Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)
16. Mai 2019(* )
„Humanarzneimittel – Art. 3 Abs. 1 Buchst b der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 – Begriff „erheblicher Nutzen“ – Verfügbarkeit eines Arzneimittels für seltene Leiden – Art. 5 Abs. 12 Buchst. b der Verordnung Nr. 141/2000 – Beschluss der Kommission, mit dem ein Arzneimittel aus dem Register der Arzneimittel für seltene Leiden gestrichen wird – Beurteilungsfehler – Rechtsfehler – Berechtigtes Vertrauen“
In der Rechtssache T‑733/17,
GMP-Orphan (GMPO) mit Sitz in Paris (Frankreich), Prozessbevollmächtigte M. Demetriou, QC, E. Mackenzie, Barrister, L. Tsang und J. Mulryne, Solicitors,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch K. Petersen und A. Sipos,
Beklagte,
wegen einer Klage nach Art. 263 AEUV auf teilweise Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses C(2017) 6102 final der Kommission vom 5. September 2017 über die Erteilung einer Zulassung für das Humanarzneimittel Cuprior – Trientin gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, soweit die Kommission in Art. 5 dieses Beschlusses entschieden hat, dass dieses Arzneimittel nicht mehr den in der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. 2000, L 18, S. 1) vorgesehenen Kriterien entspricht, um als Arzneimittel für seltene Leiden eingetragen zu sein, und dass folglich das Unionsregister für Arzneimittel für seltene Leiden zu aktualisieren ist,
erlässt
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tomljenović sowie der Richter E. Bieliūnas und A. Kornezov (Berichterstatter),
Kanzler P. Cullen, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2018
folgendes
Urteil (1 )
[nicht wiedergegeben ]
Verfahren und Anträge der Parteien
10 Mit Klageschrift, die am 2. November 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht wurde, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
11 Am selben Tag hat die Klägerin einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, der mit Beschluss vom 23. November 2018, GMPO/Kommission (T‑733/17 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:839), zurückgewiesen wurde.
12 Am 19. Januar 2018 hat die Kommission ihre Klagebeantwortung eingereicht.
13 Die Parteien haben ihre Erwiderung bzw. Gegenerwiderung am 12. März und am 27. April 2018 eingereicht.
14 Die Klägerin beantragt,
– Art. 5 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären,
– der Kommission aufzugeben, Cuprior als Arzneimittel für seltene Leiden auszuweisen und infolgedessen das Unionsregister für Arzneimittel für seltene Leiden zu aktualisieren,
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
15 Die Kommission beantragt,
– die Klage als teilweise unzulässig, jedenfalls aber als unbegründet abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
[nicht wiedergegeben ]
Zur Begründetheit
[nicht wiedergegeben ]
Zum ersten und zum vierten Klagegrund: Rechtsfehlerhafte Auslegung des Begriffs „erheblicher Nutzen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 141/2000 und offensichtlich fehlerhafte Würdigung der von der Klägerin vorgelegten Beweise
[nicht wiedergegeben ]
30 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Verfahren betreffend Arzneimittel für seltene Leiden in zwei verschiedenen Phasen abläuft. Die erste Phase betrifft die Ausweisung des Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden, die zweite die Genehmigung für das Inverkehrbringen des für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittels und das damit verknüpfte Marktexklusivitätsrecht (Urteil vom 9. September 2010, Now Pharm/Kommission, T‑74/08, EU:T:2010:376, Rn. 33).
31 In Bezug auf das Verfahren der Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden sieht Art. 3 der Verordnung Nr. 141/2000 die Kriterien vor, die das potenzielle Arzneimittel erfüllen muss, um als Arzneimittel für seltene Leiden anerkannt zu werden. Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b erster Fall der Verordnung Nr. 141/2000 muss der Investor des Arzneimittels für seltene Leiden insbesondere nachweisen, dass in der Union noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des Leidens zugelassen wurde, auf das sich das Arzneimittel bezieht, für das der Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden gestellt wird. Wenn aber eine solche Methode existiert, soll es nach dem Willen des Gesetzgebers möglich sein, jedes potenzielle Arzneimittel, das der Behandlung desselben Leidens dient, als Arzneimittel für seltene Leiden auszuweisen, sofern der betreffende Investor nachweist, dass dieses Arzneimittel für von dem Leiden betroffene Patienten von erheblichem Nutzen sein wird (Urteil vom 9. September 2010, Now Pharm/Kommission, T‑74/08, EU:T:2010:376, Rn. 34).
32 Der Begriff „erheblicher Nutzen“ ist in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 definiert als „ein klinisch relevanter Vorteil oder ein bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten“. Im Rahmen des hier anwendbaren Art. 3 Abs. 1 Buchst. b zweiter Fall der Verordnung Nr. 141/2000 ist der Nachweis eines erheblichen Nutzens in eine vergleichende Untersuchung in Bezug auf eine bereits existierende und zugelassene Methode oder ein entsprechendes Arzneimittel eingebettet. Denn „ein klinisch relevanter Vorteil“ und ein „bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten“, die dem potenziellen Arzneimittel für seltene Leiden seinen erheblichen Nutzen verleihen, können nur im Vergleich mit bereits zugelassenen Behandlungen festgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2015, Teva Pharma und Teva Pharmaceuticals Europe/EMA, T‑140/12, EU:T:2015:41, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Die zweite Phase des Verfahrens, d. h. die Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels für seltene Leiden, wird gegebenenfalls nach der Ausweisung des betreffenden Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden durchgeführt. Nach Art. 5 Abs. 12 Buchst. b der Verordnung Nr. 141/2000 ist im Zuge der Prüfung eines Antrags auf Genehmigung für das Inverkehrbringen zu überprüfen, ob die in Art. 3 dieser Verordnung festgelegten Kriterien nach wie vor erfüllt sind. Gemäß Art. 5 Abs. 12 Buchst. b der Verordnung Nr. 141/2000 wird ein als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenes Arzneimittel nämlich aus dem Register für Arzneimittel für seltene Leiden gestrichen, wenn vor Erteilung der Genehmigung für das Inverkehrbringen festgestellt wird, dass diese Kriterien bei diesem Arzneimittel nicht mehr erfüllt sind.
34 Stellt ein Investor also einen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines ausgewiesenen Arzneimittels für seltene Leiden, löst er damit zugleich ein Verfahren der erneuten Prüfung der Ausweisungskriterien aus. Für die Beurteilung, ob diese Kriterien erfüllt sind, ist der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden (COMP) zuständig, der insoweit ein Gutachten abgibt. Im vorliegenden Fall ist die Kommission nicht vom endgültigen Gutachten des COMP abgewichen und hat damit die darin enthaltenen Feststellungen übernommen. Daher ist davon auszugehen, dass sich die dem Gericht obliegende gerichtliche Kontrolle auf alle Erwägungen in diesem Gutachten, die Bestandteil des angefochtenen Beschlusses ist, erstrecken muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2018, Bristol-Myers Squibb Pharma/Kommission und EMA, T‑329/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:878, Rn. 98).
35 Nach diesen Erläuterungen ist darauf hinzuweisen, dass sich die Klägerin im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. b zweiter Fall der Verordnung Nr. 141/2000 beruft. Sie räumt somit ein, dass es zufriedenstellende, in der Union bereits zugelassene Behandlungsmethoden für Patienten mit Morbus Wilson gibt, insbesondere das Referenzarzneimittel. Insoweit ist, wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, unstreitig, dass die klinische Wirksamkeit des Referenzarzneimittels mindestens ebenso gut ist wie die von Cuprior und dass der Antrag für das Inverkehrbringen von Cuprior auf vorklinischen Tests und klinischen Versuchen des Referenzarzneimittels basiert.
36 Die Klägerin macht mit ihrem ersten Klagegrund im Wesentlichen geltend, dass die unmittelbar bevorstehende Genehmigung für das Inverkehrbringen von Cuprior, die für das gesamte Gebiet der Union gelte, einen dem erheblichen Nutzen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b zweiter Fall der Verordnung Nr. 141/2000, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000, der Mitteilung von 2003 und den Leitlinien von 2014 inhärenten Fall darstelle, da das Referenzarzneimittel nur in einem einzigen Mitgliedstaat zugelassen sei.
37 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass weder Verordnung Nr. 141/2000 noch die Verordnung Nr. 847/2000 eine Bestimmung enthält, die vorsähe, dass die Zulassung eines Arzneimittels für seltene Leiden auf Unionsebene per se einen erheblichen Nutzen gegenüber der Behandlung auf der Grundlage eines bestehenden Arzneimittels darstellt, das ebenso wirksam und – wenn auch nur in einem einzigen Mitgliedstaat – bereits zugelassen ist.
38 Zweitens ist der Begriff „erheblicher Nutzen“ in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 als „ein klinisch relevanter Vorteil oder ein bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten“ definiert. Da Cuprior im vorliegenden Fall keinen klinisch relevanten Vorteil gegenüber dem Referenzmedikament hat, beruft sich die Klägerin auf einen „bedeutenden Beitrag zur Behandlung von Patienten“.
39 Aus dieser Definition ergibt sich jedoch, dass die das neue Arzneimittel mit dem Referenzarzneimittel vergleichende Untersuchung nicht nur zeigen muss, dass das neue Arzneimittel den Patienten einen Nutzen bringt und zu ihrer Behandlung beiträgt, sondern auch, dass der Nutzen „erheblich“ ist und der Beitrag „bedeutend“ ist. Der erwartete Nutzen dieses neuen Arzneimittels muss daher eine bestimmte quantitative oder qualitative Schwelle überschreiten, um als „erheblich“ oder „bedeutend“ angesehen werden zu können.
40 Der Investor muss daher auf der Grundlage konkreter und fundierter Beweise darlegen, dass sein Arzneimittel von erheblichem Nutzen ist, d. h. dass es im Vergleich zum Referenzarzneimittel einen bedeutenden Beitrag zur Behandlung von Patienten leistet, und er kann sich insoweit nicht auf Annahmen oder allgemeine Aussagen stützen.
41 Die bloße Tatsache, dass das Referenzarzneimittel nur in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, bedeutet nämlich nicht, dass Patienten in anderen Mitgliedstaaten keinen legalen Zugang zu ihm haben und dass ihr Bedarf nicht erfüllt wird. Auch dass ein Arzneimittel auf Unionsebene zugelassen ist, bedeutet für sich genommen nicht, dass es in allen Mitgliedstaaten tatsächlich verfügbar ist. Denn auch bei auf Unionsebene zugelassenen Arzneimitteln kann es zu Problemen bei der Verfügbarkeit kommen.
42 Drittens wird diese Schlussfolgerung durch die Mitteilung von 2003 untermauert. Aus deren Abschnitt A Nr. 4 ergibt sich nämlich, dass die Annahme des erheblichen Nutzens eines Arzneimittels als „bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten“ zwingend auf einer Analyse konkreter Beweise im Einzelfall beruht. Insbesondere müssen Annahmen des erheblichen Nutzens, auf die sich der Investor stützt, „durch die verfügbaren Daten bzw. die vom Antragsteller eingereichten Nachweise bestätigt werden“ (Abs. 2 und 3), und der Investor muss „darlegen, … warum [aufgrund des Versorgungsengpasses] Patientenbedürfnisse zu kurz kommen“ und diese durch „qualitative und quantitative Angaben“ belegen (Abs. 4).
43 In Abschnitt A Nr. 4 der Mitteilung von 2003 heißt es zwar in Abs. 5, dass „[h]insichtlich der potenziellen Verfügbarkeit eines Arzneimittels für die Bevölkerung der [Union] … ein Arzneimittel, das in allen Mitgliedstaaten zugelassen und verfügbar ist, einen erheblichen Nutzen gegenüber einem ähnlichen Arzneimittel aufweisen [kann], das nur in einigen Mitgliedstaaten zugelassen ist“. Es ist jedoch zum einen darauf hinzuweisen, dass sich diese Passage auf Arzneimittel bezieht, die nicht nur in allen Mitgliedstaaten „zugelassen“, sondern auch „verfügbar“ sind. Zum anderen beschränkt sich diese Passage auf den Hinweis, dass ein solches Medikament einen erheblichen Nutzen aufweisen „kann“. Wenn also in dieser Passage der Mitteilung von 2003 anerkannt wird, dass eine etwaige Unionszulassung einen erheblichen Nutzen aufweisen kann, handelt es sich dabei, wie sich auch aus den oben angeführten Passagen der Mitteilung von 2003 (siehe oben, Rn. 42) ergibt, nur um eine Möglichkeit, die im Einzelfall durch konkrete Beweise belegt werden muss, und nicht um eine zwingende Vorgabe oder eine gesetzliche Vermutung.
44 In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin eingeräumt, dass sie sich auch nicht auf den in Abschnitt A Nr. 4 Abs. 9 der Mitteilung von 2003 beschriebenen Fall berufen könne, da dieser auf die hier vorliegenden Umstände nicht anwendbar sei. Hier wurde das Referenzarzneimittel nämlich schon 1985 und damit lange vor dem Ausweisungsbeschluss 2015 auf dem Markt des Vereinigten Königreichs zugelassen, so dass sich nicht vertreten lässt, dass der Investor des Referenzarzneimittels mit der betreffenden nationalen Zulassung versucht habe, die bevorstehende Zulassung von Cuprior zu blockieren. Der in Abschnitt A. Nr.4 Abs. 9 der Mitteilung von 2003 beschriebene Fall ist daher hier nicht anwendbar.
45 Die Klägerin beruft sich allerdings auf Abschnitt A Nr. 4 Abs. 10 der Mitteilung von 2003, wonach „eine unmittelbar bevorstehende Zulassung [auf Unionsebene] und nicht nur für einen Mitgliedstaat oder einen Teil der Mitgliedstaaten die Annahme eines erheblichen Nutzens hinreichend begründen kann“. Selbst wenn dieser Absatz auf andere als die in Abschnitt A Nr. 4 Abs. 9 der Mitteilung von 2003 beschriebenen und hier nicht vorliegenden Umstände Anwendung finden sollte, genügt jedoch die Feststellung, dass auch dort nur eine Möglichkeit genannt wird und es sich nicht um eine zwingende Vorgabe oder eine gesetzliche Vermutung handelt.
46 Viertens stützen auch die Leitlinien für 2014 diese Schlussfolgerung. So wiederholt Abschnitt D Nr. 3 der Leitlinien im Wesentlichen die Mitteilung von 2003. Dort wird nämlich zum einen eingeräumt, dass ein in allen Mitgliedstaaten zugelassenes Arzneimittel einen erheblichen Nutzen gegenüber einem in nur wenigen Mitgliedstaaten zugelassenen Arzneimittel haben „kann“, aber zum anderen festgestellt, dass die Gründe, die der Investor vorgetragen hat, um eine bessere Versorgung oder Verfügbarkeit nachzuweisen, daraufhin geprüft werden müssen, ob sie zu einem klinisch relevanten erheblichen Nutzen für die Patienten in allen Mitgliedstaaten führen können.
47 Fünftens hindert die Tatsache, dass ein Arzneimittel nicht auf Unionsebene, sondern nur in einem Mitgliedstaat zugelassen wird, die Mitgliedstaaten, in denen es nicht zugelassen ist, nicht daran, gesetzliche Mechanismen vorzusehen, um seine Einfuhr in ihr Gebiet zu erlauben. Denn nach dem 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 muss es für eine Person, die in einem Mitgliedstaat ansässig ist, möglich sein, sich aus einem anderen Mitgliedstaat eine angemessene Menge von Arzneimitteln für ihren persönlichen Bedarf zuschicken zu lassen. So sieht Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 vor, dass ein Mitgliedstaat gemäß den geltenden Rechtsbestimmungen in besonderen Bedarfsfällen Arzneimittel von den Bestimmungen dieser Richtlinie und damit von dem in Art. 6 Abs. 1 genannten Verbot ausnehmen kann, die auf eine nach Treu und Glauben aufgegebene Bestellung, für die nicht geworben wurde, geliefert werden und die nach den Angaben eines zugelassenen praktizierenden Arztes hergestellt werden und zur Verabreichung an dessen eigene Patienten unter seiner Verantwortung bestimmt sind.
48 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass sich aus der Gesamtheit der in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 genannten Voraussetzungen im Licht der wesentlichen Ziele dieser Richtlinie und insbesondere des Ziels betreffend den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ergibt, dass die in der besagten Bestimmung vorgesehene Ausnahme nur Situationen betreffen kann, in denen nach Ansicht des Arztes der Gesundheitszustand seiner einzelnen Patienten die Verabreichung eines Arzneimittels erfordert, für das es auf dem nationalen Markt kein zugelassenes Äquivalent gibt oder das auf diesem Markt nicht verfügbar ist (vgl. Urteil vom 23. Januar 2018, F. Hoffmann-La Roche u. a., C‑179/16, EU:C:2018:25, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass es nationale Einfuhrprogramme gibt, die eine legale Einfuhr des Referenzarzneimittels ermöglichen, auch wenn es im Einfuhrmitgliedstaat nicht zugelassen ist. Diese Programme ermöglichen es somit, den betroffenen Patienten Arzneimitteln zu verschreiben, die in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht zugelassen sind.
50 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin handelt es sich hier im Rahmen dieser Programme nicht um eine „Off-label“-Verwendung des Referenzarzneimittels, sondern nur um seine Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem es zugelassen wurde, und zwar genau für die Indikationen, für die es zugelassen wurde. Die Analogie, die die Klägerin zwischen einer „Off-Label“-Verwendung und einer Verwendung gemäß den therapeutischen Indikationen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem das Referenzarzneimittel zugelassen wurde, zu ziehen versucht, kann daher nicht greifen.
51 Auch das Vorbringen der Klägerin, dass die Berücksichtigung solcher nationaler Einfuhrprogramme bei der Prüfung der Frage, ob ein erheblicher Nutzen vorliegt, zu einem ungleichen Zugang zum Referenzarzneimittel führen würde, da dieser Zugang in den einzelnen Mitgliedstaaten nach bisweilen unterschiedlichen Modalitäten geregelt sei, und daher dem Ziel des Unionsgesetzgebers, strenge und harmonisierte Zulassungsverfahren auf Unionsebene einzuführen, zuwiderlaufen würde, kann nicht durchgreifen. Die Relevanz dieser Programme lässt sich nämlich nicht allein deshalb verneinen, weil sie auf der Grundlage einer Ausnahmeregelung, nämlich der in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 vorgesehenen, aufgestellt wurden oder weil die Bestimmungen über die Durchführung der Programme nicht auf Unionsebene harmonisiert sind. Ob diese Programme in der Praxis einen ausreichenden und effektiven Zugang zum Referenzarzneimittel ermöglichen, ist eine ganz andere Frage, die von der Prüfung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls abhängt. Dies ist im Übrigen Gegenstand des vierten Klagegrundes. Die Berücksichtigung solcher Programme stellt auch das zentralisierte Verfahren auf Unionsebene für die Zulassung des Arzneimittels in keiner Weise in Frage, sondern zielt nur darauf ab, festzustellen, ob Patienten mit der betreffenden Erkrankung in der Praxis Zugang zum Referenzarzneimittel haben.
52 Daher hat der COMP in seinem endgültigen Gutachten, auf das die Kommission den angefochtenen Beschluss gestützt hat, keinen Rechtsfehler begangen, als er berücksichtigte, dass es nationale Einfuhrprogramme gibt, die die legale Einfuhr des Referenzarzneimittels ermöglichen.
53 Aus all diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Tatsache, dass ein Arzneimittel wahrscheinlich auf Unionsebene zugelassen wird, weder den Schluss noch auch nur die Vermutung zulässt, dass dieses Arzneimittel nur deshalb einen erheblichen Nutzen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b zweiter Fall der Verordnung Nr. 141/2000, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000, der Mitteilung von 2003 und der Leitlinien von 2014 im Vergleich zum Referenzarzneimittel bietet, weil dieses nur in einem Mitgliedstaat zugelassen ist.
54 Der erste Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
55 Hinsichtlich des vierten Klagegrundes ist zu prüfen, ob der angefochtene Beschluss insoweit auf einem Beurteilungsfehler beruht, als der COMP zu dem Schluss gelangt ist, dass die von der Klägerin vorgelegten Beweise nicht ausreichten, um die Annahme eines erheblichen Nutzens zu begründen. Der COMP hat hierzu festgestellt, dass die Klägerin die fehlende Verfügbarkeit des Referenzarzneimittels in der Union nicht hinreichend nachgewiesen habe, so dass der Behauptung, Cuprior erhöhe die Verfügbarkeit der Behandlung erheblich, nicht gefolgt werden könne.
56 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Kommission, wenn sie komplexe technische oder wissenschaftliche Bewertungen vorzunehmen hat, über ein weites Ermessen verfügt. In einem solchen Fall beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle darauf, zu prüfen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (siehe Urteil vom 9. September 2010, Now Pharm/Kommission, T‑74/08, EU:T:2010:376, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 In der vorliegenden Rechtssache stellt das Gericht jedoch fest, dass in der dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegenden Gutachten des COMP keine komplexen technischen oder wissenschaftlichen Bewertungen vorgenommen, sondern im Wesentlichen tatsächliche Feststellungen über die Verfügbarkeit des Referenzarzneimittels in der Union getroffen werden. Die gerichtliche Kontrolle des Gerichts ist in dieser Rechtssache somit umfassend.
58 Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der COMP eine eigene Untersuchung der Verfügbarkeit des Referenzarzneimittels in den Mitgliedstaaten der Union durchgeführt hat. Diese Untersuchung hat ergeben, dass mindestens 26 Mitgliedstaaten über Regulierungsmechanismen für die Einfuhr des Referenzarzneimittels verfügen und dass dieses Arzneimittel daher gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 eingeführt werden kann oder tatsächlich eingeführt wurde.
59 Die Klägerin scheint die Richtigkeit der Informationen, die der COMP im Rahmen dieser Untersuchung gesammelt hat, nicht zu bestreiten. Sie beanstandet allerdings, dass die Untersuchung auf der „informellen Kommunikation“ zwischen den Mitgliedern des COMP und den nationalen Regulierungsbehörden beruht. Sie scheint daher, zumindest implizit, den Beweiswert dieser Untersuchung in Frage zu stellen.
60 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt und dass für die Würdigung der vorgelegten Beweise allein ihre Glaubhaftigkeit maßgeblich ist. Zur Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments ist zudem die Wahrscheinlichkeit der darin enthaltenen Information zu untersuchen. Dabei sind insbesondere die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Ausarbeitung und sein Adressat zu berücksichtigen, und es ist die Frage zu beantworten, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Mai 2018, Kaddour/Rat, T‑461/16, EU:T:2018:316, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Rahmen der COMP-Untersuchung gesammelten Informationen aus offiziellen und zuverlässigen Quellen, nämlich von den nationalen Regulierungsbehörden, stammen, die über die Erfahrung verfügen, die es ihnen erlaubt, zu beurteilen, ob es Versorgungsprobleme gibt, und die für die Einfuhr des Referenzarzneimittels geltenden Verfahren zu kennen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden in einer der Klageschrift als Anlage A 7 beigefügten Übersichtstabelle vom 15. Juni 2016 mit dem Titel „Verfügbarkeit von Trientin in den Mitgliedstaaten gemäß der von den COMP-Mitgliedern durchgeführten Überprüfung, EMA/317599/2017“ dargestellt, die konkrete und nachprüfbare Informationen nach Mitgliedstaaten enthält.
62 Darüber hinaus ist der COMP ein Kollektivorgan, das sich aus je einem von jedem Mitgliedstaat benannten Mitglied, drei von der Kommission als Vertreter der Patientenorganisationen benannten Mitgliedern, drei von der Kommission auf Vorschlag der EMA benannten Mitglieder und einem Vorsitzenden sowie einem von den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) benannten Mitglied zusammensetzt (6. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 141/2000). Der COMP besteht daher aus einem repräsentativen Kollegium aller Mitgliedstaaten sowie der Patientenorganisationen, was es ihm ermöglicht, sich auf der Grundlage der nationalen Erfahrungen sowohl der nationalen Regulierungsbehörden als auch der Patientenorganisationen eine Meinung zu bilden.
63 Daher ist das Gericht in Ermangelung eines stichhaltigen Gegenarguments der Klägerin der Auffassung, dass die vom COMP durchgeführte Untersuchung einen hohen Beweiswert hat.
64 Was zweitens die dem COMP von der Klägerin vorgelegten Beweise anbelangt, so wollte die Klägerin nachweisen, dass, obwohl es in den meisten Mitgliedstaaten Regelungen gibt, die die Einfuhr des Referenzarzneimittels zulassen, „logistische und administrative“ Hindernisse für den tatsächlichen Zugang zu diesem Arzneimittel bestehen. Sie hat sich insoweit auf das Ergebnis einer Umfrage gestützt, die sie selbst bei den Arzneimittelregulierungsbehörden von 26 Mitgliedstaaten, bei 18 Ärzten in 15 Mitgliedstaaten und elf Patientenverbänden von elf Mitgliedstaaten durchgeführt hatte. Die Antworten hat sie in einer Übersichtstabelle dokumentiert, die der Klageschrift als Anlage 10 beigefügt ist. Darin sind die Mitgliedstaaten in drei Gruppen eingeteilt, nämlich diejenigen, in denen die Verfügbarkeit des Referenzarzneimittels „begrenzt/nicht vorhanden“, sei (sieben Mitgliedstaaten), diejenigen, in denen die Verfügbarkeit „mäßig“ sei (vier Mitgliedstaaten) und diejenigen, in denen die Verfügbarkeit „gut“ sei (neun Mitgliedstaaten). Die in den elf Mitgliedstaaten mit „begrenzter/nicht vorhandener“ oder „mittlerer“ Verfügbarkeit festgestellten Verfügbarkeitsprobleme sollen nach den Ergebnissen dieser Untersuchung auf die fehlende Erstattungsfähigkeit des Referenzarzneimittels und auf Versorgungsengpässe zurückzuführen sein.
65 Nach Prüfung der Ergebnisse dieser Untersuchung ist der COMP zu dem Schluss gelangt, dass die Untersuchung nicht hinreichend belege, dass die Verfügbarkeit des Referenzarzneimittels problematisch sei. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass er bei der Beurteilung der Frage, ob ein erheblicher Nutzen vorliege, Erwägungen im Zusammenhang mit der gegebenenfalls fehlenden Erstattungsfähigkeit des Referenzarzneimittels im Einfuhrmitgliedstaat nicht berücksichtigen könne. Ferner habe die Antragstellerin keine zusätzlichen Belege für objektive Versorgungsdefizite vorgelegt, die über die fehlende Erstattungsfähigkeit in einigen Mitgliedstaaten einerseits und den mit der Organisation der Einfuhr verbundenen Verwaltungsaufwand andererseits hinausgingen.
66 Was die erste Art von Hindernissen betrifft, nämlich diejenigen, die mit der fehlenden Erstattungsfähigkeit des Referenzarzneimittels im Einfuhrmitgliedstaat zusammenhängen, so ist daran zu erinnern, dass die Kostenerstattung für ein Arzneimittel durch die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten allein in deren Zuständigkeit liegt. Daher bedeutet zum einen die Tatsache, dass das Referenzarzneimittel nur in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, nicht zwingend, dass es deshalb vom nationalen Gesundheitssystem des einführenden Mitgliedstaats von der Erstattung ausgeschlossen ist. So geht beispielsweise aus der oben in Rn. 58 genannten COMP-Untersuchung hervor, dass das Referenzarzneimittel in Deutschland erstattet wird.
67 Zum anderen bedeutet, wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, die mögliche Erlangung einer Zulassung auf Unionsebene auch nicht, dass Cuprior von den nationalen Gesundheitssystemen erstattet wird. Darüber hinaus legt die Klägerin keine Beweise dafür vor, dass – und in welchem Umfang – Cuprior, sobald es eine Unionszulassung erhalten hätte, wahrscheinlich von den nationalen Gesundheitssystemen erstattet werden würde.
68 Was die zweite Art der von der Klägerin geltend gemachten Hindernisse betrifft, nämlich diejenigen „administrativer oder logistischer“ Art, so ist festzustellen, dass das Vorbringen der Klägerin zu diesem Punkt nicht ausreichend belegt ist. Die Klägerin nennt nämlich lediglich einige Beispiele aus ihrer oben in Rn. 64 genannten Untersuchung, dass nämlich in einigen Mitgliedstaaten eine vorherige Genehmigung eingeholt und regelmäßig erneuert werden müsse oder es zu nicht näher bestimmten Verzögerungen bei der Abgabe des Referenzarzneimittels komme. Sie weist jedoch nicht nach, dass die nationalen Einfuhrprogramme durch ihre Funktionsweise dem Patienten einen unangemessenen Verwaltungsaufwand in Form von Wartezeiten, Kosten oder zu ergreifenden Maßnahmen auferlegen, der ihre Wirksamkeit und damit die rechtzeitige Bereitstellung des Referenzarzneimittels in Frage stellen kann. Wie oben in Rn. 39 und 40 ausgeführt, muss der Investor jedoch nicht nur nachweisen, dass das Medikament von Nutzen sein oder zur Patientenversorgung beitragen würde, sondern auch, dass der Nutzen „erheblich“ und der Beitrag „bedeutend“ wäre.
69 Darüber hinaus sind die von der Klägerin bei ihrer Untersuchung erlangten Informationen auf jeden Fall mit denen zu vergleichen, die sich aus der vom COMP durchgeführten Untersuchung ergeben, die nach Ansicht des Gerichts einen hohen Beweiswert hat (siehe oben, Rn. 63). In dieser Untersuchung werden jedoch keine wesentlichen Hindernisse für den Zugang zum Referenzarzneimittel in den betroffenen Mitgliedstaaten festgestellt.
[nicht wiedergegeben ]
71 Unter diesen Umständen ist das Gericht der Ansicht, dass der COMP keinen Beurteilungsfehler begangen hat, als er zu dem Schluss gelangt ist, dass der Investor keine ausreichenden Beweise für die Feststellung vorgelegt habe, dass es ein Verfügbarkeitsproblem gebe und dass Patienten mit Morbus Wilson in der Union nicht ordnungsgemäß mit bereits zugelassenen Arzneimitteln, auch nicht über regulatorische Zugangswege gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83, behandelt würden. Somit liegt auch dem angefochtenen Beschluss, mit dem das endgültige Gutachten des COMP übernommen wurde, kein Beurteilungsfehler zugrunde.
72 Daher ist auch der vierte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben ]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. GMP-Orphan (GMPO) trägt die Kosten, einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
Tomljenović
Bieliūnas
Kornezov
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Mai 2019.
Unterschriften