Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NICHOLAS EMILIOU
vom 11. Juli 2024(1 )
Rechtssache C ‑237/22 P
Mylan IRE Healthcare Ltd
gegen
Europäische Kommission
„ Rechtsmittel – Humanarzneimittel – Verordnung (EG) Nr. 141/2000 – Arzneimittel für seltene Leiden – Erheblicher Nutzen – Marktexklusivitätsrecht des Arzneimittels Tobi Podhaler mit dem Wirkstoff Tobramycin – Spätere Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels Tobramycin VVB und zugehöriger Bezeichnungen – Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht des ersten Arzneimittels – Klinische Überlegenheit des zweiten Arzneimittels – Kriterien “
I. Einführung
1. „Arzneimittel für seltene Leiden“ sind Arzneimittel zur Behandlung relativ ungewöhnlicher Krankheiten (die auch als seltene Krankheiten bezeichnet werden), was es schwierig macht, bei ihrer Entwicklung und Vermarktung Gewinne zu erzielen. Um auf Bedenken zu reagieren, die aus der eingeschränkten Verfügbarkeit von Arzneimitteln für Patienten, die an solchen Krankheiten leiden, herrühren, hat der Unionsgesetzgeber einen Rechtsrahmen zur Förderung der Produktion dieser Arzneimittel geschaffen. Durch diesen Rahmen, der namentlich die Verordnung (EG) Nr. 141/2000(2 ) und die Verordnung (EG) Nr. 847/2000(3 ) umfasst, werden der pharmazeutischen Industrie mehrere Anreize geboten, darunter eine „Belohnung“ in Form eines mehrjährigen Marktexklusivitätsrechts.
2. Um als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen zu werden und in den Genuss eines solchen Exklusivitätsrechts zu kommen, muss das Arzneimittel u. a. einen erheblichen Nutzen im Vergleich zu anderen zugelassenen Behandlungen aufweisen.
3. Dabei gilt das Marktexklusivitätsrecht nicht uneingeschränkt. Eine Ausnahme kann u. a. dann gewährt werden, wenn ein ähnliches Arzneimittel im Vergleich zu dem ausgewiesenen Arzneimittel für seltene Leiden sicherer, wirksamer oder diesem unter anderen Aspekten klinisch überlegen ist.
4. In der vorliegenden Rechtssache geht es hauptsächlich um zwei Arzneimittel: „Tobi Podhaler – Tobramycin“ (im Folgenden: Tobi Podhaler) und „Tobramycin VVB und zugehörige Bezeichnungen“ (im Folgenden: Tobramycin VVB). Beide Arzneimittel sind für die Behandlung von durch Pseudomonas ‑aeruginosa ‑Bakterien verursachten Lungenerkrankungen bei Mukoviszidose‑Patienten im Alter von sechs Jahren und älter indiziert.
5. Konkret wurde Tobi Podhaler als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen; daraufhin wurden für es eine Genehmigung für das Inverkehrbringen und mithin ein Marktexklusivitätsrecht gewährt. Inhaberin dieser Genehmigung wurde sodann die Mylan IRE Healthcare Ltd (im Folgenden: Mylan).
6. Während der Laufzeit dieses Marktexklusivitätsrechts wurde jedoch einem anderen Unternehmen, der UAB VVB (im Folgenden: VVB), eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Tobramycin VVB erteilt; dies ist ein Tobi Podhaler ähnliches Arzneimittel. Zu diesem Zweck beantragte VVB eine Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht hinsichtlich Tobi Podhaler, die von der Europäischen Kommission gewährt wurde.
7. Dieser Beschluss wurde vor dem Gericht angefochten, die Klage wurde aber abgewiesen. Mit dem vorliegenden Rechtsmittel wendet sich Mylan gegen eine ihrer Ansicht nach fehlerhafte Auslegung der Kriterien, nach denen eine Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht für Arzneimittel für seltene Leiden möglich ist.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Verordnung Nr. 141/2000
8. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 141/2000 lautet:
„Ein Arzneimittel wird als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen, wenn der Investor nachweisen kann, dass
a) das Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines Leidens bestimmt ist, das lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht und von dem zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinschaft nicht mehr als fünf von zehntausend Personen betroffen sind, oder
das Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines lebensbedrohenden Leidens, eines zu schwerer Invalidität führenden oder eines schweren und chronischen Leidens in der Gemeinschaft bestimmt ist und dass das Inverkehrbringen des Arzneimittels in der Gemeinschaft ohne Anreize vermutlich nicht genügend Gewinn bringen würde, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen,
und
b) in der Gemeinschaft noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen wurde oder dass das betreffende Arzneimittel – sofern eine solche Methode besteht – für diejenigen, die von diesem Leiden betroffen sind, von erheblichem Nutzen sein wird.“
9. In Art. 8 der Verordnung Nr. 141/2000 heißt es:
„(1) Wurde nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden erteilt oder haben alle Mitgliedstaaten eine Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Arzneimittels nach den in den Artikeln 7 und 7a der Richtlinie 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der Richtlinie 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenen Verfahren für die gegenseitige Anerkennung – unbeschadet der Vorschriften über geistiges Eigentum oder anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts – erteilt, so werden die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten während der nächsten zehn Jahre weder einen anderen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines ähnlichen Arzneimittels für dasselbe therapeutische Anwendungsgebiet annehmen noch eine entsprechende Genehmigung erteilen noch einem Antrag auf Erweiterung einer bestehenden Genehmigung stattgeben.
…
(3) Abweichend von Absatz 1 und unbeschadet der Vorschriften über geistiges Eigentum oder anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts kann für ein ähnliches Arzneimittel mit demselben therapeutischen Anwendungsgebiet eine Genehmigung für das Inverkehrbringen gewährt werden, wenn
a) der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen des zuerst als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittels dem zweiten Antragsteller seine Zustimmung gegeben hat oder
b) der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen des zuerst als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittels das Arzneimittel nicht in ausreichender Menge liefern kann oder
c) der zweite Antragsteller in seinem Antrag nachweisen kann, dass das zweite Arzneimittel, obwohl es dem bereits zugelassenen und als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittel ähnlich ist, sicherer, wirksamer oder unter anderen Aspekten klinisch überlegen ist.“
B. Verordnung Nr. 847/2000
10. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 bestimmt:
„Für die Durchführung des Artikels 3 der Verordnung … Nr. 141/2000 … gilt folgende Begriffsbestimmung:
– ‚Erheblicher Nutzen‘ ist ein klinisch relevanter Vorteil oder ein bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten.“
11. Art. 3 Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 847/2000 bestimmt:
„‚klinisch überlegen‘ bedeutet, dass ein Arzneimittel im Vergleich zu einem zugelassenen Arzneimittel für seltene Leiden nachweislich zusätzlich einen oder mehrere der im Folgenden genannten erheblichen therapeutischen Vorteile aufweist:
1. größere Wirksamkeit als ein zugelassenes Arzneimittel für seltene Leiden (die Wirkung ist an einem klinisch bedeutungsvollen Endpunkt in geeigneten und ordnungsgemäß kontrollierten klinischen Prüfungen zu bewerten). Generell handelt es sich dabei um dieselbe Art von Nachweis, der bei einem vergleichenden Wirksamkeitsanspruch für zwei verschiedene Arzneimittel gefordert wird. Generell sind direkte vergleichende klinische Prüfungen notwendig, jedoch können Vergleiche auf der Grundlage von anderen Endpunkten, so auch von Surrogatendpunkten, verwendet werden; die Methode sollte in jedem Fall begründet werden;
oder
2. größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation(en). In einigen Fällen werden direkte vergleichende klinische Prüfungen notwendig sein;
oder
3. in außergewöhnlichen Fällen, in denen weder größere Sicherheit noch größere Wirksamkeit nachgewiesen wurde. Hier ist der Nachweis zu erbringen, dass das Arzneimittel einen bedeutenden Beitrag zur Diagnose oder Behandlung von Patienten leistet.“
III. Sachverhalt und Beschluss der Kommission
12. Die tatsächlichen Umstände werden in den Rn. 1 bis 38 des angefochtenen Urteils dargelegt(4 ). Im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge möchte ich Folgendes festhalten.
13. 1999 wurde Novartis Pharmaceuticals UK eine Genehmigung für das Inverkehrbringen für TOBI erteilt, eines Arzneimittels, das für die Behandlung von durch Pseudomonas ‑aeruginosa ‑Bakterien verursachten Lungenerkrankungen bei Mukoviszidose‑Patienten im Alter von sechs Jahren oder älter indiziert ist(5 ). Als für TOBI die Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, war die Verordnung Nr. 141/2000 noch nicht in Kraft.
14. Im Jahr 2003, als diese Verordnung in Kraft war, wurde das Arzneimittel „Tobramycin (Pulver zur Inhalation)“ (das dem Arzneimittel Tobi Podhaler entspricht) als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen(6 ), das ebenfalls zur Behandlung von Lungenerkrankungen bei Mukoviszidose‑Patienten im Alter von sechs Jahren oder älter bestimmt war. Da es sich bei diesem Arzneimittel um ein Arzneimittel handelt, das TOBI ähnlich ist, musste sein Investor, um Tobi Podhaler als Arzneimittel für seltene Leiden ausweisen zu lassen, nachweisen, dass Tobi Podhaler im Vergleich zu TOBI einen erheblichen Nutzen aufweist. Diese Bedingung war erfüllt, da Tobi Podhaler viel einfacher zu verabreichen war.
15. Die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden wurde später auf die Novartis Europharm Ltd übertragen.
16. Als die Kommission im Jahr 2011 das Inverkehrbringen von Tobi Podhaler genehmigte(7 ), begann mit diesem Beschluss der zehnjährige Zeitraum für ein Marktexklusivitätsrecht zu laufen, der sodann um zwei weitere Jahre verlängert wurde(8 ). Während des Zeitraums des Marktexklusivitätsrechts besteht grundsätzlich ein Hindernis für den Markteintritt ähnlicher Arzneimittel, außer in bestimmten Ausnahmefällen, etwa bei klinischer Überlegenheit eines ähnlichen Arzneimittels.
17. Im Jahr 2016 erteilte die Kommission unter Berufung auf diesen Ausnahmegrund VVB eine Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels Tobramycin VVB. Beim Erlass dieses Beschlusses (im Folgenden: streitiger Beschluss)(9 ) stützte sich die Kommission in Anwendung der entsprechenden Regelung auf das wissenschaftliche Gutachten des Ausschusses für Humanarzneimittel, das zu dem Ergebnis kam, dass Tobramycin VVB gegenüber Tobi Podhaler klinisch überlegen sei, da es für einen erheblichen Teil der Patientenpopulation sicherer sei, weil es, vereinfacht gesagt, zu einem geringeren Auftreten von Husten und der Notwendigkeit eines Behandlungsabbruchs führte(10 ).
IV. Angefochtenes Urteil und Verfahren vor dem Gerichtshof
18. Im Jahr 2016 reichte Novartis Europharm eine Klage ein, mit der sie u. a. die Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses, u. a. wegen angeblicher Verletzung ihrer Marktexklusivitätsrechte, beantragte.
19. Die Kommission, unterstützt von VVB, beantragte beim Gericht die Abweisung dieser Klage.
20. Nachdem die Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels Tobi Podhaler auf Mylan übertragen worden war, wurde diesem Unternehmen gestattet, im Verfahren vor dem Gericht an die Stelle von Novartis Europharm zu treten.
21. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Klage abgewiesen(11 ).
22. Mit ihrem am 4. April 2022 eingelegten Rechtsmittel beantragt Mylan (im Folgenden: Rechtsmittelführerin) beim Gerichtshof, das Rechtsmittel für zulässig und begründet zu erklären. Zweitens begehrt sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils. Drittens beantragt sie, den streitigen Beschluss für nichtig zu erklären, wenn das Verfahrensstadium dies zulässt, oder andernfalls die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen. Viertens beantragt Mylan, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, die Mylan sowohl im Verfahren vor dem Gericht als auch im Verfahren vor dem Gerichtshof entstanden sind. Ferner beantragt die Rechtsmittelführerin, VVB deren eigene Kosten in den Verfahren beider Rechtszüge aufzuerlegen.
23. Die Kommission und VVB haben am 15. Juni 2022 Rechtsmittelbeantwortungen eingereicht, mit denen sie beantragen, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.
24. Am 22. August 2022 hat Mylan eine Erwiderung eingereicht, nachdem ihr dies vom Gerichtshof gestattet worden war. Am 3. Oktober 2022 haben Kommission und VVB ihre jeweiligen Gegenerwiderungen eingereicht.
25. Unterdessen hat der Gerichtshof dem Antrag der Europäischen Arzneimittel‑Agentur (EMA) auf Zulassung als Streithelferin zur Unterstützung der Kommission stattgegeben(12 ). In ihrem Streithilfeschriftsatz beantragt die EMA, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Rechtsmittelführerin ihre Kosten aufzuerlegen. Mylan und die Kommission haben am 14. bzw. 6. Dezember 2022 zu diesem Streithilfeschriftsatz jeweils Stellung genommen.
26. Mylan, VVB, die Kommission und die EMA haben in der Verhandlung am 20. September 2023 mündliche Ausführungen gemacht.
V. Würdigung
27. Das vorliegende Rechtsmittel stützt sich auf zwei Rechtsmittelgründe. Erstens rügt Mylan, dass das Gericht den Begriff der klinischen Überlegenheit im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 fehlerhaft ausgelegt habe. Zweitens rügt Mylan einen Rechtsfehler infolge unzureichender Begründung.
28. Auf Ersuchen des Gerichtshofs wird in den vorliegenden Schlussanträgen nur auf den ersten Rechtsmittelgrund eingegangen. Zu diesem Zweck und in Anbetracht des technischen Charakters der vorliegenden Rechtssache werde ich zunächst die relevanten Aspekte des geltenden Rechtsrahmens erläutern und sie zu den wichtigsten Sachverhaltselementen des Falls (A) in Zusammenhang stellen. Auf dieser Grundlage werde ich dann die Gründe darlegen, die mich zu dem Schluss führen, dass der erste Rechtsmittelgrund zurückgewiesen werden sollte (B).
A. Die relevanten rechtlichen Aspekte und die wichtigsten Sachverhaltselemente
29. Aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 141/2000 ergibt sich, dass als Arzneimittel für seltene Leiden ein Arzneimittel gilt, das entweder für die Behandlung eines Leidens bestimmt ist, das lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht und von dem in der Europäischen Union nicht mehr als fünf von 10 000 Personen betroffen sind (Prävalenzkriterium), oder dessen Inverkehrbringen (unabhängig von der Prävalenz des betreffenden Leidens) ohne Anreize vermutlich nicht genügend Gewinn bringen würde, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen (Investitionsrentabilitätskriterium).
30. In dieser Bestimmung werden zwei Fälle aufgeführt, die zur Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden führen können.
31. Der erste Fall liegt vor, wenn der Investor des Arzneimittels nachweist, dass es noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens gibt. Wenn jedoch eine solche Methode existiert, kann die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden auch dann noch gewährt werden, wenn der Investor nachweist, dass dieses Arzneimittel dem von dem Leiden Betroffenen einen erheblichen Nutzen bringen kann (zweiter Fall).
32. Der letztgenannte Fall ist für den vorliegenden Rechtsstreit relevant.
33. Tobi Podhaler ist ein Arzneimittel, das TOBI ähnlich ist. Um zu erreichen, dass es als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen wurde, musste der Investor daher das Vorliegen eines erheblichen Nutzens im Vergleich zu bereits zugelassenen Behandlungen, wie etwa TOBI, nachweisen.
34. Der Begriff des erheblichen Nutzens wird in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 als „ein klinisch relevanter Vorteil oder ein bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten“ bestimmt.
35. Im vorliegenden Fall bestand der erhebliche Nutzen von Tobi Podhaler darin, dass es einen „bedeutende[n] Beitrag zur Behandlung von Patienten“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 leistete, weil es „die Verabreichungszeit des Arzneimittels im Vergleich zu TOBI erheblich reduzierte und mit einem tragbaren Gerät zur Verabreichung verwendet werden konnte, was zu einem gesteigerten Bedienkomfort für die Patienten und möglicherweise zu einer verbesserten Therapietreue führt“(13 ). Wie sich nämlich aus den Verfahrensakten ergibt und wie insbesondere Mylan im vorliegenden Verfahren erläutert hat, handelt es sich bei TOBI um ein flüssiges Arzneimittel, das im Rahmen einer Inhalationstherapie mit einem Vernebler, einem Gerät mit einem Gewicht zwischen 1,5 und 2 kg, verwendet wird, während Tobi Podhaler aus Trockenpulver besteht, das mit einem tragbaren Inhalationsgerät mit einem Gewicht von 20 g verabreicht wird. Außerdem dauert die Verabreichung von TOBI im Vergleich zu Tobi Podhaler länger.
36. Hinzugefügt werden sollte, dass die Daten, die gesammelt wurden, um den erheblichen Nutzen von Tobi Podhaler zu belegen (um für Tobi Podhaler die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden zu erwirken und in der Folge die Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel für seltene Leiden zu erhalten)(14 ), ferner aufzeigten, dass bei Tobi Podhaler ein höheres Risiko für das Auftreten von Husten bestand als bei TOBI und die Rate von Behandlungsabbrüchen in allen relevanten Altersgruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) höher ausfiel. Diese Unverträglichkeit war zu dem fraglichen Zeitpunkt bekannt und in derjenigen Zusammenfassung der Merkmale von Tobi Podhaler ausgewiesen, in die besondere Warnhinweise aufgenommen wurden und in der die Verwendung von TOBI im Fall von Unverträglichkeit empfohlen wurde(15 ). Indessen standen diese Nebenwirkungen der Feststellung nicht entgegen, dass „Tobi Podhaler eine mit TOBI vergleichbare Wirksamkeit und Sicherheit bot“(16 ) und dass im Wesentlichen, wie das Gericht feststellte, „die Profile für die Patientenpopulation als Ganze [mithin] als vergleichbar oder ähnlich befunden wurden“(17 ).
37. Was das Marktexklusivitätsrecht betrifft, wie es aufgrund der Ausweisung (und der Genehmigung für das Inverkehrbringen) von Tobi Podhaler als Arzneimittel für seltene Leiden gewährt wurde, so gilt dieses Exklusivitätsrecht, wie bereits festgestellt wurde, nicht uneingeschränkt. Dies ergibt sich aus Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 141/2000, der vorsieht, dass eine Genehmigung für das Inverkehrbringen für ein ähnliches Arzneimittel mit demselben therapeutischen Anwendungsgebiet u. a. dann gewährt werden kann, wenn „der zweite Antragsteller“ (wie VVB) nachweisen kann, dass sein Arzneimittel (wie Tobramycin VVB), „obwohl es dem bereits zugelassenen und als Arzneimittel für seltene Leiden [(wie Tobi Podhaler)] ausgewiesenen Arzneimittel ähnlich ist, sicherer, wirksamer oder unter anderen Aspekten klinisch überlegen ist “(18 ).
38. Mit dieser Begründung der klinischen Überlegenheit wurde VVB eine Ausnahme vom für Tobi Podhaler eingeräumten Marktexklusivitätsrecht gewährt und eine Genehmigung für das Inverkehrbringen für Tobramycin VVB erteilt. Insoweit zog die Kommission insbesondere den Schluss, dass Tobramycin VVB insofern gegenüber Tobi Podhaler klinisch überlegen sei , als es „größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation“ geboten habe. Es handelt sich hierbei um ein spezifisches Kriterium der klinischen Überlegenheit, das ausdrücklich in Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 festgelegt wird (das in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nrn. 1 und 3 dieser Verordnung die in Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 enthaltenen Bestimmungen erläutert, worauf ich in diesen Schlussanträgen später noch ausführlicher eingehen werde).
39. Vor diesem Hintergrund mag die vorliegende Rechtssache etwas komplex erscheinen, denn Tobramycin VVB ist, wie aus dem angefochtenen Urteil hervorgeht(19 ) und wie im vorliegenden Verfahren wiederholt festgestellt wurde, tatsächlich ein Generikum von TOBI. Dieser Umstand ermöglichte es VVB, sich auf die zuvor in Bezug auf TOBI erhobenen Daten zu stützen, einschließlich der Daten, die zuvor für den Vergleich zwischen TOBI und Tobi Podhaler verwendet wurden(20 ). Diese Daten ließen den Schluss zu, dass Tobramycin VVB ebenso wie TOBI bei einem Teil der Zielpopulation sicherer als Tobi Podhaler und somit Tobi Podhaler klinisch überlegen sei, weil es keine Nebenwirkungen in Form von Husten und Behandlungsabbruch mit sich bringe.
40. In Anbetracht der obigen Ausführungen mag es verwunderlich erscheinen, dass die Schlussfolgerung der klinischen Überlegenheit von Tobramycin VVB gegenüber Tobi Podhaler aufgrund seiner größeren Sicherheit in Bezug auf einen erheblichen Teil der Zielpopulation erst gezogen wurde, nachdem man zu dem Schluss gekommen war, dass das Sicherheitsprofil (wie auch das Wirksamkeitsprofil) von Tobi Podhaler dem Sicherheitsprofil von TOBI gleichwertig sei, wobei dies auch für Tobramycin VVB gelten muss, weil es ein Generikum von TOBI ist.
41. Das Gericht hat sich mit diesem Aspekt der Rechtssache befasst und festgestellt, dass „die Tatsache, dass Tobi Podhaler für die Patientenpopulation als Ganze einen erheblichen Nutzen aufweist, der mit einem bedeutenden Beitrag zur Behandlung von Patienten … begründet wird, da dieser Nutzen die Risiken von Nebenwirkungen überwiegt, nicht damit unvereinbar ist, dass Tobramycin VVB gleichzeitig und auf Grundlage derselben Daten größere Sicherheit für Patienten mit einer potenziellen Unverträglichkeit gegenüber Tobi Podhaler aufweist, die einen erheblichen Teil der Zielpopulation ausmachen “(21 ). Auf dieser Grundlage wies das Gericht das Vorbringen von Mylan zurück, wonach die Schlussfolgerung der Kommission hinsichtlich der klinischen Überlegenheit von Tobramycin VVB gegenüber Tobi Podhaler nicht stimmig sei.
42. Im vorliegenden Verfahren macht Mylan geltend, dass ein Arzneimittel keinen „erheblichen Nutzen “ im Vergleich zu einem anderen Arzneimittel bringen kann, wenn es zugleich klinisch unterlegen ist. Der erste Rechtsmittelgrund besteht im Wesentlichen darin, dass die Auslegung der in Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 genannten Voraussetzung der klinischen Überlegenheit durch das Gericht insofern beanstandet wird, als das Gericht hinsichtlich der drei (alternativen) Kriterien, die diesem Begriff zugrunde lägen (kurz gesagt: größere Wirksamkeit, größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation oder bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten) nicht einen Ansatz verfolgt habe, den die Rechtsmittelfüherin als „umfassend“ erachtet(22 ).
43. Ich werde nun erläutern, warum dieses Vorbringen und mithin der erste Rechtsmittelgrund zurückgewiesen werden muss.
B. Weshalb der erste Rechtsmittelgrund zurückgewiesen werden sollte
44. Die Rechtsmittelführerin wendet sich im Wesentlichen gegen die Feststellung, die das Gericht in Rn. 132 des angefochtenen Urteils getroffen hat.
45. In dieser Randnummer hat das Gericht den Begriff der klinischen Überlegenheit erläutert und dabei insbesondere auf das Kriterium der „größere[n] Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation(en)“ abgestellt. Ich erinnere daran, dass dies ein spezifisches Kriterium für die klinische Überlegenheit ist, das in Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 (der die in Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 enthaltene Bestimmung konkretisiert) festgelegt ist(23 ), auf das sich die Kommission im vorliegenden Fall stützte, um VVB abweichend vom Marktexklusivitätsrecht von Tobi Podhaler die Genehmigung für das Inverkehrbringen für Tobramycin VVB zu gewähren.
46. In diesem Zusammenhang und in dieser Randnummer hat das Gericht festgestellt, dass „Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 ausdrücklich das Kriterium der größeren Sicherheit ‚bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation(en)‘ festlegt“, und kam zu dem Schluss, dass „dieses Kriterium der klinischen Überlegenheit einzeln beurteilt werden muss, ohne dass ein Nutzen/Risiko-Gesamtverhältnis für die Population als Ganzes, wie im Fall des erheblichen Nutzens, ermittelt wird“.
47. Die Rechtsmittelführerin ist der Ansicht, dass diese Feststellung im Widerspruch zu einer Feststellung in Rn. 124 des angefochtenen Urteils stehe.
48. In dieser Randnummer hat das Gericht (hauptsächlich) den Begriff des erheblichen Nutzens erläutert und u. a. ausgeführt, dass die Kriterien, auf denen die Beurteilung des erheblichen Nutzens beruhe, „in ihrer Gesamtheit auf der Grundlage einer Gesamtbewertung des Nutzen/Risiko-Verhältnisses beurteilt werden müssen“.
49. Die Rechtsmittelführerin ist der Ansicht, dass die Feststellung in Rn. 132 (der sie widerspricht) nicht mit der in Rn. 124 (mit der sie – wie ich es verstehe – einverstanden ist) übereinstimme, weil ihrer Ansicht nach beide Begriffe (erheblicher Nutzen und klinische Überlegenheit ) auf denselben Kriterien (Wirksamkeit, Sicherheit und bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten) beruhen, daher austauschbar sind und dementsprechend auf dieselbe Weise beurteilt werden müssten.
50. Stattdessen – so die Rechtsmittelführerin – habe das Gericht zu Unrecht einen „individuellen“ Ansatz in Bezug auf den Begriff der klinischen Überlegenheit gewählt, was bedeute, dass es die Erfüllung nur eines der drei Kriterien – in diesem Fall eine größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation – als ausreichend für die Erfüllung der Bedingung der klinischen Überlegenheit ansehe (ohne alle Kriterien in einer Gesamtbetrachtung abzuwägen). Indessen habe das Gericht (nach Ansicht der Rechtsmittelführerin zu Recht) eine „umfassende“ Beurteilung derselben Kriterien im Zusammenhang mit dem Begriff des erheblichen Nutzens verlangt, was bedeute, dass die Gesamtbetrachtung der drei Kriterien bei der Beurteilung positiv ausfallen müsse, damit die Voraussetzung des erheblichen Nutzens erfüllt sei.
51. Dieser differenzierte Ansatz bedeutet nach Ansicht des Rechtsmittelführers, dass die Bedingung der klinischen Überlegenheit weniger strengen Kriterien unterliegt als die Voraussetzung des erheblichen Nutzens , was jedoch nicht gerechtfertigt sei und zu einer Situation führe, die mit der teleologischen Auslegung der Ausnahmeregelung in Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 141/2000 und den Interessen der Patienten unvereinbar sei.
52. Ich werde mich zunächst mit diesem Vorbringen auseinandersetzen, indem ich kurz auf die Prämisse der Rechtsmittelführerin, dass die beiden in Rede stehenden Begriffe austauschbar seien, und auf die Art der relevanten Kriterien eingehe (1). Im Anschluss daran werde ich erläutern, dass die Ansicht der Rechtsmittelführerin auf einer fehlerhaften Auslegung der oben genannten Randnummern des angefochtenen Urteils beruht (2). Abschließend werde ich klarstellen, dass das Ergebnis, zu dem das Gericht in dem angefochtenen Urteil gelangt ist, entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin mit dem mit der Verordnung Nr. 141/2000 verfolgten Ziel in Einklang steht (3).
1. Die in Rede stehenden Begriffe und die Art der relevanten Kriterien
53. Erstens ging es bei einem Großteil der Erörterung im vorliegenden Verfahren um die Frage, ob der Begriff des erheblichen Nutzens und der Begriff der klinischen Überlegenheit austauschbar sind (wie Mylan geltend gemacht hat) oder ob sie verschiedenartig sind (wie VVB, die Kommission und die EMA geltend gemacht haben).
54. Ich bin der Ansicht, dass sich diese Frage im Rahmen der vorliegenden Rechtssache recht kurz beantworten lässt. Auch wenn für beide Begriffe dieselben drei Kriterien (größere Sicherheit, größere Wirksamkeit und bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten) relevant sind, wie das Gericht im Wesentlichen festgestellt hat und wie hier nicht bestritten wird, so bedeutet dies entgegen dem Vorbringen von Mylan nicht, dass diese Begriffe austauschbar wären.
55. In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass es Unterschiede im Wortlaut dabei gibt, wie diese drei Kriterien behandelt werden. Insbesondere die Begriffsbestimmung des erheblichen Nutzens in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 ist offener, da sie sich nicht auf die spezifischen Kriterien der Sicherheit und Wirksamkeit bezieht, sondern auf den allgemeineren Begriff des „klinisch relevanten Vorteils“(24 ). Darüber hinaus macht die Erläuterung im vorangegangenen Abschnitt deutlich, dass beide Begriffe in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen und dementsprechend einen unterschiedlichen Zweck verfolgen(25 ).
56. Es trifft zu, dass sich der achte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 141/2000 recht überraschenderweise auf einen erheblichen Nutzen bezieht, obwohl sich die Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht (auf das sich dieser Erwägungsgrund bezieht) auf den Begriff der klinischen Überlegenheit stützt(26 ). Ich bin mir nicht sicher, wie diese Unstimmigkeit zu erklären ist, und auch den Vorarbeiten lässt sich für diese Frage nichts Erhellendes entnehmen(27 ). Nach alledem stimme ich aber nicht mit der Rechtsmittelführerin überein, wonach dies die Austauschbarkeit der in Rede stehenden Begriffe belege. Ob diese Begriffe austauschbar sind, ist anhand des relevanten Wortlauts, des Zwecks und des Zusammenhangs, in dem sie vorkommen können, zu beurteilen. Erwägungsgründe stellen in diesem Sinne zwar ein nützliches Instrument zur Auslegung dar, können aber den Hauptnormwortlaut nicht verdrängen. In diesem Zusammenhang habe ich bereits kurz erläutert, wie dieser Normwortlaut die beiden Begriffe voneinander unterscheidet.
57. Zweitens drehte sich ein erheblicher Teil der Erörterung in der vorliegenden Rechtssache auch darum, ob die drei relevanten Kriterien (größere Sicherheit, Wirksamkeit und bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten) im jeweiligen Kontext der in Rede stehenden Begriffe alternativen oder kumulativen Charakter haben.
58. Was den Begriff des erheblichen Nutzens angeht, so deutet nichts in dem angefochtenen Urteil darauf hin, dass das Gericht die kumulative Anwendung der betreffenden Kriterien verlangt hätte. Das Gericht hat eindeutig festgestellt, dass diese Kriterien nicht kumulativ seien(28 ). Allerdings geht es im vorliegenden Rechtsmittelverfahren nicht um die Auslegung dieses Begriffs als solchen.
59. Von Belang ist, dass das Gericht in Bezug auf die Kriterien im Zusammenhang mit dem Begriff der klinischen Überlegenheit (um dessen Auslegung es im vorliegenden Rechtsmittelverfahren geht ) zur selben Schlussfolgerung gekommen ist(29 ). Diese Schlussfolgerung steht meines Erachtens gänzlich im Einklang mit dem klaren Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 847/2000 (oben in Nr. 11 zitiert) und namentlich damit, dass das Bindewort „oder“ in der dort vorgenommenen Begriffsbestimmung verwendet wird(30 ). Dass eines der drei dort genannten Kriterien der klinischen Überlegenheit (größere Wirksamkeit oder größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation oder bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten) erfüllt ist, ist mithin ausreichend, um zu dem Schluss zu kommen, dass ein Arzneimittel einem bestimmten Arzneimittel für seltene Leiden klinisch überlegen ist.
60. Die Rechtsmittelführerin trägt jedoch vor, dass sie nicht geltend mache, dass die drei Kriterien für die klinische Überlegenheit kumulativ seien, sondern dass sie der Ansicht sei, dass sie einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden sollten, deren Beurteilung positiv ausfallen müsse, damit eine Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht eines Arzneimittels für seltene Leiden gewährt werden könne. Aus ihrem Vorbringen, wie ich es verstehe, ergibt sich, dass eine „umfassende Beurteilung“ in diesem Fall den Nachweis einer erhöhten Wirksamkeit von Tobramycin VVB (zusätzlich zu seiner erhöhten Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Patientenpopulation) erfordert hätte.
61. Dieses Vorbringen läuft jedoch darauf hinaus, dass die beiden fraglichen Kriterien für klinische Überlegenheit – bessere Sicherheit und bessere Wirksamkeit – tatsächlich kumulativ angewandt werden müssten (wenn auch die Rechtsmittelführerin das Gegenteil geltend macht). Diese Ansicht wird – wie ich bereits erläutert habe – durch den Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 847/2000 widerlegt.
62. Schließlich sehe ich, anders als die Rechtsmittelführerin meint, nicht, wie die Verwendung der Formulierung „im Vergleich zu … zusätzlich … Vorteile“ in der Begriffsbestimmung der klinischen Überlegenheit in Art. 3 Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 847/2000 meine oben dargelegte Schlussfolgerung beeinträchtigt. Ich stimme mit VVB darin überein, dass dieses Vorbringen nicht hinreichend substantiiert ist. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich jedenfalls, dass der „zusätzlich[e] … [Vorteil] [im Vergleich zu]“ auf eine der drei im Anschluss dargestellten Weisen nachgewiesen werden muss, nämlich durch eine größere Wirksamkeit, eine größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation oder einen bedeutenden Beitrag zur Behandlung von Patienten. Die Formulierung „im Vergleich zu … zusätzlich … Vorteile“ berührt daher nicht den alternativen Charakter dieser Kriterien.
63. Überdies scheint mir die von der Rechtsmittelführerin vorgenommene Unterscheidung zwischen einem „umfassenden“ und einem „individuellen“ Ansatz, den das Gericht in den Rn. 124 bzw. 132 des angefochtenen Urteils festgelegt haben soll, aus einer fehlerhaften Auslegung dessen zu resultieren, dass das Gericht einerseits auf die „Gesamtbewertung des Nutzen/Risiko‑Verhältnisses“ (Rn. 124 im Zusammenhang mit dem erheblichen Nutzen ) und andererseits auf die fehlende Notwendigkeit, ein „Nutzen/Risiko-Gesamtverhältnis für die Population als Ganzes“ zu ermitteln (Rn. 132 im Zusammenhang mit der klinischen Überlegenheit ), Bezug nimmt.
64. Ich werde nun auf diese Frage eingehen.
2. Fehlerhafte Auslegung der relevanten Randnummern des angefochtenen Urteils
65. Ich muss einräumen, dass die Auswirkungen der in Nr. 63 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Unterscheidung möglicherweise nicht unmittelbar deutlich werden. Sie werden jedoch deutlicher, wenn die betreffenden Abschnitte in ihren eigentlichen Kontext gestellt werden.
66. Wie VVB, die Kommission und die EMA insbesondere in der mündlichen Verhandlung vorgetragen haben, wurde auf die „Gesamtbewertung des Nutzen/Risiko‑Verhältnisses“, was die Bedingung des erheblichen Nutzens (Rn. 124 des angefochtenen Urteils) betrifft, im Zusammenhang mit der in den Rn. 122 und 123 des angefochtenen Urteils enthaltene Erläuterung Bezug genommen.
67. Aus diesen Randnummern geht deutlich hervor, dass die EMA und der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden in dem Verfahren, das zur Ausweisung von Tobi Podhaler als Arzneimittel für seltene Leiden führte, forderten, dass Sicherheit und Wirksamkeit dieses Arzneimittels (im Vergleich zu TOBI) mindestens gleichwertig seien, da der erhebliche Nutzen in diesem Fall auf der Grundlage eines bedeutenden Beitrags zur Behandlung von Patienten für die gesamte Zielpopulation geltend gemacht wurde(31 ). In Anbetracht dieses Erfordernisses (das als solches im vorliegenden Fall nicht in Rede steht) und angesichts dessen, dass der erhebliche Nutzen, wie bereits erwähnt, für die gesamte Zielpopulation geltend gemacht wurde, hat dies meines Erachtens eine „Gesamtbewertung des Nutzen/Risiko‑Verhältnisses“ (für die gesamte Zielpopulation) erforderlich gemacht.
68. Im Gegensatz dazu lag der von Tobramycin VVB geltend gemachte Grund für die klinische Überlegenheit im vorliegenden Fall in der größeren Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation. Dies ist, wie ich bereits erläutert habe und wie VVB hervorhebt, ein ausdrücklicher Grund für die Feststellung der klinischen Überlegenheit nach Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000.
69. Ich möchte daran erinnern, dass die Zielpopulation für alle drei hier in Rede stehenden Arzneimittel Patienten im Alter von sechs Jahren und älter sind, die an Mukoviszidose leiden, die durch Pseudomonas ‑aeruginosa ‑Bakterien verursacht wird. Bei der Bewertung von Tobi Podhaler im Vergleich zu TOBI wurden jedoch in allen relevanten Gruppen, nämlich bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Nebenwirkungen in Form von Husten festgestellt. Der Patientenkreis der Zielpopulation im Sinne dieser Bestimmung – Patienten aller relevanten Altersgruppen, die an den in Rede stehenden Nebenwirkungen leiden – wurde somit als derjenige Patientenkreis identifiziert, für den Tobramycin als klinisch überlegen gegenüber Tobi Podhaler angesehen wurde.
70. Dieser besondere Aspekt des Falls erklärt meines Erachtens, warum das Gericht in Rn. 132 des angefochtenen Urteils zu dem Schluss gekommen ist, dass das in Rede stehende Kriterium der klinischen Überlegenheit („größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation[en]“)(32 ) „einzeln beurteilt werden muss, ohne dass ein Nutzen/Risiko‑Gesamtverhältnis für die Population als Ganzes , wie im Fall des erheblichen Nutzens, ermittelt wird“(33 ).
71. So musste die klinische Überlegenheit von Tobramycin VVB gegenüber Tobi Podhaler lediglich unter Bezugnahme auf die größere Sicherheit für den fraglichen Patientenkreis der Zielpopulation festgestellt werden (wie dies nach den geltenden Vorschriften, nämlich Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000, zulässig war), während der erhebliche Nutzen in dem Sinn, dass sich Tobi Podhaler im Vergleich zu TOBI (und damit auch verglichen mit Tobramycin VVB) leichter verabreichen ließ, sowie die Gleichwertigkeit im Hinblick auf Sicherheit und Wirksamkeit bezüglich der gesamten Zielpopulation festzustellen waren.
72. Insoweit bin ich nicht der Ansicht, dass das Gericht die in Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 festgelegte Voraussetzung der klinischen Überlegenheit, die in Art. 3 Abs. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 847/2000 näher geregelt wird, rechtsfehlerhaft ausgelegt hat. Daraus folgt, dass man in der Tat zu dem Schluss gelangen kann, dass Tobramycin VVB für einen bestimmten Patientenkreis der Zielpopulation, wie oben beschrieben, sicherer ist als Tobi Podhaler, weil es die in Rede stehenden Nebenwirkungen nicht auslöst, ohne der Schlussfolgerung zu widersprechen, dass das Sicherheitsprofil von Tobi Podhaler dem Sicherheitsprofil von TOBI/Tobramycin VVB für die gesamte Zielpopulation gleichwertig ist. Wie vom Gericht festgestellt und von VVB ausgeführt, bedeutet die Tatsache, dass die Sicherheitsprofile der beiden Arzneimittel für die Population als Ganzes vergleichbar sind, nicht, dass sie für alle Patientenkreise dieser Population gleichwertig sind(34 ).
73. Diese Schlussfolgerung steht im Übrigen meines Erachtens – anders als von Mylan vorgetragen – voll und ganz im Einklang mit dem mit der Verordnung Nr. 141/2000 verfolgten Ziel. Auf diesen letzten Aspekt des vorliegenden Rechtsstreits werde ich im Folgenden eingehen.
3. Erwägungen zu dem mit der Verordnung Nr. 141/2000 verfolgten Ziel
74. Die Rechtsmittelführerin führt zwei Argumente an, um geltend zu machen, dass das angefochtene Urteil die Verwirklichung des mit der Verordnung Nr. 141/2000 verfolgten Ziels behindert, nämlich sicherzustellen, dass Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden und deren medizinische Bedürfnisse nicht gedeckt sind, Zugang zu einer angemessenen Behandlung erhalten(35 ).
75. Die Rechtsmittelführerin macht erstens geltend, das Fehlen eines „umfassenden Ansatzes“ mit Blick auf den Begriff der klinischen Überlegenheit durch das Gericht laufe den Interessen der Patienten zuwider, da es zu einem Inverkehrbringen von Arzneimitteln führen könne, die insgesamt ein negatives Gesamtverhältnis aufwiesen. Dies wäre dann der Fall, wenn sich Arzneimittel A (das das Marktexklusivitätsrecht des Arzneimittels B für seltene Leiden in Frage stellt) für 10 % der Zielpopulation als sicherer, für die übrigen 90 % jedoch als weniger sicher erwiese als Arzneimittel B.
76. Ich weise darauf hin, dass für eine Auseinandersetzung mit diesem Argument grundsätzlich klargestellt werden muss, ob unabhängig von dem geltend gemachten Kriterium der klinischen Überlegenheit die (beiden) anderen Kriterien als zumindest gleichwertig zu bewerten sind. Die EMA hat in der mündlichen Verhandlung ausführlich dargelegt, dass dies hinsichtlich der Kriterien der Sicherheit und Wirksamkeit bejaht werden könne und sich dies natürlicherweise aus der in einem solchen Zusammenhang durchgeführten Beurteilung ergebe.
77. Allerdings bin ich nicht der Ansicht, dass der Sachverhalt, der dem vorliegenden Rechtsmittel zugrunde liegt, eine eingehende Prüfung dieser Frage erforderlich macht. Zwar wird, wenn die größere Sicherheit bei einem erheblichen Teil der Zielpopulation eines Arzneimittels erwiesen ist, damit nicht unbedingt die Frage beantwortet, ob das Arzneimittel zumindest ein gleichwertiges Sicherheitsprofil für die übrige Population aufweist. Ich gehe jedoch davon aus, dass im vorliegenden Fall diese Gleichwertigkeit festgestellt wurde. Aus der obigen Erläuterung folgt, dass es, weil Tobramycin VVB ein Generikum von TOBI ist und da festgestellt wurde, dass die Wirksamkeits- und Sicherheitsprofile von TOBI und Tobi Podhaler vergleichbar sind, schwer zu erkennen ist, wie der streitige Beschluss zur Genehmigung eines Arzneimittels (Tobramycin VVB) hätte führen können, das in dieser Hinsicht schlechter als Tobi Podhaler wäre.
78. Zweitens argumentiert die Rechtsmittelführerin, dass die Schlussfolgerung, dass ein Generikum (wie Tobramycin VVB) einem Arzneimittel für seltene Leiden (wie Tobi Podhaler) klinisch überlegen sei, bedeute, dass Ausnahmen vom Marktexklusivitätsrecht gewährt werden könnten, ohne dass in die Forschung investiert werde. Ich verstehe dieses Vorbringen so, dass es den Standpunkt der Rechtsmittelführerin widerspiegelt, wonach die Tatsache, dass die Entwicklung eines Generikums keine Investitionen in die Forschung erfordere, die Möglichkeit des Inverkehrbringens eines Generikums als Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht eines Arzneimittels für seltene Leiden ausschließe. Ich verstehe dieses Vorbringen ferner so, dass mit ihm geltend gemacht wird, dass, weil mit der Verordnung Nr. 141/2000 auch das Ziel verfolgt werde, Pharmaunternehmen für ihre Investitionen in die Forschung im Hinblick auf die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden zu belohnen, die von der Verordnung gebotenen Belohnungen solchen Unternehmen, die keine solchen Investitionen tätigten, nicht gewährt werden könnten.
79. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die Möglichkeit, eine Genehmigung für das Inverkehrbringen und damit ein Marktexklusivitätsrecht für ein als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenes Arzneimittel zu erhalten, vom Unionsgesetzgeber als finanzielle Belohnung für die pharmazeutische Industrie für die Entscheidung gedacht war, eine Tätigkeit auszuüben, die auf den ersten Blick als nicht gewinnbringend angesehen wird.
80. Im Gegensatz dazu liegt diese Logik Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 141/2000 nicht zugrunde, der die Möglichkeit vorsieht, eine Ausnahme vom Marktexklusivitätsrecht eines Arzneimittels für seltene Leiden zu gewähren. Diese Möglichkeit war vom Unionsgesetzgeber nicht als Belohnung für Investitionen in die Forschung gedacht, sondern als deren Begrenzung im ausdrücklichen Interesse der Patienten, wie aus dem achten Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht(36 ).
81. Ich weise darauf hin, dass das positive Ergebnis eines Antrags auf Genehmigung eines Arzneimittels für seltene Leiden zu einem (künstlich und absichtlich geschaffenen) Monopol auf dem Arzneimittelmarkt führen kann, das den Zugang der Patienten zu ähnlichen Arzneimitteln vorübergehend verhindern kann, einschließlich von Generika bereits bestehender Arzneimittel, gegenüber denen das betreffende ausgewiesene Arzneimittel für seltene Leiden nachweislich einen erheblichen Nutzen hat(37 ). In dieser Hinsicht hat der Unionsgesetzgeber beschlossen, dieses Monopol zu begrenzen, indem er die Möglichkeit des Inverkehrbringens von Arzneimitteln beibehalten hat, die klinisch überlegen sind, insbesondere wenn wie im vorliegenden Fall diese klinische Überlegenheit für einen erheblichen Teil der Zielpopulation von Bedeutung ist. Ob die deutlich bessere Behandlung in diesem Zusammenhang von einem Arzneimittel geboten wird, für dessen Entwicklung keine Investitionen in die Forschung erforderlich waren, ist meines Erachtens nicht relevant. Entscheidend ist, ob die Präsenz eines solchen Arzneimittels auf dem Markt den geltenden Voraussetzungen und damit dem oben genannten Ziel der öffentlichen Gesundheit entspricht, das darin besteht, den Zugang von Patienten mit der fraglichen seltenen Krankheit zu einer erheblich besseren Behandlung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass das allgemeine Ziel des Rechtsrahmens für Arzneimittel für seltene Leiden darin besteht, den nicht gedeckten Bedürfnissen dieser Patienten zu entsprechen.
82. Schließlich muss ich aus denselben Gründen das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zurückweisen, dass die Kommission durch die Übernahme der Begriffsbestimmung der klinischen Überlegenheit in Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 den Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 geändert habe. Unabhängig von der Zulässigkeit dieses Vorbringens, das im Übrigen in der Erwiderung vorgebracht wurde und keine ausdrückliche Einrede der Rechtswidrigkeit enthält, ergibt sich meines Erachtens aus den oben dargelegten Argumenten hinreichend, dass der Anwendungsbereich des in Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 141/2000 definierten Begriffs durch die Begriffsbestimmung in Art. 3 Abs. 3 Buchst. d Nr. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 nicht geändert wird; diese Begriffsbestimmung steht voll und ganz im Einklang mit dem vorgenannten Ziel des Unionsgesetzgebers.
83. Daher bin ich der Ansicht, dass die Erwägungen zu dem mit der Verordnung Nr. 141/2000 verfolgten Ziel keinen Einfluss auf die Schlussfolgerung haben, zu der ich in Nr. 72 gelangt bin.
VI. Ergebnis
84. Aus diesen Gründen und unbeschadet der Prüfung des zweiten Rechtsmittelgrundes schlage ich dem Gerichtshof vor, zu befinden, dass das Gericht den Begriff der klinischen Überlegenheit nach Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden nicht fehlerhaft ausgelegt hat und dass der erste Rechtsmittelgrund daher zurückzuweisen ist.