Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
16. Januar 2025(* )
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 8 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Unterrichtung über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens – Unmöglichkeit, die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen der zuständigen Behörden ausfindig zu machen – Möglichkeit einer Verhandlung und einer Verurteilung in Abwesenheit – Art. 9 – Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts ermöglicht – Kein solches Recht, wenn sich die betroffene Person dem Handeln der Justiz entzieht “
In der Rechtssache C‑644/23 [Stangalov](i )
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 26. Oktober 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Oktober 2023, in dem Strafverfahren gegen
IR
Beteiligte:
Sofiyska gradska prokuratura
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, des Richters S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Vondung und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 8 und 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen IR wegen Handlungen, bei denen es sich möglicherweise um mit Freiheitsstrafen bedrohte Steuerstraftaten handelt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 33, 35 bis 39, 47 und 48 der Richtlinie 2016/343 heißt es:
„(33) Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten [Europäischen] Union sichergestellt werden.
…
(35) Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung gilt nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen sollten Verdächtige und beschuldigte Personen ausdrücklich oder stillschweigend, aber unmissverständlich erklären können, auf dieses Recht zu verzichten.
(36) Unter bestimmten Umständen sollte es möglich sein, dass eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person selbst dann ergeht, wenn die betreffende Person bei der Verhandlung nicht anwesend ist. Dies kann der Fall sein, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person, obgleich er bzw. sie rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde, der Verhandlung fernbleibt. Die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Verhandlung sollte dahin gehend verstanden werden, dass diese Person persönlich geladen wird oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und Ort der Verhandlung in einer Weise unterrichtet wird, dass sie von der Verhandlung Kenntnis nehmen kann. Die Unterrichtung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person über die Folgen des Nichterscheinens sollte insbesondere dahin gehend verstanden werden, dass diese Person darüber unterrichtet wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie der Verhandlung fernbleibt.
(37) Es sollte auch möglich sein, in Abwesenheit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person eine Verhandlung durchzuführen, die zu einer Entscheidung über Schuld oder Unschuld führen kann, wenn diese Person über die Verhandlung unterrichtet wurde und sie einem von ihr oder vom Staat bestellten Rechtsanwalt ein Mandat erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu vertreten, und dieser den Verdächtigen oder die beschuldigte Person tatsächlich vor Gericht vertreten hat.
(38) Bei der Prüfung der Frage, ob die Art der Übermittlung der Informationen eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass die Person Kenntnis von der Verhandlung hat, sollte gegebenenfalls auch in besonderem Maße darauf geachtet werden, welche Sorgfalt die Behörden bei der Unterrichtung der betroffenen Person an den Tag gelegt haben und welche Sorgfalt die betroffene Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der an sie gerichteten Informationen an den Tag gelegt hat.
(39) Wenn ein Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsieht, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, aber die Voraussetzungen für eine Verurteilung in Abwesenheit eines bestimmten Verdächtigen oder einer bestimmten beschuldigten Person nicht erfüllt waren, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden konnte, etwa weil die Person geflohen oder entkommen ist, sollte es dennoch möglich sein, eine solche Entscheidung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken. In einem solchen Fall sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person, wenn er bzw. sie von der Entscheidung Kenntnis erlangt, insbesondere wenn er bzw. sie festgenommen wird, auch über die Möglichkeit informiert wird, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen. …
…
(47) Diese Richtlinie wahrt die in der [Charta] und der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] anerkannten Grundrechte und Grundsätze … Berücksichtigt werden sollte insbesondere Artikel 6 [EUV], dem zufolge die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta niedergelegt sind, und dem zufolge die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind.
(48) Da mit dieser Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta oder der EMRK, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen.“
4 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:
„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für
a) bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren,
b) das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“
5 Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.
(2) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern
a) der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder
b) der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.
(3) Eine Entscheidung, die im Einklang mit Absatz 2 getroffen wurde, kann gegen die betreffende Person vollstreckt werden.
(4) Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.
…“
6 Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) der Richtlinie 2016/343 lautet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“
Bulgarisches Recht
7 Art. 94 Abs. 1 und 3 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) (DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) bestimmt:
„(1) Die Mitwirkung eines Verteidigers (Rechtsanwalts) am Strafverfahren ist zwingend, wenn … die Sache in Abwesenheit der beschuldigten Person verhandelt wird;
…
(3) Wenn die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend ist, bestimmt die zuständige Behörde einen Rechtsanwalt als Verteidiger.“
8 In Art. 219 Abs. 3 Nr. 3 NPK heißt es:
„In der Verfügung über die Heranziehung als Beschuldigter … muss angegeben werden …, wegen welcher Handlungen [die betroffene Person] strafrechtlich verfolgt wird und wie diese Handlungen rechtlich gewürdigt werden.“
9 In Art. 246 Abs. 1 NPK heißt es:
„Die Staatsanwaltschaft erstellt die Anklageschrift, wenn sie davon überzeugt ist, dass die für … die Erhebung der Anklage vor Gericht … erforderlichen Beweismittel gesammelt wurden.“
10 Art. 247c Abs. 1 NPK bestimmt:
„Auf Anordnung des berichterstattenden Richters wird dem Angeklagten eine Abschrift der Anklageschrift zugestellt. Mit der Zustellung der Anklageschrift wird der Angeklagte über die Anberaumung der Vorverhandlung … sowie über den Umstand unterrichtet, dass über die Strafsache unter den Voraussetzungen nach Art. 269 in seiner Abwesenheit verhandelt und entschieden werden kann.“
11 Art. 269 NPK bestimmt:
„(1) In Strafsachen, in denen dem Angeklagten eine schwere Straftat zur Last gelegt wird, ist dessen Anwesenheit in der Verhandlung zwingend.
…
(3) Sofern es der Ermittlung der objektiven Wahrheit nicht entgegensteht, kann die Sache in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden, wenn
1. sich dieser nicht an der von ihm angegebenen Anschrift befindet oder diese Anschrift geändert hat, ohne die zuständige Behörde darüber zu unterrichten;
2. sein Aufenthaltsort in Bulgarien nicht bekannt ist und auch nach gründlicher Nachforschung nicht zu ermitteln ist;
…
4. sich dieser außerhalb des bulgarischen Hoheitsgebiets befindet und sein Aufenthaltsort unbekannt ist.
12 In Art. 423 Abs. 1 NPK heißt es:
„Innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnisnahme von dem rechtskräftigen Strafurteil … kann die in Abwesenheit verurteilte Person unter Berufung auf ihre Abwesenheit vom Strafverfahren die Wiederaufnahme [dieses Verfahrens] beantragen. Dem Antrag wird stattgegeben, es sei denn, die verurteilte Person hat nach der Mitteilung der Anklagepunkte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens die Flucht ergriffen, weswegen das Verfahren nach Art. 247c Abs. 1 nicht durchgeführt werden konnte, oder sie ist nach Durchführung dieses Verfahrens ohne triftigen Grund nicht zur Verhandlung erschienen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13 Im Jahr 2016 wurde IR vorgeworfen, sich bandenmäßig an einer organisierten kriminellen Vereinigung zur Begehung von Steuerstraftaten, die mit Freiheitsstrafe bestraft werden können, beteiligt zu haben.
14 Am 19. April 2016 wurde IR die gemäß Art. 219 NPK ausgestellte Verfügung über die Heranziehung als Beschuldigter wegen dieser Straftaten zugestellt.
15 Im Anschluss an diese Heranziehung als Beschuldigter, die im Rahmen des Ermittlungsverfahrens stattfand, bediente sich IR eines von ihm bevollmächtigten Rechtsanwalts und teilte eine Anschrift mit, unter der er kontaktiert werden könne.
16 Am 8. Juni 2016 wurde das Ermittlungsverfahren abgeschlossen und die Akte an die Staatsanwaltschaft übermittelt.
17 Am 9. Dezember 2016 erstellte die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift nach Art. 246 NPK und brachte die Strafsache gegen IR vor den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien).
18 Trotz der Versuche des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht), IR persönlich zu laden, damit er zur mündlichen Verhandlung erscheine, konnte IR weder an der von ihm selbst angegebenen Anschrift noch an einem anderen Ort aufgefunden werden. Unter diesen Umständen konnten die in Art. 247c Abs. 1 NPK vorgesehenen Schritte, darunter die Übergabe einer Abschrift der Anklageschrift nach Art. 246 NPK an IR, nicht vorgenommen werden.
19 Zur Verteidigung von IR wurde von Amts wegen ein Rechtsanwalt bestellt. Dieser Rechtsanwalt konnte jedoch nicht mit IR in Kontakt treten und legte die Verteidigung nieder. Auch die anderen Rechtsanwälte, die in der Folge von Amts wegen bestellt wurden, waren nicht in der Lage, mit IR Kontakt aufzunehmen.
20 Da sich herausstellte, dass die Anklageschrift einen Formfehler aufwies, wurde sie für nichtig erklärt und das Verfahren infolgedessen beendet. Sodann wurde gemäß Art. 246 NPK eine neue Anklageschrift erstellt und ein neues Verfahren eingeleitet. Bei dieser Gelegenheit wurde IR erneut, auch über seine Familienangehörigen, seine ehemaligen Arbeitgeber und Mobilfunkbetreiber, gesucht, konnte jedoch abermals nicht aufgefunden werden.
21 Mit Entscheidung vom 27. Oktober 2020 hatte der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) daraufhin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
„1. [Ist] Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 36 bis 39 … dahin auszulegen, dass [er] einen Fall erfass[t], in dem der Angeklagte über den gegen ihn erhobenen Anklagevorwurf in dessen ursprünglicher Fassung unterrichtet wurde, danach aufgrund seiner Flucht objektiv nicht über die Gerichtsverhandlung unterrichtet werden kann und von einem von Amts wegen bestellten Rechtsanwalt verteidigt wird, mit dem er keinerlei Kontakt pflegt?
2. Wenn dies verneint wird:
Ist mit Art. 9 … der Richtlinie 2016/343 eine nationale Regelung (Art. 423 … [NPK]) vereinbar, wonach gegen in Abwesenheit durchgeführte Ermittlungsmaßnahmen und gegen eine in Abwesenheit erfolgte Verurteilung kein Rechtsschutz vorgesehen ist, wenn sich der Angeklagte nach Unterrichtung über den ursprünglichen Anklagevorwurf verborgen hält und daher weder über den Termin und den Ort der Gerichtsverhandlung noch über die Folgen seines Nichterscheinens unterrichtet werden konnte?
3. Wenn dies verneint wird:
Entfaltet Art. 9 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 der Charta … unmittelbare Wirkung?“
22 Dieses Vorabentscheidungsersuchen führte zum Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), dessen Tenor wie folgt lautet:
„Die Art. 8 und 9 der Richtlinie [2016/343] sind dahin auszulegen, dass eine beschuldigte Person, deren Auffindung den zuständigen nationalen Behörden trotz ihrer angemessenen Bemühungen nicht gelungen ist und der sie aufgrund dieses Umstands nicht die Informationen über das gegen sie eingeleitete Verfahren übermitteln konnten, Gegenstand einer Verhandlung und gegebenenfalls einer Verurteilung in Abwesenheit sein kann, in diesem Fall jedoch, nachdem sie über diese Verurteilung unterrichtet worden ist, grundsätzlich die Möglichkeit haben muss, sich unmittelbar auf das von dieser Richtlinie gewährte Recht zu berufen, eine neue Verhandlung oder den Zugang zu einem gleichwertigen Rechtsbehelf zu verlangen, die bzw. der zu einer neuen Prüfung des Sachverhalts in ihrer Anwesenheit führt. Dieses Recht kann der Person jedoch verweigert werden, wenn sich aus genauen und objektiven Indizien ergibt, dass sie hinreichende Informationen erhalten hat, so dass sie wusste, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, und sie durch vorsätzliche Handlungen und in der Absicht, sich dem Handeln der Justiz zu entziehen, die Behörden daran gehindert hat, sie offiziell über diese Verhandlung zu unterrichten.“
23 Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien), der nach Abschaffung des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) das gegen IR eingeleitete Strafverfahren übernommen hat und nunmehr das vorlegende Gericht ist, stellt fest, dass die bulgarische Rechtsprechung zu Art. 423 NPK seit der Verkündung des Urteils vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), unverändert geblieben sei. Insbesondere wende der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien), der für die Prüfung von Anträgen auf eine neue Verhandlung ausschließlich zuständig sei, weiterhin Art. 423 NPK so an, dass jeder Person, die nach Erhalt der in Art. 219 NPK genannten Verfügung über die Heranziehung als Beschuldigter geflohen sei, im Fall einer Verurteilung in Abwesenheit das Recht auf eine neue Verhandlung vorenthalten werde.
24 Das vorlegende Gericht leitet daraus ab, dass im Fall einer Verurteilung von IR in Abwesenheit sein etwaiger späterer Antrag auf Durchführung einer neuen Verhandlung zum Scheitern verurteilt wäre.
25 IR müsse aufgrund seines in Art. 47 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren, das in Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 zum Ausdruck komme, das Recht auf eine neue Verhandlung gewährt werden.
26 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die von IR am 19. April 2016 persönlich empfangene Verfügung über die Heranziehung als Beschuldigter zum Ermittlungsverfahren gehöre, das der Übermittlung der Akte an die Staatsanwaltschaft vorausgehe. Diese Verfügung über die vorläufige Beschuldigung enthalte nur eine kurze Darstellung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, um den Verdächtigen darüber zu unterrichten, dass er einer bestimmten Tat beschuldigt werde, und um ihm Gelegenheit zu geben, sich hierzu zu äußern.
27 Zu dem Zeitpunkt, zu dem die betroffene Person die Verfügung über die vorläufige Beschuldigung erhalte, seien noch nicht alle belastenden und entlastenden Beweise bekannt. Auch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Anklageschrift im Sinne von Art. 246 NPK zu erstellen und damit die Strafsache vor das zuständige Gericht zu bringen, ist im Ermittlungsverfahren nicht bekannt.
28 Somit erfahre die betroffene Person, erst nachdem sie die Anklageschrift gemäß Art. 246 NPK erhalten habe, zum ersten Mal, dass eine Verhandlung stattfinden werde. Erst zu diesem Zeitpunkt werde sie auch über die Möglichkeit unterrichtet, dass über die Strafsache in ihrer Abwesenheit entschieden werden könne.
29 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind sowohl Art. 423 Abs. 1 NPK als auch die Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) zu dieser Bestimmung mit Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 unvereinbar, da sie Personen, deren Strafsache in Abwesenheit verhandelt worden sei, das Recht auf eine neue Verhandlung vorenthielten, obwohl die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
30 Unter diesen Umständen ersucht das vorlegende Gericht, bevor es IR gegebenenfalls in Abwesenheit verurteilt, den Gerichtshof um zusätzliche Erläuterungen zum persönlichen Anwendungsbereich des Rechts auf eine neue Verhandlung. Sollte sich aus diesen Erläuterungen tatsächlich ergeben, dass das Unionsrecht Art. 423 Abs. 1 NPK entgegenstünde, wäre auch zu klären, ob das vorlegende Gericht es ablehnen könnte oder sogar müsste, in dem anhängigen Verfahren in Abwesenheit gegen IR zu entscheiden, um zu verhindern, dass dieses Verfahren später das Recht auf ein faires Verfahren verletzen würde.
31 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es über zuverlässige Angaben verfüge, aus denen sich ergebe, dass der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) es ablehne, das Recht von IR auf eine neue Verhandlung anzuerkennen. Diese Angaben beruhten darauf, dass das Oberste Kassationsgericht seine Rechtsprechung nach der Verkündung des Urteils vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), nicht angepasst habe und es weiterhin ablehne, der Richtlinie 2016/343 Rechnung zu tragen.
32 Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist mit Art. 9 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2016/343 eine nationale Regelung – Art. 423 Abs. 1 Satz 2 Alternative 1 NPK – vereinbar, wonach ein Angeklagter, der in Abwesenheit verurteilt wurde, kein Recht auf eine neue Verhandlung in seiner Anwesenheit hat, wenn er sich verborgen hält, nachdem er in den gröbsten Zügen über den Tatvorwurf im Vorverfahren unterrichtet wurde, und gerade wegen dieses Sich-Verborgen-Haltens weder über die vollständige Anklage, noch über das mit dieser Anklage eingeleitete Gerichtsverfahren, noch über die Folgen des Nichterscheinens in der Verhandlung unterrichtet werden konnte – wobei er auch kein Recht auf eine neue Verhandlung in seiner Anwesenheit hat, wenn er durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsanwalt verteidigt wird, ohne dass es darauf ankommt, dass er mit diesem keinerlei Kontakt pflegt?
2. Wenn dies verneint wird: Verpflichten Art. 8 der Richtlinie 2016/343 und Art. 47 der Charta das vorlegende Gericht oder erlauben sie es diesem, die inhaltliche Prüfung der Anklage gegen diese Person und den Erlass eines gegen sie gerichteten Urteils in Abwesenheit abzulehnen, wenn für das vorlegende Gericht aufgrund zuverlässiger Angaben feststeht, dass das betreffende oberste nationale Gericht, das für die Entscheidung über einen Antrag eines in Abwesenheit verurteilten Angeklagten auf eine neue Verhandlung in seiner Anwesenheit ausschließlich zuständig ist, im vorliegenden Fall diesen Antrag ablehnen und das Verfahren insofern nicht wiederaufnehmen wird, als es nicht die Regelung des Art. 9 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie, sondern das nationale Recht anwenden und somit dieser in ihrer Abwesenheit verurteilten Person das unionsrechtlich garantierte Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung im Strafverfahren vorenthalten wird?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
33 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Person, die flüchtig ist, nachdem sie in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens eine gegen sie erhobene Verfügung über die vorläufige Beschuldigung erhalten hat, und die somit die Behörden daran hindert, sie persönlich über die endgültige Anklageschrift sowie über den Termin und Ort ihrer Verhandlung zu unterrichten, die in dieser Verhandlung durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsanwalt verteidigt wird, der keinen Kontakt zu ihr hat, und die unter diesen Umständen in Abwesenheit verurteilt wird, kein Recht auf eine neue Verhandlung hat, wenn sie aufgefunden und zur Vollstreckung ihrer Strafe festgenommen wird.
34 Mit der Richtlinie 2016/343 sollen nach ihrem Art. 1 gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte von Strafverfahren festgelegt werden, darunter das „Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“. Wie der 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausdrücklich bestätigt, ist dieses Recht integraler Bestandteil des Grundrechts auf ein faires Verfahren (Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 25).
35 Die Mitgliedstaaten können jedoch nach Art. 8 der Richtlinie 2016/343 unter bestimmten Voraussetzungen vorsehen, dass eine Verhandlung in Abwesenheit durchgeführt wird, wobei die betroffene Person, wenn eine solche Verhandlung durchgeführt wird, obwohl die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfüllt sind, nach Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie, die unmittelbare Wirkung haben, das Recht „auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs [hat], die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts … ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann“ (im Folgenden: Recht auf eine neue Verhandlung) (vgl. Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 26 bis 28).
36 Folglich darf einer in Abwesenheit verurteilten Person das Recht auf eine neue Verhandlung nur dann vorenthalten werden, wenn die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 31).
37 Wenn die betroffene Person nicht rechtzeitig über ihre Verhandlung unterrichtet wurde oder wenn sie zwar über die Verhandlung, nicht aber über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde und auch nicht durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wurde, steht ihr daher grundsätzlich ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von der in Abwesenheit ergangenen Entscheidung Kenntnis erlangt hat, das Recht auf eine neue Verhandlung zu. Die Richtlinie 2016/343 steht daher einer nationalen Regelung entgegen, die dieses Recht allein deshalb ausschließt, weil die betroffene Person flüchtig ist und es den Behörden nicht gelungen ist, sie aufzufinden (vgl. Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 41 bis 47).
38 Wie sich aus dem 38. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, sollte bei der Feststellung, ob die Person über ihre Verhandlung unterrichtet wurde, in besonderem Maße darauf geachtet werden, welche Sorgfalt zum einen die Behörden bei der Unterrichtung der betroffenen Person über die Verhandlung an den Tag gelegt haben und welche Sorgfalt zum anderen die betroffene Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der diesbezüglichen Informationen an den Tag gelegt hat. Folglich ist davon auszugehen, dass dieser Person kein Recht auf eine neue Verhandlung zusteht, wenn sich aus genauen und objektiven Indizien ergibt, dass sie zwar offiziell über den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, in Kenntnis gesetzt wurde und wusste, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, sich aber dennoch absichtlich so verhalten hat, sich einer offiziellen Entgegennahme von Informationen über Termin und Ort der Verhandlung zu entziehen. Das Vorliegen solcher genauen und objektiven Indizien kann beispielsweise dann festgestellt werden, wenn diese Person den zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden absichtlich eine falsche Anschrift mitgeteilt hat oder nicht mehr unter der von ihr mitgeteilten Anschrift anzutreffen ist (Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 48 bis 50).
39 Sollte sich im vorliegenden Fall herausstellen, dass die gemäß Art. 246 NPK erstellte endgültige Anklageschrift sowie das Dokument, in dem der Termin und Ort der anberaumten Verhandlung angegeben sind, an die Anschrift, die IR den Ermittlungsbehörden nach Erhalt der Verfügung über die vorläufige Beschuldigung nach Art. 219 NPK mitgeteilt hatte, gesandt und tatsächlich dort abgegeben wurden, könnten diese Umstände, wenn der Inhalt dieser endgültigen Anklageschrift im Hinblick auf den zur Last gelegten Sachverhalt und seine rechtliche Würdigung dem der Verfügung über die vorläufige Beschuldigung entspricht, genaue und objektive Indizien für die Annahme darstellen, dass IR, nachdem er über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf und somit darüber, dass eine Verhandlung gegen ihn durchgeführt werden sollte, unterrichtet worden war, in der Absicht, sich dem Handeln der Justiz zu entziehen, die Anschrift, die er den Behörden mitgeteilt hatte, verließ und diese so daran hinderte, ihn offiziell über diese Verhandlung zu unterrichten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 58).
40 Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens noch nicht feststeht, ob auf die Verfügung über die vorläufige Beschuldigung, von der die betroffene Person Kenntnis erlangt hat, eine endgültige Anklageschrift und damit eine Verhandlung folgen wird. Zum einen ergibt sich nämlich bereits aus dem Wortlaut der Art. 8 und 9 der Richtlinie 2016/343, dass die in diesen Artikeln festgelegten gemeinsamen Mindestvorschriften sowohl für „Verdächtige“ als auch für „beschuldigte Personen“ gelten. Daher fallen Personen, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben, unter diese Vorschriften, auch wenn sie noch nicht förmlich beschuldigt sind.
41 Zum anderen reicht es in Anbetracht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die, wie sich aus den Erwägungsgründen 47 und 48 der Richtlinie 2016/343 ergibt, bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen ist, für die Feststellung, dass sich die betroffene Person absichtlich durch Flucht dem Handeln der Justiz entzogen hat, obwohl sie über Informationen verfügte, anhand deren sie hätte wissen können, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, aus, dass sich aus den Umständen des Falles ergibt, dass die betroffene Person flüchtig ist, nachdem sie verstanden hatte, dass ihre Strafsache sehr wahrscheinlich vor Gericht gebracht werden würde (EGMR, 26. Januar 2017, Lena Atanasova/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0126JUD005200907, § 48).
42 Folglich dürfen die Mitgliedstaaten unter solchen Umständen davon ausgehen, dass die rechtzeitige Übermittlung des amtlichen Dokuments durch die zuständigen Behörden über den Termin und Ort einer Verhandlung an die Anschrift, die die betroffene Person diesen Behörden im Ermittlungsverfahren der Strafsache mitgeteilt hat, und der Nachweis, dass dieses Dokument tatsächlich an dieser Anschrift abgegeben wurde, gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 als Unterrichtung dieser Person, die geflohen ist, über diesen Termin und diesen Ort gelten. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sich diese Behörden angemessen bemüht haben, die betroffene Person ausfindig zu machen und sie persönlich zu laden oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und Ort der Verhandlung zu unterrichten, wie dies im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie vorgesehen ist. In diesem Fall wird davon ausgegangen, dass sie über die Verhandlung unterrichtet wurde und freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat, ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung wahrzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 48).
43 Im Übrigen muss selbst dann, wenn somit davon ausgegangen wird, dass die betroffene Person über ihre Verhandlung unterrichtet wurde und freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat, ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung wahrzunehmen, diese gemäß Art. 8 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2016/343 rechtzeitig über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet werden oder gemäß Art. 8 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten werden, damit alle in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
44 Im vorliegenden Fall scheint es – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht –, dass Art. 423 Abs. 1 NPK zur Folge hat, dass Personen, die sich nach Erhalt einer gemäß Art. 219 NPK ausgestellten Verfügung über die vorläufige Beschuldigung verborgen halten, das Recht auf eine neue Verhandlung vorenthalten wird, ohne dass Art. 423 Abs. 1 NPK die Prüfung verlangt, ob zum einen im Licht aller relevanten Umstände, insbesondere der in den Rn. 39 und 42 des vorliegenden Urteils genannten, davon ausgegangen werden kann, dass die betroffene Person von den zuständigen Behörden über ihre Verhandlung unterrichtet wurde, und ob sie zum anderen von ihnen über die Folgen des Nichterscheinens in dieser Verhandlung unterrichtet wurde oder von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wurde.
45 Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob Art. 423 Abs. 1 NPK gleichwohl dahin ausgelegt werden kann, dass der darin vorgesehene Ausschluss des Rechts auf eine neue Verhandlung auf die Fälle beschränkt werden kann, in denen alle in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Für den Fall, dass es sich als unmöglich erweist, die bulgarischen Rechtsvorschriften den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auszulegen, sind diese Gerichte verpflichtet, da Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 dieser Richtlinie, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unmittelbare Wirkung haben, jede nationale Bestimmung, die diesen Bestimmungen des Unionsrechts entgegensteht, unangewendet zu lassen, ohne dass sie die vorherige Beseitigung der mit diesen Bestimmungen unvereinbaren nationalen Rechtsvorschrift beantragen oder abwarten müssten (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Oktober 2021, ZX [Berichtigung der Anklageschrift], C‑282/20, EU:C:2021:874, Rn. 40 und 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
46 In diesem Fall könnte das vorlegende Gericht, wie sich aus den Rn. 82 bis 85 des heute in der Rechtssache C‑400/23, VB II, verkündeten Urteils ergibt, veranlasst sein, selbst zu prüfen, ob die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
47 Hinsichtlich der Frage, ob davon ausgegangen werden kann, dass IR über seine Verhandlung unterrichtet wurde und freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat, sein Recht auf Anwesenheit in dieser Verhandlung wahrzunehmen, wird sich das vorlegende Gericht auf die Ausführungen in Rn. 58 des Urteils vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), stützen müssen, die in den Rn. 39 und 42 des vorliegenden Urteils wiedergegeben und erläutert werden.
48 Im Übrigen ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass IR in seiner Verhandlung in Abwesenheit durch einen von Amts wegen bestellten Rechtsanwalt vertreten wurde, der mit ihm nicht in Verbindung stand. Unter diesen Umständen scheint IR, wie in Rn. 56 des Urteils vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), ausgeführt wurde – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – nicht durch einen „bevollmächtigten Rechtsanwalt“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2016/343 vertreten worden zu sein. Daher ist die Frage, ob die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind, im vorliegenden Fall anhand von Art. 8 Abs. 2 Buchst. a zu prüfen.
49 Nach der letztgenannten Bestimmung wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob IR rechtzeitig über die Folgen eines Nichterscheinens unterrichtet wurde.
50 Insoweit scheint es – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht –, dass sich aus Art. 247c Abs. 1 NPK ergibt, dass mit der Zustellung der in Art. 246 NPK genannten Anklageschrift der Angeklagte u. a. darüber unterrichtet werden soll, dass über die Strafsache in seiner Abwesenheit entschieden werden kann, insbesondere wenn er sich nicht an der von ihm angegebenen Anschrift befindet oder diese Anschrift geändert hat, ohne die zuständigen Behörden darüber zu unterrichten; eine solche Verpflichtung betreffend die Verfügung über die vorläufige Beschuldigung nach Art. 219 NPK ist indessen nicht vorgesehen.
51 Sollte festgestellt werden, dass IR nicht darüber unterrichtet wurde, dass er, falls er sich den Ermittlungsbehörden entzöge oder diesen Behörden für die Zwecke der etwaigen Zustellung einer Anklageschrift nach Art. 246 NPK eine falsche Anschrift mitteilte, mit einer Verhandlung in seiner Abwesenheit rechnen müsste, wäre es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind.
52 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der eine Person, die flüchtig ist, nachdem sie in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens eine gegen sie erhobene Verfügung über die vorläufige Beschuldigung erhalten hat, und die somit die zuständigen Behörden daran hindert, sie persönlich über die endgültige Anklageschrift sowie über den Termin und Ort ihrer Verhandlung zu unterrichten, und die unter diesen Umständen in Abwesenheit verurteilt wurde, dann, wenn sie zur Vollstreckung ihrer Strafe aufgefunden und festgenommen wird, kein Recht auf eine neue Verhandlung hat, sofern diese Regelung diesen Ausschluss vom Recht auf eine neue Verhandlung auf Personen beschränkt, bei denen zum einen in Anbetracht aller relevanten Umstände davon ausgegangen werden kann, dass sie über ihre Verhandlung unterrichtet wurden, und die zum anderen in der Verhandlung in ihrer Abwesenheit von einem von ihnen bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wurden oder, falls es an einer solchen Vertretung fehlt, rechtzeitig darüber unterrichtet wurden, dass sie, falls sie sich dem Handeln der Justiz entzögen, mit einer Verhandlung in ihrer Abwesenheit rechnen müssten.
Zur zweiten Frage
53 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob in Anbetracht der Weigerung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht), der Richtlinie 2016/343 Rechnung zu tragen, Art. 8 dieser Richtlinie und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein Strafgericht davon absehen kann oder sogar davon absehen muss, in der Sache über den gegen die beschuldigte Person erhobenen Tatvorwurf zu entscheiden und diese in Abwesenheit zu verurteilen, um zu vermeiden, dass in der Folge das betreffende oberste Kassationsgericht, das in Fällen wie dem des Ausgangsverfahrens für die Prüfung von Anträgen auf eine neue Verhandlung ausschließlich zuständig ist, den Antrag dieser Person auf eine neue Verhandlung zu Unrecht ablehnt.
54 Wie sich aus der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, sind die nationalen Gerichte, wenn eine mit Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 konforme Auslegung der nationalen Regelung nicht möglich ist, verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die diesen unionsrechtlichen Bestimmungen entgegensteht, unangewendet zu lassen, ohne dass sie die vorherige Beseitigung der fraglichen nationalen Bestimmung beantragen oder abwarten müssten.
55 In diesem Fall müssen sich die nationalen Gerichte, darunter das betreffende oberste Kassationsgericht, bei Einreichung eines Antrags auf eine neue Verhandlung daher auf die gemeinsamen Mindestvorschriften in Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 stützen, die, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unmittelbare Wirkung haben.
56 Soweit das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen ausführt, dass sich aus der Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) mit Gewissheit ergebe, dass dieser es ablehne, der Richtlinie 2016/343 Rechnung zu tragen, ist festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht aufgrund der zentralen Stellung, die eine solche Feststellung in der zweiten Vorlagefrage einnimmt, auf die – im Übrigen auch im Vorabentscheidungsersuchen dargelegte – Prämisse stützt, wonach sich aus dem Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401) ergebe, dass die Richtlinie 2016/343 Art. 423 Abs. 1 NPK entgegenstehe.
57 Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts wird die Weigerung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht), dieser Richtlinie Rechnung zu tragen, nämlich dadurch belegt, dass das oberste Kassationsgericht seine Rechtsprechung seit der Verkündung dieses Urteils des Gerichtshofs nicht angepasst habe und Art. 423 Abs. 1 NPK weiterhin anwende, ohne vom Wortlaut dieser Bestimmung auf der Grundlage der in dieser Richtlinie aufgestellten gemeinsamen Mindestvorschriften abzuweichen.
58 Im Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), hat sich der Gerichtshof jedoch nicht zu der Frage geäußert, ob die Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Bestimmung wie Art. 423 Abs. 1 NPK entgegensteht, die zur Folge hätte, dass Personen, die sich nach Erhalt einer Verfügung über die vorläufige Beschuldigung verborgen halten, das Recht auf eine neue Verhandlung vorenthalten wird. Erst im vorliegenden Urteil, das gegenüber dem Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), zusätzliche Auslegungshinweise enthält, gibt der Gerichtshof nähere Hinweise, die den bulgarischen Gerichten dabei helfen sollen, festzustellen, ob die besonderen Modalitäten der im NPK vorgesehenen Verfahrensregelung mit dieser Richtlinie vereinbar sind.
59 Unter diesen Umständen zeugt der Umstand, dass der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) bislang weiterhin Art. 423 Abs. 1 NPK anwendet, ohne vom Wortlaut dieser Bestimmung des NPK abzuweichen, um den in der Richtlinie 2016/343 enthaltenen gemeinsamen Mindestvorschriften Vorrang einzuräumen, nicht zwangsläufig von einer Weigerung, dieser Richtlinie zu Rechnung zu tragen, sondern kann die Überzeugung dieses obersten Gerichts widerspiegeln, die anhand der Angaben im vorliegenden Urteil des Gerichtshofs zu überprüfen ist, nämlich dass diese Bestimmung des NPK die Richtlinie ordnungsgemäß umsetze.
60 Somit ergibt sich, dass die Auslegung des Urteils vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401), die das vorlegende Gericht vorgenommen hat und auf die sich seine Feststellung stützt, dass der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) es ablehne, der Richtlinie 2016/343 Rechnung zu tragen, fehlerhaft ist. Da diese Feststellung des vorlegenden Gerichts auf einer falschen Prämisse beruht, ist die zweite Vorlagefrage daher hypothetisch und folglich unzulässig (vgl. entsprechend u. a. Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 69).
Kosten
61 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 8 und Art. 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
sind dahin auszulegen, dass
dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der eine Person, die flüchtig ist, nachdem sie in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens eine gegen sie erhobene Verfügung über die vorläufige Beschuldigung erhalten hat, und die somit die zuständigen Behörden daran hindert, sie persönlich über die endgültige Anklageschrift sowie über den Termin und Ort ihrer Verhandlung zu unterrichten, und die unter diesen Umständen in Abwesenheit verurteilt wurde, dann, wenn sie zur Vollstreckung ihrer Strafe aufgefunden und festgenommen wird, kein Recht auf eine neue Verhandlung hat, sofern diese Regelung diesen Ausschluss vom Recht auf eine neue Verhandlung auf Personen beschränkt, bei denen zum einen in Anbetracht aller relevanten Umstände davon ausgegangen werden kann, dass sie über ihre Verhandlung unterrichtet wurden, und die zum anderen in der Verhandlung in ihrer Abwesenheit von einem von ihnen bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wurden oder, falls es an einer solchen Vertretung fehlt, rechtzeitig darüber unterrichtet wurden, dass sie, falls sie sich dem Handeln der Justiz entzögen, mit einer Verhandlung in ihrer Abwesenheit rechnen müssten.
Unterschriften