URTEIL DES GERICHTS (Vierte erweiterte Kammer)
17. Mai 2023(* )
„Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Deutscher Strommarkt – Beschluss, mit dem der Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Fehlendes Rechtsschutzinteresse – Unzulässigkeit“
In der Rechtssache T‑322/20,
Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwalt C. Schalast und Rechtsanwältin H. Löschan,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission , vertreten durch G. Meessen und I. Zaloguin als Bevollmächtigte im Beistand der Rechtsanwälte F. Haus und F. Schmidt,
Beklagte,
unterstützt durch
Bundesrepublik Deutschland , vertreten durch J. Möller und S. Costanzo als Bevollmächtigte,
durch
E.ON SE mit Sitz in Essen (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte C. Grave, C. Barth und D.‑J. dos Santos Goncalves,
und durch
RWE AG mit Sitz in Essen, vertreten durch Rechtsanwälte U. Scholz und J. Siegmund sowie Rechtsanwältin J. Ziebarth,
Streithelferinnen,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)
zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni, der Richter L. Madise und P. Nihoul, der Richterin R. Frendo sowie des Richters J. Martín y Pérez de Nanclares (Berichterstatter),
Kanzler: S. Jund, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Juni 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH, die Nichtigerklärung des Beschlusses C(2019) 1711 final der Kommission vom 26. Februar 2019 zur Feststellung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen (Sache M.8871 – RWE/E.ON Assets) (ABl. 2020, C 111, S. 1, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
Vorgeschichte des Rechtsstreits
In Rede stehende Unternehmen
2 Die RWE AG ist eine Gesellschaft deutschen Rechts, die zum Zeitpunkt der Anmeldung des geplanten Zusammenschlusses auf den verschiedenen Stufen der Energieversorgungskette tätig war, u. a. in den Bereichen Stromerzeugung, ‑übertragung und ‑verteilung, im Stromgroß‑ und ‑einzelhandel sowie in energiebezogenen Kundenlösungen (wie Verbrauchsmessung, Elektromobilität usw.). RWE und ihre Tochtergesellschaften, darunter die innogy SE (im Folgenden: Innogy), sind in mehreren europäischen Staaten tätig, nämlich in Belgien, in der Tschechischen Republik, in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Luxemburg, in Ungarn, in den Niederlanden, in Polen, in Rumänien, in der Slowakei und im Vereinigten Königreich.
3 Die E.ON SE ist eine Gesellschaft deutschen Rechts, die zum Zeitpunkt der Anmeldung des geplanten Zusammenschlusses auf den verschiedenen Stufen der Stromversorgungskette, der Stromerzeugung und ‑verteilung sowie dem Stromgroß‑ und ‑einzelhandel, tätig war. E.ON besitzt und betreibt Stromerzeugungsanlagen in mehreren europäischen Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und das Vereinigte Königreich.
4 Die Klägerin ist eine deutsche kommunale Holding mit Beteiligungen an Energieversorgungsunternehmen, insbesondere der Mainova AG und der [vertraulich ](1 ).
Kontext des Zusammenschlusses
5 Der im vorliegenden Fall in Rede stehende Zusammenschluss fügt sich ein in den Rahmen eines komplexen Austauschs von Vermögenswerten zwischen RWE und E.ON, der von den beiden beteiligten Unternehmen am 11. und 12. März 2018 angekündigt wurde. So möchte RWE mit der ersten Transaktion, d. h. dem vorliegend in Rede stehenden Zusammenschluss, die alleinige oder gemeinsame Kontrolle über bestimmte Erzeugungsanlagen von E.ON erwerben. Die zweite Transaktion besteht darin, dass E.ON die alleinige Kontrolle über die Sparten Verteilung und Vertrieb sowie bestimmte Erzeugungsanlagen der von RWE kontrollierten Innogy erwirbt. Die dritte Transaktion sieht vor, dass RWE eine Beteiligung in Höhe von 16,67 % an E.ON erwirbt.
6 Die Klägerin übersandte am 22. Juni 2018 ein Schreiben an die Europäische Kommission, in dem sie dieser mitteilte, dass sie am den ersten und den zweiten Zusammenschluss betreffenden Verfahren beteiligt werden und daher die entsprechenden Unterlagen erhalten möchte.
7 Am 28. September 2018 fand eine Besprechung zwischen der Klägerin und der Kommission statt.
8 Der zweite Zusammenschluss wurde am 31. Januar 2019 bei der Kommission angemeldet. Im Hinblick auf diese zweite Transaktion erließ die Kommission den Beschluss C(2019) 6530 final vom 17. September 2019 zur Feststellung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen (Sache M.8870 – E.ON/Innogy) (ABl. 2020, C 379, S. 16).
9 Der dritte Zusammenschluss wurde beim Bundeskartellamt (Deutschland) angemeldet, das ihn mit Bescheid vom 26. Februar 2019 genehmigte (Sache B8‑28/19).
Verwaltungsverfahren
10 Am 22. Januar 2019 ging bei der Kommission die Anmeldung eines beabsichtigten Zusammenschlusses nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1) ein, mit dem RWE im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung die alleinige oder gemeinsame Kontrolle über bestimmte Erzeugungsanlagen von E.ON erwerben wollte.
11 Am 31. Januar 2019 veröffentlichte die Kommission gemäß Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 139/2004 die vorherige Anmeldung dieses Zusammenschlusses (Sache M.8871 – RWE/E.ON Assets) im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2019, C 38, S. 22, im Folgenden: Zusammenschluss M.8871).
12 Im Rahmen ihrer Prüfung des Zusammenschlusses M.8871 führte die Kommission eine Marktbefragung durch und übermittelte daher bestimmten Unternehmen einen Fragebogen.
13 Mit Schreiben vom 28. Januar 2019 beantragte die Klägerin beim Anhörungsbeauftragten, ihr die Stellung eines betroffenen Dritten zuzuerkennen, um im Rahmen des den Zusammenschluss M.8871 betreffenden Verfahrens angehört zu werden. Der Anhörungsbeauftragte kam diesem Antrag mit Schreiben vom 7. Februar 2019 nach.
Angefochtener Beschluss
14 Am 26. Februar 2019 erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss. Der Zusammenschluss M.8871 wurde in der Prüfungsphase gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 139/2004 und Art. 57 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt.
Anträge der Parteien
15 Die Klägerin beantragt,
– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
16 Die Kommission, unterstützt durch die Bundesrepublik Deutschland, E.ON und RWE, beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– die Kosten der Klägerin aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
17 Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf sechs Klagegründe, nämlich erstens auf die Verletzung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, zweitens auf die Verletzung ihres Rechts auf Anhörung, drittens auf die fehlerhafte Aufspaltung der Analyse der Gesamttransaktion, viertens auf offensichtliche Beurteilungsfehler, fünftens auf einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht und sechstens auf einen Missbrauch von Befugnissen.
18 Ohne ausdrücklich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, weist die Kommission darauf hin, dass sich die Klägerin nur geringfügig am den Zusammenschluss M.8871 betreffenden Verfahren beteiligt habe, so dass die Zulässigkeit ihrer Klage in Frage gestellt werden könne. Hierzu trägt die Kommission vor, die Klägerin habe nicht an der Marktbefragung teilgenommen.
19 E.ON und RWE machen geltend, dass die Klage unzulässig sei, weil die Klägerin kein Rechtsschutzinteresse habe. Die Klägerin, eine kommunale Holding, stütze sich auf keine eigenen Interessen, die über die Interessen ihrer Tochtergesellschaften an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses hinausgingen.
20 RWE führt zudem aus, dass die Klage unzulässig sei, weil die Klägerin nicht klagebefugt sei. Insoweit bringt sie im Wesentlichen vor, dass es der Klägerin an der individuellen Betroffenheit fehle, um die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses beantragen zu können.
21 Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass sie vom angefochtenen Beschluss unmittelbar und individuell betroffen sei.
22 Als Erstes macht sie geltend, intensiv am den Zusammenschluss M.8871 betreffenden Verfahren beteiligt gewesen zu sein.
23 Als Zweites führt die Klägerin im Wesentlichen aus, dass sie durch ihre Beteiligung an [vertraulich ] persönlich betroffen sei. [vertraulich ] Darüber hinaus bestehe ihre Tätigkeit nicht allein im Halten von Beteiligungen. [vertraulich ] Daher deckten sich ihre Interessen nicht mit jenen ihrer Tochtergesellschaften und könnten nicht durch eine Klage einer ihrer Tochtergesellschaften gewahrt werden.
24 Vorab ist festzustellen, dass die Kommission zwar die Unzulässigkeit der vorliegenden Klage wegen fehlender Klagebefugnis der Klägerin rügt, sie diese Zulässigkeitsrüge im Gegensatz zu RWE und E.ON aber nicht darauf stützt, dass die Klägerin kein Rechtsschutzinteresse habe.
25 Nach Art 40 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß Art. 53 dieser Satzung auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, können mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei des Rechtsstreits unterstützt werden. Zudem muss der Streithelfer nach Art. 142 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts den Rechtsstreit in der Lage annehmen, in der dieser sich zum Zeitpunkt des Streitbeitritts befindet. RWE und E.ON können folglich keine Einrede der Unzulässigkeit erheben, und die Unionsgerichte sind grundsätzlich nicht verpflichtet, die von ihnen geltend gemachten Unzulässigkeitsgründe zu prüfen. Da die Zulässigkeitsvoraussetzungen, insbesondere das Rechtsschutzinteresse, gleichwohl zu den unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen gehören (vgl. Beschluss vom 10. März 2005, Gruppo ormeggiatori del porto di Venezia u. a./Kommission, T‑228/00, T‑229/00, T‑242/00, T‑243/00, T‑245/00 bis T‑248/00, T‑250/00, T‑252/00, T‑256/00 bis T‑259/00, T‑265/00, T‑267/00, T‑268/00, T‑271/00, T‑274/00 bis T‑276/00, T‑281/00, T‑287/00 und T‑296/00, EU:T:2005:90, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung), hat das Gericht von Amts wegen zu prüfen, ob die Klägerin ein Interesse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses hat.
26 Nach gefestigter Rechtsprechung setzt die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person voraus, dass diese ein Rechtsschutzinteresse nachweist. Sie muss insbesondere ein persönliches Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung darlegen. Es muss sich dabei um ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse handeln, wofür auf den Tag der Klageerhebung abzustellen ist (vgl. Beschluss vom 27. März 2012, European Goldfields/Kommission, T‑261/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:157, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Folglich ist zu prüfen, ob die Klägerin im vorliegenden Fall ein bestehendes und gegenwärtiges persönliches Interesse daran nachgewiesen hat, gegen den angefochtenen Beschluss vorzugehen.
28 Aus der Klageschrift geht hervor, dass die größte Befürchtung der Klägerin darin besteht, dass ihre Beteiligung an [vertraulich ] weitgehend wertlos werde [vertraulich ].
29 Somit ist festzustellen, dass sich das Vorbringen der Klägerin, mit dem dargetan werden soll, dass der angefochtene Beschluss ihre Wirtschaftstätigkeit ernsthaft beeinträchtigen werde, im Wesentlichen auf ihre Beteiligung an [vertraulich ] stützt. Aus den Angaben der Klägerin zur Art ihrer anderen Tätigkeiten geht nicht hervor, wie der angefochtene Beschluss auch diese beeinträchtigt. Insbesondere erläutert die Klägerin nicht, wie sich der Zusammenschluss M.8871 auf [vertraulich ] auswirken könne [vertraulich ].
30 Wie E.ON und RWE im Übrigen zu Recht ausführen, kann indessen eine Person, wenn sie kein Rechtsschutzinteresse geltend machen kann, das sich von dem eines Unternehmens unterscheidet, das von einer Handlung der Union betroffen ist und an dessen Kapital sie beteiligt ist, ihre Interessen gegenüber dieser Handlung nur durch Ausübung ihrer Rechte als Teilhaberin dieses Unternehmens, das seinerseits ein Klagerecht hat, verteidigen (vgl. Beschluss vom 27. März 2012, European Goldfields/Kommission, T‑261/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:157, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angeführte Umstand, dass [vertraulich ] keine Klage gegen den angefochtenen Beschluss hätte erheben können, da sich dieses Unternehmen de facto im Besitz von E.ON befinde, kann nicht als Argument für die Feststellung herangezogen werden, dass ein vom Rechtsschutzinteresse von [vertraulich ] zu unterscheidendes Rechtsschutzinteresse bestehe.
32 Zum einen ist nämlich festzustellen, dass es sich um eine allgemein gehaltene Behauptung handelt und dass die Klägerin weder nachweist noch vorbringt, innerhalb von [vertraulich ] ein Verfahren angestoßen zu haben, um zu versuchen, [vertraulich ] zur Erhebung einer Klage gegen den angefochtenen Beschluss zu bewegen. Folglich kann die Klägerin nicht geltend machen, dass eine solche Klage für sie außerhalb jeder Möglichkeiten gelegen habe.
33 Zum anderen stellt dieses Vorbringen nicht den Umstand in Frage, dass das Rechtsschutzinteresse der Klägerin jedenfalls weiterhin mit der Tätigkeit von [vertraulich ] zusammenhängt.
34 Schließlich betrifft das Vorbringen der Klägerin, mit dem sie die Beeinträchtigung von [vertraulich ] dartun möchte, nicht die Auswirkungen des Zusammenschlusses M.8871, sondern jene des oben in Rn. 8 genannten zweiten Zusammenschlusses. [vertraulich ]
35 Schließlich räumt die Klägerin selbst ein, vom angefochtenen Beschluss mittelbar betroffen zu sein.
36 Unter diesen Umständen hat die Klägerin kein bestehendes und gegenwärtiges persönliches Interesse, gegen den angefochtenen Beschluss vorzugehen, nachgewiesen.
37 Die Klage ist demnach als unzulässig abzuweisen.
Kosten
38 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr entsprechend den Anträgen der Kommission, von E.ON und RWE ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission, von E.ON und RWE aufzuerlegen.
39 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Bundesrepublik Deutschland trägt daher ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Die Stadtwerke Frankfurt am Main Holding GmbH trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission, der E.ON SE und der RWE AG.
3. Die Bundesrepublik Deutschland trägt ihre eigenen Kosten.
Frendo
Martín y Pérez de Nanclares
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Mai 2023.
Der geschäftsführende Kanzler
Der Präsident
T. Henze
M. van der Woude