Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
Tamara ĆAPETA
vom 5. Juni 2025 (1 )
Rechtssache C ‑769/22
Europäische Kommission
gegen
Ungarn
„ Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Nationale Rechtsvorschriften zur Einführung strengerer Maßnahmen gegen ‚pädophile Straftäter‘ und zur Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern – Rechtsvorschriften, die in erster Linie auf Inhalte abzielen, die eine Abweichung von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität darstellen oder vermitteln – Art. 56 AEUV – Richtlinie 2000/31/EG – Richtlinie 2006/123 – Richtlinie 2010/13/EU – Beschränkung der Erbringung von Dienstleistungen – Charta der Grundrechte – Art. 21 – Nichtdiskriminierung – Art. 7 – Recht auf Privat- und Familienleben – Art. 11 – Freiheit der Meinungsäußerung – Art. 1 – Würde des Menschen – Art. 2 EUV – Werte der Europäischen Union – Justiziabilität – Kriterium für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV “
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung und Hintergrund des Verfahrens
A. Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
B. Rechtlicher Rahmen und Überblick über die vorliegende Rechtssache
1. Unionsrecht
2. Ungarisches Recht
3. Überblick über die Rechtssache
II. Würdigung – Teil I: Verstoß gegen Grundrechte und werte
A. Kern des Rechtsstreits
B. Fünfter Klagegrund der Kommission – Verstoß gegen Charta-Rechte
1. Anwendbarkeit der Charta
2. Verstoß gegen Art. 21 der Charta
3. Verstoß gegen Art. 11 der Charta
4. Verstoß gegen Art. 7 der Charta
5. Kann der Eingriff in Grundrechte gerechtfertigt werden?
6. Verstoß gegen Art. 1 der Charta
C. Sechster Klagegrund der Kommission – Verstoß gegen Art. 2 EUV
1. Justiziabilität von Art. 2 EUV
a) Funktion von Art. 2 EUV in der Unionsrechtsordnung
1) Verfassungsidentität der Europäischen Union
2) Voraussetzung für das Funktionieren der Unionsrechtsordnung
b) Art. 2 EUV als rechtsverbindliche Bestimmung
1) Wortlaut, Kontext und Entstehungsgeschichte
2) Bedeutung von Art. 49 EUV
c) Gründe für und gegen die Justiziabilität von Art. 2 EUV
1) Gründe für die Justiziabilität
2) Erörterung der Gründe gegen die Justiziabilität
i) Art. 7 EUV
ii) Allgemeiner Charakter der Werte nach Art. 2 EUV
iii) Nationale Verfassungsidentität
iv) Zweck einer eigenständigen Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV
2. Wie ist zu beurteilen, ob „roten Linien“ überschritten wurden?
a) Negierung der Werte als Kriterium für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV
b) Verletzung von Charta-Rechten und Verfassungsdialog
3. Verstoß gegen Art. 2 EUV in der vorliegenden Rechtssache
a) Negierung der Werte von Art. 2 EUV durch die in Rede stehenden Regelungen
b) Gegen welche Werte wurde verstoßen?
III. Würdigung – Teil II: Verstoß gegen Primär- und Sekundärrecht in Bezug auf den freien Dienstleistungsverkehr und die DSGVO
A. Erster Klagegrund der Kommission
1. Regelung 4
2. Regelung 6
3. Regelung 3
4. Regelung 5
B. Zweiter Klagegrund der Kommission
1. Die Regelungen 1 und 3 fallen unter koordinierte Bereiche im Sinne der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr
2. Regelung 1 fällt in den Anwendungsbereich der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr
3. Die Regelungen 1 und 3 beschränken Dienste der Informationsgesellschaft
C. Dritter Klagegrund der Kommission
1. Regelungen 1 und 3
2. Regelung 7
D. Vierter Klagegrund der Kommission
IV. Kosten
V. Ergebnis
I. Einleitung und Hintergrund des Verfahrens
1. Mit der vorliegenden Klage beantragt die Kommission die Feststellung durch den Gerichtshof, dass Ungarn durch Änderungen verschiedener innerstaatlicher Rechtsvorschriften, die durch das „Gesetz Nr. LXXIX von 2021 über ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern“ (im Folgenden: Änderungsgesetz)(2 ) eingeführt wurden, gegen das Unionsrecht verstoßen hat.
2. Mehrere dieser Änderungen, die Ungarn zufolge zum Schutz Minderjähriger eingeführt wurden, verbieten oder beschränken den Zugang zu Inhalten, die „eine Abweichung von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität“ darstellen oder vermitteln (im Interesse einer knapperen Formulierung im Folgenden auch: LGBTI‑Inhalte)(3 ).
3. Nach Ansicht der Kommission verstoßen die in Rede stehenden Änderungen auf drei Ebenen gegen das Unionsrecht: Erstens verstießen sie gegen mehrere Sekundärrechtsakte in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen und Art. 56 AEUV; zweitens verstießen sie gegen durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierte Rechte(4 ); und schließlich verstießen sie auch gegen Art. 2 EUV, der die Grundwerte, auf die sich die Union gründet, aufführt.
4. Dieses letztere Vorbringen eines Verstoßes Ungarns gegen Art. 2 EUV als eigenständiger Klagegrund zur Feststellung eines Verstoßes gegen das Unionsrecht ist neu. Es wirft wichtige Fragen auf, wie etwa, ob diese Bestimmung in einem Vertragsverletzungsverfahren justiziabel ist und wann genau der Gerichtshof zusätzlich zu Verstößen gegen die Binnenmarktregeln und die Charta einen Verstoß gegen Art. 2 EUV festzustellen hat. Der Gerichtshof hat daher beschlossen, über die vorliegende Rechtssache als Plenum zu entscheiden.
A. Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
5. Am 25. Mai 2021 legten zwei Mitglieder des ungarischen Parlaments dem ungarischen Parlament einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Erlass strengerer Maßnahmen gegen pädophile Straftäter und Änderung bestimmter Gesetze für den Schutz von Kindern“ vor.
6. Am 10. Juni 2021 schlug der Legislativausschuss des Parlaments Änderungen dieses Entwurfs vor, die Homosexualität und Geschlechtsidentität betrafen.
7. Am 15. Juni 2021 nahm der ungarische Gesetzgeber das Änderungsgesetz an. Es trat am 8. Juli 2021 in Kraft.
8. Am 15. Juli 2021 übersandte die Kommission Ungarn ein förmliches Aufforderungsschreiben, in dem sie die Ansicht vertrat, dass Ungarn durch die Annahme des Änderungsgesetzes gegen seine Verpflichtungen aus verschiedenen Vorschriften des Unionsrechts verstoßen habe.
9. Mit Schreiben vom 15. September 2021 bestritt Ungarn, dass es zu einem Verstoß gegen das Unionsrecht gekommen sei.
10. Am 2. Dezember 2021 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie die Ansicht vertrat, dass das Änderungsgesetz gegen das Unionsrecht verstoße. Die Kommission forderte Ungarn daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrem Eingang nachzukommen.
11. Mit Schreiben vom 2. Februar 2022 antwortete Ungarn auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und bekräftigte, dass das Änderungsgesetz mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
12. Am 19. Dezember 2022 hat die Kommission beim Gerichtshof die vorliegende Klage nach Art. 258 AEUV erhoben.
13. Ungarn hat am 8. März 2023 seine Klagebeantwortung eingereicht.
14. Die Kommission und Ungarn haben am 20. April 2023 bzw. 31. Mai 2023 eine Erwiderung bzw. eine Gegenerwiderung eingereicht.
15. Mit Entscheidungen vom 20. März, 4. Mai und 29. Juni 2023 hat der Präsident des Gerichtshofs 16 Mitgliedstaaten, nämlich das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, Irland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Republik Estland, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Malta, das Königreich der Niederlande, die Republik Österreich, die Portugiesische Republik, die Republik Slowenien, die Republik Finnland, das Königreich Schweden sowie das Europäische Parlament als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.
16. Ungarn hat am 18. Januar 2024 zu diesen Zulassungen als Streithelfer Stellung genommen.
17. Am 19. November 2024 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der die Kommission und Ungarn sowie das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, Irland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Republik Estland, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Malta, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland, das Königreich Schweden sowie das Europäische Parlament mündliche Ausführungen gemacht haben.
B. Rechtlicher Rahmen und Überblick über die vorliegende Rechtssache
1. Unionsrecht
18. Art. 2 EUV lautet:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
19. Die vorliegende Rechtssache betrifft ferner Art. 56 AEUV, die Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta sowie die folgenden Rechtsakte des abgeleiteten Unionsrechts: die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr(5 ), die Dienstleistungsrichtlinie(6 ), die AVMD-Richtlinie(7 ) und die DSGVO(8 ).
2. Ungarisches Recht
20. Für die vorliegende Rechtssache sind acht Änderungen (im Folgenden: Regelungen), die im Änderungsgesetz enthalten sind, relevant, da mit ihnen Änderungen an den folgenden sechs Rechtsakten des nationalen Rechts eingeführt werden:
– Gesetz Nr. XXXI von 1997 über den Schutz von Kindern und die Vormundschaftsverwaltung (1997. évi XXXI. törvény a gyermekek védelméről és a gyámügyi igazgatásról; im Folgenden: Gesetz über den Schutz von Kindern) (Regelung 1 )(9 ).
– Gesetz Nr. CVIII von 2001 über bestimmte Fragen betreffend Dienste des elektronischen Geschäftsverkehrs und Dienste der Informationsgesellschaft (2001. évi CVIII. törvény. az elektronikus kereskedelmi szolgáltatások; im Folgenden: Gesetz über den elektronischen Geschäftsverkehr) (Regelung 2 )(10 );
– Gesetz Nr. XLVIII von 2008 über die Grundvoraussetzungen für und bestimmte Beschränkungen von wirtschaftlichen Werbetätigkeiten (2008. évi XLVIII. törvény a gazdasági reklámtevékenység alapvető feltételeiről és egyes korlátairól; im Folgenden: Werbegesetz) (Regelung 3 )(11 ).
– Gesetz Nr. CLXXXV von 2010 über Mediendienste und Massenkommunikation (2010. évi CLXXXV. törvény a médiaszolgáltatásokról és a tömegkommunikációról, im Folgenden: Mediengesetz) (Regelungen 4 (12 ), 5 (13 ) und 6 (14 ));
– Gesetz Nr. CXC von 2011 über das nationale staatliche Bildungswesen (2011. évi CXC. törvény. a nemzeti köznevelésről; im Folgenden: Bildungsgesetz) (Regelung 7 )(15 );
– Gesetz Nr. XLVII von 2009 über das Strafregistersystem, die Registrierung der von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen ungarische Staatsangehörige erlassenen Urteile und die Erfassung biometrischer Daten zu strafrechtlichen und polizeilichen Zwecken (2009. évi XLVII. törvény a bűnügyi nyilvántartási rendszerről, az Európai Unió tagállamainak bíróságai által magyar állampolgárokkal szemben hozott ítéletek nyilvántartásáról, valamint a bűnügyi és rendészeti biometrikus adatok nyilvántartásáról; im Folgenden: Strafregistergesetz) (Regelung 8 )(16 ).
21. Von diesen acht Regelungen verstoßen nach Ansicht der Kommission sieben gegen das Unionsrecht, während Regelung 2 von der Kommission nur aus Gründen des Zusammenhangs angeführt wurde(17 ).
22. Die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 haben einen sehr ähnlichen Wortlaut. Sie verbieten (Regelungen 1, 3, 6 und 7) oder beschränken (Regelung 4) den Zugang Minderjähriger zu Inhalten, die eine Abweichung von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität, Geschlechtsumwandlungen oder Homosexualität darstellen oder vermitteln. Regelung 7 verbietet nur die Vermittlung, nicht aber die Darstellung von LGBTI‑Inhalten.
23. Nach Regelung 5 ist der Medienrat verpflichtet, in Fällen der Feststellung von Problemen im Zusammenhang mit den Einstufungsbestimmungen oder dem Gesetz Nr. CIV von 2010 über die Pressefreiheit („2010. évi CIV. törvény a sajtószabadságról és a médiatartalmak alapvető szabályairól“, im Folgenden: Pressefreiheitsgesetz) den Mitgliedstaat, in dessen Zuständigkeitsbereich der in Regelung 4 genannte Mediendiensteanbieter tätig ist, aufzufordern, wirksame Maßnahmen zu ergreifen und vom Medienrat festgestellte Verstöße abzustellen.
24. Nach Regelung 8 sind Stellen mit Zugang zu gespeicherten Daten verpflichtet, „berechtigten Personen“ unmittelbaren Zugang zu diesen Daten zu gewähren, Daten auf Anfrage zu übermitteln, Daten zu bestätigen und Informationen über wegen Sexualstraftaten gegen Kinder verurteilte Personen auszutauschen.
3. Überblick über die Rechtssache
25. Mit der vorliegenden Klage wendet sich die Kommission gegen diese sieben Regelungen. In Bezug auf die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 macht sie Verstöße gegen mehrere Bestimmungen des Primär- oder Sekundärrechts der Union (Klagegründe 1 bis 3), die Charta (Klagegrund 5) und Art. 2 EUV (Klagegrund 6) geltend. In Bezug auf die Regelungen 5 und 8 macht die Kommission keinen Verstoß gegen Art. 2 EUV, sondern lediglich, in Bezug auf Regelung 5, einen Verstoß gegen das Sekundärrecht der Union (Klagegrund 1) und, in Bezug auf Regelung 8, gegen das Sekundärrecht der Union und die Charta (Klagegrund 4) geltend.
26. Um das Verständnis dieser komplexen Klage zu erleichtern, sind die Klagegründe der Kommission in der folgenden Tabelle jeweils in Verbindung mit den jeweiligen nationalen Regelungen und den jeweiligen Bestimmungen des Unionsrechts schematisch dargestellt.
Nationale Regelungen
Angeblich verletzte Bestimmungen des Unionsrechts und entsprechende Klagegründe der Kommission
Regelung 1
(im Gesetz über den Schutz von Kindern)
Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (Klagegrund 2) ;
Art. 16 und 19 der Dienstleistungsrichtlinie und Art. 56 AEUV (Klagegrund 3 )
Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta (Klagegrund 5 )
Art. 2 EUV (Klagegrund 6 )
Regelung 3
(im Werbegesetz)
Art. 9 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der AVMD-Richtlinie (Klagegrund 1 );
Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (Klagegrund 2) ;
Art. 16 und 19 der Dienstleistungsrichtlinie und Art. 56 AEUV (Klagegrund 3 )
Regelungen 4 und 6
(im Mediengesetz)
Art. 6a Abs. 1 der AVMD-Richtlinie (Klagegrund 1 )
Regelung 7
(im Bildungsgesetz)
Art. 16 und 19 der Dienstleistungsrichtlinie und Art. 56 AEUV (Klagegrund 3 )
Regelung 5
(im Mediengesetz)
Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie (Klagegrund 1 )
Regelung 8
(im Strafregistergesetz)
Art. 10 DSGVO und Art. 8 Abs. 2 der Charta (Klagegrund 4 )
27. Die Kommission beantragt, festzustellen, dass die Regelungen gegen die in der Tabelle angeführten Bestimmungen des Unionsrechts verstoßen. Ungarn beantragt, die Klage der Kommission insgesamt als unbegründet abzuweisen.
II. Würdigung – Teil I: Verstoß gegen Grundrechte und ‑werte
28. Das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren betrifft mehrere Verstöße gegen Binnenmarktbestimmungen in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit und mehrere in der Charta enthaltene Rechte. Vor allem aber wird mit ihm erstmals auch eine gesonderte Rüge eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV geltend gemacht.
29. Die vorrangige Bedeutung der sich im Hinblick auf den Verstoß gegen Art. 2 EUV stellenden Fragen veranlasst mich zu einer Abweichung von der Reihenfolge der Klagegründe, in der sie von der Kommission erhoben worden sind. Da viele der Gesichtspunkte, die sich auf die erste Ebene der in der Klageschrift der Kommission aufgeführten Klagegründe beziehen, technische Rechtsfragen darstellen und einige der Klagegründe in Bezug auf Verstöße sich nur auf das Sekundärrecht der Union und nicht auf die Charta und Art. 2 EUV beziehen, werde ich diese erste Ebene von Klagegründen in Teil II meiner Würdigung behandeln(18 ).
30. Da diese erste Ebene der Klagegründe jedoch für die Einbeziehung der Charta in die vorliegende Rechtssache wichtig ist(19 ), ist vorab zu erläutern, dass meines Erachtens alle in Rede stehenden Änderungen in den Anwendungsbereich der von der Kommission angeführten Richtlinien und/oder von Art. 56 AEUV fallen(20 ). Jede durch diese Änderungen eingeführte Abweichung vom freien Dienstleistungsverkehr muss daher nicht nur durch Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein, die in verhältnismäßiger Weise erreicht werden, sondern darf auch nicht gegen durch die Charta garantierte Rechte verstoßen(21 ).
31. Ungeachtet dessen, dass ich mich zu einer Änderung der Reihenfolge entschieden habe, in der ich die Klagegründe der Kommission behandeln werde, ist zu betonen, dass die Kommission in ihrer Klageschrift beantragt, einen Verstoß gegen Art. 2 EUV in Verbindung mit anderen Verstößen gegen das Unionsrecht in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit und die Charta festzustellen. Daher fällt die Erhebung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV in den Geltungsbereich des Unionsrechts.
32. Die Kommission beantragt, wie von ihr in der mündlichen Verhandlung betont, die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV ausschließlich unter diesen konkreten Umständen. Diese Fallgestaltung werde ich als eine solche der Anwendung von Art. 2 EUV als eigenständige Grundlage für einen Verstoß im Gegensatz zu seiner Anwendung als selbständige Grundlage für einen Verstoß bezeichnen. Letztere wäre gegeben, wenn ein Verstoß gegen Art. 2 EUV auch außerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts oder unabhängig von anderen Verstößen gegen das Unionsrecht festgestellt werden könnte.
33. Die Frage der möglichen selbständigen Anwendung von Art. 2 EUV zur Beurteilung der Gültigkeit von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten oder von außerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts ergriffenen Maßnahmen stellt sich in der vorliegenden Rechtssache nicht(22 ). Auch wenn diese Frage in der mündlichen Verhandlung in gewissem Umfang erörtert wurde, ist sie nicht Gegenstand der vorliegenden, beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache, so dass der Gerichtshof ihre Erörterung meines Erachtens einer geeigneten künftigen Rechtssache vorbehalten sollte.
34. Unter Berücksichtigung dieser einleitenden Bemerkungen werde ich meine Schlussanträge wie folgt fortsetzen. In Teil I Abschnitt A werde ich erläutern, warum es in der vorliegenden Rechtssache im Kern um Werte geht. In Abschnitt B werde ich darlegen, warum die ungarischen Rechtsvorschriften einen Verstoß gegen die nach den Art. 21, 11 und 7 der Charta geschützten Grundrechte darstellen, und vor allem, warum diese Verstöße nicht gerechtfertigt werden können. Weiter werde ich erläutern, warum dies als eine Verletzung der in Art. 1 der Charta verankerten Menschenwürde anzusehen ist. In Abschnitt C werde ich mich der Frage zuwenden, ob dem Vorbringen der Kommission zu einem eigenständigen Verstoß gegen Art. 2 EUV gefolgt werden kann. In Teil II der vorliegenden Schlussanträge werde ich auf das Vorbringen der Kommission und das Gegenvorbringen Ungarns zur Verletzung konkreter Bestimmungen des AEU-Vertrags und des Sekundärrechts der Union zurückkommen.
A. Kern des Rechtsstreits
35. Auf die in der mündlichen Verhandlung an sie gerichtete Frage, warum sie als eigenständigen Klagegrund einen Verstoß gegen Art. 2 EUV geltend mache, hat die Kommission erklärt, dass sie bei der Prüfung der einzelnen Verstöße gegen verschiedene Rechtsakte des sekundären Unionsrechts und die Charta zu dem Schluss gekommen sei, dass in der vorliegenden Rechtssache „noch mehr“ zu sehen sei.
36. Dieses „Noch mehr“ ergibt sich meines Erachtens aus der zugrundeliegenden Wertedivergenz zwischen den Standpunkten der ungarischen Regierung und der Kommission in Bezug auf die von Ungarn als Beweggründe und Rechtfertigung für die streitigen Änderungen angeführten Begründungen.
37. Ungarn trägt vor, die Änderungen dienten dem Schutz von Minderjährigen und seien hierfür erforderlich, da ihre körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung negativ beeinflusst werden könne, wenn sie „LGBTI‑Inhalten“ ausgesetzt würden. Ferner solle die Entscheidung, wann einem Minderjährigen potenziell schädliche „LGBTI‑Inhalte“ gezeigt würden, seinen Eltern oder Erziehungsberechtigten überlassen bleiben.
38. Die Kommission, unterstützt durch das Europäische Parlament und die 16 als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten, ist der Ansicht, dass die Entwicklung Minderjähriger dadurch, dass sie das LGBTI-Leben darstellenden Inhalten ausgesetzt würden, für sich genommen nicht geschädigt werden könne.
39. Zu erläutern ist an dieser Stelle, dass die ungarischen Rechtsvorschriften die Darstellung erotischer oder pornografischer LGBTI‑Inhalte nicht verbieten oder beschränken; vielmehr verbieten sie die Darstellung des normalen Lebens von LGBTI-Personen. Das heißt, dass die in Rede stehenden Regelungen „LGBTI‑Inhalte“ zusätzlich zu pornografischen Inhalten oder Inhalten, die grundlos Sexualität darstellen oder die Gewalt darstellen, verbieten(23 ). Es bestand zum Schutz von Kindern vor offen sexuellen Inhalten keine Notwendigkeit, die Rechtsvorschriften durch Hinzufügung des Verbots von „LGBTI‑Inhalten“ zu ändern. Diese Inhalte waren bereits vor Erlass der streitigen Änderungen von den Vorschriften zum Minderjährigenschutz erfasst.
40. Es kann somit nur der Schluss gezogen werden, dass das zusätzliche Verbot von „LGBTI‑Inhalten“, das durch die streitigen Änderungen eingeführt wurde, sich auf das normale, alltägliche Leben von LGBTI-Personen bezieht. In diesem Sinne werde ich den Begriff „LGBTI‑Inhalte“ verwenden.
41. Die Entscheidung Ungarns zum Schutz von Minderjährigen vor „LGBTI‑Inhalten“ ist nicht auf wissenschaftliche Beweise für deren potenzielle Schädlichkeit für die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung von Kindern gestützt. Sie beruht daher auf einem Werturteil oder, wie das Europäische Parlament formuliert hat, auf dem Vorurteil, dass homosexuelles und nicht-cisgender Leben mit heterosexuellem und cisgender Leben nicht gleichwertig oder gleichrangig ist. Aus diesem Grund ist Ungarn der Ansicht, dass „der Zugang Minderjähriger zu solchen Inhalten geeignet sein könnte, sich negativ auf ihr Bild von sich selbst oder von der Welt auszuwirken“(24 ).
42. Das Werturteil, auf dem die in Rede stehenden ungarischen Rechtsvorschriften beruhen, steht in drastischem Widerspruch zu den Werten der Menschenwürde, der Gleichheit und der Wahrung der Menschenrechte in ihrem Verständnis in der Europäischen Union und in der umfassenderen europäischen Menschenrechtsordnung, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgelegt ist(25 ).
43. Die von der Kommission und Ungarn in der vorliegenden Rechtssache vertretenen unterschiedlichen Ansichten sind daher unterschiedliche Ansichten über Werte. Fraglich bleibt jedoch, ob diese unterschiedlichen Ansichten zur Anwendung von Art. 2 EUV führen können und müssen.
44. Bevor ich mit der Erörterung der Anwendbarkeit von Art. 2 EUV in der vorliegenden Rechtssache beginne, werde ich zunächst darlegen, dass die streitigen Regelungen gegen eine Reihe von durch die Charta geschützten Grundrechten verstoßen und dass die Verletzung dieser Rechte nicht mit den von Ungarn vorgebrachten Gründen gerechtfertigt werden kann.
B. Fünfter Klagegrund der Kommission – Verstoß gegen Charta-Rechte
45. Die Kommission macht geltend, die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 verstießen gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung in Art. 21 der Charta (2), gegen die durch Art. 11 der Charta garantierte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (3) sowie gegen die Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 der Charta (4). Ungarn tritt diesem Vorbringen in vollem Umfang entgegen und macht geltend, dass seine Regelungen dem Schutz von Minderjährigen dienten. Ich werde nach Klärung der Anwendbarkeit der Charta auf die in Rede stehenden Regelungen prüfen, ob die in Rede stehenden Regelungen einen Eingriff in diese Rechte darstellen (1). Wie ich darlegen werde, kann der in der Tat zu bejahende Eingriff nicht gerechtfertigt werden (5), so dass dem Vorbringen der Kommission zur Verletzung der Menschenwürde meines Erachtens ebenfalls stattzugeben ist (6).
1. Anwendbarkeit der Charta
46. Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta sind die Mitgliedstaaten an diese nur bei der Durchführung des Rechts der Union gebunden. Wie der Gerichtshof erläutert hat, folgt hieraus, dass die darin garantierten Grundrechte immer dann zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt(26 ). Mit anderen Worten kann Ungarn nur dann gegen die Charta verstoßen, wenn die streitigen Regelungen in den Anwendungsbereich von Art. 56 AEUV und/oder der Rechtsakte des Sekundärrechts fallen, gegen die diese Regelungen nach Ansicht der Kommission verstoßen sollen. Bevor ich das Vorbringen zu einem Verstoß gegen Grundrechte prüfe, ist daher zu klären, ob die fünf in Rede stehenden Regelungen in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen.
47. Ungarn bestreitet nicht, dass die Regelungen 3, 4 und 6 in den Anwendungsbereich mindestens einer Richtlinie fallen. Es ist jedoch der Ansicht, dass Regelung 1 und Regelung 7 nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fielen.
48. Regelung 1 verbietet die Darstellung und Vermittlung von „LGBTI‑Inhalten“ gegenüber Minderjährigen im Rahmen des Gesetzes über den Schutz von Kindern. Ungarn bringt vor, dieses Gesetz richte sich an den Staat, lokale Gebietskörperschaften sowie natürliche und juristische Personen, die von der öffentlichen Hand mit der Ausübung eines eng begrenzten Spektrums von Dienstleistungen beauftragt würden, da sie die Fürsorge für und den Schutz von Kindern beträfen. Diese Dienstleistungen würden nicht gegen Entgelt angeboten und fielen daher nicht unter den Begriff der Dienstleistungen im Sinne von Art. 56 AEUV. Außerdem sei unwahrscheinlich, dass diese Dienstleistungen grenzüberschreitend erbracht würden.
49. Die Kommission macht jedoch erstens geltend, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes über den Schutz von Kindern nicht derart eng begrenzt sei und auch Einrichtungen erfasse, die Kinderfürsorge gegen Entgelt leisteten, wie etwa Tagesbetreuungszentren(27 ) oder private Betreuungseinrichtungen. Diese könnten unter den Begriff eines Dienstleistungserbringers im Sinne des Unionsrechts fallen, wenn sie ihre Dienstleistungen gegen Entgelt erbrächten.
50. Außerdem würden die Adressaten des Gesetzes über den Schutz von Kindern, selbst wenn sie Kindern keine Dienstleistungen gegen Entgelt erbrächten, davon abgehalten, Dienstleistungen, die „LGBTI‑Inhalte“ enthielten, einschließlich solcher, die von Anbietern in anderen Mitgliedstaaten angeboten würden, in Anspruch zu nehmen. Da es ihnen untersagt sei, diese Inhalte im Rahmen ihrer Kinderbetreuung zu nutzen, gebe es für sie keinen Grund, Dienstleistungen mit „LGBTI‑Inhalten“ in Anspruch zu nehmen(28 ).
51. Art. 56 AEUV und die Dienstleistungsrichtlinie verböten Beschränkungen sowohl der Erbringung als auch der Inanspruchnahme grenzüberschreitender Dienstleistungen(29 ). Darüber hinaus verbiete die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, gegen die Regelung 1 verstoße, auch Beschränkungen sowohl der Erbringung als auch der Inanspruchnahme von Diensten der Informationsgesellschaft(30 ).
52. Wie von der Kommission vorgetragen, besteht die Möglichkeit, dass das Gesetz über den Schutz von Kindern die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen, wie beispielsweise eines Theaterstücks, das die Geschichte einer LGBTI-Familie erzählt und Tagesbetreuungszentren für Kinder überall in der Europäischen Union angeboten wird, weniger attraktiv macht. Ebenso gibt es für eine Betreuungseinrichtung in Ungarn keinen Grund, einen Zeichentrickfilm zu erwerben, der für Teenager geeignetes pädagogisches Material zur Geschlechtsidentität vermittelt und auf der Website eines Dienstleistungserbringers mit Sitz in Kroatien auf Abruf angeboten wird. Regelung 1 beschränkt daher die grenzüberschreitende Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft.
53. Somit kann die im Gesetz über den Schutz von Kindern enthaltene Regelung 1 meines Erachtens auf Dienstleistungen im Sinne des Unionsrechts Anwendung finden.
54. Die im Bildungsgesetz enthaltene Regelung 7 verbietet die Vermittlung von „LGBTI‑Inhalten“ in der sexualkundlichen Bildung.
55. Ungarn bringt vor, diese Regelung falle nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts über Dienstleistungen, da die staatliche Bildung nicht als entgeltliche Dienstleistung im Sinne des Unionsrechts angesehen werde.
56. Richtig ist zwar, dass in der Rechtsprechung allgemein davon ausgegangen wird, dass Bildung im öffentlichen Sektor nicht als Erbringung von Dienstleistungen anzusehen ist(31 ). Der Gerichtshof hat jedoch in verschiedenen Urteilen festgestellt, dass Tätigkeiten im Bereich Bildung als Dienstleistungen im Sinne des Unionsrechts eingestuft werden können, wenn sie gegen Entgelt erbracht werden und außerhalb des rein öffentlichen, staatlich finanzierten Bildungssystems stattfinden(32 ). Dies kann auch bei jeder Dienstleistung der Fall sein, die von einem externen Gastdozenten oder Fachmann erbracht wird, der möglicherweise an einer Bildungseinrichtung tätig wird(33 ).
57. Daher kann Regelung 7 meines Erachtens auch auf Fallgestaltungen Anwendung finden, die vom Unionsrecht erfasst werden.
58. Im Ergebnis fallen alle fünf von der Kommission beanstandeten Regelungen in den Geltungsbereich des Unionsrechts, so dass sie mit der Charta im Einklang stehen müssen.
59. Da die Charta anwendbar ist, werde ich jetzt die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit den von der Kommission geltend gemachten Charta-Rechten prüfen.
60. Zu erinnern ist daran, dass die fünf Regelungen, auf die sich dieser Klagegrund bezieht, ähnlich formuliert sind. Sie beschränken oder verbieten alle den Zugang zu Inhalten, die eine von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichende Identität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität gegenüber Minderjährigen unter 18 Jahren vermitteln oder darstellen, ohne zwischen den Altersgruppen in irgendeiner Weise zu differenzieren. Der Zugang zu solchen Inhalten wird beschränkt oder verboten, und zwar entweder allgemein (Regelung 1), wenn sie in Sendungen linearer audiovisueller Medien (AVM) enthalten sind (Regelung 4), als der Sensibilisierung dienende Beiträge in AVM (Regelung 6) oder als Werbung in Medien jeder Art (Regelung 3). Regelung 7 verbietet allein die Vermittlung – und nicht auch die Darstellung – von „LGBTI‑Inhalten“ im Kontext der sexualkundlichen Bildung.
2. Verstoß gegen Art. 21 der Charta
61. Art. 21 der Charta verbietet Diskriminierungen u. a. wegen des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.
62. Nach ständiger Rechtsprechung stellt eine ungünstigere Behandlung von Personen wegen einer Geschlechtsumwandlung („Transsexualismus“)(34 ) eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar(35 ). Das kürzlich ergangene Urteil Mousse bestätigt, dass das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auch eine Diskriminierung wegen einer Abweichung von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität erfasst, die keine körperliche Geschlechtsumwandlung („Transgender‑Identität“) beinhaltet(36 ).
63. Andererseits fällt Homosexualität, auf die die in Rede stehenden Regelungen ebenso ausgerichtet sind, unter den Begriff „sexuelle Ausrichtung“(37 ).
64. Nach Ansicht der Kommission soll die Diskriminierung in der vorliegenden Rechtssache in der unterschiedlichen Behandlung von heterosexuellen und cisgender Personen gegenüber LGBTI-Personen bestehen. Die in Rede stehenden Regelungen wirkten sich auf die Darstellung von Inhalten aus, die homosexuelles und nicht-cisgender Leben gegenüber Minderjährigen abbildeten, beschränken jedoch nicht die Darstellung von Inhalten, die das Leben heterosexueller und cisgender Personen abbildeten. Außerdem würden durch die in Rede stehenden Änderungen LGBTI-Personen in der ungarischen Gesellschaft marginalisiert.
65. Ungarn entgegnet, die in Rede stehenden Regelungen hätten nicht LGBTI-Personen zum Gegenstand, sondern zielten vielmehr auf den Schutz von Minderjährigen in einer begrenzten Zahl von Fällen ab, in denen der Umstand, dass sie „LGBTI‑Inhalten“ ausgesetzt seien, von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten nicht kontrolliert werden könne.
66. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt eine Diskriminierung nicht nur dann vor, wenn eine Person eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person, die sich in einer vergleichbaren Situation befindet, sondern auch dann, wenn eine Maßnahme oder Rechtsvorschrift aufgrund eines verbotenen Kriteriums eine Unterscheidung vornimmt. Dies gilt ungeachtet der Frage, wer durch die Heranziehung eines solchen verbotenen Kriteriums geschädigt wird, d. h. ob es sich um eine Person handelt, die einer Minderheitengruppe angehört, die durch das Verbot geschützt wird, oder um eine Person, die der betreffenden Gruppe nicht angehört(38 ).
67. Wendet man diese Rechtsprechung auf die vorliegende Rechtssache an, sind diejenigen der in Rede stehenden Regelungen, die ausdrücklich auf das Kriterium des Geschlechts (transsexuelle Identität oder Transgender‑Identität) und der sexuellen Ausrichtung (homosexuelle Ausrichtung) abstellen, in der Tat diskriminierend.
68. Entgegen dem Vorbringen Ungarns, diese Regelungen seien nicht auf diese Minderheitengruppe ausgerichtet, beruhen sie indes eindeutig auf einer Unterscheidung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung. Wie bereits erläutert (siehe Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge), wird der Zugang von Minderjährigen zu Inhalten, die normales LGBTI-Leben darstellen, und nicht nur zu offen sexuellen oder pornografischen Darstellungen des LGBTI-Lebens, verboten. Der Zugang zu Inhalten, die das normale Leben heterosexueller und cisgender Menschen darstellen, wird indes von keiner der Regelungen 1, 3, 4, 6 oder 7 verboten.
69. Im Hinblick auf Regelung 7 bringt Ungarn vor, sie verbiete lediglich die Vermittlung von „LGBTI‑Inhalten“ und lediglich im Kontext der sexualkundlichen Bildung. Dies ist jedoch keine Verteidigung gegen einen Diskriminierungsvorwurf. Ich kann mich dem Standpunkt anschließen, dass die Vermittlung gleich welcher Art von Leben nicht Teil der Bildung sein sollte, da diese möglichst neutral sein und Kindern ermöglichen sollte, ihre eigenen Ansichten zu verschiedenen Fragen zu entwickeln(39 ). Regelung 7 verbietet jedoch nur die Vermittlung von „LGBTI‑Inhalten“, nicht aber von heterosexuellen oder cisgender Inhalten. Sie stellt daher eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung dar.
70. Ungarn bringt weiter vor, die Kommission habe keine Beispiele für konkrete Verstöße gegen die Antidiskriminierungsvorschriften beigebracht.
71. Insoweit ist zu beachten, dass mit Vertragsverletzungsverfahren eine abstrakte gerichtliche Kontrolle wahrgenommen wird. Die Kommission richtet diese Verfahren häufig gegen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats als solche ; es geht dann zwangsläufig um einen möglichen Verstoß dieser Rechtsvorschriften gegen das Unionsrecht. In solchen Fällen einer abstrakten gerichtlichen Kontrolle entscheidet der Gerichtshof – ebenso wie nationale Verfassungsgerichte, wenn sie die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften beurteilen – nicht über konkrete Verstöße gegen individuelle Menschenrechte, sondern trifft eine Feststellung über einen möglichen Verstoß dieser Regelungen gegen die Grundrechte von Einzelnen oder Gruppen.
72. Die Kommission hat hinreichend dargelegt, dass bei den beanstandeten Rechtsvorschriften die Möglichkeit einer Benachteiligung verschiedener Einzelpersonen oder Gruppen besteht, weil sich diese Rechtsvorschriften auf das verbotene Kriterium stützen. Jeder Erbringer oder Empfänger einer Dienstleistung wird durch das Verbot der Erbringung von oder des Zugangs zu LGBTI‑Inhalten benachteiligt. Diese Einschränkung berührt nicht nur LGBTI-Personen, sondern natürliche und juristische Personen allgemein.
73. Außerdem haben die in Rede stehenden Änderungen für LGBTI-Personen stigmatisierende Wirkungen. Eine Stigmatisierung ist eine Situation, in der Angehörigen einer Minderheitengruppe, wie etwa LGBTI-Personen, allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit oder vermuteten Zugehörigkeit zu dieser Gruppe sozial verwerfliche Eigenschaften zugeschrieben werden.
74. Stigmatisierung benachteiligt LGBTI-Personen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialleben(40 ).
75. Ich stimme mit der Kommission darin überein, dass ein Verbot des Zugangs zur Darstellung des normalen Lebens von LGBTI-Personen, weil es als schädlich betrachtet wird, an sich stigmatisierend ist, und zwar nicht nur für Minderjährige, sondern auch für Erwachsene.
76. Darüber hinaus wird die negative Wahrnehmung der LGBTI-Community auch dadurch weiter verstärkt, dass die Darstellung des normalen LGBTI-Lebens und grundlose Darstellungen von Sexualität und Pornografie sowie Gewalt miteinander auf eine Stufe gestellt werden.
77. Schließlich wird durch die im Änderungsgesetz erfolgende Verschmelzung der Regelungen zum Schutz von Kindern vor Pädophilie mit den Regelungen zum Schutz von Kindern vor LGBTI‑Inhalten die stigmatisierende Wirkung noch weiter verstärkt, die von den Regelungen für sich genommen ausgeht.
78. Ungarn hält diesem letzteren Argument erläuternd entgegen, dass es eine in diesem Mitgliedstaat übliche Gesetzgebungstechnik sei, mehrere Gesetze durch ein und demselben Rechtsakt zu ändern, und dass die so geänderten Gesetze mit Pädophilie nichts zu tun hätten.
79. Selbst wenn dies rechtlich zutreffend sein mag, hätte Ungarn sich angesichts der gesellschaftlichen Wirkung, die diese Technik in dieser konkreten Situation haben konnte, dafür entscheiden können, die beiden Änderungsgesetze voneinander zu trennen und stigmatisierende Nebenwirkungen zu vermeiden. Dagegen entschied sich dieser Mitgliedstaat dafür, diese verschiedenen Gesetzesänderungen miteinander zu verschmelzen.
80. Hinzuzufügen ist, dass auch durch mehrere Berichte von Unionsorganen(41 ) oder internationalen Organisationen, die die Wahrung der Menschenrechte überwachen(42 ), anerkannt worden ist, dass die in Rede stehenden Regelungen, wie von der Kommission vorgebracht, eine stigmatisierende Wirkung haben.
81. Meines Erachtens stellt ein aktiver Beitrag zur Stigmatisierung einer Minderheitengruppe durch einen Staat, unabhängig davon, ob er beabsichtigt ist oder nicht, eine unmittelbare Diskriminierung dar, da er schon dem Wesen des Gleichheitsgrundsatzes zuwiderläuft(43 ). Durch Stigmatisierung werden in der Gesellschaft bereits bestehende soziale Vorurteile verstärkt und die gesellschaftliche Entwicklung von der Gleichheit weg anstatt zu dieser hin gelenkt. Dies untergräbt den Zweck der Diskriminierungsverbote, der in der Verwirklichung der Gleichheit in jedweder Gesellschaft besteht(44 ).
82. In der Verfassung der Europäischen Union, die die Verträge und die Charta umfasst, kommt die Entscheidung zum Ausdruck, dass Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Ausrichtung gleich zu behandeln sind. Diese Entscheidung kommt in Art. 21 der Charta zum Ausdruck, der Geschlecht und sexuelle Ausrichtung als verbotene Diskriminierungsgründe aufführt, sowie in Art. 19 AEUV, der eine Rechtsgrundlage für Maßnahmen der Union zur Bekämpfung dieser Art von Diskriminierung darstellt.
83. Auch wenn in einigen europäischen Gesellschaften das Recht auf Gleichheit von LGBTI-Personen noch nicht völlig verinnerlicht sein mag, verstößt ein Mitgliedstaat, der Regelungen erlässt, durch die die gesellschaftliche Akzeptanz der Gleichheit dieser Minderheitengruppe von diesem Ziel weggelenkt wird, gegen Art. 21 der Charta.
3. Verstoß gegen Art. 11 der Charta
84. Art. 11 der Charta garantiert die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe zu empfangen und weiterzugeben. Nach Art. 11 Abs. 2 der Charta werden auch die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet.
85. Nach den Erläuterungen zur Charta(45 ) entsprechen die Rechte nach Art. 11 der Charta den Rechten nach Art. 10 EMRK. Daher sind die Feststellungen des EGMR für die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine wertvolle Erkenntnisquelle.
86. Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Freiheit der Meinungsäußerung die über jedes Kommunikationsmittel, einschließlich des Internets (durch Dienste der Informationsgesellschaft), übertragene Meinungsäußerung umfasst(46 ). Er hat ferner bestätigt, dass Art. 11 für alle Arten von Meinungsäußerungen gilt, einschließlich Informationen geschäftlicher Art, etwa in Form von Werbebotschaften(47 ).
87. Diese Freiheit schützt nicht nur den Austausch positiv aufgenommener oder als harmlos oder unwichtig angesehener „Informationen“ oder „Ideen“, sondern – um Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit zu gewährleisten, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt – auch solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen(48 ).
88. Die Kommission ist vor diesem Hintergrund der Ansicht, dass die in Rede stehenden Regelungen nicht nur in die Freiheit der LGBTI-Community eingriffen, diese Gemeinschaft betreffende Informationen und Ideen zu vermitteln, sondern auch in das Recht der Öffentlichkeit, Informationen über die LGBTI-Community weiterzugeben und zu empfangen. Auch wenn die Regelungen auf Minderjährige ausgerichtet seien und daher notwendigerweise ihr Recht, Informationen zu empfangen, beschränkten, könnten „LGBTI‑Inhalte“ in Form von Werbung, Beiträgen im Dienst der Öffentlichkeit oder der Sensibilisierung dienenden Beiträgen niemanden mehr erreichen und von niemandem mehr weitergegeben werden.
89. Ich stimme mit der Kommission darin überein, dass die Einstufung audiovisueller Sendungen in Kategorie V, die nach Regelung 4 erforderlich ist, wenn sie LGBTI‑Inhalte enthalten, eine Beschränkung nicht nur für Minderjährige, sondern auch für jeden anderen darstellt, der möglicherweise eine solche Sendung sehen möchte, da sie nur spät nachts ausgestrahlt werden kann. Sie beschränkt ferner Urheber und Anbieter audiovisueller Dienste, die diese Sendungen präsentieren. Wenn der Urheber eines Zeichentrickfilms, der das Leben einer LGBTI-Familie oder die Probleme zweier Teenager darstellt, die sich mit ihrer Sexualität oder Geschlechtsidentität zurechtfinden, diesen Inhalt nur zu begrenzten Zeiten ausstrahlen darf und dieser Zeichentrickfilm in einer Schule oder im sonstigen öffentlichen Raum nicht gezeigt werden kann, werden sowohl das Recht dieser Person auf Vermittlung ihrer Idee als auch das Recht jedes Einzelnen auf Empfang dieser Idee eingeschränkt(49 ).
90. Schließlich greift Regelung 3 des Werbegesetzes eindeutig in die kommerzielle Meinungsäußerung ein.
91. Ungarn bringt als Verteidigung gegen den geltend gemachten Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung vor, dass die Beschränkung nur für bestimmte Arten des Austausches von Informationen gelte. Auch wenn dies für die Rechtfertigung dieser Maßnahmen relevant sein mag, ändert es nichts an der etwaigen Feststellung eines Eingriffs in dieses Recht.
92. Ein weiteres Argument, das Ungarn als Verteidigung gegen den von ihm vorgenommenen Eingriff geltend macht, ist, dass das Recht von LGBTI-Personen auf Weitergabe oder Empfang von Informationen nicht unmittelbar beeinträchtigt werde, da die Regelungen LGBTI-Personen nicht am Empfang oder an der Weitergabe von Informationen hinderten, sondern sich nur auf bestimmte Inhalte bezögen, die für Minderjährige schädlich sein könnten. Dieses Vorbringen ist unerheblich. Art. 11 der Charta soll eine Zensur ausschließen und gilt für Regelungen, die bestimmte Inhalte verbieten oder beschränken.
93. Daher greifen die streitigen Regelungen meines Erachtens, auch wenn sie sich auf bestimmte Mittel und Formen der Äußerung und des Empfangs von Informationen beschränken, in die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit ein.
4. Verstoß gegen Art. 7 der Charta
94. Art. 7 der Charta garantiert das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
95. Nach den Erläuterungen zur Charta entsprechen die Rechte nach Art. 7 der Charta den Rechten nach Art. 8 EMRK. Daher ist, ebenso wie in Bezug auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, für die Auslegung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens die Rechtsprechung des EGMR relevant(50 ).
96. Wie von der Kommission in ihrer Klageschrift vorgetragen, hat der EGMR den Begriff „Privatleben“ als weiten Begriff anerkannt, der die physische und psychische Integrität einer Person, einschließlich des Sexuallebens, umfasst. Er erfasst auch Aspekte der physischen und sozialen Identität wie Geschlechtsidentifizierung, Name, sexuelle Orientierung und persönliche Beziehungen(51 ). Art. 8 EMRK garantiert ferner das Recht auf ein „privates soziales Leben“(52 ), das das Recht auf persönliche Entwicklung und die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen Menschen und der Außenwelt einzugehen, beinhaltet(53 ).
97. Die Stigmatisierung, die sich aus den in Rede stehenden ungarischen Rechtsvorschriften ergibt, berührt alle diese Aspekte des Rechts auf Privat- und Familienleben. Nach Auffassung des EGMR haben Staaten eine positive Verpflichtung, die Achtung des Privatlebens des Einzelnen zu gewährleisten(54 ). Ferner hat der Gerichtshof anerkannt, dass diese positiven Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz des Privatlebens von Transgender-Personen bestehen(55 ).
98. Die Kommission trägt vor, dass sich die Situation in den vom EGMR entschiedenen Rechtssachen von derjenigen der vorliegenden Rechtssache darin unterscheide, dass es sich bei dem stigmatisierenden Handeln um das Handeln anderer Einzelpersonen oder Gruppen gehandelt habe und der EGMR festgestellt habe, dass die Verletzung des Rechts auf Privatleben darin gelegen habe, dass der Staat dieses Handeln nicht verhindert oder darauf reagiert habe.
99. Ich stimme mit der Kommission darin überein, dass die Verletzung des Rechts auf Privatleben in der vorliegenden Situation noch schwerwiegender ist, da sich die Stigmatisierung von LGBTI-Personen aus dem gesetzgeberischen Handeln des Mitgliedstaats ergibt. Die stigmatisierenden Wirkungen der ungarischen Rechtsvorschriften, die ein Klima der Feindseligkeit gegenüber LGBTI-Personen schaffen, können das Identitätsgefühl, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen von LGBTI-Personen beeinträchtigen. Von ihnen sind Minderjährige, aber auch Erwachsene betroffen. Minderjährige, die der LGBTI-Community angehören, sind besonders betroffen, da der Umstand, dass Informationen über das LGBTI-Leben aus dem öffentlichen Raum ferngehalten werden, ihnen die Erkenntnis verwehrt, dass ihr Leben nicht anormal ist. Dies wirkt sich auch auf ihre Anerkennung durch Gleichaltrige in der Schule oder im sonstigen Umfeld aus und beeinträchtigt somit auch ihr Recht auf ein „privates soziales Leben“. Anstatt Minderjährige vor einer Schädigung zu schützen, wird diese Schädigung durch die streitigen Rechtsvorschriften daher vielmehr ausgeweitet.
100. Was das Vorbringen der Kommission zu einem Verstoß gegen Art. 7 der Charta angeht, macht Ungarn geltend, die Kommission habe eine stigmatisierende Wirkung der in Rede stehenden Rechtsvorschriften nicht nachgewiesen.
101. Im Rahmen der abstrakten gerichtlichen Kontrolle ist jedoch, wie bereits erläutert, ausreichend, darzulegen, dass von den in Rede stehenden Rechtsvorschriften potenziell stigmatisierende Wirkungen ausgehen können. Die Kommission hat hinreichend dargelegt, warum der Inhalt der ungarischen Rechtsvorschriften, ihre Struktur und das Verfahren, in dem sie erlassen wurden, zum Entstehen eines negativen Klimas gegenüber LGBTI-Personen in Ungarn beitragen.
102. Im Ergebnis stimme ich mit der Kommission darin überein, dass die ungarischen Rechtsvorschriften in das Privatleben von LGBTI-Personen eingreifen.
5. Kann der Eingriff in Grundrechte gerechtfertigt werden?
103. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta können die darin geregelten Rechte eingeschränkt werden. Jede Einschränkung muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten. Die einschränkenden Regelungen können nur gerechtfertigt sein, wenn sie erstens dem Schutz eines von der Union anerkannten Gemeinwohlinteresses oder der Rechte und Freiheiten anderer dienen. Zweitens muss die Beschränkung im Hinblick auf das mit ihr verfolgte Ziel verhältnismäßig sein.
104. Vor diesem Hintergrund trägt Ungarn vor, der Eingriff in Grundrechte sei durch die Ziele der streitigen Rechtsvorschriften, nämlich den Schutz der gesunden Entwicklung Minderjähriger und des Rechts der Eltern, ihre Kinder nach ihren persönlichen Überzeugungen zu erziehen, gerechtfertigt(56 ).
105. Mit der Verfolgung dieser Ziele würden vielmehr die in der Charta enthaltenen Grundrechte von Kindern und Eltern geschützt. Ungarn verweist auf Art. 24 Abs. 2 der Charta, der zum Schutz des Kindeswohls verpflichte, und Art. 14 Abs. 3 der Charta, der das Recht der Eltern erwähne, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen.
106. Die Kommission trägt auf die erste, von Ungarn angeführte Rechtfertigung vor, dass Ungarn keinerlei Nachweis dafür vorgebracht habe, dass die gesunde Entwicklung Minderjähriger in irgendeiner Weise geschädigt werden könnte, wenn sie mit Inhalten konfrontiert würden, die das normale Leben homosexueller oder nicht-cisgender Menschen darstellten. Ganz im Gegenteil ist die Kommission, unterstützt durch die als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten und das Parlament, nicht nur der Ansicht, dass „LGBTI‑Inhalte“ für Kinder nicht schädlich sein könnten, sondern dass vielmehr die Abschirmung Minderjähriger von „LGBTI‑Inhalten“ für die Entwicklung und Sozialisierung junger Menschen schädlich sein könne.
107. Ungarn erwidert auf dieses Argument mit einem Verweis erstens auf das Vorsorgeprinzip und zweitens auf den Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten verfügten, soweit sie im Einklang mit ihren sittlichen, religiösen oder kulturellen Traditionen festlegten, was für Kinder schädlich sei.
108. Was das Vorsorgeprinzip angeht, trägt Ungarn vor, dass die Gefahr einer Schädigung der Entwicklung Minderjähriger bestehe, wenn sie „LGBTI‑Inhalten“ ohne Anleitung durch Erwachsene ausgesetzt seien. Im Rahmen seines Beurteilungsspielraums könne es Schutzmaßnahmen treffen, „ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe [der möglichen] Gefahren klar dargetan sind“(57 ).
109. Ich kann mich dem insoweit anschließen, dass, soweit der Schutz der körperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung Minderjähriger eine Frage der Gesundheit ist, der Vorsorgegrundsatz möglicherweise zur Rechtfertigung regulatorischer Maßnahmen herangezogen werden kann(58 ).
110. Auch wenn dieser Begriff in der Tat immer mit einem gewissen Maß an wissenschaftlicher Unsicherheit verbunden bleiben wird, hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass die Risikobewertung nicht mit einer „rein hypothetischen Betrachtung des Risikos …, die auf bloße, wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gestützt wird“, begründet werden kann(59 ). Mitgliedstaaten, die sich auf solche Argumente stützen, müssen daher zumindest einen gewissen wissenschaftlichen Anfangsbeweis dafür beibringen, dass das in Rede stehende Risiko wahrscheinlich ist. Andernfalls wären die streitigen ungarischen Rechtsvorschriften, wie von der Kommission vorgebracht, rein willkürlich.
111. Auch auf die ausdrückliche Aufforderung durch den Gerichtshof, Nachweise für ihre Behauptung beizubringen, dass allein der Umstand, dass sie „LGBTI‑Inhalten“ ausgesetzt seien, die Entwicklung Minderjähriger schädigen könne, hat Ungarn lediglich bekräftigt, dass ein solches potenzielles Risiko bestehe, und sich insoweit auf sehr verallgemeinernde Aussagen gestützt.
112. Es hat insoweit erläutert, dass sich das Risiko aus der Meinungsmacht der Medien ergebe, wohingegen Kinder und junge Erwachsene zum Experimentieren neigten und noch nicht kritisch beurteilen könnten, was für sie richtig sei. Zugleich könnten Eltern, wenn „LGBTI‑Inhalte“ für Minderjährige zugänglich seien, die Möglichkeit verlieren, zu entscheiden, wann ihre Kinder, die niemand so gut kenne wie sie, bereit seien, solchen Inhalten ausgesetzt zu werden, oder gegebenenfalls ihre Irritationen aufzulösen.
113. Während ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass Irritationen zum Erwachsenwerden gehören, hat Ungarn, von dieser allgemeinen Aussage abgesehen, zu keinem Zeitpunkt erläutert, warum der Umstand, dass Kinder „LGBTI‑Inhalten“ ausgesetzt sind, für sie irritierender sein sollte als andere Inhalte, die neu für sie sein könnten, und warum insbesondere „LGBTI‑Inhalte“ als potenziell schädlich angesehen werden.
114. Ich kann mich der Ansicht der Kommission anschließen, dass der Schutz der gesunden Entwicklung Minderjähriger in der Tat, abstrakt betrachtet, einen Grund des Gemeinwohlinteresses darstellen könnte, der Beschränkungen bestimmter Rechte rechtfertigen könnte. Da Ungarn jedoch keinen Beweis für eine mögliche Schädigung angeboten hat, die sich daraus ergeben könnte, dass Minderjährige „LGBTI‑Inhalten“ ausgesetzt sind, kann es sich auf diese Rechtfertigung nicht stützen.
115. In die juristische Sprache der Verhältnismäßigkeit übersetzt, lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens kann festgestellt werden, dass Ungarn keinen zulässigen Grund des Gemeinwohlinteresses hat, den es zur Rechtfertigung seines Eingriffs in die drei, von der Kommission angeführten Charta-Rechte geltend machen kann. Wenn dies der Fall ist, ist es nicht erforderlich, weitere Schritte der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden, da keine Rechtfertigung möglich ist. Hilfsweise könnten wir die Notwendigkeit, die gesunde Entwicklung von Kindern zu schützen, als einen abstrakteren Grund des Gemeinwohlinteresses zulassen. In diesem Fall jedoch halten die in Rede stehenden Regelungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand, da sie für den Schutz von Kindern vor einer möglichen Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung weder angemessen noch erforderlich sind.
116. In beiden Fällen kann Ungarn seinen Eingriff in Antidiskriminierungsvorschriften, die freie Meinungsäußerung oder das Recht auf Privatleben nicht mit der Notwendigkeit rechtfertigen, Minderjährige vor einer Schädigung zu schützen.
117. Mangels eines Beweises dafür, dass auch nur ein potenzielles Risiko einer Schädigung der gesunden Entwicklung Minderjähriger besteht, kann die Rechtfertigung Ungarns daher nicht als tragfähig zugelassen werden.
118. Aus demselben Grund können die streitigen ungarischen Rechtsvorschriften nicht in der Weise verstanden werden, dass sie erlassen wurden, um das Kindeswohl zu gewährleisten, das eines der Grundrechte im Sinne der Charta ist, das grundsätzlich gegen andere Rechte, wie etwa das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Privatleben und die freie Meinungsäußerung, abgewogen werden könnte. Ungarn hat keinen Beweis dafür beigebracht, dass die Abschirmung von Kindern von LGBTI‑Inhalten dem Kindeswohl entspricht.
119. Außerdem stützt Ungarn seine Ansicht, dass es berechtigt sei, davon auszugehen, dass Minderjährige eines Schutzes vor LGBTI‑Inhalten bedürften, auf das Urteil Omega(60 ). Auf der Grundlage jenes Urteils macht es geltend, die Mitgliedstaaten verfügten bei der Entscheidung in Bezug auf die öffentliche Ordnung, auf die sie sich zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen stützen könnten, über einen weiten Beurteilungsspielraum. Ungarn betont, der Gerichtshof habe in jenem Urteil den Standpunkt eingenommen, dass die Auffassung, wie Grundrechte oder andere Interessen zu schützen seien, nicht in jedem Mitgliedstaat gleich, sondern je nach den in diesem Staat herrschenden sittlichen, religiösen oder kulturellen Erwägungen unterschiedlich sein könne.
120. Die Entscheidung, wie die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung Minderjähriger zu schützen oder die elterlichen Rechte zu wahren seien, sei daher Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats.
121. Ungarn stützt seine Ansicht, dass die Omega-Rechtsprechung auch auf den Schutz der gesunden Entwicklung Minderjähriger anwendbar sei, auf das kürzlich ergangene Urteil des Gerichtshofs Booky.fi(61 ), dem ein der vorliegenden Rechtssache ähnlicher Rechtsstreit zugrundegelegen habe, da er die Einstufung und Kennzeichnung audiovisueller Programme mit dem Ziel des Schutzes von Kindern betroffen habe. In jenem Urteil habe der Gerichtshof seine Feststellungen im Urteil Omega wiederholt und festgestellt, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Beurteilung der Notwendigkeit von Maßnahmen zum Schutz von Kindern über ein Ermessen verfügten, und bestätigt, dass diese Beurteilungen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein könnten.
122. Wie jedoch von der Regierung Finnlands, des Staats, in dem die Rechtssache Booky.fi ihren Ursprung hatte, vorgebracht, ist dieser Beurteilungsspielraum nicht unbegrenzt; die Entscheidung des Mitgliedstaats muss die Grundrechte, wie etwa das Verbot diskriminierender Maßnahmen, wahren(62 ). Die in Rede stehenden Regelungen verstoßen, wie oben ausgeführt, gegen Grundrechte; hierin liegt der Hauptgrund dafür, dass diese Regelungen nicht auf der Grundlage der Urteile Omega oder Booky.fi gerechtfertigt werden können.
123. Schließlich vertritt Ungarn offenbar unter Verweis auf die Ergebnisse des Referendums über die Änderungen die Ansicht, dass seine Bevölkerung diese Änderungen unterstütze(63 ). Selbst wenn dies der Wahrheit entspräche(64 ), könnte diese „Tatsache“ nicht als Rechtfertigung für einen Verstoß gegen Binnenmarktvorschriften und erst recht nicht gegen Grundrechte zugelassen werden. In konstitutionellen Demokratien, wie in der Europäischen Union, werden die Rechte von Minderheiten gegen ungerechtfertigte Entscheidungen der Mehrheit geschützt(65 ).
124. Die zweite Rechtfertigung, die Ungarn für seine Regelungen anführt, ist die Notwendigkeit, das Recht von Eltern zu wahren, ihre Kinder nach ihren Überzeugungen zu erziehen. Es gibt grundsätzlich keinen Grund, diesen Grund der öffentlichen Ordnung als möglichen Rechtfertigungsgrund zurückzuweisen. Ungarn erläutert jedoch, ebenso wie bei der Rechtfertigung des Schutzes vor einer Schädigung, nicht, inwieweit die in Rede stehenden Rechtsvorschriften diese elterlichen Rechte fördern oder schützen sollen.
125. Wie von mehreren, als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten vorgetragen, steht es Eltern frei, Fragen im Zusammenhang mit homosexueller Orientierung oder Geschlechtsidentitäten mit ihren Kindern zu diskutieren und ihnen diese zu erklären, auch wenn sie solchen Inhalten in den Medien begegnen(66 ). Die in Rede stehenden Regelungen sind daher zur Erreichung des von Ungarn angeführten legitimen Ziels nicht geeignet oder erforderlich(67 ).
126. Ungarn ist ferner der Ansicht, dass die Rechte von Eltern, ihre Kinder nach ihren Überzeugungen zu erziehen, nicht nur als ihre kulturelle und politische Entscheidung, sondern als eines der Grundrechte in Art. 14 Abs. 3 der Charta anzusehen sei.
127. Dieses Recht, das die Charta den Eltern verleiht, ist jedoch enger als das Recht, das Ungarn nach seinem Vortrag mit den Regelungen wahren will. Es ist Teil der Chartabestimmung über das Recht auf Bildung. Wie in den Erläuterungen zur Charta angeführt, lehnt sich Art. 14 sowohl an die gemeinsamen verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten als auch an Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK an. Der EGMR hat entschieden, dass das Recht der Eltern nach Art. 2 Satz 2 des Zusatzprotokolls zur EGMR lediglich „ein Zusatz zum Grundrecht auf Bildung“ sei(68 ). Daher ermöglicht auch das Recht der Eltern nach Art. 14 Abs. 3 der Charta den Eltern lediglich im Kontext der Freiheit zur Gründung von Lehranstalten verschiedener Traditionen, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen. Ungarn kann sich daher nicht auf dieses Charta-Recht berufen, um einen Verstoß gegen die Grundrechte auf Nichtdiskriminierung, Privatleben und Informationsfreiheit in anderen, von den Regelungen erfassten Bereichen der Erbringung von Dienstleistungen zu rechtfertigen.
128. Ungarn kann sich daher auf die Rechte von Eltern, ihre Kinder nach ihren persönlichen Überzeugungen zu erziehen, weder als Grund des öffentlichen Interesses noch als durch die Charta geschütztes Grundrecht der Eltern berufen.
129. Ungarn hat ferner ein weiteres Argument zum Vorbringen der Kommission zu einem Verstoß gegen Art. 21 der Charta vorgebracht. Unter Verweis auf das Urteil WABE(69 ) macht es geltend, das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen oder erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, könne die Ungleichbehandlung rechtfertigen.
130. Zwar hat der Gerichtshof in jenem Urteil die Rechtfertigung einer Diskriminierung wegen der Religion zugelassen, die Diskriminierung in jener Rechtssache ergab sich jedoch aus einer neutralen Regel, die bestimmte Religionen stärker beeinträchtigte als andere. Der Gerichtshof stellte daher fest, dass die Situation in jener Rechtssache eine mittelbare Diskriminierung darstellte. Demgegenüber macht die Kommission geltend, die aus den in Rede stehenden Regelungen resultierende Diskriminierung ergebe sich nicht aus einer neutralen Maßnahme, sondern beruhe unmittelbar auf den verbotenen Gründen des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung.
131. Abgesehen davon, dass die in Rede stehenden Regelungen die elterlichen Rechte nicht schützen, kann Ungarn sich daher zur Rechtfertigung der Diskriminierung, auf der seine Regelungen beruhen, auch nicht auf das Urteil WABE stützen.
132. Im Ergebnis kann der Eingriff in das Grundrecht, nicht wegen des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung diskriminiert zu werden, die Freiheit, Informationen weiterzugeben und zu empfangen, und das Recht auf Privatleben, der durch das Änderungsgesetz und die sich hieraus ergebenden Regelungen verursacht wird, nicht mit dem Schutz Minderjähriger oder dem Schutz elterlicher Rechte gerechtfertigt werden.
133. Demzufolge verstoßen die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 gegen die Art. 21, 11 und 7 der Charta.
6. Verstoß gegen Art. 1 der Charta
134. Nach den Erläuterungen zur Charta zu Art. 1 ist die Würde des Menschen nicht nur ein Grundrecht an sich, sondern bildet das eigentliche Fundament anderer Grundrechte. Der Schutz vor Diskriminierung, die Freiheit der Meinungsäußerung und das Recht auf Privatleben sind konkretere Ausprägungen der Menschenwürde im Sinne der Charta(70 ).
135. In den Erläuterungen heißt es auch, dass die Würde des Menschen zum Wesensgehalt anderer in der Charta festgelegter Rechte gehört und daher auch bei Einschränkungen dieser Rechte nicht angetastet werden darf.
136. Aus diesen Erläuterungen folgt meines Erachtens, dass die Menschenwürde verletzt wird, wenn Beschränkungen anderer Rechte, in denen sie konkretere Ausprägung findet, nicht gerechtfertigt werden können.
137. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die Würde des Menschen verletzt wird, wenn gegen absolute Rechte, wie das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Folter, dessen Verletzung niemals gerechtfertigt werden kann, verstoßen wird(71 ). Meines Erachtens muss in entsprechender Weise auch der Fall, dass gegen nicht absolute Grundrechte, die mit der Würde des Menschen in engem Zusammenhang stehen, wie die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Rechte, verstoßen wird, weil der Eingriff nicht gerechtfertigt werden könnte, zur Feststellung eines Verstoßes gegen die Würde des Menschen führen.
138. Da Ungarn keine zulässigen Gründe zur Rechtfertigung der Diskriminierung, der Beschränkungen der freien Meinungsäußerung und des Eingriffs in das Recht auf Privatleben, die sich aus seinen Rechtsvorschriften ergeben, geltend machen konnte, sind diese Rechtsvorschriften auch als Verletzung der Menschenwürde anzusehen. Sie verletzen die Würde von LGBTI-Personen und allen anderen Personen, denen verwehrt wird, diese LGBTI-Personen in einer mit der übrigen Gesellschaft gleichberechtigten Weise zu behandeln.
139. Da Ungarn keine Rechtfertigung für den Eingriff in die Grundrechte geltend machen kann, die eine Ausprägung der Würde des Menschen darstellen, verstoßen die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 daher meines Erachtens gegen Art. 1 der Charta.
140. Im Ergebnis hat Ungarn durch den Erlass der Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 gegen die Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta verstoßen.
141. Damit komme ich zu der weiterhin ungeklärten Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Feststellung eines Verstoßes gegen mehrere Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union sowie gegen die Rechte aus der Charta zu einer eigenständigen Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV führen könnte.
C. Sechster Klagegrund der Kommission – Verstoß gegen Art. 2 EUV
142. Mit ihrem sechsten Klagegrund beantragt die Kommission, festzustellen, dass Ungarn durch den Erlass des Änderungsgesetzes, aus dem sich die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 ergaben, zusätzlich zu Verstößen gegen konkrete Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union sowie mehrere Bestimmungen der Charta, auch gegen Art. 2 EUV verstoßen hat.
143. Ungarn bestreitet die Möglichkeit, dass ein Verstoß gegen Art. 2 EUV gesondert von einem Verstoß gegen andere Unionsvorschriften festgestellt werden kann. Es sei „nicht vorstellbar, dass ein Staat vom Gerichtshof allein auf der Grundlage von Art. 2 EUV verurteilt wird, ohne dass der Gerichtshof einen Verstoß gegen eine andere konkrete Verpflichtung aus dem Unionsrecht feststellt“(72 ).
144. Soweit mit diesem Vorbringen ein Einwand gegen eine selbständige Berufung auf Art. 2 EUV erhoben wird, ist es unerheblich. Wie zu Beginn meiner Würdigung ausgeführt, besteht in der vorliegenden Rechtssache keine Notwendigkeit, die Möglichkeit einer Berufung auf Art. 2 EUV außerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts zu erörtern. Die Kommission hat den Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV innerhalb des Geltungsbereich des Unionsrechts im Anschluss an ihre Anträge geltend gemacht, Verstöße gegen den Vertrag, mehrere Rechtsakte des sekundären Unionsrechts sowie die Charta festzustellen.
145. Ungarn macht weiter geltend, Art. 2 EUV könne nicht als eigenständiger rechtlicher Klagegrund für eine Vertragsverletzungsklage innerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts herangezogen werden. Allein schon die Tatsache, dass die Kommission den Verstoß gegen Art. 2 EUV mit Verstößen gegen konkrete Bestimmungen des Unionsrechts und der Charta verknüpfe, spreche dafür, dass Art. 2 EUV nicht als eigenständige Grundlage für einen Verstoß herangezogen werden könne. Ungarn trägt eine Reihe weiterer Argumente vor, auf die ich im restlichen Teil des vorliegenden Abschnitts der Schlussanträge eingehen werde.
146. Diese Argumente stellen den Gerichtshof vor die erste wichtige Frage: Ist Art. 2 EUV eine Bestimmung der Art, die in einem Vertragsverletzungsverfahren geltend gemacht werden kann? Ganz allgemein stellt sich die Frage, ob die Rüge eines Verstoßes gegen Werte justiziabel ist; kann über eine solche Rüge überhaupt von Gerichten entschieden werden, oder ist dies eine Frage, über die in einem politischen Prozess entschieden werden muss?
147. Wenn Art. 2 EUV justiziabel ist, stellt sich die nächste Frage danach, welche Kriterien der Gerichtshof seiner Entscheidung zugrundezulegen hat, ob ein eigenständiger Verstoß gegen Art. 2 EUV vorliegt. Die Beteiligten des vorliegenden Verfahrens stimmen darin überein, dass Art. 2 EUV nur ausnahmsweise zur Anwendung kommen kann, wenn der Verstoß einen bestimmten Schweregrad hat. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist wichtig, die Fallgestaltungen, in denen Verstöße gegen Grundrechte auch zu einem Verstoß gegen Art. 2 EUV führen, von denjenigen zu unterscheiden, in denen der Gerichtshof trotz der Feststellung von Verstößen gegen die Charta oder andere fundamentale Grundsätze des Unionsrechts keinen Verstoß gegen Art. 2 EUV feststellen sollte.
148. Im Schrifttum hat Art. 2 EUV große Aufmerksamkeit gefunden und wurde insoweit unter verschiedenen Blickwinkeln untersucht. In den vorliegenden Schlussanträgen kann ich nicht auf alle, sich aus diesen akademischen Beiträgen ergebenden Punkte eingehen. Die Beantwortung der beiden vorgenannten zentralen Fragen, die von den Parteien und Streithelfern der vorliegenden Rechtssache aufgeworfen worden sind, sollte ausreichen, um dem Gerichtshof die Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob Ungarn durch den Erlass der streitigen Rechtsvorschriften zusätzlich zu anderen geltend gemachten Verstößen auch gegen Art. 2 EUV verstoßen hat.
149. Ich werde daher zunächst die Justiziabilität von Art. 2 EUV erörtern. Nachdem ich festgestellt habe, dass der Gerichtshof unter Umständen der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Art nicht gehindert ist, über eine auf Art. 2 EUV gestützte Rüge einer Vertragsverletzung zu entscheiden, werde ich prüfen, ob dem sechsten Klagegrund der Kommission vom Gerichtshof stattzugeben ist. Diese Frage werde ich zunächst allgemein prüfen und diese Feststellungen anschließend auf die vorliegende Rechtssache anwenden.
1. Justiziabilität von Art. 2 EUV
150. Der Begriff „Justiziabilität“ kann verschiedene Bedeutungen haben. Ich werde ihn in dem Sinne verwenden, dass eine Rechtsvorschrift wie Art. 2 EUV von Gerichten zur Entscheidung über eine Rechtssache herangezogen werden kann.
151. Rechtsnormen können von Gerichten zu verschiedenen Zwecken herangezogen werden: als Auslegungsinstrument, um die Bedeutung anderer Rechtsvorschriften zu ermitteln, als Rechtsquelle für Ansprüche einzelner Rechtssubjekte oder als Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer anderen Regelung.
152. In der vorliegenden Rechtssache stellt sich allein die Frage, ob Art. 2 EUV vom Gerichtshof im letzten der drei vorstehend angeführten Anwendungsfälle, nämlich zur gerichtlichen Überprüfung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens, herangezogen werden kann.
153. In der vorliegenden Rechtssache stellt sich also weder die Frage nach einer unmittelbaren Wirkung noch die Frage nach einer auslegungsbezogenen Wirkung von Art. 2 EUV(73 ).
154. Die erste Voraussetzung für die Heranziehung einer Regelung als Grundlage einer gerichtlichen Überprüfung ist, dass diese Regelung Verpflichtungen rechtlicher Art enthält. Bevor ich der Frage nachgehe, ob es sich bei Art. 2 EUV um eine solche Rechtsnorm handelt, werde ich erläutern, welches meines Erachtens die beiden wichtigsten Funktionen sind, die diese Bestimmung in der Unionsrechtsordnung hat, da sie Einfluss auf die Antwort auf die Frage nach der Rechtsnatur dieser Bestimmung haben.
a) Funktion von Art. 2 EUV in der Unionsrechtsordnung
1) Verfassungsidentität der Europäischen Union
155. Art. 2 EUV bringt die Wahlentscheidung der Gründer der Europäischen Union im Hinblick auf die Art von Gesellschaft zum Ausdruck, zu deren Gründung sich die Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Union verpflichtet haben.
156. Man kann sich verschiedene Gesellschaften vorstellen: Autokratien, die nicht auf Gewaltenteilung beruhen; Gesellschaften, in denen die gewählte Mehrheit nicht an die Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte gebunden ist; Gesellschaften, die von Männern und nicht nach Recht und Gesetz regiert werden; Gesellschaften, die Minderheiten nicht gleich behandeln und die Menschenwürde nur der Mehrheit vorbehalten; oder Gesellschaften, die nicht anerkennen, dass Frauen Männern gleichgestellt sind. Solche Gesellschaften gibt es durchaus, und sie entstehen überall in der Welt.
157. Die Vorstellung davon, was nach der Unionsverfassung eine gute Gesellschaft ist, ist eine andere. Diese Vorstellung kommt in Art. 2 EUV zum Ausdruck. Die in dieser Bestimmung aufgeführten Werte, nämlich die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, entwerfen in Verbindung miteinander das Bild einer verfassungsmäßigen Demokratie, die die Menschenrechte wahrt (74 ).
158. Diese Wahlentscheidung kommt in der einleitenden Bestimmung der Verträge zum Ausdruck und gibt der Europäischen Union daher, wie vom Gerichtshof erläutert, schlechthin ihr Gepräge (75 ). Kurz gesagt, wäre die Europäische Union ohne diese Werte nicht mehr die Union im Sinne der Verträge.
2) Voraussetzung für das Funktionieren der Unionsrechtsordnung
159. Art. 2 EUV ist nicht nur für die Bestimmung der Identität der Europäischen Union von großer Bedeutung. Er hat auch erhebliche praktische Bedeutung, da er das Funktionieren der Unionsrechtsordnung ermöglicht.
160. Die Unionsrechtsordnung ist eine zusammengesetzte Ordnung, die aus Vorschriften besteht, die auf Unionsebene und auf Ebene der Mitgliedstaaten erlassen werden. Die Vorschriften auf Unionsebene hängen von den Vorschriften auf nationaler Ebene und vom ordnungsgemäßen Funktionieren der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ab. Für das Bestehen einer solchen zusammengesetzten Rechtsordnung ist unabdingbar, dass sowohl auf Unionsebene als auch auf nationaler Ebene gemeinsame Werte gewahrt werden(76 ).
161. Seit dem Gutachten 2/13 hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die „rechtliche Konstruktion [der Union] auf der grundlegenden Prämisse [beruht], dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden.“(77 )
162. Wenn die Mitgliedstaaten einander in Bezug auf die Achtung der Werte, auf die sich die Union gründet, nicht vertrauen könnten, könnte die Unionsrechtsordnung, die weitgehend auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, praktisch nicht umgesetzt werden. Eben dieser Grundsatz ermöglicht seit dem Urteil Cassis de Dijon(78 ) die Aufrechterhaltung der Vielfalt der von den Mitgliedstaaten gewählten rechtlichen Lösungen, zugleich aber auch den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen, Kapital und Gerichtsentscheidungen von einem Mitgliedstaat zum anderen.
163. Daher ist die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte die politische und praktische Voraussetzung für das Bestehen der Unionsrechtsordnung.
b) Art. 2 EUV als rechtsverbindliche Bestimmung
164. In den Konditionalitätsurteilen hat der Gerichtshof entschieden, dass „Art. 2 EUV keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten darstellt, sondern Werte enthält, die … der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten “(79 ).
165. Diese Feststellung ließe mindestens zwei verschiedene Auslegungen zu. Es könnte, wie offenbar von der Kommission, dem Parlament und den als Streithelfern beigetretenen Mitgliedstaaten, die Ansicht vertreten werden, dass Art. 2 EUV nicht lediglich eine politische Erklärung, sondern eine Bestimmung sei, die rechtliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten enthalte. Andererseits könnte, aufgrund des letzten Teils des Satzes, wie offenbar von Ungarn, die Ansicht vertreten werden, dass sich die Verpflichtungen nicht aus Art. 2 EUV selbst ergäben, sondern durch Rechtsgrundsätze konkretisiert werden müssten, um im Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof einen Prüfungsmaßstab bilden zu können.
166. Ich stimme mit der von der Kommission vertretenen und von den 16 als Streithelfern beigetretenen Mitgliedstaaten sowie dem Parlament unterstützten Ansicht überein. Meines Erachtens entstehen den Mitgliedstaaten bestimmte Verpflichtungen in der Tat unmittelbar auf der Grundlage von Art. 2 EUV. Ich schlage dem Gerichtshof vor, die sich mit der vorliegenden Rechtssache bietende Gelegenheit zu nutzen, um diese Auslegung der angeführten Passage seiner Konditionalitätsurteile zu bestätigen. Für diese Auslegung werde ich mehrere Argumente vortragen.
1) Wortlaut, Kontext und Entstehungsgeschichte
167. Art. 2 EUV kann aufgrund seiner Stellung in den Verträgen rechtsverbindliche Wirkung zuerkannt werden. Er ist Teil des normsetzenden Teils des EUV und nicht seiner Präambel. Es könnte die Ansicht vertreten werden, dass die Verfasser der Verträge, wenn sie Art. 2 EUV nicht mit Rechtsverbindlichkeit hätten versehen wollen, die Bindung an diese Werte stattdessen in der Präambel zum Ausdruck gebracht hätten(80 ). Soweit der Gerichtshof anerkannt hat, dass diese Bestimmung „keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten“ darstellt, ist dies daher dahin zu verstehen, dass den Werten des Art. 2 die Verbindlichkeit einer rechtlichen Verpflichtung zukommt(81 ).
168. Der Wortlaut, in dem der Begriff „Werte“ verwendet wird, schließt die Rechtsverbindlichkeit von Art. 2 EUV nicht aus.
169. In früheren Fassungen des Vertrags über die Europäische Union war in Art. 6 Abs. 1 des Vertrages von Grundsätzen anstatt von Werten die Rede: „Die Europäische Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“(82 ) Der Begriff „Werte“ wird erst seit dem Vertrag von Lissabon verwendet, der den vom Konvent für eine Verfassung für Europa vorgeschlagenen Wortlaut übernahm(83 ). Diese Änderung des Wortlauts kann nicht dahin interpretiert werden, dass damit die Rechtsnatur der im heutigen Art. 2 EUV genannten Werte hätte verneint oder eingeschränkt werden sollen. Ganz im Gegenteil ergibt sich aus Aufzeichnungen über die Arbeit des Konvents für die Verfassung für Europa, dass vielmehr eine Reihe von rechtlichen Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten eingeführt werden sollte. Als es die Bestimmung über Werte vorschlug, betonte das Präsidium die Notwendigkeit einer kurzen Aufzählung fundamentaler Werte, die „einen eindeutigen und unstrittigen grundlegenden rechtlichen Gehalt haben, damit die Mitgliedstaaten erkennen können, welche … Verpflichtungen ihnen aus diesen Werten erwachsen“(84 ).
170. Außerdem werden in den Verträgen selbst die Begriffe Werte und Grundsätze synonym verwendet(85 ); dies gilt auch für den Gerichtshof(86 ).
171. Auch der Verweis auf Art. 2 EUV in anderen Bestimmungen der Verträge spricht für eine Auslegung dahin, dass die Achtung der Werte eine rechtliche Verpflichtung ist. So bestimmt Art. 3 Abs. 1 EUV allgemein, dass es Ziel der Union ist, den Frieden und ihre Werte zu fördern, und nach Abs. 5 dieser Bestimmung schützt und fördert die Union ihre Werte in ihren Beziehungen zur übrigen Welt. Die hohe Bedeutung von Werten bei der Entwicklung der Beziehungen zu den Nachbarn der Union wird in Art. 8 EUV wiederholt, und die Verpflichtung der Europäischen Union, ihre Werte in ihren Außenbeziehungen zu wahren, wird in Art. 21 Abs. 2 Buchst. a EUV, Art. 32 und Art. 42 Abs. 5 EUV weiter ausgestaltet. Die einleitende Bestimmung über die Unionsorgane, Art. 13 EUV, sieht vor, dass die Union über einen institutionellen Rahmen verfügt, der zum Zweck hat, ihren Werten Geltung zu verschaffen.
172. Diese Bestimmungen lassen den Schluss zu, dass der Schutz und die Förderung der Werte von Art. 2 EUV für die Unionsorgane intern bei der Gesetzgebung oder bei ihrem externen Handeln eine Verpflichtung darstellt. Wird diese Verpflichtung auch den Mitgliedstaaten auferlegt?
173. Art. 7 EUV, der ein besonderes Verfahren einführt, das zur Aussetzung der Stimmrechte eines Mitgliedstaats führen kann, der die Werte von Art. 2 EUV schwerwiegend und anhaltend verletzt, ist ein wichtiges Argument dafür, dass die Achtung dieser Werte eine den Mitgliedstaaten durch die Verträge auferlegte Verpflichtung ist.
174. Insoweit wird in der Präambel des AEU-Vertrags unter Verweis auf die Art. 49 und 7 EUV bekräftigt, dass die Mitgliedstaaten die Werte von Art. 2 EUV achten müssen.
175. Die wichtigste Bestimmung, die dafür spricht, dass Art. 2 EUV rechtliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten begründet, ist meines Erachtens Art. 49 EUV.
2) Bedeutung von Art. 49 EUV
176. Art. 49 EUV öffnet die Türen der Europäischen Union jedem europäischen Staat, der die in Art. 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt.
177. Folglich schließen sich neue Mitgliedstaaten mit ihrem Beitritt zur Europäischen Union auch der Verfassungsentscheidung für eine gute Gesellschaft an, die in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommt.
178. Art. 49 EUV hat zwei wichtige Auswirkungen. Zum einen beruht er auf der Prämisse, dass sich ein Staat dafür entscheidet, der Union beizutreten, weil die Werte von Art. 2 EUV auch der Verfassungsentscheidung dieses Staates entsprechen. Wie vom Gerichtshof anerkannt(87 ), muss ein beitrittswilliger Staat, bevor er in die Union aufgenommen wird, nämlich zur Überzeugung der anderen Mitgliedstaaten nachweisen, dass er die „politischen Kriterien von Kopenhagen“ erfüllt, die die Werte von Art. 2 widerspiegeln(88 ).
179. Aufgrund dieses Aspekts von Art. 49 EUV konnte der Gerichtshof zu dem Schluss gelangen, dass „die Union … aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen“(89 ).
180. Die Bindung an die Werte des Art. 2 besteht während der gesamten Mitgliedschaft eines Mitgliedstaats in der Europäischen Union fort. In der Formulierung des Gerichtshofs „[kann d]ie Achtung dieser Werte … nämlich nicht auf eine Verpflichtung reduziert werden, der ein Beitrittskandidat im Hinblick auf seinen Beitritt zur Union unterläge und der er danach wieder entsagen könnte“(90 ).
181. Im Urteil Repubblika hat der Gerichtshof darüber hinaus entschieden, dass „die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben“(91 ).
182. Art. 49 EUV bezieht sich auf den Einsatz der Mitgliedstaaten für die Förderung der Werte von Art. 2. Hieraus ergeben sich für die Mitgliedstaaten zwei Arten von Verpflichtungen: die Pflicht zur Nichtunterschreitung und die Pflicht zur Ergreifung von Maßnahmen zur Verwirklichung der Werte von Art. 2 EUV. Bei diesen beiden Verpflichtungen handelt es sich um Ergebnispflichten der Mitgliedstaaten, wie der Gerichtshof in Bezug auf den Wert der Rechtsstaatlichkeit bereits bestätigt hat(92 ).
183. Der erste Aspekt dieser Ergebnispflicht besteht darin, dass die Mitgliedstaaten zumindest das Niveau des Schutzes der Werte aufrechterhalten müssen, das zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Europäische Union bestand. Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Mitgliedstaaten die Pflicht haben, Rückschritte zu vermeiden. Mit anderen Worten ist den Mitgliedstaaten untersagt, ihre Rechtsvorschriften dergestalt zu ändern, dass der Schutz von Unionswerten vermindert wird(93 ). Auch wenn der Gerichtshof bislang nur in Rechtssachen, die den Wert der Rechtsstaatlichkeit betrafen, Gelegenheit hatte, den Grundsatz der Nichtunterschreitung aufzustellen und zu bestätigen(94 ), gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Grundsatz der Nichtunterschreitung nicht für alle in Art. 2 EUV genannten Werte geltend sollte.
184. Die Rechtsstaatlichkeitskrise, die zu einer Reihe von Urteilen des Gerichtshofs geführt hat, hat uns gelehrt, dass Werte nicht als selbstverständlich betrachtet werden sollten. Die Mitgliedstaaten müssen aktiv darauf hinarbeiten, nicht nur das Niveau des Schutzes aufrechtzuerhalten, das zum Zeitpunkt des Eintritts in die Europäische Union bestand, sondern müssen auch die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um bestehende Hindernisse zu beseitigen, die der uneingeschränkten Achtung dieser Werte in ihren Gesellschaften entgegenstehen.
185. Auch wenn der Gerichtshof noch keine Gelegenheit hatte, diese positive Verpflichtung unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, verlangt meines Erachtens der Begriff „Förderung“ in Art. 49 EUV auch positive Anstrengungen, um die Werte von Art. 2 in den Gesellschaften jedes der Mitgliedstaaten zu erreichen. Dies ist wichtig für die Wiederherstellung der Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz. Es ist ebenso wichtig für andere Werte, wie etwa die Gleichheit. Gibt es eine strukturelle Ungleichheit in einer Gesellschaft, wie sie offenbar für die LGBTI-Minderheit in Ungarn besteht, sollte der Mitgliedstaat aktiv auf die Lösung eines solchen strukturellen Problems hinarbeiten und muss erst recht davon absehen, es zu verschärfen.
186. Der Gerichtshof sollte daher klarstellen, dass er mit seiner in Nr. 4 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebenen Feststellung Art. 2 EUV nicht die Möglichkeit absprechen wollte, dass er den Mitgliedstaaten eigenständige Verpflichtungen auferlegen kann. Im Gegenteil haben die Mitgliedstaaten aufgrund dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 49 EUV die Verpflichtung, die in Art. 2 EUV aufgeführten Werte aufrechtzuerhalten und aktiv zu fördern.
187. Die in Nr. 4 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Feststellung könnte daher wie folgt neu gefasst werden: „Art. 2 EUV stellt keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten dar, sondern enthält Werte, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, und verpflichtet die Mitgliedstaaten, sie aufrechtzuerhalten und zu fördern. Diese Werte schlagen sich in Grundsätzen nieder, die genauere rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten.“
188. Die Feststellung, dass Art. 2 EUV rechtliche Ergebnispflichten für die Mitgliedstaaten beinhaltet, bedeutet noch nicht, dass diese Verpflichtungen gerichtlich verfolgbar und durchsetzbar sind. Dieser Frage werde ich mich jetzt zuwenden.
c) Gründe für und gegen die Justiziabilität von Art. 2 EUV
1) Gründe für die Justiziabilität
189. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV definiert als Aufgabe des Gerichtshofs, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern.
190. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe ist der Gerichtshof sicherlich aufgefordert, die Wahrung von Unionsrecht verfassungsrechtlicher Art zu sichern. Art. 2 EUV ist, wie erläutert, eine solche Bestimmung; sie ist von größter Bedeutung für die Unionsrechtsordnung, da sie ihr Wesen definiert und ihr Funktionieren ermöglicht.
191. Der Gerichtshof erfüllt seine Verfassungsaufgabe innerhalb der durch die Verträge ausgestalteten Verfahren. Zu diesen Verfahren gehört das in den Art. 258 bis 260 AEUV geregelte Vertragsverletzungsverfahren.
192. Nach Art. 258 AEUV ist der Gerichtshof für die Feststellung zuständig, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat(95 ).
193. Da Art. 2 EUV, wie bereits erläutert, rechtliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten begründet, gehört die Durchsetzung dieser Verpflichtungen durch die Feststellung einer Vertragsverletzung im Rahmen des Verfahrens nach Art. 258 AEUV zu den gewöhnlichen Zuständigkeiten des Gerichtshofs nach den Verträgen.
194. Wie von der Kommission vorgetragen, hat das Verfahren nach Art. 258 AEUV objektiven Charakter(96 ); der Gerichtshof hat lediglich festzustellen, ob gegen eine Rechtsvorschrift verstoßen wurde oder nicht. Da es sich bei Art. 2 EUV um eine Rechtsvorschrift handelt, kann der Gerichtshof, sofern nicht seine Zuständigkeit in Bezug auf diese Vorschrift ausgeschlossen ist, darüber entscheiden, ob gegen sie verstoßen wurde.
195. Soweit die Herren der Verträge die Zuständigkeit des Gerichtshofs für bestimmte Bestimmungen des Unionsrechts ausschließen wollten, wurde dies in den Verträgen ausdrücklich geregelt(97 ). Insoweit ist im Gegensatz zu früheren Fassungen der Verträge(98 ) die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Bezug auf Art. 2 EUV weder ausgeschlossen noch eingeschränkt.
2) Erörterung der Gründe gegen die Justiziabilität
i) Art. 7 EUV
196. Als eines seiner gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Feststellung eines eigenständigen Verstoßes gegen Art. 2 EUV angeführten Argumente hat Ungarn auf Art. 7 EUV verwiesen.
197. Das Argument ist, dass die Frage eines Verstoßes gegen Werte nach Art. 2 EUV, auch wenn sie von der Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht ausdrücklich durch eine Bestimmung der Verträge ausgenommen sei, deswegen nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs falle, weil Art. 7 EUV den politischen Organen eine ausschließliche Zuständigkeit für diese Frage zuweise(99 ).
198. Ungarn vertrat bereits in den den Konditionalitätsurteilen zugrundeliegenden Rechtssachen mit ähnlichen Argumenten die Ansicht, dass Art. 7 EUV das einzige Verfahren sei, das den Unionsorganen eine Beurteilung des Vorliegens von Verstößen gegen Art. 2 EUV und ihre Ahndung ermögliche(100 ). Diese Argumente wurden vom Gerichtshof in seinen Urteilen in jenen Rechtssachen zurückgewiesen. Er entschied, dass „entgegen dem, was Ungarn mit Unterstützung der Republik Polen geltend macht, über das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren hinaus zahlreiche weitere Bestimmungen der Verträge, die oftmals durch verschiedene Sekundärrechtsakte konkretisiert werden, den Unionsorganen die Befugnis verleihen, in einem Mitgliedstaat begangene Verstöße gegen die in Art. 2 EUV genannten Werte zu prüfen, festzustellen und gegebenenfalls ahnden zu lassen“(101 ).
199. In jenen Urteilen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 7 EUV nicht als Verfassungsentscheidung ausgelegt werden kann, die Überprüfung und Ahndung von Verstößen gegen Art. 2 EUV ausschließlich dem Verfahren nach Art. 7 EUV zu unterwerfen.
200. Diese Bestimmung kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs ausschließt(102 ).
ii) Allgemeiner Charakter der Werte nach Art. 2 EUV
201. Das zweite Argument, das Ungarn gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Feststellung eines eigenständigen Verstoßes gegen Art. 2 EUV vorgebracht hat, ist der allgemeine Charakter und der unbestimmte Inhalt der dort aufgeführten Werte.
202. In der Tat erlegt Art. 2 EUV den Mitgliedstaaten zwar Ergebnispflichten auf – nämlich das Niveau des Schutzes der Werte nicht zu unterschreiten und sie in ihren Gesellschaften zu fördern –, diese Vorschrift bestimmt jedoch nicht, welchen konkreten Inhalt jeder dieser Werte hat.
203. Die Werte sind jedoch bewusst abstrakt gefasst(103 ). Ihr offener Inhalt lässt Raum für einen Verfassungsdialog zwischen den Mitgliedstaaten und dafür, dass es verschiedene „Konkretisierungen“ von Werten nebeneinander geben kann(104 ).
204. Steht dieser offene Inhalt der Werte von Art. 2 EUV seiner Heranziehung im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung durch den Gerichtshof entgegen?
205. Erstens hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass der allgemeine Charakter von Unionsgrundsätzen ihrer Heranziehung im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung nicht notwendigerweise entgegensteht(105 ).
206. Zweitens gehört die Auslegung unbestimmter Begriffe zur gewöhnlichen Tätigkeit der Gerichte; sie ist angesichts einer häufig vorkommenden Unbestimmtheit von Normen verfassungsrechtlicher Art eine der zentralen Aufgaben der Verfassungsgerichte.
207. Dies bedeutet nicht, dass der Gerichtshof willkürlich und im luftleeren Raum Konkretisierungen vornimmt. Wie bereits erläutert, werden die Werte durch eine Reihe konkreterer Grundsätze näher ausgefüllt, die in den Verträgen, in der Charta und in den Vorschriften des Sekundärrechts der Union enthalten sind; dies ist Ergebnis des Prozesses der Gesetzgebung, und daran sind alle Mitgliedstaaten beteiligt(106 ). Die Konkretisierung von Werten ist somit Ergebnis eines Dialogs über ihre Bedeutung, sei es auf primär- oder sekundärrechtlicher Ebene.
208. Der Gerichtshof war in einer Reihe von Urteilen, beginnend mit dem Urteil Associação Sindical dos Juízes Portugueses [portugiesische Richter](107 ), der Auffassung, dass der Wert der Rechtsstaatlichkeit durch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV konkretisiert wird. In späteren Rechtssachen entwickelte der Gerichtshof ein detaillierteres Verständnis des Erfordernisses der richterlichen Unabhängigkeit dahin, dass es durch Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta den Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert(108 ). Ebenso hat der Gerichtshof Art. 10 Abs. 1 EUV, wonach die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht, anhand des in Art. 2 EUV genannten Werts der Demokratie ausgelegt(109 ). Ebenso wird der Wert der Gleichheit in Art. 19 AEUV und durch auf seiner Grundlage erlassene Sekundärrechtsakte konkretisiert.
209. Dies bedeutet weder, dass eine gerichtliche Überprüfung nicht unmittelbar auf Art. 2 EUV selbst, sondern auf die konkretisierende Norm gestützt werden müsste, noch, dass eine solche Überprüfung nur möglich wäre, wenn ein Wert konkretisiert worden ist. Ist dies jedoch der Fall, muss der Gerichtshof eine solche Konkretisierung eines Wertes berücksichtigen und darf einen Wert nicht im Widerspruch zu einer solchen Bestimmung auslegen.
210. Drittens muss das Niveau der Genauigkeit einer Rechtsnorm, die der gerichtlichen Überprüfung als Maßstab zugrundegelegt wird, nicht so hoch sein wie die Genauigkeit und Klarheit, die für eine unmittelbare Wirkung erforderlich sind(110 ).
211. Im Vertragsverletzungsverfahren wird der Gerichtshof um die Feststellung ersucht, dass bestimmte Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht unvereinbar sind. In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof im Rahmen der Entscheidung über den sechsten Klagegrund der Kommission nicht um eine Feststellung darüber ersucht, was Ungarn tun müsste, um seinen Verpflichtungen aus Art. 2 EUV nachzukommen; er kann eine solche Feststellung auch nicht treffen. Er hat lediglich darüber zu entscheiden, ob Art. 2 EUV den in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht.
212. Der Gerichtshof kann – auf der Grundlage von Art. 2 EUV selbst – bestimmen, was nicht hingenommen werden kann; er kann darüber befinden, ob ein Mitgliedstaat „rote Linien“ überschritten hat(111 ). Unter diesen Umständen braucht der Gerichtshof den Inhalt der betreffenden Werte nicht weiter auszufüllen.
213. Jedenfalls wird der Gerichtshof unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache ersucht, einen Verstoß gegen Art. 2 EUV festzustellen, und zwar im Anschluss an die Feststellung, dass die streitigen Regelungen auch gegen Rechtsvorschriften der Union und bestimmte Grundrechte der Charta verstoßen. Mit diesen Bestimmungen werden die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Werte des Art. 2 EUV näher konkretisiert, nämlich die Menschenwürde, die Gleichheit und die Wahrung der Menschenrechte. Daher ist der materielle Inhalt der betreffenden Werte bereits weitgehend konkretisiert.
214. Schließlich ist die Ansicht vertreten worden, dass die Anwendung von Art. 2 EUV als eigenständige Grundlage für einen Verstoß die Legitimität des Gerichtshofs beeinträchtigen könnte, da dieser angesichts des offenen Inhalts der Werte als politisiert wahrgenommen werden könne(112 ).
215. Der Gerichtshof ist ein Verfassungsgericht, und grundlegende Verfassungsgrundsätze haben häufig zugleich politischen und rechtlichen Charakter. Soweit Art. 2 EUV die Entscheidung für eine verfassungsmäßige Demokratie zum Ausdruck bringt, die die Menschenrechte achtet, ist die Verteidigung dieser Werte durch den Gerichtshof nicht seine politische Entscheidung, sondern seine verfassungsmäßige Aufgabe.
216. In seinen Konditionalitätsurteilen hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Europäische Union in der Lage sein muss, die Werte der Union im Rahmen der ihr durch die Verträge übertragenen Aufgaben zu verteidigen(113 ). Die Aufgabe, die die Verträge dem Gerichtshof übertragen, ist diejenige der Auslegung ihrer Rechtsvorschriften und, im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens, diejenige der gerichtlichen Überprüfung u. a. von nationalen Rechtsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit diesen Rechtsvorschriften.
217. Vertragsverletzungsklagen sind Instrumente zur Erreichung von Zielen rechtlicher Art, nämlich der Ermittlung von Rechtsverstößen mit dem Ziel ihrer Beendigung. Dies gilt auch für Verstöße gegen Art. 2 EUV. In Fällen sozial sensibler und umstrittener Fragen, wie LGBTI-Rechten, ist das Urteil des Gerichtshofs nur Teil der Lösung zur Erreichung von Gleichheit und Menschenwürde für LGBTI-Personen. Rechtliche Angleichung macht auch eine gewisse Angleichung sozialer Werte erforderlich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gerichtshof einen Verstoß gegen diese Werte, sofern er eintritt, nicht feststellen sollte.
218. Im Ergebnis steht der allgemeine Charakter der Werte von Art. 2 EUV ihrer Geltendmachung vor dem Gerichtshof im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung nationaler Rechtsvorschriften in einem Vertragsverletzungsverfahren nicht entgegen.
iii) Nationale Verfassungsidentität
219. Ungarn beruft sich zu seiner Verteidigung ferner auf seine nationale Verfassungsidentität, die nach dem Verfassungsrecht der Union auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 EUV geachtet werden müsse.
220. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass, wie der Gerichtshof bereits erläutert hat, die Werte des Art. 2 EUV der Vielfalt der Verfassungen nicht entgegenstehen(114 ). Sie legen lediglich den Rahmen fest, innerhalb dessen verschiedenen nationalen Verfassungslösungen Raum gegeben werden kann.
221. Nationale Verfassungsentscheidungen dürfen jedoch nicht über diesen gemeinsamen Rahmen hinausgehen. In dieser Hinsicht könnte Art. 2 EUV, wie schon erwähnt, dahin verstanden werden, dass er „rote Linien“ vorgibt, die bei ihrer Berührung eine Reaktion zur Verteidigung des Verfassungsmodells der Union erforderlich machen.
222. Dies steht zur Achtung nationaler Verfassungsidentitäten nicht im Widerspruch(115 ). Wie bereits erläutert, hat sich jeder Mitgliedstaat bei seinem Beitritt zur Europäischen Union verpflichtet, diesen Rahmen gemeinsamer Werte zu achten. Es wurde nämlich vorausgesetzt, dass dies auch der innerstaatlichen Verfassungsentscheidung dieses Staats zum Zeitpunkt des Beitritts entsprach.
223. Wie bereits ausgeführt (siehe Nr. 1 der vorliegenden Schlussanträge), kann der Gerichtshof im Vertragsverletzungsverfahren lediglich feststellen, dass eine Abweichung von Unionswerten eingetreten ist. Diese Feststellung begründet für den Staat eine Verpflichtung, die Missachtung der Werte von Art. 2 EUV abzustellen, da ihre Achtung weiterhin Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Union bleibt. In welcher Weise er der Entscheidung des Gerichtshofs nachkommt, bleibt der Entscheidung des betreffenden Mitgliedstaats im Einklang mit seiner Verfassungsidentität überlassen.
224. Die Verpflichtung der Union zur Achtung der nationalen Verfassungsidentitäten hindert den Gerichtshof daher nicht daran, festzustellen, dass ein Mitgliedstaat durch den Erlass bestimmter Rechtsvorschriften die durch Art. 2 EUV vorgegebenen „roten Linien“ überschritten hat.
iv) Zweck einer eigenständigen Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV
225. Ungarn bestreitet mit seinem Vorbringen, dass eine eigenständige Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV zusätzlich zur Feststellung von Verstößen gegen Grundrechte oder andere Vorschriften des Unionsrechts irgendeinen Sinn haben könne.
226. Aus der Rechtsprechung geht eindeutig hervor, dass der Zweck eines Vertragsverletzungsverfahrens darin besteht, einen Streit zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat darüber zu entscheiden, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, und, falls er festgestellt wird, den Staat zu veranlassen, diesen Verstoß abzustellen(116 ).
227. Es ist daher legitim, zu fragen, inwieweit die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV zusätzlich zur Feststellung von Verstößen gegen bestimmte Vorschriften des Unionsrechts und der Charta zur Ermittlung und Beendigung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen beiträgt.
228. Ähnliche Fragen wurden bereits in Bezug auf den Zweck der Feststellung eines Verstoßes gegen die Charta in Fällen gestellt, in denen der Verstoß gegen eine Bestimmung des Vertrages oder des sekundären Unionsrechts bereits feststeht. Hierzu hat Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Ungarn (Hochschulausbildung) wie folgt Stellung genommen: „[D]ie Feststellung eines eigenständigen Grundrechtsverstoßes [hat] vorliegend keine besonderen Auswirkungen. Denn die Begründetheit der Vertragsverletzungsklage ergibt sich bereits aus den Verstößen gegen die Dienstleistungsrichtlinie und Art. 49 AEUV. Immerhin bringt die separate Prüfung des Grundrechts das besondere Gewicht und die Qualität des Verstoßes deutlicher zum Ausdruck.“(117 )
229. Mit ähnlichen Argumenten könnte auch begründet werden, warum die Kommission eine eigenständige Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV auch dann beantragen kann, wenn die Feststellung eines Verstoßes gegen andere Vorschriften des Unionsrechts und der Charta ausreichen würde, um festzustellen, dass ein Mitgliedstaat seine auf dem Unionsrecht beruhenden Verpflichtungen verletzt hat.
230. Eine solche Feststellung hätte nicht nur eine symbolische Funktion, indem sie die besondere Bedeutung des Verstoßes aufzeigen würde, sondern würde auch einem diagnostischen Zweck dienen(118 ). Sie würde den eigentlichen Grund der anderen Verstöße offenlegen.
231. Dies wäre von großer Bedeutung für die Entscheidungen des säumigen Mitgliedstaats im Hinblick darauf, wie die Vertragsverletzung abzustellen ist, und für die von der Kommission wahrzunehmende Kontrolle, ob der betreffende Mitgliedstaat die durch das Urteil festgestellte Vertragsverletzung abgestellt hat(119 ).
232. Über dieses Argument hinaus würde sich die Feststellung eines eigenständigen Verstoßes gegen Art. 2 EUV auf die Berechnung von Sanktionen nach Art. 260 AEUV auswirken, wenn die Vertragsverletzung nach dem Urteil des Gerichtshofs nicht abgestellt würde(120 ).
233. Im Ergebnis besteht der Zweck der eigenständigen Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV darin, zu ermitteln und festzustellen, dass ein Mitgliedstaat durch den Erlass bestimmter Rechtsvorschriften die in dieser Bestimmung verankerten „roten Linien“ überschritten hat. Damit wird dann sichtbar, dass der Grund anderer Verstöße gegen das Unionsrecht, die Gegenstand desselben Verfahrens sind, in der Abweichung des Mitgliedstaats von den Verfassungswerten der Union liegt.
234. Dies führt mich zur letzten, durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen Frage: Wie hat der Gerichtshof zu beurteilen, ob „rote Linien“ überschritten worden sind, und darüber zu befinden, ob ein eigenständiger Verstoß gegen Art. 2 EUV eingetreten ist?
2. Wie ist zu beurteilen, ob „roten Linien“ überschritten wurden?
235. Nach Ansicht der Kommission liegt in der vorliegenden Rechtssache ein eigenständiger Verstoß gegen Art. 2 EUV vor, weil die von Ungarn begangenen Verstöße „besonders schwerwiegend, zahlreich und eklatant sind und eine allgemeine und koordinierte Verletzung der in Rede stehenden Grundrechte darstellen“(121 ). Auch nach Ansicht einer Reihe von Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, soll für eine eigenständige Anwendung von Art. 2 EUV ein hoher Schweregrad der Verstöße vorliegen müssen.
236. Ungarn hat zu den möglichen Kriterien für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV nicht Stellung genommen, da ein solcher Verstoß seiner Ansicht nach im vorliegenden Verfahren vor dem Gerichtshof überhaupt nicht festgestellt werden kann.
a) Negierung der Werte als Kriterium für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV
237. Das zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV führende Kriterium ist meines Erachtens nicht die Anzahl oder Schwere der Verstöße gegen Grundrechte oder andere fundamentale Grundsätze des Unionsrechts, sondern vielmehr die Negierung der Werte von Art. 2 EUV durch einen Mitgliedstaat.
238. Die maßgebliche Frage, die für die Beurteilung zu stellen ist, ob die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb des Wertesystems der Union hingenommen werden können, ist, ob ein Mitgliedstaat durch den Erlass der Rechtsvorschriften einen oder mehrere der in Art. 2 EUV verankerten Werte negiert.
239. Das Kriterium der Schwere mag von den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens deshalb hervorgehoben worden sein, weil es eines der beiden Kriterien ist, die in Art. 7 EUV genannt sind, der vorsieht, dass nur das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte von Art. 2 EUV zur Anwendung dieses Verfahrens führen kann(122 ).
240. Ein für Art. 7 EUV erforderlicher schwerwiegender Verstoß bezieht sich jedoch auf die Schwere des Verstoßes gegen Art. 2 EUV selbst und nicht auf die Schwere der anderen geltend gemachten Verstöße, die in der vorliegenden Rechtssache eine Reihe von Unionsvorschriften zur Durchführung des freien Dienstleistungsverkehrs und eine Reihe von Grundrechten betreffen.
241. Ein Verstoß gegen Art. 2 EUV liegt meines Erachtens nicht schon dann vor, wenn die anderen Verstöße schwerwiegend sind(123 ). Es ist vielmehr umgekehrt: Weil der ursprüngliche Grund dieser Verstöße in einer Negierung der in Art. 2 EUV verankerten Werte liegt, werden sie selbst zu schwerwiegenden und systematischen Verstößen.
242. Die Wirkung einer Abweichung von Werten ist kein auf einen Mitgliedstaat begrenzter innerstaatlicher Vorgang, sondern beeinträchtigt das Funktionieren der Unionsrechtsordnung. Sie vermindert die diesem Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, anderen sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen nachzukommen(124 ). Die vorliegende Rechtssache belegt, dass die Abweichung von Werten die Ungarn zur Verfügung stehenden Möglichkeiten beeinträchtigt, den Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr nachzukommen. Dies rechtfertigt das Eingreifen des Gerichtshofs im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens(125 ).
243. Für die Prüfung, ob ein Mitgliedstaat einen in Art. 2 EUV genannten Wert negiert, muss der Gerichtshof auf die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls abstellen.
244. Der Gerichtshof hat daher zu prüfen, ob sich die Verletzung durch die Charta geschützter Grundrechte daraus ergibt, dass ein Mitgliedstaat einen in Art. 2 EUV verankerten Wert negiert.
245. Außer der Negierung von Werten als Kriterium lässt sich meines Erachtens keine genauere Formel abstrakt als Instrument herleiten, das vom Gerichtshof angewendet werden könnte.
246. Die Anzahl der Verstöße gegen Vorschriften des Primär- und Sekundärrechts der Union und der Charta sowie die Art und Weise, in der diese Verstöße begangen wurden, können jedoch als Indiz dafür gewertet werden, dass der Ursprung dieser Verstöße möglicherweise in der Negierung von Werten liegt.
247. Das Kriterium für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV ist daher die Negierung eines Werts, die der ursprüngliche Grund anderer Verstöße gegen das Unionsrecht ist. Die Schwere und/oder Anzahl dieser anderen Verstöße können möglicherweise für sich genommen nicht entscheidend und automatisch als Kriterium für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV herangezogen werden, diese Merkmale können aber möglicherweise ein wichtiges Indiz für die Negierung in Art. 2 EUV verankerter Werte sein.
b) Verletzung von Charta-Rechten und Verfassungsdialog
248. Einzelne Verstöße, insbesondere wenn sie Grundrechte oder andere fundamentale Grundsätze des Unionsrechts betreffen, könnten somit ein wichtiges Indiz dafür sein, dass der Grund für die Missachtung des Unionsrechts in der Negierung von Werten liegt. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Verstöße zahlreich, eklatant und allgemeiner Art sind. Selbst dies reicht jedoch für sich genommen meines Erachtens nicht unbedingt für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV aus, da Verstöße gegen Charta-Rechte möglicherweise Teil des Verfassungsdialogs der Union und nicht der Negierung von Werten sein könnten.
249. Die Unionsrechtsordnung wird durch diesen Dialog entwickelt. Dies bedeutet, dass es möglicherweise verschiedene Vorstellungen davon gibt, wie gemeinsame Werte zu konkretisieren sind.
250. Verstöße gegen Grundrechte könnten sich erstens aus dem Unterschied dazwischen ergeben, wie zwei Grundrechte auf Unions- und auf nationaler Ebene gegeneinander abgewogen werden, oder zweitens aus dem unterschiedlichen Inhalt, der einem bestimmten Grundrecht im Unions- und im nationalen Recht zuerkannt wird. In beiden Fallgestaltungen fiele der Grund dieser Verstöße daher in den Bereich des Dialogs innerhalb der durch Werte gesetzten Grenzen, ohne dass die Werte an sich negiert würden.
251. In der ersten Fallgestaltung, in der zwei Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen, könnte eine höhere Gewichtung des einen oder des anderen einen großen Unterschied im Hinblick auf Rechtsvorschriften machen, die diese Rechte konkretisieren. Beispielsweise könnte das Recht des (geistigen) Eigentums mit der Freiheit der Meinungsäußerung kollidieren. Ein Mitgliedstaat könnte etwa die Entscheidung treffen, die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke zur Äußerung politischer Meinungen ohne Erlaubnis des Urhebers zu verbieten. Mit seiner Entscheidung für diese Lösung gewichtet dieser Mitgliedstaat das Recht am geistigen Eigentum höher als das Recht auf freie Meinungsäußerung. Diese Lösung bedeutet für sich genommen nicht, dass der Mitgliedstaat die Bedeutung der Freiheit der Meinungsäußerung für den Wert der Demokratie negiert. Wenn indes der Unionsgesetzgeber später eine andere Abwägung vornähme, indem er die Freiheit der Meinungsäußerung höher gewichtete, müsste der betreffende Mitgliedstaat dieser Entscheidung in den Bereichen nachkommen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen(126 ).
252. Ein Beispiel für die zweite Fallgestaltung zum Unterschied im Hinblick darauf, wie der Inhalt eines Grundrechts verstanden wird, ohne dass dieser Unterschied eine Negierung von Werten darstellt liefert die Rechtssache Max-Planck(127 ). In jener Rechtssache stellte der Gerichtshof fest, dass eine nationale Regelung, durch die dem Arbeitnehmer der Anspruch auf eine Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub genommen wird, gegen den Wesensgehalt des Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub verstieß. Bedeutet dies, dass Deutschland, um dessen Rechtsvorschriften es ging, gegen Art. 2 EUV verstoßen hatte?(128 ) Dies ist meines Erachtens selbst in Anbetracht dessen, dass es um einen Verstoß gegen den Wesensgehalt eines Grundrechts ging, zu verneinen. Sobald Deutschland seine Regelung änderte, war der Verstoß beendet. Dadurch, dass Deutschland in diesem konkreten Fall ein anderes Verständnis des Rechts auf Jahresurlaub hatte, als es seiner Auslegung in der Union entsprach, wurde die Bedeutung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub zur Wahrung der Werte von Art. 2 EUV von ihm nicht negiert.
253. Unterschiedliche Ansichten über den Inhalt von Grundrechten oder Abweichungen bei der Abwägung zweier oder mehrerer Grundrechte dürfen daher nicht zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV führen. Sie sind Teil des Verfassungsdialogs in der Unionsrechtsordnung, der unterschiedliche Konkretisierungen von Rechten zulässt(129 ). Durch solche unterschiedlichen Ansichten werden jedoch die Werte selbst nicht negiert.
254. Ein Verstoß gegen Art. 2 EUV ist nur dann festzustellen, wenn der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass ein Mitgliedstaat gegen ein Charta-Recht verstoßen hat, weil er den Wert, den dieses Recht konkretisiert, negiert hat.
3. Verstoß gegen Art. 2 EUV in der vorliegenden Rechtssache
255. Hat die Kommission unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen dargetan, dass der Verstoß, den Ungarn durch den Erlass des Änderungsgesetzes begangen hat, das zu den streitigen Regelungen führte, geeignet ist, die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV zu begründen?
256. Diese Frage ist meines Erachtens unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache zu bejahen.
a) Negierung der Werte von Art. 2 EUV durch die in Rede stehenden Regelungen
257. Die Feststellung, dass die streitigen Rechtsvorschriften den freien Dienstleistungsverkehr in mehrfacher Hinsicht beschränken, und erst recht die Feststellung, dass eben diese Regelungen gegen vier durch die Charta garantierte Rechte verstoßen, sind in der Tat ein starkes Indiz für einen möglichen Verstoß gegen Art. 2 EUV.
258. Vor allem haben diese Verstöße gegen mehrere unionsrechtliche Bestimmungen in der vorliegenden Rechtssache ein und denselben Grund, nämlich die Absicht Ungarns, Minderjährige vor „LGBTI‑Inhalten“ zu schützen, die dieser Mitgliedstaat als schädlich ansieht. Dies spiegelt den Standpunkt des ungarischen Gesetzgebers wider, dass LGBTI-Personen ein unerwünschter Teil der Gesellschaft sind, der nicht verdient, gleich behandelt zu werden.
259. LGBTI-Rechte, insbesondere Fragen im Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität, sind nach wie vor sozial sensible Fragen(130 ). Ist das ein Grund, die in Rede stehenden ungarischen Rechtsvorschriften als Teil des Verfassungsdialogs der Union und nicht als Verstoß gegen Art. 2 EUV zu behandeln?
260. Der Verstoß der vorliegenden Rechtssache unterscheidet sich meines Erachtens von den oben genannten Beispielen für den Verfassungsdialog in einem wesentlichen Punkt. In diesen Beispielen lag weder für das unterschiedliche Ergebnis der Abwägung noch für das unterschiedliche Verständnis des Inhalts der Grundrechte der Grund in der Negierung der betreffenden Werte. Demgegenüber werden durch die in Rede stehenden ungarischen Rechtsvorschriften die in Art. 2 EUV verankerten Werte negiert.
261. Die Negierung der Gleichheit von LGBTI-Personen, die hinter den streitigen Rechtsvorschriften steht, ist der ursprüngliche Grund aller Verstöße der vorliegenden Rechtssache. Es gäbe die anderen Verstöße nicht, wenn Ungarn LGBTI‑Inhalte nicht als schädlich für die Entwicklung Minderjähriger ansähe.
262. Dass LGBTI-Personen in den Mitgliedstaaten gleichgestellt Achtung verdienen, ist meines Erachtens keiner streitigen Auseinandersetzung im Wege eines Dialogs zugänglich. Fehlende Achtung und Marginalisierung einer Gruppe in einer Gesellschaft sind die „roten Linien“, die die Werte der Gleichheit, Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte vorgeben.
263. Wie die Gleichheit von LGBTI-Personen umzusetzen ist, mag unterschiedlich und Gegenstand der Diskussion sein, aber die grundsätzliche Entscheidung für das Verbot einer Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung ist im Verfassungsrahmen der Union fest verankert. Dies gilt selbst in Anbetracht dessen, dass LGBTI-Fragen sozial sensibel sind. Ersetzt man den geschützten Grund durch einen sozial weniger kontroversen Grund, wie etwa Hautfarbe oder Religion, wird die Negierung der Gleichheit durch Rechtsvorschriften der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Art offenkundig.
264. Daher erfüllen die streitigen ungarischen Rechtsvorschriften trotz der Sensibilität der Fragen meines Erachtens das Kriterium der Negierung von Werten für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV.
b) Gegen welche Werte wurde verstoßen?
265. Ist der Grund der Verstöße gegen das Unionsrecht die Negierung von Werten, führt dies zwangsläufig zu einer Abweichung von dem in Art. 2 EUV genannten Modell einer Gesellschaft. Diese Werte sind miteinander verknüpft, und die Feststellung eines Verstoßes gegen einen von ihnen ist ein Indiz für die Negierung des Modells einer auf der Wahrung der Menschenrechte beruhenden verfassungsmäßigen Demokratie durch den betreffenden Mitgliedstaat.
266. In der vorliegenden Rechtssache soll es sich nach dem Vorbringen der Kommission bei den Werten, gegen die durch die streitigen Rechtsvorschriften verstoßen worden sei, um die Gleichheit, die Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte handeln.
267. Insoweit kann die Feststellung von Verstößen gegen Grundrechte ein Indiz dafür sein, welche Werte durch diese Verstöße negiert wurden. Alle Grundrechte, gegen die meines Erachtens in der vorliegenden Rechtssache verstoßen wurde, sind Ausdruck und Konkretisierung der in Art. 2 EUV verankerten Werte, die von der Kommission angeführt worden sind.
268. Erstens steht der Verstoß gegen Art. 21 der Charta, der in der Diskriminierung der Mitglieder der LGBTI-Minderheitengruppe und ihrer Stigmatisierung und Marginalisierung besteht, in deutlichem Widerspruch zu den Werten der Gleichheit und Toleranz sowie der Menschenwürde.
269. Zweitens widerspricht der Verstoß gegen die durch Art. 11 der Charta garantierte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit einer wesentlichen Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft im Sinne von Art. 2 EUV(131 ), die die notwendige Voraussetzung für Gleichheit und Menschenwürde ist.
270. Drittens steht der Verstoß gegen das durch Art. 7 der Charta geschützte Recht auf Privat- und Familienleben in drastischem Widerspruch zum Wert der Menschenwürde.
271. Die Menschenwürde, die durch die in Rede stehenden Regelungen negiert wird, ist nicht nur ein Grundrecht, sondern ein Grundwert im Sinne von Art. 2 EUV. Um einen Generalanwaltskollegen zu zitieren: „Der Wert der Menschenwürde stellt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die wahre Grundnorm des europäischen Konstitutionalismus dar und bildet das Gegenbild zu den Schrecken des Totalitarismus, der der menschlichen Person jeglichen Wert abgesprochen hatte.“(132 )
272. Im Licht der aktuellen Entwicklungen in der Welt ist es mehr denn je von großer Bedeutung, nicht aus dem Blick zu verlieren, warum die Europäische Union die in Art. 2 EUV verankerten Werte proklamiert hat und warum es unerlässlich ist, diese Werte zu bekräftigen und zu schützen.
273. Im Ergebnis belegen diese Verstöße gegen Grundrechte meines Erachtens die erhebliche Abweichung der in Rede stehenden Regelungen von dem Modell einer die Menschenrechte wahrenden verfassungsmäßigen Demokratie im Sinne von Art. 2 EUV.
274. Diese Negierung von in Art. 2 EUV verankerten Werten ist das schwer zu fassende „Noch mehr“, das die Kommission zur Aufnahme des sechsten Klagegrundes veranlasst hat.
275. Aus den vorstehenden Gründen sollte der Gerichtshof meines Erachtens feststellen, dass Ungarn durch den Erlass des Änderungsgesetzes, aus dem sich die Regelungen 1, 3, 4, 6 und 7 ergaben, gegen Art. 2 EUV verstoßen hat.
III. Würdigung – Teil II: Verstoß gegen Primär- und Sekundärrecht in Bezug auf den freien Dienstleistungsverkehr und die DSGVO
276. In diesem Teil der vorliegenden Schlussanträge werde ich auf die übrigen Argumente zum Vorbringen der Kommission eingehen, dass Ungarn gegen bestimmte Vorschriften des Sekundär- und Primärrechts der Union in Bezug auf den freien Dienstleistungsverkehr und die DSGVO verstoßen habe (erster bis vierter Klagegrund der Kommission).
A. Erster Klagegrund der Kommission
277. Die Kommission macht geltend, Ungarn habe durch den Erlass der Regelungen 3, 4, 5 und 6 gegen die AVMD-Richtlinie verstoßen.
278. Wie andere Rechtsakte, die den freien Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt regeln, beruht die AVMD-Richtlinie auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der als „Ursprungslands-“ oder „Herkunftslands-“ Prinzip bezeichnet wird. Aus diesem in Art. 2 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie verankerten Grundsatz folgt, dass AVMD-Anbieter nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats tätig sind, in dem sie niedergelassen sind.
279. In Anwendung dieses Grundsatzes verpflichtet Art. 3 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie den Empfangsstaat (Empfänger des AVM-Dienstes), den freien Empfang zu gewährleisten, indem er die Verbreitung durch Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten nicht aus einem der Gründe behindert, die Bereiche betreffen, die durch die Richtlinie koordiniert sind.
1. Regelung 4
280. Nach Art. 6a der AVMD-Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten angemessene Maßnahmen ergreifen, um die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung Minderjähriger zu schützen. Diese Maßnahmen können darin bestehen, die Sendezeit zu begrenzen, und müssen in einem angemessenen Verhältnis zu der potenziellen Schädigung durch die Sendung stehen. Entspricht die Sendung den Vorschriften zum Schutz Minderjähriger im Herkunftsstaat, muss sie in das Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats frei übertragen werden.
281. Vor dem Hintergrund dieses rechtlichen Rahmens bringt die Kommission erstens vor, Regelung 4, wonach Sendungen mit „LGBTI‑Inhalten“ in Kategorie V einzustufen seien, mit der Folge, dass sie nur zwischen 22.00 und 5.00 Uhr ausgestrahlt werden dürften, könne nicht als Umsetzung von Art. 6a der AVMD-Richtlinie verstanden werden und stelle daher eine Beschränkung des freien Verkehrs von AVM-Diensten dar.
282. Ungarn bringt in seiner Klagebeantwortung erstens vor, der Erlass von Regelung 4 sei im Rahmen der Umsetzung von Art. 6a der AVMD-Richtlinie erfolgt. Durch die Richtlinie würden die als für Minderjährige schädlich angesehenen Arten von Sendungen nicht harmonisiert, abgesehen davon, dass Inhalte, die grundlose Gewalttätigkeiten und Pornografie zeigten, den strengsten Maßnahmen unterliegen müssten. Angesichts einer solchen Mindestharmonisierung falle es in die Autonomie der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage ihren eigenen kulturellen und sittlichen Werte festzulegen, welche Sendungen für Kinder schädlich seien.
283. Wie von der Kommission geltend gemacht, muss eine Entscheidung darüber, welche Inhalte als für Kinder potenziell schädlich anzusehen sind, jedoch auf wissenschaftliche Nachweise für die potenzielle Schädlichkeit bestimmter Inhalte gestützt werden.
284. Wie bereits ausgeführt (Nr. 111 der vorliegenden Schlussanträge), ist ein solcher Nachweis dafür, dass Sendungen, die „LGBTI‑Inhalte“ enthalten, für die Entwicklung Minderjähriger schädlich sind, von Ungarn nicht beigebracht worden. Außerdem ist festgestellt worden (siehe den Teil der vorliegenden Schlussanträge zum fünften Klagegrund der Kommission), dass eine solche Beschränkung in die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit und in das Recht auf Privatleben eingreift, diskriminierend ist und der Menschenwürde von LGBTI-Personen zuwiderläuft. Da jede Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs(133 ), einschließlich AVMD(134 ), die Grundrechte wahren muss , kann dem Vorbringen nicht gefolgt werden, dass Regelung 4 dem Schutz Minderjähriger diene.
285. Regelung 4 kann daher nicht als Umsetzung von Art. 6a der AVMD-Richtlinie ausgelegt werden.
286. Ungarn macht ferner geltend, die Einstufungspflicht beziehe sich nur auf Sendungen, in deren Mittelpunkt „LGBTI“‑Inhalte ständen, wohingegen Sendungen, bei denen diese Inhalte nicht entscheidend seien, sondern lediglich vereinzelt vorkämen, nicht in Kategorie V eingestuft werden müssten. Dies bedeute, dass ein Film, der das Leben einer LGBTI-Familie zum Thema habe, oder eine Dokumentation, die eine Geschlechtsumwandlung erörtere, in Ungarn in Kategorie V eingestuft werden müssten. Dagegen müssten Programme, die nur vereinzelte Szenen mit Darstellungen von „LGBTI‑Inhalten“ enthielten, wie etwa ein gleichgeschlechtliches Paar, das sich an den Händen hält, nicht in die Kategorie V eingestuft werden.
287. Die von Ungarn vertretene Ansicht steht dem Vorwurf nicht entgegen, dass eine Beschränkung der Freiheit zur Ausstrahlung von Sendungen vorliegt, die hauptsächlich auf „LGBTI‑Inhalte“ ausgerichtet ist. Nach der Rechtsprechung liegt eine Beschränkung der Erbringung von Dienstleistungen nicht nur dann vor, wenn eine nationale Maßnahme die Erbringung von Dienstleistungen verbietet, sondern auch, wenn sie die Tätigkeit eines Dienstleistungserbringers, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, anderweitig unterbindet oder sie weniger attraktiv macht(135 ). Wie bereits erläutert, ist eine solche Beschränkung weder durch den Schutz der körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung von Minderjährigen noch durch das Recht von Eltern, ihre Kinder nach ihren persönlichen Überzeugungen zu erziehen, in kohärenter Weise gerechtfertigt.
288. Regelung 4 stellt daher eine ungerechtfertigte Beschränkung der Erbringung von AVM-Diensten dar.
2. Regelung 6
289. Das ungarische Recht sieht eine Ausnahme von der Einstufungspflicht für Beiträge im Interesse der Öffentlichkeit und der Sensibilisierung dienende Beiträge vor(136 ). Regelung 6 sieht jedoch vor, dass „LGBTI‑Inhalte“ enthaltende Beiträge nicht als solche behandelt werden können. Medienbeiträge, die „LGBTI‑Inhalte“, z. B. Informationen über die Organisation einer Pride-Parade, enthalten, müssen einer Einstufung unterzogen werden und werden möglicherweise (wahrscheinlich) in Kategorie V eingestuft, mit der Folge, dass sie nur während der vorgenannten begrenzten Zeiten ausgestrahlt werden dürfen.
290. Die Kommission macht in Bezug auf Regelung 6 geltend, Ungarn habe gegen Art. 6a der AVMD-Richtlinie verstoßen.
291. Ungarn rechtfertigt sein Vorgehen in seiner Klagebeantwortung mit dem Verweis auf den Schutz Minderjähriger und die Wahrung der Rechte von Eltern.
292. Regelung 6 kann jedoch, aus dem gleichen Grund wie Regelung 4, nicht mit einer solchen Notwendigkeit gerechtfertigt werden. Ebenso wie Regelung 4 verstößt auch sie gegen die Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit und das Recht auf Privatleben von LGBTI-Personen und stellt eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung dar, da sie nur Beiträge im Interesse der Öffentlichkeit, die LGBTI‑Inhalte enthalten, nicht aber Beiträge, die das Leben heterosexueller und cisgender Personen betreffen, der Einstufungspflicht unterstellt(137 ).
293. Regelung 6 stellt daher eine ungerechtfertigte Beschränkung der Erbringung von AVM-Diensten dar und verstößt somit gegen Art. 6a der AVMD-Richtlinie.
3. Regelung 3
294. Während Regelung 6 nicht kommerzielle Beiträge betrifft, betrifft die im Werbegesetz enthaltene Regelung 3 die kommerzielle Kommunikation. Sie verbietet, Werbebeiträge mit „LGBTI‑Inhalten“ für Minderjährige verfügbar oder ihnen zugänglich zu machen.
295. Die Kommission macht geltend, Regelung 3 verstoße gegen Art. 9 Abs. 1 Buchst. c Ziffer ii der AVMD-Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssten, dass die audiovisuelle kommerzielle Kommunikation, die von Mediendiensteanbietern bereitgestellt werde, mit dem Verbot der Diskriminierung u. a. aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung im Einklang stehe. Diese Bestimmung der AVMD-Richtlinie sei Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes des Diskriminierungsverbots.
296. Die AVMD-Richtlinie erfasse nur kommerzielle Kommunikation, die einem AVMD beigefügt oder darin enthalten sei(138 ). Dies sei immer noch eine sehr große Anzahl von Kommunikationsbeiträgen, etwa diejenigen, die in Art. 1 Buchst. h der AVMD-Richtlinie aufgeführt seien, nämlich Fernsehwerbung, Sponsoring, Teleshopping und Produktplatzierung. Diese Kommunikation falle in den Anwendungsbereich der AVMD-Richtlinie.
297. Ungarn bringt demgegenüber in seiner schriftlichen Klagebeantwortung und Gegenerwiderung vor, das Werbegesetz sei in Verbindung mit dem Gesetz über die Pressefreiheit und dem Mediengesetz zu verstehen, und die Ausstrahlung von Werbebeiträgen in AV-Medien falle nicht unter das Werbegesetz.
298. Nach § 1 Abs. 3 des Werbegesetzes, in das Regelung 3 eingefügt wurde, sind das Gesetz CIV von 2010 (Gesetz über die Pressefreiheit) und das Gesetz CLXXXV von 2010 (Mediengesetz) auf Werbebeiträge in audiovisuellen Mediendiensten und Radiomediendiensten anzuwenden. Es wird jedoch nicht klar, dass das Werbegesetz keine Anwendung findet. Hätte nach Absicht des ungarischen Gesetzgebers geregelt werden sollen, dass Werbebeiträge im Fernsehen und Radio nur durch diese beiden Gesetze geregelt werden, wäre im Wortlaut vermutlich eine einschränkende Formulierung gewählt worden (wie etwa „ausschließlich“ oder „es finden nur diese Gesetze Anwendung“). Da dies nicht der Fall ist, bleibt das Werbegesetz neben ihnen anwendbar.
299. Das Werbegesetz fällt daher in den Anwendungsbereich der AVMD-Richtlinie, und durch das Verbot von LGBTI‑Inhalten beschränkt es die Erbringung von Dienstleistungen, die durch die Letztere geregelt sind. Regelung 3 stellt daher, in gleicher Weise wie vorher für die Regelungen 4 und 6 ausgeführt, eine ungerechtfertigte Beschränkung der Erbringung von AVM-Diensten dar, die gegen Art. 9 Abs. 1 Buchst. c Ziffer ii der AVMD-Richtlinie verstößt.
4. Regelung 5
300. Regelung 5 verpflichtet den Medienrat, einen anderen Mitgliedstaat aufzufordern, gegen Verstöße durch einen AVMD-Anbieter im Zuständigkeitsbereich dieses Staates tätig zu werden, der in Ungarn sendet und gegen die ungarischen Einstufungsregelungen in Bezug auf LGBTI‑Inhalte verstoßen hat.
301. Die Kommission macht geltend, Regelung 5 verstoße gegen das in den Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie festgelegte Herkunftslandprinzip, da mit ihr ein Mechanismus eingeführt werde, mit dem der Empfangsmitgliedstaat den Herkunftsmitgliedstaat verpflichten wolle, die Einhaltung seiner Vorschriften unter anderen als den in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen sicherzustellen.
302. In Art. 3 Abs. 2 der AVMD-Richtlinie sei die Möglichkeit einer vorübergehenden Abweichung von der Verpflichtung des Empfangsmitgliedstaats vorgesehen, den Empfang von aus anderen Mitgliedstaaten gesendeten AVM-Diensten zu ermöglichen. Dies sei nur möglich, wenn ein Anbieter in dem anderen Mitgliedstaat in offensichtlicher, ernster und schwerwiegender Weise gegen Art. 6 Abs. 1 Buchst. a oder Art. 6a Abs. 1 der AVMD-Richtlinie verstoße.
303. Nach Ansicht der Kommission, der ich zustimme, kann Art. 3 Abs. 2 jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass er einem Mitgliedstaat erlaubt, eine spezielle Parallelvorschrift in seinem nationalen Recht zu schaffen, um seine Regelungen auf Diensteanbieter auszudehnen, die der Rechtshoheit eines anderen Mitgliedstaats unterliegen, und eine Eingriffsschwelle anzuwenden, die unter derjenigen liegt, die durch diesen Art. 3 Abs. 2 festgelegt wird.
304. Ungarn bringt indes vor, dass mit Regelung 5 nicht Art. 3 Abs. 2, sondern Art. 4 Abs. 2 der AVMD-Richtlinie habe umgesetzt werden sollen.
305. Nach dieser Bestimmung können Mitgliedstaaten, die ihr Recht nach Art. 4 Abs. 1 in Anspruch genommen haben, ausführlichere oder strengere Bestimmungen für Mediendiensteanbieter zu erlassen, den Herkunftsmitgliedstaat ausnahmsweise ersuchen, seiner Rechtshoheit unterworfene Diensteanbietern zur Einhaltung dieser Vorschriften aufzufordern; dies gilt nur dann, wenn ihre Mediendienste ganz oder vorwiegend auf das Hoheitsgebiet des Empfangsmitgliedstaats ausgerichtet sind(139 ).
306. Diese Bestimmung ist daher nur anwendbar, wenn ein Mitgliedstaat von der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, in koordinierten Bereichen strengere Vorschriften zu erlassen.
307. Der Schutz Minderjähriger vor möglicherweise schädlichen AVM-Diensten ist in der Tat ein durch Art. 6a Abs. 1 der AVMD-Richtlinie koordinierter Bereich.
308. Die Regelungen über die Einstufung von AVMD-Sendungen (Regelungen 4 und 6) können jedoch nicht als strengere Bestimmungen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie interpretiert werden, da diese Bestimmungen nach dem Wortlaut eben dieser Vorschrift mit dem Unionsrecht im Einklang stehen müssen.
309. Wie bereits erläutert, stehen diese Bestimmungen nicht mit dem Unionsrecht im Einklang, da sie die Erbringung von AVM-Diensten beschränken und ohne zulässige Rechtfertigung gegen mehrere durch die Charta garantierte Grundrechte verstoßen(140 ). Mit anderen Worten kann eine nationale Bestimmung, die gegen Art. 6a Abs. 1 der AVMD-Richtlinie verstößt, keine solche „ausführlichere oder strengere“ Bestimmung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie darstellen, da eine auf einen Verstoß gegen diese Richtlinie gestützte Regelung keine legitime Umsetzung der Ausnahme nach Art. 4 darstellen kann.
310. Daher kann Ungarn sich zur Rechtfertigung des restriktiven Charakters von Regelung 5 nicht auf Art. 4 Abs. 2 der AVMD-Richtlinie berufen.
311. Aus den vorstehenden Gründen verstößt Regelung 5 gegen die Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie.
B. Zweiter Klagegrund der Kommission
312. Die Kommission macht geltend, die Regelungen 1 und 3 beschränkten die Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft und verstießen damit gegen die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.
313. Regelung 1 verbietet den Adressaten des Gesetzes über den Schutz von Kindern(141 ), Minderjährigen „LGBTI‑Inhalte“ verfügbar zu machen. Wie bereits erläutert, verbietet Regelung 3, Minderjährigen „LGBTI‑Inhalte“ in der kommerziellen Kommunikation verfügbar zu machen. Nach Ansicht der Kommission beschränken beide Regelungen die Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, der, ähnlich wie die Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der AVMD-Richtlinie, den Empfangsmitgliedstaaten verbietet, Anbietern von Diensten der Informationsgesellschaft aus anderen Mitgliedstaaten Beschränkungen in koordinierten Bereichen aufzuerlegen.
1. Die Regelungen 1 und 3 fallen unter koordinierte Bereiche im Sinne der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr
314. Ungarn wendet im Rahmen dieses Klagegrundes hauptsächlich ein, dass diese beiden Regelungen nicht unter Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr fielen, da diese Vorschrift sich nur auf koordinierte Bereiche beziehe und die beiden in Rede stehenden Regelungen diese Bereiche nicht beträfen.
315. Nach Ansicht Ungarns gilt Regelung 1 nicht für Dienste der Informationsgesellschaft. Sie richte sich ausschließlich an Einrichtungen, die Kinderbetreuung und ‑schutz leisteten, die von Familien nicht erbracht werden könnten, und betreffe die Verpflichtungen dieser Einrichtungen gegenüber den Kindern, die sie betreuten. Da Regelung 1 keine Anforderungen für Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft vorsehe, sei Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf diese Regelung nicht anwendbar.
316. Ebenso macht Ungarn geltend, dass Regelung 3 nicht in die koordinierten Bereiche der Richtlinie falle, da Dienste der Informationsgesellschaft durch das Werbegesetz nicht speziell geregelt würden.
317. Nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie (EU) 2015/1535(142 ) wird mit „Dienste der Informationsgesellschaft“ „jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung“ bezeichnet(143 ).
318. Nach Art. 2 Buchst. h der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr bezeichnet der Ausdruck „‚koordinierter Bereich‘ die für die Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft und die Dienste der Informationsgesellschaft in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten festgelegten Anforderungen, ungeachtet der Frage , ob sie allgemeiner Art oder speziell für sie bestimmt sind“(144 ).
319. Daher gehören nach dieser Bestimmung zu den koordinierten Bereichen auch die von den Mitgliedstaaten für Dienste der Informationsgesellschaft selbst aufgestellten Anforderungen. Weiter wird in dieser Bestimmung erläutert, dass diese Anforderungen nicht speziell für Dienste der Informationsgesellschaft aufgestellt werden müssen, sondern allgemein aufgestellt werden können. Die Auferlegung einer Beschränkung des Inhalts eines Dienstes, der als Dienst der Informationsgesellschaft erbracht werden kann, fällt daher in die koordinierten Bereiche, auch wenn der in Rede stehende nationale Rechtsakt nicht speziell auf die Regulierung von Diensten der Informationsgesellschaft abzielt.
320. Dies wird durch Art. 2 Buchst. h Ziff. i zweiter Gedankenstrich der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr bestätigt, aus dem konkret hervorgeht, dass die koordinierten Bereiche vom Diensteanbieter zu erfüllende Anforderungen betreffen, u. a. in Bezug auf „Anforderungen betreffend Qualität oder Inhalt des Dienstes, einschließlich der auf Werbung … anwendbaren Anforderungen …“.
321. Sowohl Regelung 1 als auch Regelung 3 schließen aus, Kindern bestimmte Inhalte zu zeigen, die möglicherweise von Anbietern von Diensten der Informationsgesellschaft angeboten werden. Sie fallen daher in die koordinierten Bereiche.
2. Regelung 1 fällt in den Anwendungsbereich der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr
322. In Bezug auf Regelung 1 macht Ungarn geltend, ihre Adressaten erbrächten keine Dienste der Informationsgesellschaft bzw. keine Dienste im Sinne der Definition dieses Begriffs im Unionsrecht, da ihre Tätigkeiten grundsätzlich nicht gegen Entgelt angeboten würden. Daher falle Regelung 1 nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.
323. Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung „die Dienstleistungsfreiheit sowohl zugunsten des Dienstleistenden als auch des Dienstleistungsempfängers [gilt]“(145 ).
324. Daher werden die Adressaten von Regelung 1, selbst wenn sie keine Dienste der Informationsgesellschaft erbringen, gleichwohl davon abgehalten, solche Dienste in Anspruch zu nehmen. Beispielsweise hat ein Tagesbetreuungszentrum für Kinder keinen Grund, Filme oder Zeichentrickfilme zu nutzen, die auf einer digitalen Plattform in anderen Mitgliedstaaten verfügbar sind, wenn sie „LGBTI‑Inhalte“ enthalten. Diese oder jede andere Einrichtung, die von Regelung 1 erfasst wird, hätte auch keinen Grund, vom Onlineshopping Gebrauch zu machen, um ein Buch oder sonstige Materialien mit LGBTI‑Inhalten zu kaufen, da sie dieses Material bei ihrer Tätigkeit nach Regelung 1 nicht nutzen könnten. Diese Beschränkung der Nutzung bestimmter Dienstleistungen durch potenzielle Empfänger stellt eine Beschränkung der Erbringung dieser Dienstleistungen aus dem einen in den anderen Mitgliedstaat dar(146 ).
325. Daher können die von Regelung 1 erfassten Fallgestaltungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr fallen.
3. Die Regelungen 1 und 3 beschränken Dienste der Informationsgesellschaft
326. Sowohl Regelung 1 als auch Regelung 3 beschränken die Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft, sei es auch nur, indem sie den Empfang dieser Dienste für die diesen Regelungen unterliegenden Rechtssubjekte weniger attraktiv machen (wie im Fall von Regelung 1).
327. Diese Beschränkungen können nicht gerechtfertigt werden, weil es ihnen an einer tragfähigen Rechtfertigung aus Gründen des öffentlichen Interesses fehlt, und sie verstoßen gegen mehrere, durch die Charta geschützte Rechte, wie bereits dargelegt(147 ).
328. Daher verstoßen sowohl Regelung 1 als auch Regelung 3 gegen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.
C. Dritter Klagegrund der Kommission
329. Die Kommission macht geltend, die Regelungen 1, 3 und 7 beschränkten auch die Erbringung anderer Dienstleistungen als audiovisueller Dienste oder Dienste der Informationsgesellschaft. Diese Beschränkungen verstießen gegen die Art. 16 und 19 der Dienstleistungsrichtlinie sowie gegen Art. 56 AEUV.
330. Ebenso wie Art. 56 AEUV stelle die Dienstleistungsrichtlinie allgemeine Bestimmungen auf, die die Anwendung der gegenseitigen Anerkennung im Bereich anderer Dienstleistungen als audiovisueller Dienste oder Dienste der Informationsgesellschaft ermöglichten(148 ). Die Art. 16 und 19 der Dienstleistungsrichtlinie untersagten den Mitgliedstaaten, Dienstleistungserbringern bzw. ‑empfängern Beschränkungen aufzuerlegen, die nicht aus Gründen des öffentlichen Interesses gerechtfertigt und im Hinblick auf diese Gründe verhältnismäßig seien.
1. Regelungen 1 und 3
331. Es ist in der Tat vorstellbar, dass Regelung 1 die Erbringung anderer Arten von Dienstleistungen als audiovisueller Dienste oder Dienste der Informationsgesellschaft in gleicher Weise beschränkt wie Letztere. Um dies zu belegen, reicht ein Beispiel aus. Kinderbetreuungsanbieter im Sinne von Regelung 1 würden davon abgehalten, eine Puppentheatervorstellung zu buchen, die das Leben von LGBTI-Personen darstellt, da es ihnen untersagt ist, den von ihnen betreuten Kindern dies zu zeigen(149 ).
332. Da die Adressaten von Regelung 1 als Dienstleistungsempfänger und nicht als Dienstleistungserbringer von Regelung 1 erfasst werden, ist die Ausnahme für soziale Dienstleistungen in Art. 2 Abs. 2 Buchst. j der Dienstleistungsrichtlinie nicht einschlägig.
333. Ebenso könnte in Bezug auf Regelung 3 Werbung, die in anderer Weise als über AVMD-Medien oder elektronisch, nämlich beispielsweise über Plakate, übermittelt wird, wenn sie LGBTI‑Inhalte enthält, in Ungarn an Orten nicht gezeigt werden, an denen Kinder sie sehen könnten, was zumindest für alle öffentlichen Räume gilt.
334. Daher verstoßen Regelung 1 und Regelung 3 eindeutig in ungerechtfertigter Weise gegen allgemeine Bestimmungen über das Verbot von Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit in den Art. 16 und 19 der Dienstleistungsrichtlinie sowie Art. 56 AEUV.
2. Regelung 7
335. Damit bleibt Regelung 7 zu prüfen. Diese Regelung ist Teil des Bildungsgesetzes und schließt die Vermittlung (nicht aber die Darstellung) von „LGBTI‑Inhalten“ im Kontext der sexualkundlichen Bildung aus.
336. Ungarn bestreitet, dass das Unionsrecht auf Tätigkeiten im Bereich Bildung anwendbar sein könne, und vertritt die Ansicht, dass Regelung 7 daher weder gegen die Dienstleistungsrichtlinie noch gegen Art. 56 AEUV verstoßen könne.
337. Wie in Nr. 56 der vorliegenden Schlussanträge bereits erläutert, fallen Dienstleistungen im Bereich Bildung, wenn sie gegen Entgelt erbracht werden, in den Geltungsbereich des Unionsrechts. Vor diesem Hintergrund kann Regelung 7 in der Tat Dienstleistungen im Bereich der Bildung oder Information junger Menschen über Sexualität, wenn sie außerhalb des staatlichen Bildungswesens, oder innerhalb dieses Systems, aber von externen Dienstleistern, erbracht werden, beschränken.
338. Da Regelung 7 nur die Vermittlung, nicht aber auch die Darstellung von „LGBTI‑Inhalten“ verbietet, könnte eine Beschränkung der Erbringung von Dienstleistungen möglicherweise durch das für die Bildung geltende Gebot der „Neutralität“ gerechtfertigt sein. Wie bereits erläutert, ist diese Regelung jedoch nicht neutral, sondern unmittelbar diskriminierend, da sie nicht die Vermittlung jeder Art von Sexualleben oder ‑verhalten verbietet, sondern nur die Vermittlung des Sexuallebens oder ‑verhaltens von LGBTI-Personen.
339. Aus den gleichen Gründen, die auch für die Regelungen 1, 3, 4, 5 und 6 angeführt wurden, verstößt Regelung 7 gegen Grundrechte, insbesondere gegen Art. 21 der Charta, und kann daher nicht gerechtfertigt werden.
340. Daher verstoßen Regelung 1, Regelung 3 und Regelung 7 alle gegen die Dienstleistungsrichtlinie und gegen Art. 56 AEUV.
D. Vierter Klagegrund der Kommission
341. Die Kommission macht geltend, die im Strafregistergesetz enthaltene Regelung 8 verstoße gegen Art. 10 DSGVO in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Charta.
342. Regelung 8 verpflichtet Stellen mit Zugang zu gespeicherten Daten, „berechtigten Personen“ unmittelbaren Zugang zu den Strafregistern von wegen Sexualstraftaten gegen Kinder verurteilten Personen zu gewähren. In Bezug auf die Einstufung als „berechtigte Personen“ bestimmt § 75/B Abs. 3 des Strafregistergesetzes, dass die Zurverfügungstellung gespeicherter Daten nur zulässig ist, wenn es sich bei dem Antragsteller um einen Erwachsenen handelt, der entweder Verwandter, Erziehungsberechtigter oder Betreuer einer Person ist, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
343. Nach Ansicht der Kommission liegt ein Verstoß vor, weil Regelung 8 nicht hinreichend klar festlegt, wer Daten anfordern darf, und somit keine ausreichenden Garantien für die Rechte und Freiheiten betroffener Personen in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zu ihren personenbezogenen Daten bietet.
344. Ungarn entgegnet zu seiner Verteidigung, Regelung 8 sei in Verbindung mit § 8:1 Abs. 1 des ungarischen Bürgerlichen Gesetzbuchs (Polgári törvénykönyv; im Folgenden: Bürgerliches Gesetzbuch) zu verstehen, der den Begriff „naher Verwandter“ dahin definiere, dass hierunter u. a. Ehegatten, Eltern in gerader Linie, Kinder (einschließlich Adoptiv‑, Stief- und Pflegekinder), Geschwister, Partner, angeheiratete Verwandte und sonstige Personen, zu denen familiäre Beziehungen beständen, fielen. Außerdem seien nach verschiedenen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs natürliche Personen, die für Minderjährige sorgeberechtigt oder ihnen unterhaltsverpflichtet seien, wie etwa sorgeberechtigte Eltern, Vormunde, Adoptiveltern und Personen, die einen Elternteil unterstützten, wenn sie im selben Haushalt lebten, ebenso berechtigt, nach dem Strafregistergesetz Zugang zu Daten zu beantragen. Aus diesen Gründen sei die Auswahl der berechtigten Personen angemessen definiert und auch durch die Kriterien für den Zugang weiter abgesichert, nämlich dass a) die berechtigte Person die betreffenden Daten als für das Verfahren „wahrscheinlich erforderlich“ ansehen müsse und b) „es unverhältnismäßig schwierig wäre, in anderer Weise von den betreffenden Daten Kenntnis zu erlangen“.
345. Zunächst besteht das mit der DSGVO verfolgte Ziel nach Art. 1 sowie den Erwägungsgründen 1 und 10 der Verordnung u. a. darin, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen, insbesondere ihres Rechts auf Privatleben, bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten, wie dies in Art. 8 Abs. 1 der Charta und Art. 16 Abs. 1 AEUV verankert ist, die ebenfalls jeder natürlichen Person das Recht auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten gewähren. Insbesondere zu diesem Zweck muss nach der DSGVO jede Verarbeitung personenbezogener Daten mit den in Art. 5 DSGVO aufgestellten Grundsätzen für die Verarbeitung von Daten im Einklang stehen. Die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung setzt voraus, dass eine der in Art. 6 dieser Verordnung aufgeführten Bedingungen erfüllt ist(150 ).
346. Insoweit ist die Datenverarbeitung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e DSGVO rechtmäßig, wenn sie „für die Wahrnehmung einer Aufgabe …, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt“, erforderlich ist. Art. 10 stellt zusätzliche Beschränkungen für die Verarbeitung von Strafregisterdaten auf, nach denen eine behördliche Aufsicht oder eine gesetzliche Zulassung mit geeigneten Garantien erforderlich ist.
347. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die DSGVO den Behörden kein absolutes Verbot auferlegt, personenbezogene Daten zu übermitteln, solange die Offenlegung einem berechtigten öffentlichen Interesse dient und einen angemessenen Schutz der Rechte und Freiheiten betroffener Personen beinhaltet(151 ). Ebenso heißt es in Art. 8 Abs. 2 der Charta, dass personenbezogene Daten u. a. „nur … für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden“ dürfen.
348. Der Schutz Minderjähriger vor denjenigen, die ihnen Schaden zufügen könnten, ist zweifelsohne ein öffentliches Interesse von höchster Bedeutung, das daher die Offenlegung personenbezogener Daten rechtfertigen könnte. Gleichzeitig sind Strafregisterdaten hochsensibel und könnten zu einer Stigmatisierung führen. Ihre Übermittlung kann schwerwiegende Auswirkungen auf das Privat- und Berufsleben einer Person haben, so dass es einer strengen Rechtfertigung und klarer rechtlicher Garantien bedarf(152 ).
349. Daher sind bei der Abwägung dieser beiden Interessen die nationalen Maßnahmen zur Erreichung des Ziels des Schutzes Minderjähriger anhand der Erfordernisse der Verhältnismäßigkeit zu prüfen.
350. Ungarn ist insoweit der Ansicht, dass die mit Regelung 8 eingeführte Datenregelung im Hinblick auf ihr Ziel gerechtfertigt und verhältnismäßig sei.
351. Dieser Ansicht bin ich nicht. Meines Erachtens geht Regelung 8 über das hinaus, was zur Erreichung des Schutzes Minderjähriger erforderlich ist.
352. Erstens ist die Kategorie der Personen, die nach Regelung 8 berechtigt sind, Zugang zu personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurteilungen wegen Sexualstraftaten gegen Kinder zu erhalten, zu ungenau und weit gefasst, um mit Art. 10 DSGVO vereinbar zu sein. Im Kontext der Gewährung des Zugangs zu personenbezogenen Daten für zuständige nationale Behörden hat der Gerichtshof entschieden, dass die diesen Zugang gewährende nationale Regelung, um dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu genügen, „klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen und Mindesterfordernisse aufstellen [muss], damit die Personen, deren personenbezogene Daten betroffen sind, über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz ihrer Daten vor Missbrauchsrisiken ermöglichen“(153 ). Dies muss auch für den Zugang privater Personen zu personenbezogenen Daten gelten. Außerdem müssen nach dem in Art. 5 Abs. 1 DSGVO verankerten Grundsatz der Transparenz alle Informationen und Mitteilungen zur Verarbeitung dieser personenbezogenen Daten „leicht zugänglich“ sein.
353. Vor diesem Hintergrund bin ich nicht der Ansicht, dass die Kategorie der „berechtigten Personen“, die nach Regelung 8 Daten anfordern können, hinreichend definiert und durch die verschiedenen, über sowohl das Strafregistergesetz als auch das ungarische Bürgerliche Gesetzbuch verteilten Bestimmungen hinreichend eingegrenzt ist.
354. Für natürliche Personen sollte Transparenz dahingehend bestehen, dass sie betreffende personenbezogene Daten im Einklang mit den Datenschutzgrundsätzen erhoben, verarbeitet und offengelegt werden. Dies ist nicht der Fall, wenn sich eine betroffene Person durch ein komplexes und unzusammenhängendes Bündel nationaler Rechtsvorschriften hindurcharbeiten muss, von denen keiner klar zu entnehmen ist, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, und hierdurch unnötige Verunsicherung und Verfahrensineffizienz hervorgerufen wird.
355. Zweitens sind die materiellen Voraussetzungen für den Zugang durch das nationale Recht nicht hinreichend genau definiert, um der zuständigen Behörde eine Überprüfung zu ermöglichen, ob der betreffende Zugang gerechtfertigt und erforderlich ist.
356. Zu verweisen ist insbesondere auf § 75/B Abs. 3 Buchst. b des Strafregistergesetzes, wonach der Zugang einer berechtigten Person zu gewähren ist, die der Ansicht ist, dass der Zugang zu den Daten zu bestimmten Zwecken erforderlich ist, und die mit offenkundigen Schwierigkeiten konfrontiert wäre, wenn sie versuchen würde, sie auf anderem Wege zu erhalten.
357. Entscheidend ist sodann, dass Regelung 8 in Verbindung mit § 75/B Abs. 3 Buchst. b des Strafregistergesetzes lediglich einer Eigenerklärung unterliegt und die Beurteilung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit letztlich in die Hände des Antragstellers anstatt der für die Aufsicht über den Zugang zu Strafregistern zuständigen Behörde legt.
358. Eine Eigenerklärung ist meines Erachtens mit Art. 10 DSGVO und Art. 8 der Charta nicht vereinbar, sondern bietet sich für einen im Ermessen stehenden Antrag an.
359. Somit stellen die in Regelung 8 und sonstigen Bestimmungen des Strafregistergesetzes festgelegten Voraussetzungen keine hinreichenden Garantien im Sinne der Bestimmungen der DSGVO und von Art. 8 der Charta dar.
360. Daher verstößt, wie von der Kommission geltend gemacht, Regelung 8 gegen Art. 10 DSGVO und Art. 8 Abs. 2 der Charta.
IV. Kosten
361. Die Kommission beantragt, Ungarn die Kosten aufzuerlegen. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
362. Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament ihre eigenen Kosten.
V. Ergebnis
363. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,
1) festzustellen, dass Ungarn durch den Erlass des A pedofil bűnelkövetőkkel szembeni szigorúbb fellépésről, valamint a gyermekek védelme érdekében egyes törvények módosításáról szóló 2021. évi LXXIX. törvény (Gesetz Nr. LXXIX von 2021 über ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze zum Schutz von Kindern) wie folgt gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat:
– Indem Ungarn durch das Gesetz über den Schutz von Kindern den Zugang Minderjähriger zu Inhalten verboten hat, die eine von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichende Identität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität vermitteln oder darstellen, hat Ungarn gegen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), die Art. 16 und 19 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, Art. 56 AEUV, die Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie Art. 2 EUV verstoßen;
– indem Ungarn durch das Werbegesetz den Zugang Minderjähriger zu Werbung verboten hat, die eine Abweichung von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität vermittelt oder darstellt, hat Ungarn gegen Art. 9 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2000/31, die Art. 16 und 19 der Richtlinie 2006/123, Art. 56 AEUV, die Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta sowie Art. 2 EUV verstoßen;
– indem Ungarn durch das Mediengesetz die Mediendiensteanbieter, die lineare Mediendienste anbieten, verpflichtet hat, alle Programminhalte in Kategorie V einzustufen, die hauptsächlich auf die Vermittlung bzw. Darstellung von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichender Identitäten, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität ausgerichtet sind, und diese somit nur zwischen 22.00 und 5.00 Uhr zu senden, sowie diese Programminhalte von der Einstufung als Information von öffentlichem Interesse oder als Werbung für gesellschaftlich förderliche Zwecke ausgeschlossen hat, hat Ungarn gegen Art. 6a Abs. 1 der Richtlinie 2010/13, die Art. 1, 7, 11 und 21 der Charta sowie Art. 2 EUV verstoßen;
– indem Ungarn durch das Mediengesetz den Medienrat verpflichtet hat, den Mitgliedstaat, in dessen Zuständigkeitsbereich der Mediendiensteanbieter tätig ist, aufzufordern, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um vom Medienrat festgestellte Verstöße abzustellen, hat Ungarn gegen die Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 verstoßen;
– indem Ungarn durch das Bildungsgesetz die Vermittlung von Abweichungen von der dem Geschlecht bei der Geburt entsprechenden Identität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität in der Bildung im Bereich Sexualkultur, Sexualleben, sexuelle Ausrichtung und sexuelle Entwicklung verboten hat, hat Ungarn gegen die Art. 16 und 19 der Richtlinie 2006/123, Art. 56 AEUV, die Art. 1, 7 und 21 der Charta sowie Art. 2 EUV verstoßen;
– indem Ungarn durch das Strafregistergesetz die Stelle mit unmittelbarem Zugang zu den gespeicherten Daten verpflichtet hat, berechtigten Personen gespeicherte Daten von Personen, die Sexualstraftaten gegen Kinder begangen haben, zur Verfügung zu stellen, hat Ungarn gegen Art. 10 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) sowie gegen Art. 8 Abs. 2 der Charta verstoßen;
2) Ungarn neben seinen eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten aufzuerlegen;
3) dem Königreich Belgien, dem Königreich Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Republik Estland, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, der Republik Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Republik Finnland, dem Königreich Schweden und dem Europäischen Parlament ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.