C-181/23 – Kommission/ Malta (Citoyenneté par investissement)

C-181/23 – Kommission/ Malta (Citoyenneté par investissement)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:849

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY MICHAEL COLLINS

vom 4. Oktober 2024(1)

Rechtssache C181/23

Europäische Kommission

gegen

Republik Malta

„ Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Verpflichtungen aus Art. 20 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV – Staatsbürgerschaftsprogramm für Investoren – Einbürgerung von Drittstaatsangehörigen gegen eine im Voraus festgelegte Zahlung oder Investition – Fehlen einer echten Bindung zwischen Einbürgerungsantragstellern und Mitgliedstaat “

 Zum Gegenstand der Klage

1.        Ausgangspunkt dieser Klage gemäß Art. 258 AEUV ist die Einführung und Durchführung des Programms zur Gewährung der maltesischen Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung für außergewöhnliche Leistungen durch Direktinvestition (2020) (Maltese Citizenship by Naturalisation for Exceptional Services by Direct Investment scheme [2020]) (im Folgenden: Staatsbürgerschaftsprogramm 2020)(2). Die Europäische Kommission beantragt, festzustellen, dass die Republik Malta durch Einführung und Durchführung des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020, das die Einbürgerung von Personen gegen eine im Voraus festgelegte Zahlung oder Investition ermöglicht, auch wenn keine echte Bindung zwischen diesen Personen und der Republik Malta besteht, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 20 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat.

2.        Die Republik Malta hält die Klage der Kommission für in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht unbegründet. Das Unionsrecht regele nicht die Voraussetzungen, nach denen jemand die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats erwerbe, es sei denn, diese Voraussetzungen seien dergestalt, dass sie die Werte und Ziele der Europäischen Union in allgemeiner und systematischer Weise gefährdeten. Weder nach Völkerrecht(3) noch nach dem Recht der Union sei es erforderlich, dass jemand vor der Einbürgerung eine „vorherige echte Bindung“ mit dem Staat habe. Außerdem wirft die Republik Malta der Kommission vor, sie habe das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 zu stark vereinfacht, um den Gerichtshof zu einer fehlerhaften Würdigung des Sachverhalts zu „veranlassen“.

 Rechtlicher Rahmen – Maltesisches Recht

 Das maltesische Staatsbürgerschaftsgesetz

3.        Das maltesische Staatsbürgerschaftsgesetz regelt Erwerb, Entziehung und Aufgabe der maltesischen Staatsbürgerschaft(4). Die Voraussetzungen für die ordentliche Einbürgerung sind in Art. 10 des Gesetzes geregelt. Gemäß Art. 10 Abs. 1 kann einem Antragsteller eine Urkunde über die Einbürgerung als Staatsbürger Maltas ausgestellt werden, wenn dieser dem Minister(5) nachweist, dass die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

„(a)      dass er in den zwölf Monaten unmittelbar vor der Antragstellung durchgehend in Malta ansässig war; und

(b)      dass er in den sechs Jahren, die den genannten zwölf Monaten unmittelbar vorausgehen, insgesamt mindestens vier Jahre lang in Malta ansässig war; und

(c)      dass er über ausreichende Kenntnisse der maltesischen oder der englischen Sprache verfügt; und

(d)      dass er gut beleumundet ist; und

(e)      dass er ein würdiger Staatsbürger Maltas wäre“.

4.        Gemäß Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 des maltesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes kann der Minister, sofern er dies unter den besonderen Umständen des Einzelfalls für tunlich hält, für die Berechnung des in Abs. b genannten Gesamtzeitraums Aufenthaltszeiträume berücksichtigen, die mehr als sieben Jahre vor dem Zeitpunkt des Antrags liegen. Die Staatsbürgerschaftsverordnung von 1989 (1989 Citizenship Regulations) (in ihrer geänderten Fassung) enthält detaillierte Vorschriften über Einbürgerungsanträge gemäß Art. 10 Abs. 1 des maltesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes(6).

 Maltesisches Staatsbürgerschaftsgesetz (Zweite Änderung) von 2020

5.        Am 28. Juli 2020 erließ die Republik Malta den Maltese Citizenship (Amendment No 2) Act, 2020 (maltesisches Staatsbürgerschaftsgesetz [Zweite Änderung] von 2020 (im Folgenden: Staatsbürgerschaftsgesetz von 2020)(7). Art. 3 dieses Gesetzes ersetzte Art. 10 Abs. 9 des maltesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes durch folgenden Wortlaut:

„Ungeachtet der Bestimmungen dieses oder jeglichen sonstigen Gesetzes kann der Minister einer ausländischen oder staatenlosen Person, die außergewöhnliche Dienste für die Republik Malta oder für die Menschheit erbracht hat oder deren Einbürgerung für die Republik Malta von außergewöhnlichem Interesse ist, sofern sie die durch dieses Gesetz vorgeschriebenen Anforderungen erfüllt, eine Urkunde über die Einbürgerung als Staatsbürger Maltas ausstellen. Für die Zwecke dieses Absatzes bedeutet ‚außergewöhnlich‘ offenkundig hervorragend und bezeichnet in erster Linie Beiträge von Wissenschaftlern, Forschern, Athleten, Sportlern, Künstlern, Kulturschaffenden, Investoren und Unternehmern, sofern der Minister eine Einbürgerungsurkunde auch für einen in Frage kommenden Unterhaltsberechtigten einer ausländischen oder staatenlosen Person, die durch Investition außergewöhnliche Dienste für die Republik Malta erbracht hat, ausstellt, und sofern diese Person einen Antrag in der vorgeschriebenen Art und Weise stellt und in Malta den Treueeid ablegt.“

6.        Am 20. November 2020 erließ(8) die Republik Malta die Verordnung über die Gewährung der Staatsbürgerschaft für außergewöhnliche Dienste (Granting of Citizenship for Exceptional Services Regulations) von 2020 (im Folgenden: Verordnung von 2020)(9). Teil III und Teil IV der Verordnung von 2020 enthalten detaillierte Vorschriften über die Bearbeitung von Anträgen auf Einbürgerung wegen außerordentlicher Dienste durch besondere Verdienste und „durch Direktinvestitionen in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Republik Malta“(10). Ausländische Investoren(11) können die Einbürgerung gemäß der zweiten Kategorie beantragen, sofern sie die folgenden Voraussetzungen erfüllen oder sich zu deren Erfüllung verpflichten:

a)      Entweder 600 000 Euro oder 750 000 Euro an die maltesische Regierung zu zahlen, wovon 10 000 Euro bei Einreichung der Anträge auf Aufenthaltserlaubnis oder des Zulassungsformulars als nicht rückzahlbare Anzahlung zu zahlen sind und der Restbetrag nach Genehmigung des Einbürgerungsantrags fällig wird;

b)      Das Eigentum an einer Wohnimmobilie in Malta mit einem Mindestwert von 700 000 Euro zu erwerben und zu halten oder einen Mietvertrag über eine Wohnimmobilie in Malta für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren zu einer Mindestjahresmiete von 16 000 Euro abzuschließen;

c)      Mindestens 10 000 Euro an eine eingetragene oder in sonstiger Weise behördlich genehmigte Nichtregierungsorganisation oder Gesellschaft zu spenden, die auf dem Gebiet der Philanthropie, der Kultur, des Sports, der Wissenschaft, des Tierschutzes oder der Kunst tätig ist;

d)      Während eines Zeitraums von 36 Monaten in Malta ansässig gewesen zu sein (bei Zahlung von 600 000 Euro); dieser Zeitraum kann bei einer außergewöhnlichen Direktinvestition, nämlich einer Zahlung von mindestens 750 000 Euro, bis auf zwölf Monate verkürzt werden;

e)      Die behördliche Zulässigkeitsprüfung bestanden zu haben und zur Einreichung des Einbürgerungsantrags gemäß Regulation 10 der Verordnung von 2020 berechtigt zu sein.

7.        Gemäß Regulation 19 der Verordnung von 2020 „darf die Zahl der Urkunden über den Erwerb der maltesischen Staatsbürgerschaft im Wege der Einbürgerung wegen außergewöhnlicher Dienste durch Direktinvestitionen – unter Ausschluss der Unterhaltsberechtigten – höchstens vierhundert (400) jährlich betragen, und die Gesamtzahl der erfolgreichen Antragsteller – unter Ausschluss der Unterhaltsberechtigten – darf auf keinen Fall mehr als eintausend fünfhundert (1 500) betragen“.

 Vorverfahren

8.        Am 20. Oktober 2020 erging ein Mahnschreiben der Kommission an die Republik Malta. Darin wurden Bedenken geäußert, dass das gemäß dem maltesischen Staatsbürgerschaftsgesetz in der durch das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2013 und die Verordnung von 2014 geänderten Fassung erlassene Programm für Einzelinvestoren unvereinbar sei mit der Unionsbürgerschaft im Sinne von Art. 20 AEUV und dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Am 9. Juni 2021 richtete die Kommission ein ergänzendes Mahnschreiben an die Republik Malta, in dem sie anmerkte, dass die Republik Malta in Anbetracht dessen, dass der überarbeitete Rechtsrahmen des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 dessen transaktionalen Charakter nicht geändert habe, gegen Art. 20 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoße.

9.        Die Republik Malta beantwortete dieses Schreiben am 6. August 2021. Sie widersprach der von der Kommission vorgenommenen Bewertung. Die Auffassung der Kommission sei mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung unvereinbar, da sie in einen Bereich eingreife, der zur Souveränität der Mitgliedstaaten gehöre.

10.      Am 2. März 2022 setzte die Republik Malta das Staatsbürgerschaftsprogramm für Investoren bis auf Weiteres für russische und belarussische Staatsbürger aus.

11.      Am 6. April 2022 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Malta. Darin wiederholte die Kommission das Vorbringen im Mahnschreiben und im ergänzenden Mahnschreiben und machte eingehendere Ausführungen. In ihrer Antwort widersprach die Republik Malta der von der Kommission vorgenommenen Bewertung und machte geltend, dass ihr Rechtsrahmen für die Einbürgerung von Investoren dem Unionsrecht in vollem Umfang genüge.

 Verfahren vor dem Gerichtshof

12.      Mit am 22. März 2023 beim Gerichtshof eingegangener Klageschrift hat die Kommission die vorliegende Klage nach Art. 258 AEUV beim Gerichtshof erhoben, mit der sie die Feststellung beantragt, dass „die Republik Malta durch Einführung und Durchführung eines institutionalisierten Programms, wie es das Programm „Maltesische Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung für außergewöhnliche Dienste durch Direktinvestition“ („Maltese Citizenship by Naturalisation for Exceptional Services by Direct Investment“) ist, das auf Art. 10 Abs. 9 des maltesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes (Maltese Citizenship Act) in der durch das maltesische Staatsbürgerschaftsgesetz (Zweite Änderung) von 2020 (Maltese Citizenship [Amendment No 2] Act, 2020) und die Verordnung über die Gewährung der Staatsbürgerschaft für außergewöhnliche Dienste (Granting of Citizenship for Exceptional Services Regulations) von 2020 geänderten Fassung beruht und das die Einbürgerung ohne echte Bindung der Antragsteller zu dem Land gegen eine im Voraus festgelegte Zahlung oder Investition ermöglicht, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 20 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat.“

13.      Die Kommission beantragt zudem, der Republik Malta die Kosten aufzuerlegen.

14.      Die Republik Malta beantragt in ihrer am 27. Juni 2023 eingegangenen Klagebeantwortung, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

15.      Nach einem weiteren Schriftsatzwechsel hat am 17. Juni 2024 eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der die Kommission und die Republik Malta mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet haben.

 Rechtliche Würdigung

 Vorbringen der Parteien

16.      Die Klage der Kommission besteht in einer einzigen Rüge, die sie in drei Schritte untergliedert.

17.      Erstens trägt die Kommission vor, dass die Mitgliedstaaten zwar dafür zuständig seien, den Erwerb ihrer Staatsangehörigkeit zu regeln, dass jedoch das Unionsrecht die Ausübung dieser Zuständigkeit beschränke(12). Grundlage der Unionsbürgerschaft sei der Begriff des gegenseitigen Vertrauens. Die Achtung dieses gegenseitigen Vertrauens hindere die Mitgliedstaaten, Staatsbürgerschaftsregelungen zu erlassen, die das Wesen, den Wert und die Integrität der Unionsbürgerschaft untergrüben. Die Unionsbürgerschaft sei dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein(13). Durch das Unionsrecht würden den Mitgliedstaaten weitreichende Verpflichtungen auferlegt in Bezug auf ihre Behandlung von Unionsbürgern, die die ihnen durch die Unionsbürgerschaft eingeräumten Rechte geltend machen wollen. Da die Einbürgerung in einen Mitgliedstaat automatisch mit dem Erwerb der Unionsbürgerschaft und dem Genuss der damit verbundenen Rechte einhergehe, hätten die Einbürgerungsvoraussetzungen unmittelbare Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten und die Europäische Union, die so bedeutend seien, dass die Einbürgerungsvoraussetzungen nicht mehr allein Sache des betreffenden Mitgliedstaats seien. Deshalb müssten die Mitgliedstaaten bei der Einbürgerung von Drittstaatsangehörigen das Unionsrecht und insbesondere den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV sowie den durch Art. 20 AEUV geschaffenen Status der Unionsbürgerschaft gebührend beachten.

18.      Zweitens hebt die Kommission hervor, dass, da die Europäische Union auf die Integration europäischer Staaten, die gemeinsame Ziele und Werte teilten, gegründet sei, dies damit einhergehe, die Völker der einzelnen Mitgliedstaaten zusammenzubringen. Die Unionsbürgerschaft impliziere daher sowohl die Stärkung der Bindungen zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union als auch die Integration und Vertiefung der Solidarität zwischen den verschiedenen Völkern Europas, so dass diese als konstitutive Akteure der Europäischen Union zu einem einheitlichen Gemeinwesen zusammenkämen. Für diese Auslegung spreche insbesondere die Eigenart der Unionsbürgerschaft, welche die Rechte umfasse, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu ziehen und sich dort niederzulassen, die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats zu erhalten sowie bei Kommunalwahlen im Aufnahmemitgliedstaat und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament das aktive und passive Wahlrecht zu besitzen. In der Unionsbürgerschaft und den daraus abgeleiteten Rechten kämen somit Solidarität und gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zum Ausdruck. Die automatische und an keine Bedingungen geknüpfte Erstreckung gewisser Rechte auf die Staatsangehörigen sämtlicher Mitgliedstaaten stehe mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Einklang und beruhe auf dem gemeinsamen Verständnis, dass die „Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen [einem Staat] und seinen Staatsbürgern sei“(14). „Das zwischen [dem Staat] und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten [liegen] dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde“(15).

19.      Ein Mitgliedstaat, der ein Staatsbürgerschaftsprogramm für Investoren einführe und betreibe, das die systematische Einbürgerung im Gegenzug für im Voraus festgelegte Zahlungen ermögliche, ohne das Bestehen einer echten Bindung zwischen dem Staat und den betreffenden Personen zu verlangen, beeinträchtige und untergrabe sowohl das Wesen als auch die Integrität der Unionsbürgerschaft und des gegenseitigen Vertrauens, auf das diese gegründet sei. Ein solches Staatsbürgerschaftsprogramm für Investoren sei deshalb unvereinbar mit dem Begriff der Unionsbürgerschaft im Sinne von Art. 20 AEUV und dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Daraus folge, dass die Einführung und Durchführung solcher Programme, selbst wenn diese als im (rein finanziellen) Interesse eines Mitgliedstaats liegend gesehen würden, den Zielen der Europäischen Union abträglich sei.

20.      Drittens seien im Falle des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 die Kriterien für ein rechtswidriges Staatsbürgerschaftsprogramm für Investoren, so wie diese im zweiten Schritt beschrieben seien, erfüllt, da es im Gegenzug für die Zahlung im Voraus festgelegter erheblicher Beträge die systematische Einbürgerung gestatte, ohne dass die Antragsteller das Bestehen einer echten Bindung mit der Republik Malta nachweisen müssten. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a des maltesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes, in dem nur die „ordentliche“ Einbürgerung geregelt sei, bestimme, dass der Antragsteller nachweisen müsse, dass er „in den zwölf Monaten unmittelbar vor der Antragstellung durchgehend in Malta ansässig war“. Gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b des genannten Gesetzes müsse der Antragsteller nachweisen, dass er in einem Zeitraum von sechs Jahren „insgesamt mindestens vier Jahre“ ansässig gewesen sei. Im Rahmen des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 gälten für die Antragsteller jedoch qualitativ andere Bestimmungen. Insbesondere sei beim letzteren Modell nicht hinreichend sichergestellt, dass die Wohnsitzpflicht mehr als eine rein fiktive Anforderung sei oder dass es eine echte Bindung zwischen der Republik Malta und denen gebe, die aufgrund dieses Modells die maltesische Staatsangehörigkeit beantragten.

21.      Gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung von 2020 müssten der Hauptantragsteller und seine Unterhaltsberechtigten, die das 18. Lebensjahr vollendet hätten, nachweisen, dass sie während eines Zeitraums von 36 Monaten auf Malta ansässig gewesen seien. Art. 16 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit dem ersten Anhang der Verordnung von 2020 sehe vor, dass gegen Zahlung von 750 000 Euro (d. h. eine weitere Zahlung von 150 000 Euro) der Zeitraum der Ansässigkeit auf ein Minimum von zwölf Monaten verkürzt werden könne. Die Begriffe „Ansässiger“ bzw. „Ansässigkeit“ seien in der Verordnung von 2020 nicht bestimmt. Diese Verordnung sehe keine entsprechende Anforderung vor, nach der eine solche Ansässigkeit in dem genannten Zeitraum „durchgehend“ bestanden haben müsse. Da es keine Vorschriften gebe, nach denen eine regelmäßige physische Präsenz für einen signifikanten Zeitraum erforderlich sei, der durch Reisen oder kurze Auslandsaufenthalte unterbrochen werden könne, enthalte die Verordnung von 2020 keinerlei Vorschriften über Zeiträume der Abwesenheit, durch die etwaige Zeiträume der Ansässigkeit unterbrochen werden könnten. Die Kommission macht also geltend, dass für Regulation 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung von 2020 lediglich ein – von einer physischen Präsenz zu unterscheidender – ordnungsmäßiger Wohnsitz in Malta erforderlich sei.

22.      Die Kommission weist auch das Vorbringen der Republik Malta zurück, dass sie das Recht habe, für die Einbürgerung auf „künftige Bindungen“ abzustellen, die sich durch eine künftige Integration in und einen Beitrag an den betreffenden Mitgliedstaat ergäben. Ein solcher „Jetzt kaufen – später die Bindung aufbauen“-Ansatz sei mit dem Unionsrecht unvereinbar. Die Kommission erinnert daran, dass die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte, etwa die Freizügigkeit, ab dem Zeitpunkt gälten, in dem dieser Status erlangt werde. Es gebe keine Garantie, dass ein gemäß dem Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 eingebürgerter maltesischer Staatsbürger in der Republik Malta verbleibe und Bindungen zu dieser aufbaue. Vielmehr könnten solchermaßen Eingebürgerte sich dafür entscheiden, in einen anderen Mitgliedstaat zu verziehen, oder sogar ihren Lebensmittelpunkt im Drittstaat beibehalten; sie könnten also von den mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten Gebrauch machen, ohne Bindungen zu irgendeinem Mitgliedstaat aufzubauen. In dem Werbematerial, mit dem die mit der Verwaltung des Programms beauftragten Vertreter für das Programm würben, werde die Möglichkeit, als Eingebürgerter seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem der assoziierten Schengen-Länder nehmen zu können, als einer der Vorzüge des Erwerbs der maltesischen Staatsbürgerschaft gepriesen.

23.      In ihrer Erwiderung weist die Kommission die Behauptung zurück, dass mit der vorliegenden Klage der gesamte nationale Rechtsrahmen für die Einbürgerung angegriffen werde. Die Kommission beabsichtige nicht, den Mitgliedstaaten vorzuschreiben, wie diese zu bestimmen hätten, „wer ihre Staatsbürger sind“. Die vorliegende Klage beschränke sich auf ein bestimmtes Staatsbürgerschaftsprogramm für Investoren, das, indem es die Unionsbürgerschaft zur Ware mache, die Integrität dieses Status derart untergrabe, dass es auf einen besonders schweren Verstoß gegen das Unionsrecht hinauslaufe.

24.      Die Kommission stützt ihren Vortrag auf das Unionsrecht, die einzelnen Anforderungen, die sich aus dem Status der Unionsbürgerschaft ergeben, sowie die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, nach der alle mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten, zu unterlassen seien. Auch wenn die Republik Malta die Auffassung, dass laut dem Nottebohm-Urteil eine echte Bindung eine völkerrechtlich erforderliche Einbürgerungsvoraussetzung sei, nicht teile, sei dieses Urteil doch nach wie vor eine weithin zitierte Leitentscheidung über das Recht der Staaten, die Anerkennung einer von einem anderen Staat gewährten Staatsangehörigkeit zu verweigern. Nach dem Micheletti-Urteil dürften die Mitgliedstaaten die Anerkennung der Staatsangehörigkeit des Staatsbürgers eines Mitgliedstaats nicht verweigern. Diese in der Unionsrechtsordnung vorgesehene automatische Anerkennung bilde die Rechtsgrundlage für einen gemeinsamen Staatsbürgerschaftsbegriff, der das Bestehen einer echten Bindung zwischen einem Mitgliedstaat und seinen Staatsangehörigen voraussetze.

25.      Nach Ansicht der Kommission zeigt der Rechtsrahmen des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020, dass das Verfahren zur Überprüfung der Antragsteller darauf abziele, von diesen ausgehende Sicherheits- oder Leumundsrisiken sowie den Umfang ihres Vermögens zu prüfen. Es sei jedoch nicht darauf ausgelegt, das Bestehen einer echten Bindung zwischen dem Antragsteller und der Republik Malta zu ermitteln. Weder der Umstand, dass es dieses Überprüfungsverfahren gebe, noch das dem Minister(16) eingeräumte Ermessen, die Ausstellung einer Urkunde über die Einbürgerung abzulehnen, ändere den transaktionalen Charakter des Programms. Die Republik Malta bestreite nicht, dass zur Erfüllung der Voraussetzungen des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 schon zwei tatsächliche physische Aufenthalte in Malta genügten, nämlich einen zur Angabe der zur Erlangung einer Niederlassungserlaubnis erforderlichen biometrischen Daten und einen zur Leistung des Treueeides. Der für das Programm erforderliche „ordnungsmäßige Wohnsitz“ sei daher nicht geeignet, eine echte Bindung zwischen der Republik Malta und dem Einbürgerungsantragsteller zu begründen.

26.      Die Republik Malta merkt zunächst an, dass Staaten seit jeher versucht hätten, Vermögen und Wohlstand anzuziehen, indem sie durch Einbürgerung oder entsprechende Regelungen den Zustrom vermögender Personen förderten. Die Befugnis zur Einbürgerung sei gerade das Herzstück nationaler Souveränität. Sie stehe in engem Zusammenhang mit dem Verständnis und der Entwicklung der nationalen Identität eines Mitgliedstaats, die die Europäische Union gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV zu schützen gehalten sei. Die Republik Malta erkennt an, dass das Bestehen einer „vorherigen echten Bindung“ eine legitime Grundlage sei, auf die Staaten für die Anerkennung der Bindungen einer Person an ihre politische Gemeinschaft abzustellen beschließen könnten. Jedoch sei es Sache der demokratischen Institutionen jedes einzelnen Mitgliedstaats, sich im Wege politischer und hoheitlicher Beschlüsse für diese Option zu entscheiden, wobei oftmals auf Gerechtigkeitserwägungen und moralische Gesichtspunkte abgestellt werde. Ein Mitgliedstaat genieße folglich weitgehendes Ermessen bei seiner Entscheidung, welche Bindungen dafür hinreichten, jemandem anzubieten, Mitglied seines Gemeinwesens zu werden. Weder die Verträge noch die zugehörigen vorbereitenden Arbeiten sähen vor, dass Mitgliedstaaten verpflichtet wären, dass jemand vor der Einbürgerung über eine „vorherige echte Bindung“ verfügen müsste. Eine solche Verpflichtung ergebe sich auch nicht aus dem Völkerrecht, und an dem Nottebohm-Urteil, auf das sich die Kommission berufe, sei umfangreich und zu Recht Kritik geübt worden.

27.      Aus diesen Gründen ist die Republik Malta der Ansicht, dass es nur dann, wenn die Einbürgerungspolitik eines Mitgliedstaats in allgemeiner und systematischer Weise zu einem schweren Verstoß gegen die in den Verträgen und in der Gesetzgebung festgelegten Werte und Ziele der Union verstoße, plausibel sei, dass die betreffende Politik gegen diese Regeln und Werte verstoße. In der vorliegenden Sache sei dies nicht der Fall. Die Klage der Kommission sei beispiellos. Diese Klage solle verhindern, dass ein Mitgliedstaat politische Entscheidungen umsetze, die dieser in legitimer Weise in einem durch Art. 9 EUV und Art. 20 Abs. 1 AEUV anerkannten Bereich nationaler Zuständigkeit getroffen habe. Mit der Klage werde zudem die Rechtmäßigkeit eines gesamten nationalen Rechtsrahmens für die Einbürgerung angefochten. Des Weiteren trägt die Republik Malta vor, dass die von der Kommission vertretene weite Auslegung von Art. 20 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV unmittelbare Auswirkungen auf die für die Staatsangehörigkeit geltenden Rechtsrahmen sämtlicher Mitgliedstaaten haben werde, und zwar insbesondere auf diejenigen Mitgliedstaaten, in denen die Einbürgerung eine Ermessensentscheidung sei. Dies werde unweigerlich Berichtspflichten nach sich ziehen, was dann dazu führe, dass die Kommission als Hüterin der Verträge die Politik, Gesetze und Praktiken der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Einbürgerung im Licht des Unionsrechts überprüfe. Eine solche Entwicklung werde die Mitgliedstaaten dazu bringen, das Recht und die Praktiken anderer Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet in Frage zu stellen und letztendlich anzufechten. Eine derartige Überprüfung sei allenfalls gerechtfertigt, wenn – anhand geeigneter Beweise – eindeutig nachgewiesen werde, dass die Vorschriften eines Mitgliedstaats in allgemeiner und systematischer Weise eine echte Gefahr für die Werte und Ziele der Union darstellten.

28.      Des Weiteren führt die Republik Malta aus, dass der von der Kommission vorgebrachte einzige Klagegrund die Rechtsprechung des Gerichtsverfahrens zu stark vereinfache, indem versucht werde, die Entziehung der Staatsangehörigkeit ihrem Erwerb gleichzusetzen. Werde jemandem die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats entzogen, so verliere die Person die Unionsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte. Nach dem Unionsrecht müssten mitgliedstaatliche Handlungen, die de iure oder de facto auf den Verlust der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und Pflichten hinausliefen, sorgfältiger und strenger Überwachung unterliegen. Dagegen führe der Erwerb einer Staatsangehörigkeit zur Erweiterung – und nicht zur Verringerung – der Bandbreite der Rechte und Pflichten einer Person. Bei der Prüfung des Staatsangehörigkeitserwerbs sei deshalb auf einen anderen Standard abzustellen. Dieser grundlegende Unterschied sei von der Kommission verkannt worden, was diese veranlasst habe, für eine Auslegung der Verträge einzutreten, die zu einer unverhältnismäßigen Ausweitung der Kontrolle der Union über einen Bereich nationaler Zuständigkeit, der eng mit den hoheitlichen Befugnissen der Mitgliedstaaten zusammenhänge, führen würde.

29.      Nach Ansicht der Republik Malta ist die Darstellung des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 durch die Kommission als ein „automatischer und an keine Bedingungen geknüpfter“ Zugang zur maltesischen Staatszugehörigkeit „durch die systematische Gewährung seiner Staatsbürgerschaft im Gegenzug für die Zahlung im Voraus festgelegter erheblicher Beträge“ aus „rein fiskalischen Interessen“ der Republik Malta eine zu starke Vereinfachung, der jede rechtliche oder tatsächliche Grundlage fehle. Zwar setze der Zugang zu dem Programm eine Erstinvestition voraus, doch funktioniere das Programm nicht in „automatischer und an keine Bedingungen geknüpfter“ Weise, sondern messe den Folgen jedes Antrags für „Sicherheit, Leumund, systemische Auswirkungen, Vorschriftsmäßigkeit und andere Kriterien“ erhebliches Gewicht bei. Dass etwa ein Drittel aller zulässigen Anträge abgelehnt werde, sei hinreichender Beweis dafür, dass kein Automatismus vorliege. Die Gewährung der Staatsbürgerschaft sei auch keine unmittelbare Folge einer finanziellen Transaktion, da die Antragsteller langfristige Verpflichtungen eingehen müssten und auch nach der Einbürgerung noch längere Zeit Überprüfungsverfahren unterlägen. Das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 sei deshalb ein legitimes, solides, professionell betriebenes und effektives Einbürgerungsprogramm, dessen Durchführung die Ziele der Union in keiner Weise untergrabe. Das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 sei transparent, werde sorgfältig überwacht und habe unmittelbare und positive Auswirkungen auf die maltesische Gesellschaft. Die Republik Malta widerspricht der von der Kommission vorgenommenen Einstufung des Programms als eine Vorgehensweise des „Jetzt kaufen – später die Bindung aufbauen“. Die erfolgreichen Antragsteller wiesen verschiedenste Bindungen zum maltesischen Gemeinwesen auf, welche in schon früher gegebenen, gegenwärtigen und künftigen Bindungen bestünden, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelten.

30.      In ihrer Gegenerwiderung trägt die Republik Malta vor, dass sie, wenn der Gerichtshof dem Antrag der Kommission stattgäbe, gehalten wäre, einen gesamten Komplex von Gesetzgebungsakten und Rechtsakten mit Verordnungscharakter aufzuheben – nicht lediglich eine einzelne Bestimmung oder eine bestimmte Regelung im Staatsangehörigkeitsrecht. Indem die Kommission den gesamten Rechtsrahmen eines Mitgliedstaats zur Regelung der Einbürgerung angreife, ersuche sie den Gerichtshof, als ein „mittelbarer Gesetzgeber“ zu handeln; damit werde ein Veto eingelegt gegen nationale Rechtsvorschriften in einem den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Bereich. Je größer die auf einem Gebiet ausschließlicher nationaler Zuständigkeit eingeräumte Prüfungskompetenz sei, desto größer sei die Gefahr, dass mit deren Ausübung die Zuständigkeit der Europäischen Union in einem besonders sensiblen Gebiet überschritten werde. Deshalb ist die Republik Malta der Ansicht, dass nur ein erheblicher Verstoß gegen die Werte und/oder Ziele der Europäischen Union einen Eingriff durch den Gerichtshof rechtfertigen könnte. Abschließend hebt die Republik Malta hervor, dass die Europäische Union – entgegen dem Vorbringen der Kommission – eine politische Gemeinschaft sei, und kein „einheitliches Gemeinwesen“.

 Würdigung

 Zulässigkeit

31.      Die Republik Malta bestreitet die Zulässigkeit der vorliegenden Klage zwar nicht ausdrücklich, verweist jedoch auf Unterschiede zwischen dem Vorbringen der Kommission in der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens und dem Vorbringen, auf das diese sich jetzt stützen möchte. Nach Ansicht der Republik Malta weichen einige der von der Kommission in der Erwiderung vorgebrachten Argumente von denen in der Klageschrift ab. Außerdem lehnt sie das Beweisangebot der Kommission ab, die „Passport Papers“(17) als Beweisstücke vorzulegen, da sich diese auf die Durchführung des Staatsbürgerschaftsprogramms von 2014, nicht jedoch auf das von 2020 bezögen, welches Gegenstand dieses Verfahrens sei.

32.      Der Gerichtshof kann von Amts wegen prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 258 AEUV für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage erfüllt sind(18). Da die Frage der Zulässigkeit der Klage in der mündlichen Verhandlung aufgeworfen wurde und die Kommission Gelegenheit hatte, auf eine diesbezügliche Frage des Gerichtshofs zu antworten, ist es angemessen, dass der Gerichtshof diese Frage prüft. Nach ständiger Rechtsprechung bestimmt die Kommission den Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 258 AEUV in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme. Die Stellungnahme muss eine zusammenhängende und ausführliche Darstellung der Gründe enthalten, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Mitgliedstaat, an den die Stellungnahme gerichtet ist, eine der Verpflichtungen aus dem Vertrag verletzt habe. Die anschließende Vertragsverletzungsklage muss auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgebracht waren, und der Gerichtshof darf keine Rüge prüfen, die nicht bereits darin erhoben wurde(19). Der Gegenstand der vorliegenden Klage ist enger gefasst als die Rüge in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 6. April 2022, da sich Letztere sowohl gegen das Staatsbürgerschaftsprogramm 2014 als auch gegen das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 richtete. Unter diesem Vorbehalt – der keinen Anlass zu Bedenken gibt(20) – ist die Klage auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt wie die mit Gründen versehene Stellungnahme. Sowohl in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch in der Klageschrift wird ein Verstoß gegen Art. 20 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV beanstandet, der durch von der Republik Malta eingeführte Rechtsvorschriften verursacht sein soll, die Personen die Einbürgerung gegen eine im Voraus festgelegte Zahlung oder Investition ermöglichten, ohne dass eine echte Bindung zwischen dem betreffenden Mitgliedstaat und den betreffenden Personen erforderlich sei.

33.      Was die behaupteten Unterschiede zwischen der Klageschrift und der Erwiderung angeht, ist auf die ständige Rechtsprechung hinzuweisen, nach der eine Partei im Lauf des Verfahrens nicht den Streitgegenstand selbst ändern kann und die Begründetheit der Klage allein anhand der in der Klageschrift enthaltenen Anträge zu prüfen ist(21). Allerdings ist die Kommission berechtigt, auf das Vorbringen der Republik Malta in deren Klagebeantwortung einzugehen, sofern – wie es hier der Fall ist – der Gegenstand des Verfahrens nicht geändert wird.

34.      Ich empfehle daher dem Gerichtshof, sowohl die vorliegende Klage als auch das Vorbringen in der Erwiderung für zulässig zu befinden.

35.      Was die Zulassung der sogenannten „Passport Papers“ als Beweise angeht, wird von der Kommission nicht abgestritten, dass diese Papiere die Durchführung des Staatsbürgerschaftsprogramms 2014 betreffen, das in sachlicher Hinsicht für die vorliegende Klage nicht von Belang ist. Entgegen der von der Kommission offenbar vertretenen Auffassung können deshalb Schlussfolgerungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 nicht auf den Inhalt der genannten Papiere gestützt werden.

 Begründetheit

–       Vorbemerkungen

36.      Mit der vorliegenden Klage beantragt die Kommission die Feststellung, dass die Republik Malta, indem sie Art. 10 Abs. 9 des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2020 und die Staatsbürgerschaftsverordnung von 2020 erließ und durchführte, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 20 Abs. 1 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat. Sollte der Gerichtshof diesem Antrag stattgeben, hätte die Republik Malta die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben(22). Daraus folgt, dass – entgegen dem Vorbringen der Republik Malta – mit diesem Verfahren nicht die Rechtmäßigkeit des gesamten Rechtsrahmens dieses Mitgliedstaats für die Einbürgerung in Frage gestellt wird(23). Genauso wenig handelt es sich bei der Klage der Kommission um einen Versuch dieses Organs, sich – mit unmittelbarer oder mittelbarer Hilfe des Gerichtshofs – als Gesetzgeber auf dem Gebiet der Unionsbürgerschaft zu betätigen.

37.      Die Republik Malta räumt ein, dass ein Mitgliedstaat, der eine Einbürgerungspolitik verfolge, die Personen einer bestimmten rassischen oder ethnischen Herkunft ausschließe, u. a. gegen Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 2 EUV verstoße. Da die Kommission nicht geltend macht, dass das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 so durchgeführt werde, dass wegen der Rasse, der Volkszugehörigkeit oder in sonstiger Weise diskriminiert werde, braucht sich der Gerichtshof mit diesem Vorbringen nicht mehr zu befassen(24). Die Republik Malta trägt des Weiteren vor, dass sie beachtliche Anstrengungen unternommen und erhebliche Mittel investiert habe, um ein mehrstufiges Prüfungsverfahren zu betreiben, das sicherstellen solle, dass das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 u. a. den Unionsvorschriften zur Bekämpfung von Geldwäsche, Korruption und Terrorismus genüge und diese durchsetze. Da die Klage der Kommission nicht darauf gestützt ist, dass die Republik Malta gegen diese – oder irgendwelche sonstige – Unionsgesetzgebung verstoßen habe, geht auch dieses Vorbringen ins Leere.

38.      In Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV obliegt es der Kommission, nachzuweisen, dass ein Mitgliedstaat gegen eine ihn bindende Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, wobei sie sich nicht auf irgendeine Vermutung stützen darf(25).

39.      Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Ein Verstoß gegen die allgemeine Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit, die sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt, besteht nur insoweit, als der Verstoß in einem Verhalten besteht, das sich von einem Verstoß gegen eine von dem betreffenden Mitgliedstaat geschuldete spezifische Verpflichtung unterscheidet(26).

40.      Mit der vorliegenden Klage wird beantragt, festzustellen, dass die Republik Malta durch Einführung und Durchführung des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020, das die Einbürgerung von Personen gegen eine im Voraus festgelegte Zahlung oder Investition ermöglicht, auch wenn keine echte Bindung zwischen diesen Personen und der Republik Malta besteht, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 20 Abs. 1 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat. Wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurde, geht die Rüge der Kommission, dass das Staatsbürgerschaftsprogramm 2020 unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV anderen Mitgliedstaaten Verpflichtungen und Pflichten auferlege, auf ihre Rüge zurück, dass die Republik Malta gegen Art. 20 AEUV verstoße. Ohne den Nachweis eines Verstoßes gegen Vertragsbestimmungen über die Staatsbürgerschaft gibt es deshalb keinerlei rechtliche oder tatsächliche Grundlage für den behaupteten Verstoß der Republik Malta gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit. Entsprechend den Ausführungen in der Rechtsprechung bezieht sich der vorgeworfene Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV auf ein Verhalten, das sich nicht von einem Verstoß gegen eine auf Art. 20 AEUV beruhende spezifische Verpflichtung unterscheidet. Ich lege dem Gerichtshof daher nahe, dass er in diesem Verfahren die Rüge, dass die Republik Malta gegen Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen habe, nicht gesondert von der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 20 AEUV zu untersuchen braucht.

–       Das Erfordernis einer „echten Bindung“ nach unions- und völkerrechtlichem Staatsangehörigkeitsrecht

41.      Aus den schriftlichen und mündlichen Erklärungen der Parteien wird deutlich, dass der Inhalt des Staatsbürgerschaftsprogramms 2020 und dessen Funktionsweise außer Streit stehen. Insbesondere streitet die Republik Malta nicht ab, die Einbürgerung gegen im Voraus festgelegte Zahlungen anzubieten, sofern die betreffenden Personen bestimmte Voraussetzungen erfüllen(27). In der mündlichen Verhandlung bestätigte die Republik Malta, dass bei Zahlung eines bestimmten finanziellen Beitrags schon ein Jahr ordnungsmäßigen Wohnsitzes in dem Mitgliedstaat für die Zwecke der Einbürgerung genüge. Die Kommission bestätigte in ihren mündlichen Erklärungen, dass ihre einzige Rüge auf das Bestehen eines Erfordernisses im Unionsrecht – wie auch, in geringerem Maße, im Völkerrecht – gestützt sei, dass es zur Wahrung der Integrität der Unionsbürgerschaft eine „echte Bindung“ zwischen einem Mitgliedstaat und seinen Staatsangehörigen geben müsse. Im Zuge ihrer Erklärungen bestätigte die Kommission auch, dass der Erfolg ihrer Klage von der Gültigkeit dieser Prämisse abhänge.

42.      Art. 20 Abs. 1 AEUV führt eine Unionsbürgerschaft ein. Gemäß Art. 9 EUV und Art. 20 Abs. 1 AEUV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Art. 9 EUV bestimmt ferner, dass die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt, sie aber nicht ersetzt. Der Status der Unionsbürgerschaft steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und ist vollends davon abhängig. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats führt automatisch und unbedingt zum Erwerb der Unionsbürgerschaft. Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats hat zur Folge, dass die betreffende Person automatisch ihren Status als Unionsbürger verliert(28). Die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats ist ein sine qua non bzw. eine „unabdingbare Voraussetzung“ dafür, ein Unionsbürger zu sein.

43.      Seit dem Grzelczyk-Urteil(29) hat der Gerichtshof wiederholt bestätigt, dass die Unionsbürgerschaft „dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“(30). In der Praxis bedeutet dies, dass die Unionsbürgerschaft denen, die sie besitzen, eine Reihe von Rechten verleiht. Dazu gehören das Recht, sich in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten(31), sowie das aktive und passive Wahlrecht in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats(32). Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 AEUV berufen(33). Der grundlegende Status der Unionsbürgerschaft und die damit einhergehenden Verpflichtungen und Pflichten, die dieser den Mitgliedstaaten auferlegt, nehmen die Ausübung dieser Rechte nicht davon aus, an bestimmte Bedingungen geknüpft zu werden(34).

44.      Weil der Genuss der Unionsbürgerschaft vollends vom Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats abhängig ist, ist es nach ständiger Rechtsprechung Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, im Rahmen seiner ausschließlichen Zuständigkeit handelnd(35) und unter Beachtung des Völkerrechts(36) die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust seiner Staatsangehörigkeit festzulegen(37). Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Préfet du Gers(38) ausgeführt habe, hätten sich die Mitgliedstaaten dafür entscheiden können, ihre Zuständigkeiten zu bündeln und der Europäischen Union die Befugnis für die Regelung der Frage zu übertragen, wer das Recht hat, Unionsbürger zu werden. Sie haben sich dafür entschieden, dies nicht zu tun.

45.      Auch die Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die der Schlussakte des Vertrags über die Europäische Union(39) beigefügt ist, spiegelt den Umfang der Befugnisse der Mitgliedstaaten in diesem Bereich wider. Wie wir gesehen haben, führt der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats automatisch zum Erwerb der Unionsbürgerschaft, zu deren Anerkennung alle anderen Mitgliedstaaten aufgrund des Unionsrechts verpflichtet sind. In der Erklärung Nr. 2 heißt es, dass „bei Bezugnahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt wird“. Damit spiegelt die Erklärung Nr. 2 die Auffassung der Mitgliedstaaten wider, dass ihre jeweiligen Staatsangehörigkeitsbegriffe den Kern ihrer Souveränität und nationalen Identität berühren, die sie nicht zu bündeln beabsichtigen.

46.      In den Verträgen gibt es zahlreiche Bezugnahmen auf die Völker Europas, die Völker der Union, die Völker der Mitgliedstaaten und die europäischen Völker. Überdies sind die Unionsbürger die konstitutiven Akteure der Europäischen Union in einem einheitlichen Gemeinwesen(40), was sich insbesondere darin zeigt, dass sie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament das aktive und passive Wahlrecht haben(41). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten beschlossen haben, dass es allein ihre Sache ist, zu bestimmen, wer das Recht hat, einer ihrer Staatsbürger zu sein, und wer infolgedessen Unionsbürger ist. Durch das „einheitliche Gemeinwesen“, das sich aus der Schaffung der Unionsbürgerschaft ergibt, werden den Mitgliedstaaten folglich keinerlei Verpflichtungen hinsichtlich der Voraussetzungen auferlegt, unter denen sie Einbürgerungen vornehmen.

47.      Im Geiste wechselseitigen Respekts und Vertrauens haben sich die Mitgliedstaaten bedingungslos verpflichtet, die von anderen Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen darüber, ob jemand dessen Staatsangehörigkeit – und damit die Unionsbürgerschaft – besitzt, zu beachten, und zwar unabhängig vom jeweiligen Verhältnis zwischen der Person und dem Mitgliedstaat. Nach Art. 9 EUV, Art. 20 Abs. 1 AEUV und der Erklärung Nr. 2 ist es weder den Unionsorganen noch anderen Mitgliedstaaten gestattet, die Anerkennung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats an bestimmte Bedingungen zu knüpfen.

48.      Im Micheletti-Urteil(42) hat der Gerichtshof hinsichtlich der Ausübung der im EG-Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten entschieden, dass es nicht Sache der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ist, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit verlangt wird(43). Zwar erging dieses Urteil vor Einführung der Unionsbürgerschaft, doch hat der Gerichtshof diesen Grundsatz u. a. im Zhu und Chen-Urteil(44) im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft(45) bekräftigt. Daraus folgt, dass die Europäische Union, ihre Organe und ihre Mitgliedstaaten grundsätzlich die Vorschriften aller anderen Mitgliedstaaten über die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit beachten müssen. Das in dieser Rechtsprechung betrachtete System der zwingenden gegenseitigen Anerkennung geht damit einher, dass die Mitgliedstaaten keinen gemeinsamen Staatsangehörigkeitsbegriff haben müssen und die Verleihung ihrer Staatsangehörigkeit unterschiedlich regeln können.

49.      Auch wenn die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats im Unionsrecht nicht geregelt sind(46) und die Mitgliedstaaten insoweit die Vorschriften der anderen Mitgliedstaaten beachten müssen, darf nach der Rechtsprechung die Anwendung dieser Vorschriften bei Sachverhalten, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegen, nicht gegen das Unionsrecht verstoßen(47). In der Ausübung seiner hoheitlichen Zuständigkeit, seine Staatsangehörigkeit zu verleihen oder zu entziehen, ist ein Mitgliedstaat nicht uneingeschränkt, und diese Ausübung kann grundsätzlich sowohl durch Unionsrecht als auch durch Völkerrecht beschränkt sein(48). Entgegen dem Vorbringen der Republik Malta können alle Verstöße gegen – wie auch immer geartetes – Unionsrecht Gegenstand einer Klage gemäß Art. 258 AEUV wegen einer Vertragsverletzung sein. Das Vertragsverletzungsverfahren ist nicht der Verfolgung von Verstößen vorbehalten, die als schwere Fälle bezeichnet werden könnten(49).

50.      Abgesehen von der vorliegenden Klage ist mir kein früherer Fall bewusst, in dem der Gerichtshof die Vorschriften eines Mitgliedstaats über den Erwerb der Staatsangehörigkeit im Licht des Unionsrechts – und insbesondere in Bezug auf die Unionsbürgerschaft – geprüft hätte. Dies dürfte sich dadurch erklären, dass das Unionsrecht niemandem das Recht, Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zu werden, gewähren kann. Im Micheletti-Urteil hat der Gerichtshof nicht die italienischen Einbürgerungsvorschriften geprüft, sondern vielmehr die Vereinbarkeit der spanischen Vorschriften, die die Wirkungen des italienischen Rechts in Spanien beschränken sollten, mit dem Unionsrecht. Im Zhu und Chen-Urteil(50) untersuchte der Gerichtshof die Frage des Rechtsmissbrauchs bzw. der missbräuchlichen Geltendmachung von Rechten im Zusammenhang mit dem Erwerb der Unionsbürgerschaft(51). Der Gerichtshof hat das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs zurückgewiesen, dass es einer Drittstaatsangehörigen verwehrt sein sollte, sich auf Unionsrecht – insbesondere auf das Unionsbürgern zustehende Recht, sich in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – zu berufen, wenn diese Person es so einrichte, dass ihr Kind die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und damit die Unionsbürgerschaft und die daraus abgeleiteten Rechte erwerbe. In seiner Zurückweisung des Vorbringens dieser Regierung hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass keiner der Beteiligten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hatten, die Rechtmäßigkeit des Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats durch das in Rede stehende Kind oder dessen Wirksamkeit in Frage gestellt hatte(52).

51.      Der Gerichtshof hat bestätigt, dass der allgemeine Grundsatz, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann, von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist(53). Die Rechtmäßigkeit der Verleihung oder des Erwerbs der Unionsbürgerschaft kann deshalb grundsätzlich anhand dieses Grundsatzes geprüft werden. Mit der vorliegenden Klage wird geltend gemacht, die Republik Malta habe gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 20 AEUV verstoßen. Dem Mitgliedstaat wird weder Rechtsmissbrauch noch die missbräuchliche Geltendmachung ihm gewährter Rechte vorgeworfen. Die Frage einer etwaigen Anwendung der genannten Doktrin stellt sich deshalb im vorliegenden Verfahren nicht.

52.      Zur Frage der Entziehung oder des Verlusts der Unionsbürgerschaft gibt es weitaus mehr Rechtsprechung des Gerichtshofs. Zwar ist die Zuständigkeit für die Verleihung der Staatsangehörigkeit den Mitgliedstaaten vorbehalten und hängt die Unionsbürgerschaft von der Ausübung dieser Zuständigkeit ab, doch unterliegt der Rückgriff auf die Befugnis, die Staatsbürgerschaft – und damit die Unionsbürgerschaft – zu entziehen, einigen Einschränkungen, die klar angegeben werden können. Ein wichtiges Merkmal dieser Rechtsprechung ist, dass sie die Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Mitgliedstaaten gegenüber ihren eigenen Staatsbürgern – und nicht gegenüber Staatsbürgern anderer Mitgliedstaaten oder Drittstaaten – betrifft. Aufgrund der Bedenken, dass die Entziehung der Staatsbürgerschaft, die zum Verlust der Unionsbürgerschaft führt, dazu führen kann, dass Menschen staatenlos werden und ihre durch die Verträge und die Charta gewährten Rechte verlieren, garantiert das Unionsrecht den Personen, die sich in dieser Lage befinden, einen Mindeststandard an Rechtsschutz. Infolgedessen verbietet sich eine vollständige Parallelität zwischen der Verleihung und der Entziehung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, was wiederum zur Folge hat, dass das Unionsrecht in diesen beiden Fällen jeweils andere Anforderungen an die Mitgliedstaaten stellt. Deshalb teile ich die Auffassung der Republik Malta, dass man die Entziehung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und deren Erwerb nicht gleichsetzen kann.

53.      Deutlich wird dies im Rottmann-Urteil(54), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass ungeachtet dessen, dass die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten liegen, das Unionsrecht Anwendung findet, wenn jemand die Unionsbürgerschaft und die mit ihr verbundenen Rechte verlieren kann. Soweit die Ausübung der mitgliedstaatlichen Befugnisse in diesem Bereich die vom Unionsrecht verliehenen und geschützten Rechte berührt, kann die Ausübung im Hinblick auf diese Rechte gerichtlich überprüft werden. Ein Mitgliedstaat kann jemandem, der diese durch Täuschung erworben hat, seine Staatsangehörigkeit entziehen, auch wenn die betreffende Person dadurch ihre Unionsbürgerschaft verliert und möglicherweise staatenlos wird(55), sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird(56). Die Anwendung dieses Grundsatzes kann erfordern, der betreffenden Person eine angemessene Frist einzuräumen, damit sie versuchen kann, die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats wiederzuerlangen(57).

54.      Zudem hat der Gerichtshof im Tjebbes-Urteil(58) ausgeführt, dass ein Mitgliedstaat davon ausgehen darf, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung an den betreffenden Mitgliedstaat ist. Ein Mitgliedstaat darf deshalb vorschreiben, dass das Fehlen oder der Wegfall einer echten Bindung zwischen ihm und einer Person für diese den Verlust ihrer Staatsangehörigkeit nach sich zieht, sofern hinsichtlich der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen(59) aus unionsrechtlicher Sicht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten(60).

55.      Daraus folgt, dass zwar ein Mitgliedstaat nach seinem eigenen Staatsangehörigkeitsrecht einen Nachweis für eine echte Bindung im Sinne seines eigenen Staatsangehörigkeitsrechts – oder „das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität“(61) – verlangen kann, dass jedoch das Unionsrecht weder definiert, wann eine solche Bindung besteht, noch gar vorschreibt, dass für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung der betreffenden Staatsangehörigkeit eine solche Bindung bestehen muss(62). Das Unionsrecht duldet eine solche Anforderung im nationalen Recht eines Mitgliedstaats nur im Zusammenhang mit der Rücknahme oder dem Widerruf der Staatsangehörigkeit, und zwar unter der Voraussetzung, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist und der betreffenden Person bestimmte Verfahrensgarantien zu gewähren sind(63).

56.      Was das völkerrechtliche Erfordernis einer „echten Bindung“ angeht, trifft es – worauf die Kommission hinweist – zu, dass der IGH im Nottebohm-Urteil(64) entschieden hat, dass sich ein Staat weigern kann, die von einem anderen Staat vorgenommene Einbürgerung anzuerkennen, wenn es an einer echten Bindung oder Verbindung zwischen der betreffenden Person und der Staatsangehörigkeit, auf die sie sich beruft, fehlt. Das Urteil des IGH beschränkt sich darauf, den Staaten zu gestatten, die Anerkennung einer Einbürgerung zu verweigern, wenn diese vorgenommen wurde, ohne dass eine echte Bindung zwischen der betreffenden Person und dem Staat, dessen Angehöriger sie zu sein behauptet, bestand. Es verpflichtet die Staaten nicht, eine solche Bindung zwischen ihnen und ihren eigenen Staatsangehörigen oder zwischen anderen Staaten und deren Staatsangehörigen zu verlangen(65). Für die Zwecke der vorliegenden Klage ist darauf hinzuweisen, dass der IGH weder den völkerrechtlichen Begriff „echte Bindung“ definiert noch gar verlangt hat, dass Staaten Einbürgerungen unter Bezugnahme darauf vornehmen. Im Gegenteil: Nach der Entscheidung des IGH ist „es … Sache jedes souveränen Staates, die Regeln für den Erwerb seiner Staatsangehörigkeit durch seine eigene Gesetzgebung festzulegen“(66). Aus dem Nottebohm-Urteil folgt, dass, zumindest nach Ansicht des IGH, die Einbürgerungsvorschriften Sache der einzelnen Staaten sind.

57.      In der Frage, ob eine echte Bindung zwischen einer Person und dem Staat, dessen Staatsangehöriger sie ist, bestehen muss, gibt es keinen erheblichen Unterschied zwischen dem Unionsrecht und dem Völkerrecht, da keines der beiden ein solches Erfordernis vorgibt. Die Einbürgerungsvoraussetzungen sind Sache des nationalen Rechts(67), wobei allerdings den völkerrechtlichen Vorschriften gegen Staatenlosigkeit eine gewisse Achtung gezollt wird und die Menschen- und Verfahrensrechte der betroffenen Personen Beachtung finden können. Im Zusammenhang des Unionsrechts hindern die Erklärung Nr. 2 und die Micheletti-Rechtsprechung die Mitgliedstaaten daran, die von einem anderen Mitgliedstaat verliehene Staatsbürgerschaft – so wie es nach dem Nottebohm-Urteil möglich wäre(68) – nicht anzuerkennen. Es gibt auch keine logische Grundlage für das Vorbringen, dass die Mitgliedstaaten, weil sie zur Anerkennung der von anderen Mitgliedstaaten gewährten Staatsangehörigkeit verpflichtet seien, in ihre Staatsangehörigkeitsgesetze eine bestimmte Regel aufnehmen müssten, geschweige denn eine Regel, nach der für den Besitz der betreffenden Staatsangehörigkeit eine „echte Bindung“ erforderlich sei. Bei der unionsrechtlichen Pflicht, die von anderen Mitgliedstaaten gewährte Staatsangehörigkeit anzuerkennen, handelt es sich um eine gegenseitige Anerkennung und Achtung der Souveränität jedes Mitgliedstaats – nicht um ein Mittel zur Untergrabung der ausschließlichen Zuständigkeiten, die die Mitgliedstaaten in diesem Bereich genießen. Andernfalls würde das in den Verträgen sorgfältig austarierte Gleichgewicht zwischen nationaler Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft erschüttert und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf einem hochsensiblen Gebiet, das – wie sie eindeutig entschieden haben – in ihrer ausschließlichen Zuständigkeit verbleiben sollte, in völlig rechtswidriger Weise ausgehöhlt.

58.      Daraus folgt meines Erachtens, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass Art. 20 AEUV für eine rechtmäßige Verleihung der Staatsbürgerschaft voraussetzt, dass eine „echte Bindung“ oder eine „vorherige echte Bindung“ zwischen einem Mitgliedstaat und einer Person besteht, die eine andere ist als diejenige, die das nationale Recht eines Mitgliedstaats verlangen kann. Es mag sein, dass der zweite und dritte Schritt des Vorbringens der Kommission gegen die Republik Malta durchgreifen könnte; nach getreuer Anwendung des drei Schritte umfassenden Ansatzes der Kommission bin ich jedoch überzeugt, dass die Entscheidung des Gerichtshofs nicht über den ersten Schritt hinauszugehen braucht. Mangels Nachweises für jeglichen sonstigen Verstoß gegen das Unionsrecht empfehle ich dem Gerichtshof, die vorliegende Klage abzuweisen.

 Kosten

59.      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

60.      Im vorliegenden Fall haben die Kommission und die Republik Malta beantragt, die jeweils andere Partei des Verfahrens zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

61.      Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Malta die Kosten aufzuerlegen.

 Ergebnis

62.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        die Klage der Kommission abzuweisen;

–        der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Republik Malta aufzuerlegen.






































































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