzgrundsatz anbelangt, verlangt dessen Wahrung nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützten Rechtsbehelfe und entsprechende, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützte Rechtsbehelfe gleichbehandelt werden(27).

67.      Somit ist zum einen zu ermitteln, welche Verfahren oder Rechtsbehelfe vergleichbar sind, und zum anderen zu klären, ob die auf das nationale Recht gestützten Rechtsbehelfe günstiger behandelt werden als Rechtsbehelfe, mit denen die den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durchgesetzt werden sollen(28).

68.      Hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Rechtsbehelfe ist es Sache des nationalen, über unmittelbare Kenntnis der anwendbaren Verfahrensmodalitäten verfügenden Gerichts, die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe aus dem Blickwinkel ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen(29).

69.      In Bezug auf die vergleichbare Behandlung der Rechtsbehelfe ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Gericht bei der Untersuchung jedes Falles, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift für Rechtsbehelfe, die sich auf Unionsrecht stützen, ungünstiger ist als die Vorschriften, die vergleichbare Rechtsbehelfe des innerstaatlichen Rechts betreffen, die Stellung dieser Vorschriften im gesamten Verfahren, den Verfahrensablauf und die Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu berücksichtigen hat(30).

70.      Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Verfahren vor den Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüssen mit dem Verfahren vor Verwaltungseinrichtungen, die Rechtsbehelfe prüfen, oder mit den Verfahrensvorschriften für Anfechtungs- oder Aufhebungsklagen vor den Verwaltungsgerichten zu vergleichen sind. Das vorlegende Gericht führt aus, dass die persönliche Anwesenheit des Rechtsbehelfsführers in diesen anderen Rechtsbehelfs- bzw. Klageverfahren nicht zwingend vorgeschrieben und dass die Vertretung durch einen Rechtsanwalt möglich sei.

71.      Die griechische Regierung macht geltend, dass es sich bei dem Rechtsbehelf vor den Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüssen um ein spezifisches Verfahren für Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, handle, und dass das in Rede stehende Verfahren nicht mit anderen Verfahren vor den Verwaltungsbehörden oder anderen Gerichten verglichen werden dürfe. Auch sei der Zweck des Erfordernisses, persönlich zu erscheinen, nicht der gleiche wie der Zweck, der mit den Vorschriften über die Vertretung eines Antragstellers durch einen Rechtsanwalt verfolgt werde. Der Zweck des Erfordernisses, persönlich zu erscheinen, bestehe im Nachweis der physischen Anwesenheit des Antragstellers im nationalen Hoheitsgebiet.

72.      Auch wenn es Sache des nationalen Gerichts ist, die Vergleichbarkeit und die ähnliche Behandlung der Verfahren zu prüfen, kann festgestellt werden, dass der Rechtsbehelf vor den Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüssen nur am Sitz dieser Ausschüsse eingelegt werden kann, der sich in Athen befindet. Dem Erfordernis, die Verfahrenspflicht, persönlich zu erscheinen, zu erfüllen, kann nur durch das Erscheinen vor den Unabhängigen Rechtsbehelfslausschüssen nachgekommen werden. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht scheint die Verpflichtung des Antragstellers, ausschließlich vor einem einzigen Gericht in der Hauptstadt des Landes persönlich zu erscheinen, in anderen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren nicht zu gelten. Die von der griechischen Regierung geltend gemachte Besonderheit der Rechtsbehelfe von Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, scheint nicht zu erklären, weshalb dem Erfordernis, persönlich zu erscheinen, nur vor einem einzigen Gericht in der Hauptstadt des Landes nachgekommen werden kann. Das nationale Gericht kann für die Feststellung, ob der Äquivalenzgrundsatz gewahrt wurde, die Vergleichbarkeit der Verfahren daher auch unter diesem Gesichtspunkt beurteilen.

73.      Was zweitens die Frage der Einhaltung der den Effektivitätsgrundsatz betreffenden Voraussetzung anbelangt, ist in Bezug auf eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen ist. Einzubeziehen sind dabei gegebenenfalls u. a. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens(31).

74.      Aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der griechischen Regierung geht hervor, dass die Gründe für die zwingend vorgeschriebene physische Anwesenheit des Antragstellers zum einen damit zusammenhängen, dass sichergestellt werden soll, dass die Antragsteller, die den Rechtsbehelf einlegen, ein echtes Interesse an dem Rechtsbehelfsverfahren haben und dass sie sich im Zeitpunkt der Entscheidung über den Rechtsbehelf noch im nationalen Hoheitsgebiet befinden. Die griechische Regierung führt insbesondere aus, dass das Ziel darin bestehe, ein „Asyl-Shopping“ der Antragsteller zu vermeiden. Zum anderen beziehen sich diese Gründe, allgemeiner, auf die geordnete Rechtspflege: Es soll sichergestellt werden, dass missbräuchlich eingelegte Rechtsbehelfe nicht zu einem Hindernis für die effektive Behandlung echter Rechtsbehelfe werden.

75.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass es legitim ist, wenn ein Mitgliedstaat sicherstellen will, dass die Antragsteller ein echtes Interesse an dem Rechtsbehelf haben(32).

76.      Die streitige nationale Regelung sieht jedoch vor, dass die Vermutung, dass ein Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt wurde, allein aus der Nichteinhaltung einer Bestimmung über das persönliche Erscheinen vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht abzuleiten ist, ohne dass sichergestellt ist, dass die Antragsteller tatsächlich die Möglichkeit haben, diesem Erfordernis nachzukommen.

77.      Dem Vorlagebeschluss lässt sich entnehmen, dass die Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse ihren Sitz in der Hauptstadt des Landes, Athen, haben. Ein Antragsteller, der nicht in Athen wohnt (und für den keine der in den maßgeblichen Rechtsvorschriften genannten Ausnahmen gilt) muss sich unter Aufwendung seiner eigenen finanziellen Mittel zum Sitz dieser Ausschüsse begeben, nur um persönlich zu erscheinen und nicht, um angehört zu werden. In den dem Gerichtshof vorliegenden Akten finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass den Antragstellern die materiellen Mittel für die Reise zur Verfügung gestellt oder dass die entsprechenden Reisekosten übernommen werden. Für eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, können die Kosten für die Reise von ihrem Wohnort in die Hauptstadt(33) und für die Unterbringung in Athen jedoch erheblich sein. Darüber hinaus sieht die nationale Regelung – abgesehen von den im nationalen Recht vorgesehenen Ausnahmen(34) und außer in einer Situation höherer Gewalt(35) – keine alternativen Vorgehensweisen vor, die Antragstellern den Nachweis ermöglichen, dass sie sich im griechischen Hoheitsgebiet aufhalten und weiterhin ein Interesse an ihrem Rechtsbehelf haben.

78.      Unter diesen Umständen trägt ein Rechtsbehelfsführer, der aufgrund finanzieller Härten nicht persönlich vor dem zuständigen Unabhängigen Rechtsbehelfsausschuss erscheint, die schwerwiegenden Folgen der Vermutung, dass der Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt wurde, obwohl die Gründe für das Nichterscheinen in keinem Zusammenhang mit einer missbräuchlichen Einlegung des Rechtsbehelfs stehen.

79.      Des Weiteren ist es Antragstellern, die unter die Ausnahmen in Art. 78 Abs. 3 des Gesetzes 4636/2019 fallen, gestattet, ihre Anwesenheit in anderer Form nachzuweisen.

80.      Die griechische Regierung erläutert, dass die Antragsteller, die unter diese Ausnahmen fielen, nicht verpflichtet seien, persönlich zu erscheinen und dass diese Verpflichtung durch die Verpflichtung ersetzt werde, die in den Rechtsvorschriften vorgesehene Bescheinigung zu übermitteln. Dies erklärt meines Erachtens jedoch nicht hinreichend, weshalb Antragsteller, die verpflichtet sind, persönlich zu erscheinen, nicht von alternativen Möglichkeiten des Nachweises ihrer Anwesenheit im griechischen Hoheitsgebiet und der Ernsthaftigkeit ihres Rechtsbehelfs Gebrauch machen dürfen.

81.      Die in Art. 78 Abs. 3 des Gesetzes 4636/2019 vorgesehenen Ausnahmen belegen, dass es für einen Antragsteller andere Möglichkeiten gibt, um seine Anwesenheit im Land nachzuweisen, beispielsweise das Erscheinen vor einer amtlichen Stelle (wie der Polizeidienststelle, einer anderen Behörde oder einem nahegelegenen Gericht) an seinem Wohnort.

82.      Weiterhin stellt die Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, den Angaben des Vorlagebeschlusses zufolge kein geeignetes Mittel dar, um zu verhindern, dass der Antragsteller den Rechtsbehelf nur einlegt, um den Vollzug einer früheren oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung über seine Rückführung zu verzögern oder zu verhindern. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass zu berücksichtigen sei, dass die Entscheidungen der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse nicht an demselben Tag erlassen würden und dass die physische Anwesenheit des Rechtsbehelfsführers den Vollzug der Rückkehrmaßnahme im Fall der Ablehnung des Antrags nicht erleichtere.

83.      Unter diesen Umständen scheint die Vermutung, dass der Rechtsbehelf eines Antragstellers, der nicht persönlich erscheint, missbräuchlich eingelegt wurde, die Einlegung des Rechtsbehelfs übermäßig zu erschweren, wenn dem Antragsteller weder alternative Möglichkeiten des Nachweises seiner Anwesenheit im Staatsgebiet eröffnet noch die materiellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um ihm die Einhaltung des Erfordernisses der physischen Anwesenheit zu ermöglichen.

84.      Die in Rede stehende Verfahrensmodalität ist daher offenbar nicht mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar.

85.      Ferner könnten das Aufstellen einer Vermutung für die missbräuchliche Einlegung eines Rechtsbehelfs und dessen Zurückweisung als offensichtlich unbegründet das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 47 der Charta beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte aus mehreren Elementen besteht, zu denen u. a. das Recht auf Zugang zu den Gerichten gehört(36).

86.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Grundrechte wie das Recht auf Zugang zu den Gerichten nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet(37).

87.      Wie bereits dargelegt(38), besteht der Zweck der durch die nationale Regelung aufgestellten Vermutung im vorliegenden Fall darin, zu gewährleisten, dass sich die Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, im Staatsgebiet befinden und dass sie weiterhin ein echtes Interesse an dem Rechtsbehelf haben, sowie, allgemeiner, in der Wahrung der Effizienz und der Zweckmäßigkeit der gerichtlichen Verfahren für alle Personen, die internationalen Schutz beantragt haben.

88.      In Anbetracht des Verfahrens als Ganzes und unter Berücksichtigung aller oben(39) dargelegten relevanten Umstände erscheint jedoch das Aufstellen der Vermutung, dass ein Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt worden ist, wenn der Antragsteller der Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, nicht nachkommt, gemessen an den angestrebten Zielen als unverhältnismäßig. Den Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und die nicht in der Hauptstadt des Landes wohnen, werden nämlich nicht die materiellen Mittel zur Verfügung gestellt, die es ihnen ermöglichen, sich zum Sitz der Unabhängigen Rechtsbehelfsausschüsse, der sich in dieser Hauptstadt befindet, zu begeben, um dem Erfordernis der physischen Anwesenheit nachkommen zu können. Darüber hinaus gibt es für die Antragsteller, soweit für sie nicht die in den nationalen Rechtsvorschriften abschließend festgelegten Ausnahmen gelten, keine alternativen Möglichkeiten des Nachweises ihrer Anwesenheit im Hoheitsgebiet und der Ernsthaftigkeit ihres Rechtsbehelfs. Unter diesen Umständen betrifft das Aufstellen der Vermutung, dass ein Rechtsbehelf missbräuchlich eingelegt wurde, weil der Rechtsbehelfsführer der Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, nicht nachkommt, diejenigen Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und sich in einer schwierigen finanziellen Lage befinden oder bei dem Versuch, persönlich zu erscheinen, mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert sind, unverhältnismäßig stark(40).

89.      Das Recht auf Zugang zu den Gerichten und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf werden daher für Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in unverhältnismäßiger Weise beschränkt.

90.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist Art. 46 der Richtlinie 2013/32 im Licht des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes sowie im Licht von Art. 47 der Charta meines Erachtens dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, der Verfahrenspflicht, vor der Einrichtung, die ihren Rechtsbehelf gegen eine über ihren Antrag ergangene Entscheidung prüft, persönlich zu erscheinen, nicht nachkommt, die Vermutung aufstellt, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich ist, und vorsieht, dass der Rechtsbehelf ohne inhaltliche Prüfung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist, soweit diese nationale Regelung keine alternativen Möglichkeiten zum Nachweis der Anwesenheit des Antragstellers im Staatsgebiet vorsieht.

V.      Ergebnis

91.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Dioikitiko Protodikeio Thessalonikis (Verwaltungsgericht Thessaloniki) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, der Verfahrenspflicht, vor der Einrichtung, die ihren Rechtsbehelf gegen eine über ihren Antrag ergangene Entscheidung prüft, persönlich zu erscheinen, nicht nachkommt, die Vermutung aufstellt, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs missbräuchlich ist, und vorsieht, dass der Rechtsbehelf ohne inhaltliche Prüfung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist, soweit diese nationale Regelung keine alternativen Möglichkeiten zum Nachweis der Anwesenheit des Antragstellers im Staatsgebiet vorsieht.











































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