Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MACIEJ SZPUNAR
vom 13. Juli 2023(1 )
Rechtssache C ‑431/22
Scuola europea di Varese
gegen
PD in Ausübung der elterlichen Verantwortung für NG,
LC in Ausübung der elterlichen Verantwortung für NG
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Vereinbarung über die Satzung der Europäischen Schulen – Beschluss der Klassenkonferenz, einen Schüler nicht in die nächsthöhere Klasse zu versetzen – Anfechtung durch die Eltern – Zuständigkeit der nationalen Gerichte oder ausschließliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer der Europäischen Schulen – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz“
I. Einleitung
1. Die Vertreter der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) trafen sich im Jahr 1954 mehrmals, um die Gründung einer Europäischen Schule zu erörtern. Bei diesen Treffen wurde beschlossen, dass diese Vertreter einen Verwaltungsrat bilden sollten, der die Verantwortung für diese Schule übernehmen und die Grundsätze für ihre Organisation festlegen sollte. Die erste Europäische Schule öffnete ihre Tore am 12. Oktober 1954 in Luxemburg(2 ). In der Folge wurden weitere Schulen errichtet(3 ). Derzeit gibt es 13 Europäische Schulen, bei denen ungefähr 28 750 Schüler angemeldet sind.
2. Eine der Besonderheiten dieser Schulen besteht darin, dass sie ein System sui generis darstellen, dass gleichzeitig im Unionsrecht und im Völkerrecht verankert ist. Aufgrund dieser Doppelnatur stellen sich u. a bestimmte Fragen zur Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den nationalen Gerichten und der Beschwerdekammer der Europäischen Schulen (im Folgenden: Beschwerdekammer), die durch die Vereinbarung über die Satzung der Europäischen Schulen(4 ) (im Folgenden: Vereinbarung über die Satzung) eingerichtet wurde. Beim vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geht es gerade um die Auslegung von Art. 27 Abs. 2 dieser Vereinbarung.
3. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Scuola europea di Varese (Europäische Schule von Varese, Italien) sowie PD und LC in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreter ihres minderjährigen Sohnes NG (im Folgenden: Eltern von N oder Eltern) über die Zuständigkeit der italienischen Gerichte für die Entscheidung über eine Klage auf Aufhebung eines Beschlusses der Klassenkonferenz, NG, der damals Schüler der Sekundarstufe an dieser Schule war, nicht in die nächsthöhere Klasse zu versetzen.
4. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, zum einen zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle der Beschwerdekammer, die eine Einrichtung einer internationalen Organisation ist, in Bezug auf diese Entscheidungen und zum anderen zur Verpflichtung dieser Kammer, bei der Auslegung der Vereinbarung über die Satzung und der darin genannten Durchführungsbestimmungen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes anzuwenden, Stellung zu nehmen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
5. Art. 1 („Geltungsbereich dieses Übereinkommens“) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge(5 ) vom 23. Mai 1969 (im Folgenden: Wiener Übereinkommen) sieht vor, dass es auf Verträge zwischen Staaten Anwendung findet.
6. Art. 3 dieses Übereinkommens („Nicht in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende internationale Übereinkünfte“) bestimmt:
„Der Umstand, dass dieses Übereinkommen weder auf die zwischen Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten oder zwischen solchen anderen Völkerrechtssubjekten geschlossenen internationalen Übereinkünfte noch auf nicht schriftliche internationale Übereinkünfte Anwendung findet, berührt nicht
…
b) die Anwendung einer der in diesem Übereinkommen niedergelegten Regeln auf sie, denen sie auch unabhängig von diesem Übereinkommen auf Grund des Völkerrechts unterworfen wären;
…“
7. In Art. 31 („Allgemeine Auslegungsregel“) dieses Übereinkommens heißt es:
„(1) Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.
…
(3) Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen
a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen;
b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;
c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.
…“
B. Vereinbarung über die Satzung der Europäischen Schulen
8. Art. 1 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung sieht vor, dass es „Ziel der Schulen ist …, die Kinder der Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften gemeinsam zu unterrichten“.
9. Art. 27 der Vereinbarung über die Satzung lautet:
„(1) Es wird eine Beschwerdekammer eingesetzt.
(2) Bei Streitigkeiten, die die Anwendung dieser Vereinbarung auf die darin genannten Personen – mit Ausnahme des Verwaltungs- und Dienstpersonals – betreffen und sich auf die Rechtmäßigkeit einer vom Obersten Rat oder vom Verwaltungsrat einer Schule in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß dieser Vereinbarung gegenüber jenen Personen getroffenen und sie beschwerenden Entscheidung beziehen, die auf dieser Vereinbarung oder den in ihrem Rahmen erlassenen Vorschriften beruht, besitzt die Beschwerdekammer, nach Ausschöpfung des Verwaltungsweges, erst- und letztinstanzlich ausschließliche Zuständigkeit. Handelt es sich um finanzielle Streitigkeiten, so hat die Beschwerdekammer Befugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung.
Die Voraussetzungen für ein Verfahren der Beschwerdekammer und die entsprechenden Durchführungsbestimmungen sind in den Beschäftigungsbedingungen für das Lehrpersonal bzw. der Regelung für die Lehrbeauftragten oder der allgemeinen Schulordnung festgelegt.
(3) Der Beschwerdekammer gehören Personen an, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und als fähige Juristen gelten.
Zu Mitgliedern der Beschwerdekammer können nur Personen ernannt werden, die in einer vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften dafür erstellten Liste aufgeführt sind.
(4) Der Oberste Rat legt die Satzung der Beschwerdekammer einstimmig fest.
In der Satzung der Beschwerdekammer werden die Zahl ihrer Mitglieder, das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder durch den Obersten Rat, die Amtsdauer der Mitglieder und die für diese geltende Besoldungsregelung festgelegt. Die Satzung regelt die Arbeitsweise der Beschwerdekammer.
(5) Die Beschwerdekammer gibt sich eine Verfahrensordnung, die alle zur Anwendung ihrer Satzung erforderlichen Bestimmungen enthält.
Die Verfahrensordnung bedarf der einstimmigen Annahme durch den Obersten Rat.
(6) Die Urteile der Beschwerdekammer sind für die Parteien verbindlich und, falls diese einem Urteil nicht nachkommen, von den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu vollstrecken.
(7) Andere Streitigkeiten, bei denen die Schulen Partei sind, unterliegen der Zuständigkeit der nationalen Gerichte. Insbesondere berührt dieser Artikel nicht die Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Zivil- und Strafsachen.“
C. Allgemeine Schulordnung der Europäischen Schulen
10. Art. 61 Abs. 1 der Allgemeinen Schulordnung der Europäischen Schulen in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung Nr. 2014-03-D-14-de-11 (im Folgenden: Schulordnung von 2014) sieht vor, dass in der Sekundarstufe die Entscheidung über die Versetzung in die nächsthöhere Klasse am Ende des Schuljahres durch die zuständige Klassenkonferenz getroffen wird.
11. In Art. 62 („Beschwerde gegen den Wiederholungsbeschluss“) der Schulordnung von 2014 heißt es:
„(1) Gegen die Entscheidungen der Klassenkonferenz kann von Seiten der gesetzlichen Vertreter des Schülers keine Beschwerde eingelegt werden, außer wenn Formfehler oder neue Fakten vorliegen, die vom Generalsekretär aufgrund der ihm von der Schule und von den gesetzlichen Vertretern des Schülers vorgelegten Unterlagen und Berichten als solche anerkannt werden.
Unter Formfehler ist jedweder Verstoß gegen eine rechtliche Bestimmung über das zu befolgende Verfahren beim Übergang in die nächsthöhere Klasse zu verstehen, sodass in Ermangelung dieses Verstoßes der Beschluss der Klassenkonferenz anders ausgefallen wäre.
Fehlende Hilfe zur Integration des Schülers in das pädagogische Unterstützungsmaßnahmen-Programm bildet keinen Formfehler, es sei denn, es wird der Beweis erbracht, dass der Schüler oder seine gesetzlichen Vertreter diese Hilfe beantragt haben und diese willkürlich von der Schule abgelehnt wurde. Die Modalitäten zur praktischen Organisation der Prüfungen obliegen den Schulen und können nicht als Formfehler betrachtet werden.
Unter neues Faktum ist jedwedes Element zu verstehen, das der Klassenkonferenz nicht zur Kenntnis gebracht wurde, weil es allen Akteuren – Lehrkräften, Eltern und Schülern – zum Zeitpunkt der Beratungen nicht bekannt war[,] und das möglicherweise die Richtung des Beschlusses hätte beeinflussen können. Ein zwar den Eltern bekannter, der Klassenkonferenz jedoch nicht mitgeteilter Fakt, kann nicht als neues Element im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden.
Die Beurteilung der Fähigkeiten des Schülers, die Erteilung einer Note für einen Aufsatz oder eine Arbeit im Laufe des Schuljahres sowie die Beurteilung der besonderen Umstände aus Artikel 61. B-5 obliegen der ausschließlichen Ermessensbefugnis der Klassenkonferenz. Sie können nicht Gegenstand einer Beschwerde sein.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb einer Frist von 7 Kalendertagen nach Schuljahresende beim Generalsekretär einzureichen. …
…
Der Generalsekretär (oder der stellv. Generalsekretär im Falle seiner Beauftragung) entscheidet vor dem 31. August über die Beschwerde. Die Artikel 66 und 67 der vorliegenden Ordnung sind anwendbar. Wird die Beschwerde als zulässig und begründet betrachtet, entscheidet die Klassenkonferenz noch einmal über den Fall.
Der neue Beschluss kann ebenfalls Gegenstand eines Widerspruchs beim Generalsekretär sein …“
12. Art. 66 („Beschwerde“) der Schulordnung von 2014 bestimmt:
„(1) Gegen die [in Artikel 62] genannten Beschlüsse kann unter den in [diesem Artikel] genannten Bedingungen Beschwerde eingelegt werden. …
…
(5) Der Bescheid des Generalsekretärs bezüglich einer Beschwerde wird dem/den Beschwerdeführer/n … zugestellt …“
13. Art. 67 („Klage vor der Beschwerdekammer“) der Schulordnung von 2014 bestimmt:
„(1) Die auf dem Verwaltungswege implizit oder explizit getroffenen Beschlüsse über Beschwerden wie im vorangehenden Artikel definiert, können gemäß Artikel 27 der [Vereinbarung über die Satzung] Gegenstand einer Klage der direkt von dem Beschluss betroffenen gesetzlichen Vertreter eines Schülers vor der Beschwerdekammer sein.
…
(4) Jede Klage muss innerhalb von zwei Wochen nach der Benachrichtigung oder der Bekanntmachung des angefochtenen Beschlusses … eingereicht werden, andernfalls ist sie unzulässig.
(5) Die in diesem Artikel definierten Klagen werden nach den in der Verfahrensordnung der Beschwerdekammer vorgesehenen Regeln verhandelt und entschieden.
(6) Die Beschwerdekammer entscheidet innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Empfang der Klage, unbeschadet der Anwendung der Artikel 16, 34 und 35 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammer der europäischen Schulen, die die Möglichkeit vorsehen, ein Eilverfahren einzuleiten.“
D. Italienisches Recht
14. Art. 41 des Codice di procedura civile (Zivilprozessordnung) bestimmt:
„Solange die Rechtssache nicht in erster Instanz in der Sache entschieden ist, kann jede Partei die Vereinigten Kammern des Kassationsgerichtshofs ersuchen, die Zuständigkeitsfragen … zu klären. …“
III. Ausgangsrechtsstreit
15. Am 25. Juni 2020 wurde den Eltern von NG, der damals Schüler der Sekundarstufe der Scuola europea di Varese war, der Beschluss der zuständigen Klassenkonferenz zugestellt, NG nicht in die nächsthöhere Klasse zu versetzen.
16. Am 20. Juli 2020 erhoben die Eltern von NG beim Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Regionales Verwaltungsgericht Lombardei, Italien) Klage auf Aufhebung dieses Beschlusses.
17. Mit Beschluss vom 9. September 2020 erklärte sich dieses Gericht für die Entscheidung über diese Klage für zuständig, gab dem bei ihm eingereichten Antrag auf einstweilige Maßnahmen „zum Zwecke der bedingten Zulassung“ von NG „zum Besuch der nächsthöheren Klasse“ statt und vertagte die Prüfung in der Sache auf eine mündliche Verhandlung am 19. Oktober 2021.
18. Am 13. Oktober 2021 stellte die Scuola europea di Varese bei den Vereinigten Kammern der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) auf der Grundlage von Art. 41 der Zivilprozessordnung einen Antrag auf vorläufige Klärung der Frage der gerichtlichen Zuständigkeit, um die Unzuständigkeit der italienischen Gerichte für die Entscheidung des in Rede stehenden Rechtsstreits feststellen zu lassen. Nach Ansicht dieser Schule besitzt die Beschwerdekammer insoweit ausschließliche Zuständigkeit gemäß Art. 27 der Vereinbarung über die Satzung in Verbindung mit Art. 67 Abs. 1 der Schulordnung von 2014.
19. Die Eltern und das Pubblico Ministero (Vertreter des öffentlichen Interesses) sind dagegen der Ansicht, dass die italienischen Gerichte für die Entscheidung des in Rede stehenden Rechtsstreits zuständig seien, da insbesondere nach Art. 27 der Vereinbarung über die Satzung die ausschließliche gerichtliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer auf beschwerende Entscheidungen des Obersten Rates der Europäischen Schulen (im Folgenden: Oberster Rat) oder des Verwaltungsrates der Schule beschränkt sei. Ihrer Ansicht nach stellt unter diesen Umständen eine Ausweitung der Zuständigkeit dieser Kammer auf Entscheidungen einer Klassenkonferenz eine Änderung der Vereinbarung über die Satzung dar, die nur gemäß dem in Art. 31 Abs. 4 dieser Vereinbarung vorgesehenen Verfahren vorgenommen werden könne. Die in Art. 67 Abs. 1 der Schulordnung von 2014 für die gesetzlichen Vertreter des Schülers vorgesehene Möglichkeit, Klage vor der Beschwerdekammer zu erheben, verleihe daher den gesetzlichen Vertretern des Schülers lediglich das Recht , sich für eine Beschwerde auf dem Verwaltungswege zu entscheiden, der gegebenenfalls ein gerichtlicher Rechtsbehelf vor dieser Kammer folgen könne. Die Zuständigkeit der Beschwerdekammer habe jedoch keinen ausschließlichen Charakter, da es den Rechtsvertretern auch freistehe, unmittelbar vor den betreffenden nationalen Gerichten zu klagen.
20. Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof), die über die von der Scuola europea di Varese aufgeworfene Vorfrage der Zuständigkeit der italienischen Gerichte zu entscheiden hat, weist zunächst darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, dass Letzterer für die Vorabentscheidung über die Auslegung der Vereinbarung über die Satzung sowie der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte zuständig sei(6 ).
21. Das vorlegende Gericht führt im Übrigen aus, dass es sich bereits in einem Urteil vom 15. März 1999(7 ) unter ähnlichen Umständen wie denen des derzeit beim Tribunale amministrativo regionale per la Lombardia (Regionales Verwaltungsgericht Lombardei) anhängigen Rechtsstreits für eine Zuständigkeit der italienischen Gerichte ausgesprochen habe. In diesem Urteil habe es entschieden, dass nach Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1, 2 und 7 der Vereinbarung über die Satzung die Zuständigkeit der Beschwerdekammer nur für beschwerende Entscheidungen des Obersten Rates oder des Verwaltungsrates einer Europäischen Schule und nicht für Rechtsakte, die von einer Klassenkonferenz erlassen würden, vorgesehen sei.
22. Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Urteils die damals geltende Schulordnung von 1996(8 ) in ihrem Art. 68a Abs. 3 gegen Entscheidungen einer Klassenkonferenz nur eine begrenzte interne Beschwerdemöglichkeit rein administrativer Natur vorgesehen habe, nicht aber die Möglichkeit, die Beschwerdekammer mit einer Klage zu befassen.
23. Der Umstand, dass die Möglichkeit eines solchen gerichtlichen Rechtsbehelfs inzwischen in der Schulordnung von 2005(9 ) verankert und sodann in Art. 67 der Schulordnung von 2014 bestätigt worden sei, könne es rechtfertigen, nunmehr die ausschließliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer für derartige Streitigkeiten anzuerkennen.
24. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts scheint eine solche Lösung eine entscheidende Stütze in den Erkenntnissen aus dem Urteil Oberto und O’Leary(10 ) zu finden, in dem der Gerichtshof unter Berufung auf die Regeln des Wiener Übereinkommens bereits anerkannt habe, dass der Beschwerdekammer wirksam eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung des Direktors einer Europäischen Schule übertragen werden könne, mit der ein Lehrer dieser Schule beschwert werde. Das vorlegende Gericht ist zudem der Ansicht, dass das Gleiche für den Beschluss des Gerichts der Europäischen Union in der Rechtssache JT/Generalsekretär der Europäischen Schulen und Beschwerdekammer der Europäischen Schulen(11 ) gelte, wenn es um mögliche Rechtsbehelfe gegen Wiederholungsbeschlüsse von Klassenkonferenzen gehe.
25. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann es sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als relevant erweisen, dass die Schulordnung vom Obersten Rat erlassen werde und dass der Generalsekretär der Europäischen Schulen (im Folgenden: Generalsekretär), der zu den gegen Wiederholungsbeschlüsse einer Klassenkonferenz gerichteten Beschwerden Stellung nehmen müsse, ein gemeinsames Organ aller dieser Schulen sei, das u. a. befugt sei, den Obersten Rat zu vertreten. Gleiches gelte für die verschiedenen von der Scuola europea di Varese vorgelegten Dokumente und insbesondere für den „Tätigkeitsbericht der Beschwerdekammer für das Jahr 2007“, worin von den mit der Schulordnung von 2005 eingeführten neuen Rechtsmitteln bzw. Klagen gegen die Entscheidungen über die Versetzung in die nächsthöhere Klasse die Rede sei, sowie für die Spruchpraxis, die sich aus zahlreichen Beschlüssen der Beschwerdekammer ergebe, die im Zeitraum von 2007 bis 2017 über Klagen gegen solche Entscheidungen ergangen seien.
26. Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass das Urteil Oberto und O’Leary(12 ) eine Entscheidung des Direktors einer Europäischen Schule über die Befristung des Arbeitsverhältnisses im Arbeitsvertrag zwischen einer Europäischen Schule und einem Lehrbeauftragten betreffe und dass sich die Zuständigkeit der Beschwerdekammer in dieser Rechtssache nicht aus der Schulordnung, sondern aus dem Statut der Lehrbeauftragten ergeben habe. Die somit bestehenden Unterschiede in der Sachlage zwischen der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, und der vorliegenden Rechtssache ließen folglich nicht die Annahme zu, dass eine Auslegung von Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Vereinbarung über die Satzung im vorliegenden Fall derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibe.
IV. Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof
27. Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) mit am 28. Juni 2022 beim Gerichtshof eingegangener Entscheidung vom 6. Juni 2022 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 der Vereinbarung über die Satzung dahin auszulegen, dass die darin genannte Beschwerdekammer bei Streitigkeiten über den von der Klassenkonferenz gegenüber einem Schüler der Sekundarstufe getroffenen Wiederholungsbeschluss, nach Ausschöpfung des in der Schulordnung vorgesehenen Verwaltungsweges, erst- und letztinstanzlich ausschließliche Zuständigkeit besitzt?
28. Schriftliche Erklärungen sind von PD und LC, der Scuola europea di Varese sowie der Europäischen Kommission eingereicht worden. Diese Beteiligten haben in der Sitzung vom 4. Mai 2023 mündliche Ausführungen gemacht.
V. Würdigung
29. Bevor ich auf die Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts eingehe (Abschnitt B), halte ich es für zweckmäßig, kurz einige Vorbemerkungen zur Zuständigkeit des Gerichtshofs zu machen (Abschnitt A).
A. Vorbemerkungen zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
30. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs wird von den Parteien nicht bestritten, und es liegt auf der Hand, dass es keinen Anlass zu Einwendungen von Amts wegen gibt.
31. Dies vorausgeschickt muss ich darauf hinweisen, dass die Eltern in der mündlichen Verhandlung unter Verweis auf Art. 26 der Vereinbarung über die Satzung Zweifel hinsichtlich der Zuständigkeit des Gerichtshofs und insbesondere hinsichtlich der Tatsache geäußert haben, dass sich im Ausgangsrechtsstreit nicht, wie in dieser Vorschrift vorgesehen, die Vertragsparteien, sondern die Europäische Schule und die Eltern gegenüberstehen.
32. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 26 der Vereinbarung über die Satzung „[f]ür Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung und Anwendung dieser Vereinbarung, die im Obersten Rat nicht beigelegt werden konnten, … ausschließlich der [Gerichtshof] zuständig [ist]“. Diese Vorschrift sieht somit eine Schiedsklausel vor, nach der der Gerichtshof mit einer Klage auf Auslegung und/oder Anwendung dieser Vereinbarung befasst werden kann(13 ).
33. Zwar nimmt Art. 26 der Vereinbarung über die Satzung auf „Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien“, nämlich den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, Bezug. Entgegen dem Vorbringen der Eltern in der mündlichen Verhandlung kann aus dieser Vorschrift jedoch nicht abgeleitet werden, dass der Gerichtshof für die Auslegung dieser Vereinbarung nur auf der Grundlage dieser Vorschrift zuständig wäre(14 ).
34. Insoweit genügt der Hinweis, dass nach Art. 267 AEUV der Gerichtshof für die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union zuständig ist(15 ). Er hat bereits entschieden, dass ein internationales Abkommen wie die Vereinbarung über die Satzung, die auf der Grundlage von Art. 235 EG (danach Art. 308 EG, jetzt Art. 352 AEUV) von den hierzu durch den Beschluss 94/557/EG(16 ) ermächtigten Europäischen Gemeinschaften geschlossen wurde, für die Union eine Handlung eines Unionsorgans im Sinne von Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV darstellt, dass die Bestimmungen dieser Vereinbarung ab ihrem Inkrafttreten Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und dass der Gerichtshof im Rahmen dieser Rechtsordnung für Vorabentscheidungen über die Auslegung dieser Vereinbarung sowie der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte zuständig ist(17 ).
35. Folglich besteht kein Zweifel daran, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts zuständig ist.
B. Zur Vorlagefrage
36. Mit ihrer einzigen Frage möchte die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung in Verbindung mit den Art. 61, 62, 66 und 67 der Schulordnung von 2014 dahin auszulegen ist, dass die Beschwerdekammer bei Streitigkeiten über den Beschluss der Klassenkonferenz einer Europäischen Schule, einen Schüler nicht in die nächsthöhere Klasse der Sekundarstufe zu versetzen, nach Ausschöpfung des vor dem Generalsekretär eröffneten Verwaltungsweges erst- und letztinstanzlich ausschließliche Zuständigkeit besitzt(18 ).
37. Die Parteien vertreten unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zu beantworten ist.
38. Die Scuola europea di Varese und die Kommission stimmen darin überein, dass die Beschwerdekammer über eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Klagen gegen die Wiederholungsbeschlüsse einer Europäischen Schule besitze. Dieser Standpunkt beruht insbesondere auf der Auslegung von Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung und der Art. 62, 66 und 67 der Schulordnung von 2014 im Lichte der Auslegungsregeln in Art. 31 des Wiener Übereinkommens sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs(19 ).
39. Die Eltern wiederum vertreten die gegenteilige Auffassung, und zwar, dass die in Rede stehenden Vorschriften mit der ausdrücklich in Art. 27 Abs. 2 und 7 der Vereinbarung über die Satzung vorgesehenen Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Beschwerdekammer und den nationalen Gerichten vereinbar seien, so dass weder diese Vorschriften noch die Beschlüsse der Beschwerdekammer eine Änderung der Auslegungspraxis durch die Hohen Vertragsparteien der Vereinbarung über die Satzung im Sinne von Art. 31 des Wiener Übereinkommens begründen könnten.
40. Um diese Frage sachdienlich beantworten zu können, ist es zunächst erforderlich, einige allgemeine Erwägungen über die Besonderheiten des Systems der Europäischen Schulen und den durch die Vereinbarung über die Satzung eingeführten Streitbeilegungsmechanismus anzustellen (Abschnitt 1), und sodann den Umfang der Zuständigkeit der Beschwerdekammer zu prüfen (Abschnitt 2). Für den Fall, dass der ausschließliche Charakter der Zuständigkeit der Beschwerdekammer für Wiederholungsbeschlüsse festgestellt werden sollte, werde ich schließlich auf die von PD geäußerten Zweifel hinsichtlich des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle eingehen, die der Beschwerdekammer durch die Schulordnung von 2014 übertragen wurde, sowie auf die Verpflichtung der Beachtung des allgemeinen Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Rahmen der Auslegung der Vereinbarung über die Satzung und der zur Durchführung dieser Vereinbarung erlassenen Rechtsakte (Abschnitt 3).
1. Allgemeine Ausführungen
a) Zu den Besonderheiten des Systems der Europäischen Schulen
41. Der Kürze halber werde ich mich darauf beschränken, die Auslegungshinweise in Erinnerung zu rufen, die aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Natur des Systems der Europäischen Schulen und der Vereinbarung über die Satzung hervorgehen(20 ).
42. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das System der Europäischen Schulen ein System sui generis ist, das mittels eines internationalen Abkommens, nämlich der Vereinbarung über die Satzung, eine Art der Zusammenarbeit zum einen zwischen den Mitgliedstaaten und zum anderen zwischen diesen und der Union einführt(21 ). Die Europäischen Schulen stellen eine internationale Organisation dar, die von der Union und ihren Mitgliedstaaten formell getrennt bleibt(22 ). Wie ich bereits ausgeführt habe, unterliegt die Vereinbarung über die Satzung, auch wenn sie für die Union eine Handlung eines Unionsorgans im Sinne von Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV darstellt, zudem dem Völkerrecht und in Bezug auf ihre Auslegung insbesondere dem im Wesentlichen durch das Wiener Übereinkommen kodifizierten Völkervertragsrecht(23 ).
43. Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens auf ein zwischen einem Staat und einer internationalen Organisation geschlossenes Abkommen anzuwenden sind, „soweit diese Bestimmungen eine Ausprägung des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts sind“(24 ). Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist „[die Vereinbarung] daher anhand dieser Bestimmungen auszulegen“(25 ). Es ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 31 des Wiener Übereinkommens festgelegte Regel, die Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts ist, besagt, dass „[e]in Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Zieles und Zweckes auszulegen [ist]“(26 ).
44. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 31 Abs. 3 Buchst. b des Wiener Übereinkommens „bei der Auslegung eines Vertrags jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen“ ist(27 ).
45. Ich werde auf diese für die Auslegung wichtigen Gesichtspunkte zurückkommen(28 ).
b) Zum Mechanismus der Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zwischen den unter die Vereinbarung über die Satzung fallenden Personen und den Europäischen Schulen
46. In der vorliegenden Rechtssache stellt sich die Frage, ob die Klage, mit der die Eltern eines Schülers wie im vorliegenden Fall die nationalen Gerichte angerufen haben, um die Aufhebung des Wiederholungsbeschlusses der Klassenkonferenz zu erwirken, in die Zuständigkeit dieser Gerichte fällt, oder ob die Beschwerdekammer eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über diese Art von Klagen besitzt.
47. Was die ausschließliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer anlangt, so geht aus Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Vereinbarung über die Satzung hervor, dass sie sich erst- und letztinstanzlich und nach Ausschöpfung des Verwaltungsweges auf „Streitigkeiten [erstreckt], die die Anwendung dieser Vereinbarung auf die darin genannten Personen … betreffen und sich auf die Rechtmäßigkeit einer vom Obersten Rat oder vom Verwaltungsrat einer Schule in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß dieser Vereinbarung gegenüber jenen Personen getroffenen und sie beschwerenden Entscheidung beziehen, die auf dieser Vereinbarung oder den in ihrem Rahmen erlassenen Vorschriften beruht“.
48. Was die Zuständigkeit der nationalen Gerichte betrifft, so geht aus Art. 27 Abs. 7 der Vereinbarung über die Satzung hervor, dass sie sich auf „[a]ndere Streitigkeiten, bei denen die Schulen Partei sind“, erstreckt(29 ). Diese „anderen Streitigkeiten“ sind daher jene, die nicht in die ausschließliche und genau festgelegte Zuständigkeit der Beschwerdekammer fallen.
49. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zwischen den unter die Vereinbarung über die Satzung fallenden Personen und den Europäischen Schulen zwei verschiedenen Instanzen übertragen wird, nämlich der Beschwerdekammer und den nationalen Gerichten. Um diesen Streitbeilegungsmechanismus und die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen diesen beiden Instanzen besser zu verstehen, werde ich im Folgenden kurz auf seine Entstehung eingehen.
1) Entstehung des Streitbeilegungsmechanismus
50. Es ist vorauszuschicken, dass die Satzung vom 1957 keinen bestimmten Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen den unter sie fallenden Personen und den Europäischen Schulen vorsah(30 ). Bis zum Inkrafttreten der Vereinbarung über die Satzung war die ehemalige Beschwerdekammer nur für Rechtsmittel des Lehrpersonals zuständig(31 ). Mit dieser Vereinbarung wurde in ihrem Art. 27 Abs. 1 eine neue Beschwerdekammer „mit genau festgelegten Befugnissen“ eingerichtet, um „einen angemessenen Rechtsschutz des Lehrpersonals und der sonstigen unter diese Satzung fallenden Personen gegenüber Entscheidungen des Obersten Rates oder der Verwaltungsräte zu gewährleisten“(32 ).
51. Was erstens den persönlichen Anwendungsbereich der Vereinbarung über die Satzung anlangt, so weise ich darauf hin, dass Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Vereinbarung die Zuständigkeit der ehemaligen Beschwerdekammer auf Klagen von allen „darin genannten Personen – mit Ausnahme des Verwaltungs- und Dienstpersonals –“ ausgedehnt hat (Hervorhebungen nur hier). Die persönliche Zuständigkeit der neuen, durch die Vereinbarung über die Satzung eingerichteten Beschwerdekammer umfasst somit Rechtsstreitigkeiten, an denen u. a. als gesetzliche Vertreter eines minderjährigen Schülers handelnde Eltern von Schülern sowie volljährige Schüler beteiligt sind.
52. Was zweitens die sachliche Zuständigkeit betrifft, weise ich darauf hin, dass es in Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Vereinbarung über die Satzung heißt, dass die erst- und letztinstanzlich ausschließliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer für Streitigkeiten, die die Anwendung dieser Vereinbarung betreffen, die Frage der „Rechtmäßigkeit einer vom Obersten Rat oder vom Verwaltungsrat einer Schule in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß dieser Vereinbarung … getroffenen … beschwerenden Entscheidung [umfasst], die auf dieser Vereinbarung oder den in ihrem Rahmen erlassenen Vorschriften beruht“ (Hervorhebungen nur hier).
53. Es erscheint mir drittens nützlich, darauf hinzuweisen, dass nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Vereinbarung über die Satzung „[d]ie Voraussetzungen für ein Verfahren der Beschwerdekammer und die entsprechenden Durchführungsbestimmungen … [u. a.] in … der allgemeinen Schulordnung festgelegt [sind]“(33 ). Wie ich erläutern werde, hat diese Schulordnung den betreffenden Personen schrittweise neue Rechtsmittel vor der Beschwerdekammer zur Verfügung gestellt, um für alle unter die Vereinbarung über die Satzung fallenden Personen einen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten.
2) Änderungen durch die nachfolgenden Fassungen der Schulordnung: neue Rechtsmittel
54. Erstens stelle ich fest, dass die durch Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Vereinbarung über die Satzung vorgenommene Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs der Zuständigkeit der Beschwerdekammer auf Klagen, die u. a. von den als gesetzliche Vertreter eines minderjährigen Schülers handelnden Eltern eingebracht werden , wie dies hier der Fall ist, in Anwendung von Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Vereinbarung über die Satzung schrittweise im Zuge der Änderungen der Schulordnung durch den Obersten Rat in den aufeinanderfolgenden Fassungen von 1996, 2005 und 2014 erfolgte.
55. Zu den in den aufeinanderfolgenden Fassungen der Schulordnung vorgesehenen Rechtsmitteln weise ich zweitens darauf hin, dass eine erste Änderung vom Obersten Rat in der Schulordnung von 1996 vorgenommen wurde. Diese Schulordnung sah für den Fall einer negativen Stellungnahme der Klassenkonferenz zur Versetzung eines Schülers nur eine interne Verwaltungsbeschwerde an der betreffenden Europäischen Schule gegen den Wiederholungsbeschluss der Klassenkonferenz vor und bot nicht die Möglichkeit, die Beschwerdekammer mit einer Klage zu befassen(34 ). Der Oberste Rat führte sodann eine neue Änderung durch die Schulordnung von 2005 ein. Er eröffnete die Möglichkeit, die Beschwerdekammer mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf zu befassen, nachdem der Generalsekretär die bei ihm gegen solche Wiederholungsbeschlüsse eingebrachte Beschwerde zurückgewiesen hatte(35 ). Diese Möglichkeit wurde schließlich durch Art. 67 der Schulordnung von 2014 bestätigt.
56. Nachdem ich die Entwicklung der Rechtsmittel im Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen den unter die Vereinbarung über die Satzung fallenden Personen und den Europäischen Schulen dargestellt habe, werde ich der Klarheit halber das auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbare System der Rechtsmittel, wie es in der Schulordnung von 2014 geregelt ist, erläutern.
3) System der Rechtsmittel der Schulordnung von 2014
57. Art. 61 Abs. 1 der Schulordnung von 2014 sieht vor, dass die Entscheidung über die Versetzung in die nächsthöhere Klasse am Ende des Schuljahres durch die zuständige Klassenkonferenz getroffen wird. Wenn diese einen Wiederholungsbeschluss erlässt, kann, wie sich aus Art. 62 Abs. 1 dieser Schulordnung ergibt, gegen diese Entscheidung von Seiten der gesetzlichen Vertreter des Schülers nur Beschwerde eingelegt werden, wenn Formfehler oder neue Fakten vorliegen(36 ). Nach Art. 62 Abs. 2 Unterabs. 4 und 5 dieser Schulordnung entscheidet „[d]er Generalsekretär … vor dem 31. August [des Schuljahrs] über die Beschwerde“. Wird die Beschwerde gegen den Wiederholungsbeschluss von diesem „als zulässig und begründet betrachtet, entscheidet die Klassenkonferenz noch einmal über den Fall“, und „[d]er neue Beschluss kann ebenfalls Gegenstand eines Widerspruchs beim Generalsekretär sein“(37 ).
58. Die Möglichkeit, einen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, wurde u. a. den Eltern eines Schülers als dessen gesetzliche Vertreter durch Art. 67 der Schulordnung von 2014 eingeräumt. Nach dieser Vorschrift können die Beschlüsse über Beschwerden, wie in Art. 66 dieser Schulordnung definiert, gemäß Art. 27 der Vereinbarung über die Satzung Gegenstand einer Klage der direkt von dem Beschluss betroffenen gesetzlichen Vertreter eines Schülers vor der Beschwerdekammer sein(38 ).
59. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist somit der Umfang der ausschließlichen Zuständigkeiten der Beschwerdekammer zu prüfen.
2. Zur Prüfung des Umfangs der ausschließlichen Zuständigkeit der Beschwerdekammer
60. Aus den vorstehenden Nummern ergibt sich, dass die Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs vor der Beschwerdekammer zur Überprüfung der Beschlüsse des Generalsekretärs, mit denen über eine Beschwerde gegen den Wiederholungsbeschluss der Klassenkonferenz entschieden wird, durch die aufeinanderfolgenden Fassungen der Schulordnung von 2005 und 2014 in das Verfahren vor der Beschwerdekammer eingeführt wurde. Wie ich jedoch bereits ausgeführt habe, beschränkt der Wortlaut von Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Vereinbarung über die Satzung diese ausschließliche Zuständigkeit auf beschwerende Entscheidungen, die vom Obersten Rat oder vom Verwaltungsrat einer Schule getroffen werden.
61. Folglich stellt sich die Frage, ob sich diese Änderungen darauf beschränkt haben, die „Voraussetzungen und Durchführungsbestimmungen“ für das Verfahren vor der Beschwerdekammer in den Rechtssachen, die bereits gemäß Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Vereinbarung über die Satzung in die Zuständigkeit dieser Kammer fallen, zu präzisieren, oder ob damit vielmehr eine Erweiterung ihrer ausschließlichen gerichtlichen Zuständigkeiten vorgenommen wurde.
62. Ich stimme zu, dass die aufeinanderfolgenden Fassungen der Schulordnung von 2005 und 2014 sicherlich eine Ausweitung der ausschließlichen Zuständigkeit der Beschwerdekammer für Klagen gegen Wiederholungsbeschlüsse vorgenommen haben. Ich muss jedoch anmerken, dass diese Ausweitung zutreffend auf die Vereinbarung über die Satzung gestützt ist, wie sie in Anwendung der Bestimmungen des Wiener Übereinkommens ausgelegt wird , soweit diese Bestimmungen eine Ausprägung des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts sind. Insoweit weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof erklärt hat, dass die Vereinbarung über die Satzung somit anhand dieser Bestimmungen auszulegen ist(39 ). Ich werde daher im Folgenden eine solche Auslegung vornehmen.
63. Erstens weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof unter Berufung auf die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens bereits im Urteil Oberto und O’Leary festgestellt hat, dass für einen Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit einer in einem Arbeitsvertrag zwischen einem Lehrbeauftragten und dem Direktor einer Europäischen Schule enthaltenen Vereinbarung über die Befristung des Arbeitsverhältnisses die Beschwerdekammer ausschließlich zuständig ist(40 ). Er hat insbesondere erklärt, dass die bloße Tatsache, dass die in Rede stehenden streitigen Rechtsakte, nämlich die „Entscheidungen des Direktors“ der betreffenden Schule, in Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 der Vereinbarung über die Satzung nicht ausdrücklich erwähnt werden, nicht zur Folge haben kann, dass sie vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausgeschlossen sind(41 ).
64. Zweitens ist die Vereinbarung über die Satzung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Systems der Europäischen Schulen(42 ) nach Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht ihres Zieles und Zweckes auszulegen(43 ).
65. Um daher im vorliegenden Fall die Tragweite der Wendung „vom Obersten Rat oder vom Verwaltungsrat einer Schule … [getroffene] … Entscheidung“ in Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 der Vereinbarung über die Satzung zu bestimmen, ist auf jeden in den Beziehungen zwischen den Hohen Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatz, auf jede spätere Übung bei der Anwendung dieser Vereinbarung(44 ) sowie auf jede spätere Übereinkunft zwischen diesen Parteien über ihre Anwendung abzustellen(45 ).
66. Zunächst möchte ich feststellen, dass im vorliegenden Fall die Erweiterung der ausschließlichen Zuständigkeiten der Beschwerdekammer im Hinblick auf den streitigen Beschluss der Klassenkonferenz, einen Schülers nicht in die nächsthöhere Klasse zu versetzen, direkt von Obersten Rat stammt , der nach Art. 7 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Vereinbarung über die Satzung eines der gemeinsamen Organe aller Europäischen Schulen ist, in dem die Hohen Vertragsparteien dieser Vereinbarung vertreten sind. Genauer gesagt setzt sich der Oberste Rat u. a. aus dem bzw. den Vertreter(n) der einzelnen Mitgliedstaaten auf Ministerebene und einem Mitglied der Kommission zusammen(46 ).
67. Sodann wird diese Auslegung durch den Kontext der einschlägigen Bestimmungen sowohl der Vereinbarung über die Satzung als auch der Schulordnung von 2014 gestützt. Insoweit weise ich zum einen darauf hin, dass nach Art. 11 Abs. 1 Nr. 3 dieser Vereinbarung der Oberste Rat die Aufgabe hat, „die Regeln für die Versetzung der Schüler in die nächsthöhere Klasse bzw. für den Übergang in die Sekundarstufe [festzulegen]“. Zum anderen ist auch darauf hinzuweisen, dass nach Art. 10 Abs. 1 und 2 dieser Vereinbarung der Oberste Rat für deren Durchführung sorgt und die allgemeine Schulordnung festlegt (47 ). Insoweit muss ich darauf hinweisen, dass die ausschließliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer, die streng auf die in der Vereinbarung über die Satzung genannten Streitigkeiten und Personen – mit Ausnahme des Verwaltungs- und Dienstpersonals – beschränkt ist, unter den Voraussetzungen und nach den Durchführungsbestimmungen auszuüben ist, die durch die Rechtstexte bestimmt werden, auf die diese Vereinbarung verweist, wie beispielsweise die Schulordnung von 2014, die in ihren Art. 66 und 67 die verschiedenen Rechtsmittel anführt, die diesen Personen zur Verfügung stehen .
68. Daraus folgt, wie die Kommission in ihren Erklärungen zu Recht hervorhebt, dass nach Art. 31 Abs. 3 Buchst. a des Wiener Übereinkommens eine spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über diese Anwendung der Schulordnung von 2014 und damit über diese Ausdehnung der gerichtlichen Zuständigkeiten der Beschwerdekammer in Bezug auf neue Rechtsmittel expliziten Charakter hat, da diese Parteien im Obersten Rat unmittelbar an der Annahme der Schulordnung beteiligt sind(48 ).
69. Diese Auslegung wird meines Erachtens auch durch die Rechtsprechung der Beschwerdekammer gestützt, wonach es möglich ist, Klagen einzureichen, um die Rechtmäßigkeit von seit 2005 getroffenen Entscheidungen des Generalsekretärs über Wiederholungsbeschlüsse der Klassenkonferenz anzufechten(49 ).
70. Diese Rechtsprechung wird vom Gerichtshof als spätere Übung bei der Anwendung von Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. b des Wiener Übereinkommens erachtet, da diese Praxis von den Parteien der Vereinbarung über die Satzung nie beanstandet wurde(50 ). Die fehlende Beanstandung durch die Parteien ist als stillschweigende Billigung dieser Übung anzusehen(51 ).
71. Daher und unter Berücksichtigung meiner obigen Ausführungen(52 ) kann die auf die Art. 61, 62, 66 und 67 der Schulordnung von 2014 gestützte Rechtsprechung der Beschwerdekammer zu den neuen Rechtsmitteln gegen die Beschlüsse des Generalsekretärs über Wiederholungsbeschlüsse der Klassenkonferenzen, obwohl sie nicht unter die Definition der „späteren Übung“ im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. b des Wiener Übereinkommens fällt, dennoch als ein Verhalten angesehen werden, das „bei der Bewertung der späteren Übung bzw. Praxis der Parteien“ der Vereinbarung über die Satzung hinsichtlich der Auslegung von Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung „von Bedeutung sein kann“. Daraus folgt, dass diese Rechtsprechung der Beschwerdekammer geeignet ist, die letztgenannte Vorschrift zu beleuchten, die folglich dahin zu verstehen ist, dass sie einer Einstufung des Wiederholungsbeschlusses der Klassenkonferenz als grundsätzlich unter die genannte Bestimmung fallend nicht entgegensteht(53 ).
72. Drittens stelle ich fest, dass das Gericht, wie die Scuola europea di Varese und die Kommission geltend gemacht haben, kürzlich die ausschließliche Zuständigkeit der Beschwerdekammer in der Rechtssache bestätigt hat, in der der Beschluss JT/Generalsekretär der Europäischen Schulen und Beschwerdekammer der Europäischen Schulen(54 ) ergangen ist, in der eine Schülerin einer Europäischen Schule die Entscheidung des Prüfungsausschusses zum Europäischen Abitur 2019, ihr das Abitur zu verwehren, anfocht. Das Gericht hat die Klage wegen offensichtlicher Unzuständigkeit abgewiesen und entschieden, dass die Beanstandung der ersten angefochtenen Entscheidung nach Ausschöpfung des Verwaltungswegs nur vor die Beschwerdekammer gebracht werden konnte , wobei die Beschwerdekammer in einem Fall wie dem in dieser Rechtssache in Rede stehenden gemäß Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung erst- und letztinstanzlich entscheidet(55 ).
73. Viertens und letztens stelle ich fest, dass die Ausweitung der ausschließlichen Zuständigkeit der Beschwerdekammer auf Klagen gegen Wiederholungsbeschlüsse auch durch das Ziel und den Zweck der Vereinbarung über die Satzung bestätigt wird. Sowohl aus ihrer Präambel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt sich, dass das Ziel dieser Vereinbarung der „gemeinsame Unterricht der Kinder der Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften“ zur Sicherung des ordnungsgemäßen Funktionierens der europäischen Organe ist. Insoweit möchte ich hervorheben, dass, wie die Scuola europea di Varese geltend macht, zum einen das Ziel eines gemeinsamen, einheitlichen und gleichwertigen Unterrichts nur dadurch erreicht werden könnte, dass einem einzigen Rechtsprechungsorgan die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten im Bereich von Wiederholungsbeschlüssen übertragen wird, und dass zum anderen solch ein einheitlicher Unterricht nicht gewährleistet werden könnte, wenn solche Rechtsstreitigkeiten in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fielen.
74. Folglich geht aus den vorstehenden Nummern klar hervor, dass alle Argumente darauf hinauslaufen, dass nach Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung, ausgelegt im Lichte von Art. 31 des Wiener Übereinkommens und gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs, diese erstgenannte Bestimmung die Entscheidungen des Generalsekretärs über Beschwerden gegen den Wiederholungsbeschluss der Klassenkonferenz einschließt. Mit anderen Worten ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer über eine ausschließliche gerichtliche Zuständigkeit für alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit streitigen Wiederholungsbeschlüssen der Klassenkonferenz verfügt und dass diese Art von Streitigkeit gemäß Art. 27 Abs. 7 der Vereinbarung über die Satzung nicht in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt.
75. Jede andere Auslegung von Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung stünde im Widerspruch dazu, dass es sich bei den Europäischen Schulen um ein System sui generis handelt, und, wie die Scuola europea di Varese und die Kommission vorgebracht haben, zur Notwendigkeit, die Autonomie dieses Systems als internationale Organisation zu gewährleisten, sowie zur Kohärenz ihrer Entscheidungen im Bereich Unterricht und Unterrichtsmethodik.
3. Zu den von PD geäußerten Zweifeln hinsichtlich des Umfangs der der Beschwerdekammer übertragenen gerichtlichen Kontrolle
76. Die von mir vorgenommene Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Vereinbarung über die Satzung und der Schulordnung von 2014 im Licht der Bestimmungen des Wiener Übereinkommens lässt den Schluss zu, dass die Beschwerdekammer die ausschließliche Zuständigkeit besitzt, um über einen Rechtsstreit wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu entscheiden.
77. Die Eltern machen in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen geltend, die Anerkennung einer solchen ausschließlichen Zuständigkeit der Beschwerdekammer sei geeignet, das Niveau des Rechtsschutzes, der den Schülern und ihren gesetzlichen Vertretern bislang gewährt worden sei, zu verringern.
78. Die so von den Eltern geäußerten Zweifel, die sich auf den Spielraum der gerichtlichen Kontrolle beziehen, die der Beschwerdekammer durch die Schulordnung von 2014 übertragen wurde, veranlassen mich, in einem ersten Schritt die Frage des Umfangs dieser Kontrolle zu prüfen, und sodann in einem zweiten Schritt auf die Frage einzugehen, inwiefern der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsbehelf Anwendung findet, der durch Art. 67 der Schulordnung von 2014 vor der Beschwerdekammer für Wiederholungsbeschlüsse einer Klassenkonferenz eröffnet wird.
a) Zum Umfang der der Beschwerdekammer durch die Schulordnung von 2014 übertragenen gerichtlichen Kontrolle von Beschlüssen, mit denen einem Schüler die Versetzung in die nächsthöhere Klasse versagt wird
79. PD macht in den schriftlichen Erklärungen geltend, eine Beschwerde vor dem Generalsekretär und eine Klage vor der Beschwerdekammer könnten, wie aus Art. 62 Abs. 1 der Schulordnung von 2014 hervorgehe, nur eingebracht werden, wenn „Formfehler oder neue Fakten vorliegen, die vom Generalsekretär als solche anerkannt werden“, während die Klage vor den italienischen Verwaltungsgerichten nach italienischem Recht eine breitere Palette von Anfechtungsgründen wie Gesetzesverletzung, Befugnismissbrauch und Unzuständigkeit biete.
80. Ich erinnere zunächst daran, dass Art. 62 Abs. 1 der Schulordnung von 2014 bestimmt, dass gegen die Entscheidungen der Klassenkonferenz von Seiten der gesetzlichen Vertreter des Schülers keine Beschwerde eingelegt werden kann, außer wenn Formfehler oder neue Fakten vorliegen, die vom Generalsekretär aufgrund der ihm von der Schule und von den gesetzlichen Vertretern des Schülers vorgelegten Unterlagen und Berichten als solche anerkannt werden.
81. Entgegen dem Vorbringen von PD und wie die Kommission zu Recht in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, enthält diese Bestimmung zum einen eine hinreichend weite Definition der Begriffe „Formfehler“ und „neue Fakten“. Nach dieser Vorschrift ist unter „Formfehler“ jedweder Verstoß gegen eine rechtliche Bestimmung über das zu befolgende Verfahren beim Übergang in die nächsthöhere Klasse zu verstehen, so dass in Ermangelung dieses Verstoßes der Beschluss der Klassenkonferenz anders ausgefallen wäre, und unter „neues Faktum“ jedwedes Element, das der Klassenkonferenz nicht zur Kenntnis gebracht wurde, weil es allen Akteuren – Lehrkräften, Eltern und Schülern – zum Zeitpunkt der Beratungen nicht bekannt war, und das möglicherweise die Richtung des Beschlusses hätte beeinflussen können(56 ).
82. Zum anderen hat die Kommission ausgeführt, dass die Beschwerdekammer bereits über mit schweren Begründungsmängeln behaftete Beschlüsse entschieden habe. Diese Kammer habe daher ihre Zuständigkeit für die Kontrolle der Beschlüsse der Klassenkonferenz unter dem Gesichtspunkt des offensichtlichen Beurteilungsfehlers anerkannt, der den technischen Handlungsspielraum einschränke, der der Klassenkonferenz ansonsten zugestanden werde(57 ). Die Beschwerdekammer habe dargelegt, dass sie bei der Prüfung der Beschlüsse der Klassenkonferenz ihre Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung von Tatsachen- und Rechtsfragen ausüben könne(58 ).
83. Sodann erscheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Vereinbarung über die Satzung ergibt, dass die Beschwerdekammer durch Art. 27 Abs. 1 dieser Vereinbarung mit dem Ziel eingerichtet wurde, einen angemessenen Rechtsschutz der unter diese Vereinbarung fallenden Personen und insbesondere, wie im vorliegenden Fall, der Eltern eines Schülers als Personen, die für diesen die elterliche Verantwortung ausüben, gegenüber Entscheidungen des Obersten Rates zu gewährleisten.
84. Insoweit stelle ich fest, dass sich aus bestimmten Beschlüssen der Beschwerdekammer ergibt, dass sie diesen vierten Erwägungsgrund der Vereinbarung über die Satzung als Ausdruck des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Rahmen dieser Vereinbarung ausgelegt hat(59 ).
85. Im Einzelnen geht aus dem im Plenum ergangenen Beschluss 10/02 vom 22. Juli 2010(60 ) hervor, dass zwar ihre Zuständigkeit im Sinne von Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung normalerweise unter den Voraussetzungen und nach den Durchführungsbestimmungen, auf die diese Vereinbarung verweist, ausgeübt wird, dass jedoch „in Ermangelung genauer hierfür vorgesehener Bestimmungen zu prüfen ist, ob es zur Wahrung des allgemeinen Grundsatzes des Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz möglich ist, im Wege der Analogie für vergleichbare Rechtsbehelfe vorgesehene Verfahrensregeln zu übertragen“(61 ).
86. In ihrer Rechtsprechung nach diesem Beschluss „räumt [die Beschwerdekammer] ein, dass die genaue Tragweite der angefochtenen Entscheidung zu bestimmen und zu prüfen ist, ob ihre Unzuständigkeit für die Aufhebung dieser Entscheidung aufgrund fehlender Rechtsbehelfe in den Durchführungsbestimmungen der [Vereinbarung über die Satzung] geeignet wäre, den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zu verletzen. Das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz wird nicht nur in [dieser Vereinbarung] anerkannt, sondern gehört auch zu den Grundrechten, die von der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt sind, sowie zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der [Union]“(62 ).
87. Somit zeigt sich, dass die Beschwerdekammer grundsätzlich seit 2010 eine gerichtliche Kontrolle ausübt, indem sie den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und damit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anwendet, der, wie aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, „eine Bekräftigung [dieses Grundsatzes]“ darstellt(63 ).
88. Daraus folgt schließlich grundsätzlich angesichts dieser Auslegung der Vorschriften der Schulordnung von 2014 durch die Beschwerdekammer im Lichte von Art. 47 der Charta, dass diese Kammer sich als zuständig zu erachten scheint, eine wirksame gerichtliche Kontrolle auszuüben, und daher kann der Grundsatz der effektiven Gerichtsbarkeit in Situationen, die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vergleichbar sind, grundsätzlich nicht verletzt werden.
89. Vor diesem Hintergrund halte ich es jedoch für angebracht, kurz den Umfang der Verpflichtung der Beschwerdekammer zu prüfen, die Vereinbarung über die Satzung und die zur Durchführung dieser Vereinbarung erlassenen Rechtsakte, insbesondere die Schulordnung von 2014, unter Berücksichtigung meiner vorstehenden Erwägungen zu untersuchen(64 ).
b) Zur Verpflichtung der Beschwerdekammer, den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bei der Auslegung der Vereinbarung über die Satzung und der Schulordnung von 2014 anzuwenden
90. Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass die Natur der durch Art. 27 Abs. 1 der Vereinbarung über die Satzung errichteten Beschwerdekammer vom Gerichtshof bereits in seinem Urteil Miles u. a. klargestellt worden ist(65 ).
91. In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass die Beschwerdekammer alle Merkmale erfüllt, anhand deren sie als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV beurteilt werden kann. Dazu gehören u. a. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit. Das Merkmal, zu einem der Mitgliedstaaten zu gehören, erfüllt sie allerdings nicht(66 ).
92. Folglich hat der Gerichtshof, entschieden, dass er für die Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens dieser Beschwerdekammer nicht zuständig ist, obwohl diese Kammer als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts einzustufen ist, da sie nicht im Sinne von Art. 267 AUEV zu einem der Mitgliedstaaten, sondern zu den Europäischen Schulen gehört(67 ).
93. Insoweit möchte ich hinzufügen, dass eine Reform, die es der Beschwerdekammer erlaubt, den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV anzurufen, zwar gewiss wünschenswert sein mag, wie der Gerichtshof selbst in seiner Rechtsprechung angemerkt hat(68 ), man allerdings meines Erachtens nicht behaupten kann, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und andere allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Rahmen einer Klage vor dieser Kammer nicht anwendbar sind, und zwar aus den folgenden Gründen.
94. Erstens gehört die Beschwerdekammer, wie ich in meinen allgemeinen Erwägungen ausgeführt habe(69 ), zu den Europäischen Schulen, die ein System sui generis darstellen, das mittels der Vereinbarung über die Satzung, die ein internationales Abkommen ist, eine Form der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und zwischen diesen und der Union andererseits verwirklicht, um zur Sicherung des ordnungsgemäßen Funktionierens der europäischen Organe den gemeinsamen Unterricht der Kinder der Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften zu gewährleisten(70 ).
95. Da die Vereinbarung über die Satzung daher, was die Union betrifft, eine Handlung eines Unionsorgans im Sinne von Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV darstellt und die Bestimmungen dieser Vereinbarung integraler Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind(71 ), fügt sich diese Vereinbarung in die Normenhierarchie der Rechtsordnung der Union ein, an deren Spitze sich der Vertrag, die Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts als Quellen dieses Rechts befinden(72 ).
96. Folglich ist nach dem Grundsatz der Normenhierarchie ein internationales Abkommen wie die Vereinbarung über die Satzung mit dem Unionsrecht unvereinbar, wenn es insbesondere gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstößt(73 ). Diese Vereinbarung und die Schulordnung von 2014 müssen daher mit den Verträgen, der Charta und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar sein. Mit anderen Worten ist es, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung zu Recht festgestellt hat, nicht vorstellbar, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten die durch das Primärrecht und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrecht auferlegten Verpflichtungen durch den Abschluss eines internationalen Abkommens wie der Vereinbarung über die Satzung verletzen. Daher sind sie verpflichtet, diese Verpflichtungen unter Beachtung insbesondere der Art. 2 und 21 EUV sowie der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten und umzusetzen(74 ).
97. Zweitens ist hinzuzufügen, dass Art. 31 Abs. 3 Buchst. c des Wiener Übereinkommens(75 ) bestimmt, dass bei der Auslegung eines internationalen Abkommens auf „jeden in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatz“ abzustellen ist. In Anbetracht der Besonderheit der Vereinbarung über die Satzung als internationales Abkommen, dessen Vertragsparteien die Union und alle Mitgliedstaaten sind, ermöglicht es diese Bestimmung daher, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts auch als Regeln des Völkerrechts zu betrachten, die auf die Parteien dieser Vereinbarung anwendbar sind, und sie bei der Auslegung dieser Vereinbarung „außer dem Zusammenhang in gleicher Weise“ zu berücksichtigen(76 ).
98. Drittens weise ich darauf hin, dass die Verpflichtung der Beschwerdekammer, die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts anzuwenden, wenn sie mit einem Rechtsstreit befasst ist, bereits vom Gerichtshof im Urteil Miles u. a. bestätigt worden ist(77 ).
99. Daraus folgt, dass die Vereinbarung über die Satzung und die Schulordnung von 2014 dahin auszulegen sind, dass sie die Beschwerdekammer verpflichten, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Rahmen des in Art. 27 Abs. 2 dieser Vereinbarung sowie insbesondere in den Art. 61, 62, 66 und 67 dieser Schulordnung vorgesehenen Systems der Rechtsmittel zu beachten und anzuwenden.
100. Was schließlich viertens den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes anlangt, so weise ich zunächst darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil Oberto und O’Leary(78 ) festgestellt hat, dass nach Art. 47 der Charta der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht das Recht auf Zugang zu zwei Gerichtsinstanzen umfasst, sondern nur zu einem Gericht.
101. Daher ist davon auszugehen, dass die Verpflichtung der Eltern, ihren Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit des Beschlusses der Klassenkonferenz der Scuola europea di Varese, einen Schüler nicht in die nächsthöhere Klasse der Sekundarstufe zu versetzen, nach Ausschöpfung des Verwaltungsweges vor dem Generalsekretär vor der Beschwerdekammer auszutragen, die in erster und letzter Instanz entscheidet, ihr Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht beeinträchtigt.
102. Wie sich aus meiner Analyse ergibt, sind Art. 27 Abs. 2 der Vereinbarung über die Satzung sowie die Art. 61, 62, 66 und 67 der Schulordnung von 2014 folglich im Einklang mit dem in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes auszulegen(79 ).
VI. Ergebnis
103. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) gestellte Frage wie folgt zu beantworten:
Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 der am 21. Juni 1994 in Luxemburg zwischen den Mitgliedstaaten und den Europäischen Gemeinschaften geschlossenen Vereinbarung über die Satzung der Europäischen Schulen in Verbindung mit den Art. 61, 62, 66 und 67 der Allgemeinen Schulordnung der Europäischen Schulen in ihrer Fassung Nr. 2014-03-D-14-de-11
ist dahin auszulegen, dass
die darin genannte Beschwerdekammer bei Streitigkeiten über den von der Klassenkonferenz gegenüber einem Schüler der Sekundarstufe getroffenen Wiederholungsbeschluss, nach Ausschöpfung des in der Allgemeinen Schulordnung der Europäischen Schulen vorgesehenen Verwaltungsweges vor dem Generalsekretär der Europäischen Schulen, erst- und letztinstanzlich ausschließliche Zuständigkeit besitzt.