Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MACIEJ SZPUNAR
vom 14. März 2024(1 )
Rechtssache C ‑86/23
E. N. I.,
Y. K. I.
gegen
HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung AG
(Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven kasatsionen sad [Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendendes Recht – Verordnung (EG) Nr. 864/2007 – Eingriffsnormen – Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung – Verkehrsunfall – Den Familienangehörigen des Verstorbenen zustehende Schadensersatzansprüche – Billigkeitsgrundsatz beim Ersatz des immateriellen Schadens – Beurteilungskriterien“
I. Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) wirft die Frage auf, welches Recht auf eine Klage Anwendung findet, mit der Privatpersonen, die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen, von einer Versicherungsgesellschaft eine Entschädigung aus der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung für den immateriellen Schaden verlangen, der ihnen dadurch entstanden sei, dass ihre Tochter bei einem Verkehrsunfall in Deutschland ums Leben gekommen war.
2. Diese Fragestellung hängt mit dem klassischen Problem der „Eingriffsnormen“ zusammen und ist für die Entwicklung des internationalen Privatrechts der Union in zweifacher Hinsicht von Belang. Sie bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, zum einen die Konturen des Begriffs „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007(2 ) zu klären und zum anderen festzulegen, nach welchen Kriterien Vorschriften zum Schutz individueller Rechte und Freiheiten als derartige „Eingriffsnormen“ eingestuft werden können, wobei der letztgenannte Aspekt derzeit im Schrifttum intensiv erörtert wird.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Rom ‑I I -Verordnung
3. Art. 4 („Kollisionsnorm“) Abs. 1 der Rom‑II-Verordnung bestimmt:
„ Soweit in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, ist auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind.“
4. Art. 16 („Eingriffsnormen“) der Rom‑II-Verordnung lautet:
„Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Vorschriften, die ohne Rücksicht auf das für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht den Sachverhalt zwingend regeln.“
2. Verordnung (E G ) Nr. 593/2008
5. In Art. 9 („Eingriffsnormen“) Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 593/2008(3 )heißt es:
„( 1) Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.
( 2) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts.“
B. Bulgarisches Recht
6. Im bulgarischen Recht ist die Haftung wegen unerlaubter Handlung in den Art. 45 bis 54 des Zakon za zadalzheniyata i dogovorite (Gesetz über Schuldverhältnisse und Verträge)(4 ) (im Folgenden: ZZD) geregelt.
7. Art. 45 ZZD sieht vor:
„ (1) Wer einen anderen schädigt, ist zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) In allen Fällen einer unerlaubten Handlung wird ein schuldhaftes Verhalten bis zum Beweis des Gegenteils vermutet.“
8. Art. 52 ZZD bestimmt:
„ Die Entschädigung für den immateriellen Schaden wird vom Gericht nach Billigkeitsgrundsätzen festgesetzt.“
C. Deutsches Recht
9. § 253 („Immaterieller Schaden“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung lautet:
„ (1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden.
(2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.“
10. § 823 („Schadensersatzpflicht“) BGB sieht in Abs. 1 vor:
„Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“
11. § 115 („Direktanspruch“) des Versicherungsvertragsgesetzes (im Folgenden: VVG) vom 23. November 2007(5 ) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt in Abs. 1:
„Der Dritte kann seinen Anspruch auf Schadensersatz auch gegen den Versicherer geltend machen,
1. wenn es sich um eine Haftpflichtversicherung zur Erfüllung einer nach dem Pflichtversicherungsgesetz bestehenden Versicherungspflicht handelt …
…
Der Anspruch besteht im Rahmen der Leistungspflicht des Versicherers aus dem Versicherungsverhältnis und, soweit eine Leistungspflicht nicht besteht, im Rahmen des § 117 Abs. 1 bis 4. Der Versicherer hat den Schadensersatz in Geld zu leisten. Der Versicherer und der ersatzpflichtige Versicherungsnehmer haften als Gesamtschuldner.“
III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof
12. Am 27. Juli 2014 kam die Tochter von E. N. I. und Y. K. I., den Klägern des Ausgangsverfahrens – bulgarischen Staatsangehörigen –, bei einem Verkehrsunfall in Deutschland ums Leben. Der Unfallverursacher war bei der HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung AG (im Folgenden: HUK-COBURG), einer Versicherungsgesellschaft mit Sitz in Deutschland, haftpflichtversichert.
13. Am 25. Juli 2017 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) Klage gegen HUK-COBURG auf Zahlung von 250 000 Leva (BGN) (ca. 125 000 Euro) für jeden Elternteil als Ersatz des durch den Tod ihrer Tochter verursachten immateriellen Schadens.
14. Am 27. September 2017 zahlte HUK-COBURG jedem Elternteil 2 500 Euro als Ersatz des durch den Tod ihrer Tochter verursachten Schadens.
15. Mit Urteil vom 23. Dezember 2019 gab der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) der Klage teilweise statt und sprach jedem Elternteil eine Entschädigung in Höhe von 100 000 BGN (ca. 50 000 Euro) zu, wovon der vom Versicherer bereits gezahlte Betrag von 2 500 Euro abgezogen wurde.
16. Dieses Gericht befand, dass das deutsche Deliktsrecht anwendbar sei, das eine Entschädigung für immaterielle Schäden, die mittelbar Geschädigten wie den Klägern des Ausgangsverfahrens verursacht worden seien, nur in besonderen Situationen vorsehe, nämlich wenn der Schmerz und das Leid zu einer Verletzung der Gesundheit des mittelbar Geschädigten geführt hätten. Für den Schmerz und das Leid, die den Eltern zugefügt worden seien, sei eine Entschädigung zu leisten, weil sie insbesondere in eine schwere emotionale Krise geraten seien, die zu einer akuten Belastungsreaktion geführt habe, und weil sie für die Dauer von ungefähr einem Jahr nach dem Tod ihrer Tochter unter Depressionen, Unruhe, Anspannung, emotionaler Instabilität, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und emotionaler Entfremdung gelitten hätten. Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) begründete den zugesprochenen Geldbetrag damit, dass sowohl im bulgarischen Recht (Art. 52 ZZD) als auch im deutschen Recht (§ 253 Abs. 2 BGB) der Grundsatz der billigen Entschädigung für immateriellen Schaden verankert sei. Allerdings seien die Kriterien zur Bemessung der Entschädigung nicht in den jeweiligen nationalen Gesetzen festgelegt, sondern von der Rechtsprechung in jedem der beiden Länder herauszuarbeiten.
17. Der Sofiyski Apelativen sad (Berufungsgericht Sofia, Bulgarien) hob das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts auf. Das Berufungsgericht wies die Klage der Eltern in vollem Umfang ab, da sie nicht nachgewiesen hätten, dass der Schmerz und das Leid bei ihnen eine pathologische Gesundheitsschädigung verursacht hätten, was nach dem anwendbaren deutschen Recht Voraussetzung für den Ersatz eines immateriellen Schadens sei. Außerdem sei ihr Vorbringen unbegründet, wonach gemäß Art. 16 der Rom‑II-Verordnung anstelle des nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung anwendbaren deutschen Deliktsrechts Art. 52 ZZD anzuwenden sei. In den von HUK-COBURG bereits gezahlten Beträgen sei kein Anerkenntnis der Ansprüche der Eltern durch den Versicherer zu sehen. Die Eltern hätten keinen Anspruch auf diesen Betrag, dessen Höhe einer „billigen Entschädigung“ für immateriellen Schaden im Sinne von § 253 Abs. 2 BGB entspreche.
18. Die Eltern legten gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht), dem vorlegenden Gericht, ein.
19. Dieses Gericht stellt zunächst fest, dass die nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung im vorliegenden Fall anwendbare deutsche Regelung – § 253 Abs. 2 und § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 1 VVG – mit der Regelung übereinstimme, die Gegenstand der Rechtssache gewesen sei, in der das Urteil HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung(6 ) ergangen sei und die denselben Verkehrsunfall betroffen habe wie der vorliegende Fall.
20. Der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) führt sodann aus, in diesem Urteil habe der Gerichtshof zum einen festgestellt, dass die in Rede stehende deutsche Regelung zum materiellen nationalen Haftpflichtrecht gehöre, auf das die Richtlinie (EG) 2009/103(7 ) verweise, und ein objektives Kriterium vorsehe, anhand dessen der entschädigungsfähige immaterielle Schaden eines nahen Familienangehörigen des Verkehrsopfers ermittelt werden könne. Zum anderen habe der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2009/103 einer nationalen Regelung, die für die Ermittlung der entschädigungsfähigen immateriellen Schäden zwingende Kriterien festlege, nicht entgegenstehe.
21. Schließlich erklärt das vorlegende Gericht, im Unterschied zu der hier in Rede stehenden deutschen Regelung, die den Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens an drei Voraussetzungen knüpfe – nämlich dass der Geschädigte eine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung erlitten habe, dass er ein naher Familienangehöriger des unmittelbar Geschädigten sei und dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem Fehlverhalten des Unfallverursachers und dieser Beeinträchtigung bestehe –, sehe Art. 52 ZZD vor, dass das Gericht die Entschädigung für den immateriellen Schaden nach Billigkeitsgrundsätzen festsetze. Aus der verbindlichen Rechtsprechung des Varhoven sad (Oberstes Gericht, Bulgarien) und des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) ergebe sich, dass nach bulgarischem Recht der gesamte seelische Schmerz und alles Leid, die den Eltern aus dem Tod ihres Kindes infolge eines rechtswidrig und schuldhaft verursachten Verkehrsunfalls entstünden, entschädigungsfähig seien, wobei nicht verlangt werde, dass der Schaden zu einer pathologischen Gesundheitsschädigung des mittelbar Geschädigten geführt habe. Die Höhe des Schadensersatzes hänge von den für den jeweiligen Einzelfall charakteristischen Umständen ab, wobei die Eltern für den immateriellen Schaden, der ihnen durch den Tod eines Kindes infolge eines im Jahr 2014 verursachten Verkehrsunfalls zugefügt worden sei, üblicherweise eine Entschädigung in Höhe von ca. 120 000 BGN (rund 61 000 Euro) erhielten, während nach deutschem Recht höchstens ca. 5 000 Euro zugesprochen würden. Selbst wenn dem Einwand der Eltern stattzugeben wäre und sie den Beweis einer pathologischen Gesundheitsschädigung erbracht hätten, beliefe sich der zu zahlende Höchstbetrag auf 5 000 Euro.
22. Unter Hinweis auf das Urteil Da Silva Martins(8 ), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass ein nationales Gericht aufgrund einer ausführlichen Analyse festzustellen hat, ob einer nationalen Vorschrift in der innerstaatlichen Rechtsordnung eine derartige Bedeutung zukommt, dass ein Abweichen von dem gemäß Art. 4 der Rom‑II-Verordnung anwendbaren Recht gerechtfertigt erscheint, wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob Art. 52 ZZD als eine solche Vorschrift anzusehen sei, da der Billigkeitsgrundsatz ein fundamentaler Grundsatz des bulgarischen Rechts und Teil der staatlichen öffentlichen Ordnung sei. Es erklärt, die nationale Rechtsprechung sei in dieser Frage uneinheitlich.
23. Unter diesen Umständen hat der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) mit Entscheidung vom 7. Februar 2023, die am 15. Februar 2023 beim Gerichtshof eingegangen ist, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 16 der Rom‑II-Verordnung dahin auszulegen, dass eine nationale Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Anwendung eines fundamentalen Grundsatzes des Rechts des Mitgliedstaats, wie des Grundsatzes der Billigkeit, bei der Festsetzung der Entschädigung für immateriellen Schaden in den Fällen vorsieht, in denen der Tod nahestehender Personen durch ein Delikt eingetreten ist, als Eingriffsnorm im Sinne dieses Artikels angesehen werden kann?
24. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die tschechische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.
IV. Würdigung
A. Vorbemerkungen
25. Vor einer Prüfung des durch die Vorlagefrage aufgeworfenen rechtlichen Problems halte ich die folgenden Klarstellungen und Überlegungen zum Hintergrund der vorliegenden Rechtssache für angebracht. Ich weise allerdings darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung allein das vorlegende Gericht für die Feststellung und die Würdigung des Sachverhalts des ihm vorliegenden Rechtsstreits zuständig ist(9 ).
26. Was erstens die Besonderheiten der vorliegenden Rechtssache anbelangt, so geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die von den Klägern des Ausgangsverfahrens gegen HUK-COBURG erhobene Klage auf Entschädigung aus der Kfz-Haftpflichtversicherung für den ihnen wegen des Verkehrsunfalltods ihrer Tochter entstandenen immateriellen Schaden denselben Verkehrsunfall betrifft, der schon Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil HUK-COBURG I ergangen ist.
27. In jener Rechtssache standen sich im Ausgangsrechtsstreit die beiden Kinder des unmittelbaren Opfers, um das es auch in der vorliegenden Rechtssache geht, und die HUK-COBURG gegenüber; er betraf die von Letzterer aus der Kfz-Haftpflichtversicherung zu leistende Entschädigung für den ihnen wegen des Todes ihrer Mutter entstandenen immateriellen Schaden. Die Kinder waren bei der Klageerhebung von ihrem Vater vertreten worden(10 ). Das nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung in jenem Fall anwendbare deutsche Recht (lex causae ) war ebenso wie im vorliegenden Fall § 253 Abs. 2 und § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 1 VVG.
28. Was zweitens das nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung anwendbare deutsche Recht betrifft, so weist das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf das Urteil HUK-COBURG I darauf hin, dass der Ersatz des immateriellen Schadens eines durch einen Verkehrsunfall mittelbar Geschädigten von drei Voraussetzungen abhänge(11 ). In Bezug auf die Voraussetzung, wonach der Geschädigte eine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung erlitten haben muss, geht aus diesem Urteil hervor, dass nach deutschem Recht, wie es vom Bundesgerichtshof (Deutschland) ausgelegt wird, psychische Beeinträchtigungen nur dann als Gesundheitsverletzung angesehen werden können, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen , denen Betroffene beim Tod oder bei einer schweren Verletzung eines nahen Familienangehörigen in der Regel ausgesetzt sind (12 ).
29. Laut dem vorlegenden Gericht sieht das bulgarische Recht (lex fori ) demgegenüber vor, dass die Entschädigung für immateriellen Schaden vom Gericht nach Billigkeitsgrundsätzen festgesetzt wird. Das Gericht erklärt, nach bulgarischem Recht seien der gesamte seelische Schmerz und alles Leid, die den Eltern aus dem Tod ihres Kindes infolge eines rechtswidrig und schuldhaft verursachten Verkehrsunfalls entstünden, entschädigungsfähig, wobei nicht verlangt werde, dass der Schaden zu einer pathologischen Gesundheitsschädigung des mittelbar Geschädigten geführt habe(13 ).
30. Insoweit muss ich festhalten, dass das vorlegende Gericht offenbar annimmt, das für die Bestimmung der Entschädigung für einen immateriellen Schaden einschlägige deutsche Recht beruhe im Gegensatz zum bulgarischen Recht nicht auf dem Grundsatz der Billigkeit(14 ). Obwohl der Gerichtshof nicht befugt ist, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht zutrifft(15 ), ist doch festzustellen, dass sich § 253 Abs. 2 BGB entgegen dem Vorbringen von HUK-COBURG und der Kommission nicht entnehmen lässt, dass diese Bestimmung auf dem Grundsatz der Billigkeit beruhen würde; sie sieht vielmehr nur die Möglichkeit vor, „eine billige Entschädigung“ zu fordern, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist(16 ).
31. Im vorliegenden Fall würde die Anwendung des deutschen Rechts gemäß Art. 4 der Rom‑II-Verordnung jedoch offensichtlich zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der Höhe der Entschädigung führen, da dieses Recht den Ersatz des immateriellen Schadens davon abhängig macht, dass die nahen Familienangehörigen eine Gesundheitsschädigung erlitten haben(17 ). Ausweislich der Vorlageentscheidung haben die Eltern der unmittelbar Geschädigten eine derartige Schädigung nicht nachgewiesen, so dass ihnen eine solche Entschädigung nicht zugesprochen wurde(18 ).
32. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen: Die bloße Tatsache, dass die Anwendung der lex fori zu einer anderen Lösung hinsichtlich der Höhe der Entschädigung führt als die Anwendung der lex causae , lässt selbstverständlich noch nicht den Schluss zu, dass die fragliche bulgarische Bestimmung als „Eingriffsnorm“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung eingestuft werden könnte, sofern die Anwendung der lex causae im Einklang mit Gerechtigkeitserwägungen steht. Mit anderen Worten: Dieser Unterschied – d. h. die Tatsache, dass den Eltern allein deshalb ein geringerer Schadensersatz zusteht, weil ihre Tochter bei einem Unfall in Deutschland und nicht in Bulgarien ums Leben kam – erlaubt an sich keine solche Einstufung, es sei denn, er ergibt sich insbesondere aus dem Schutz eines Grundrechts, was die zwingende Anwendung der lex fori rechtfertigt.
33. Im Übrigen ist nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die Rechtsprechung der bulgarischen Gerichte in der Frage, ob Art. 52 ZZD eine Eingriffsnorm im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung darstellt, was die Unanwendbarkeit des deutschen Rechts im Ausgangsrechtsstreit zur Folge hätte, uneinheitlich. Hierauf werde ich später zurückkommen(19 ).
34. Nachdem das geklärt ist, werde ich nun auf die Frage des vorlegenden Gerichts eingehen.
B. Zur Vorlagefrage
35. Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine nationale Rechtsvorschrift, die als Kriterium für die Festsetzung der Entschädigung für den immateriellen Schaden naher Familienangehöriger eines tödlich verunglückten Verkehrsunfallopfers die Anwendung eines fundamentalen Grundsatzes des Rechts eines Mitgliedstaats wie des Grundsatzes der Billigkeit vorsieht, als Eingriffsnorm im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung angesehen werden kann.
36. HUK-COBURG, die tschechische und die deutsche Regierung sowie die Kommission meinen, die Vorlagefrage sei zu verneinen. HUK-COBURG macht insbesondere geltend, von der Anwendung einer Vorschrift des aufgrund der Rom‑II-Verordnung bestimmten nationalen Rechts könne nur dann nach deren Art. 16 abgewichen werden, wenn diese Anwendung mit der öffentlichen Ordnung am Ort des Gerichtsstands offensichtlich unvereinbar sei. Nach Ansicht der deutschen Regierung erfüllt nationales Recht, das die Festsetzung einer Entschädigung für immateriellen Schaden nach Billigkeitsgrundsätzen regelt, grundsätzlich nicht die Anwendungsvoraussetzungen dieser Bestimmung. Die tschechische Regierung führt unter Bezugnahme auf das Urteil Da Silva Martins aus, es entspreche nicht dem Ausnahmecharakter von Eingriffsnormen und würde eine Umgehung des durch die Rom‑II-Verordnung bestimmten Rechts erleichtern, wenn eine nationale Rechtsvorschrift allein deshalb als Eingriffsnorm im Sinne von Art. 16 dieser Verordnung qualifiziert werden könnte, weil sie auf fundamentalen Grundsätzen dieses Rechts beruhe oder darauf verweise. Die Kommission trägt vor, eine Eingriffsnorm im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung sei anhand der Kriterien zu ermitteln, die der Gerichtshof insbesondere in den Urteilen Unamar(20 ) und Da Silva Martins aufgestellt habe.
37. Um die Vorlagefrage sachdienlich zu beantworten, werde ich erstens einige kurze Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Art. 4 und Art. 16 der Rom‑II-Verordnung machen (Abschnitt 1). Zweitens werde ich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Definition des Begriffs „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 dieser Verordnung analysieren (Abschnitt 2) und drittens die Bedeutung der Berücksichtigung hinreichend enger Verbindungen zu dem Land der lex fori bei der Anwendung dieser Bestimmung unterstreichen (Abschnitt 3). Viertens werde ich schließlich darlegen, nach welchen Kriterien Vorschriften zum Schutz individueller Rechte und Freiheiten als „Eingriffsnormen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können (Abschnitt 4).
1. Kurze Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Art . 4 und Art . 16 der Rom ‑I I-Verordnung
38. Einleitend erinnere ich daran, dass die Rom‑II-Verordnung laut ihrem ersten Erwägungsgrund dazu beiträgt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck sieht die Verordnung zwei Kollisionsnormen vor: zum einen die allgemeine Anknüpfungsregel von Art. 4(21 ) in Kapitel II („Unerlaubte Handlungen“) und zum anderen die Regel zur Einbeziehung der Vertragsautonomie gemäß Art. 14 in Kapitel IV („Freie Rechtswahl“)(22 ). Zur erstgenannten Bestimmung stelle ich fest, dass bei der Abfassung der darin enthaltenen allgemeinen Anknüpfungsregel das Gebot der Rechtssicherheit und die Absicht, einen Ausgleich zwischen den divergierenden Interessen der Parteien zu erzielen, im Vordergrund standen(23 ). Auf diese Ziele werde ich noch zurückkommen(24 ).
39. Nach Art. 16 („Eingriffsnormen“) in Kapitel V („Gemeinsame Vorschriften“) der Rom‑II-Verordnung „berührt [sie] nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Vorschriften, die ohne Rücksicht auf das für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht den Sachverhalt zwingend regeln“. Während also Art. 4 der Verordnung an das Recht des Staates anknüpft, in dem der Schaden eintritt (lex loci damni ), sieht Art. 16 der Verordnung vor, von der Anwendung des durch dieses Anknüpfungskriterium bestimmten Rechts abzuweichen, um eine zwingende Vorschrift des Rechts des Staates des angerufenen Gerichts anzuwenden. Diese Abweichung von der Kollisionsnorm ist jedoch nur in Ausnahmefällen möglich, so dass sie gebührend zu begründen ist, wobei ihre Beachtung für die Wahrung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisation erforderlich sein muss“(25 ).
40. In diesem Rahmen lautet die hier aufgeworfene Rechtsfrage somit, ob es möglich ist, von dem nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung anwendbaren Recht abzuweichen, um gemäß Art. 16 dieser Verordnung die nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Vorschriften anzuwenden, die „den Sachverhalt zwingend regeln“.
41. Das Zusammenspiel dieser beiden Bestimmungen über die Definition des Begriffs „Eingriffsnormen“ ist Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs, die durch die Urteile Unamar, ERGO Insurance und Gjensidige Baltic(26 ) sowie Da Silva Martinsbegründet wurde.
2. Zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zu de m Begriff „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom ‑I I -Verordnung
42. In der Rechtssache, in der das Urteil ERGO Insurance und Gjensidige Baltic ergangen ist, ersuchten die vorlegenden Gerichte u. a. um die Auslegung der Rom‑I‑Verordnung und der Rom‑II‑Verordnung zur Klärung der Frage, welches Recht bei einer Regressklage des Versicherers einer Zugmaschine, der den Schaden des Opfers eines vom Fahrer dieses Fahrzeugs verursachten Unfalls beglichen hatte, gegen den Versicherer des bei diesem Unfall gezogenen Anhängers anzuwenden war. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof zum jeweiligen Anwendungsbereich der Rom‑I‑Verordnung und der Rom‑II‑Verordnung entschieden, dass die dort verwendeten Begriffe „vertragliches Schuldverhältnis“ und „außervertragliches Schuldverhältnis“ nicht nur autonom und insbesondere unter Berücksichtigung der Systematik und der Ziele dieser Verordnungen auszulegen sind, sondern dass hierbei auch, wie sich aus dem siebten Erwägungsgrund beider Verordnungen ergibt, dem Ziel der Anwendungskohärenz im Verhältnis dieser Verordnungen zueinander Rechnung zu tragen ist(27 ).
43. Im Urteil Da Silva Martins(28 ), in dem der Gerichtshof erstmals Art. 16 der Rom‑II-Verordnung ausgelegt hat, hat er in einem ersten Schritt unter Berufung auf Rn. 43 des Urteils ERGO Insurance und Gjensidige Baltic entschieden: Da das Erfordernis der Kohärenz bei der Anwendung der Rom‑I‑Verordnung und der Rom‑II‑Verordnung für eine möglichst weitgehende Harmonisierung der Auslegung der funktional identischen Begriffe in diesen beiden Verordnungen spricht, ist davon auszugehen, dass ungeachtet des Umstands, dass die Rom‑II-Verordnung in bestimmten Sprachfassungen eine andere Terminologie als die Rom‑I-Verordnung verwendet, die „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung der Definition der „Eingriffsnormen“ in Art. 9 der Rom‑I-Verordnung entsprechen, so dass die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung auch für die „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung gilt(29 ). Ich erinnere daran, dass in Art. 9 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung die Eingriffsnorm definiert wird als „eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen“(30 ).
44. Unter Bezugnahme auf das Urteil Unamar(31 ) hat der Gerichtshof in einem zweiten Schritt darauf hingewiesen, dass er im Zusammenhang mit dem Übereinkommen von Rom bereits festgestellt hatte, dass die Ausnahme aufgrund des Bestehens einer „zwingenden Vorschrift“ im Sinne des Rechts des betroffenen Mitgliedstaats eng auszulegen ist(32 ). Im Hinblick auf diese Auslegung hat der Gerichtshof insbesondere entschieden, dass das vorlegende Gericht bei der Bestimmung, ob eine „Eingriffsnorm“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung vorliegt, auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse des Wortlauts, der allgemeinen Systematik, des Telos sowie des Entstehungszusammenhangs dieser Vorschrift festzustellen hat, ob ihr in der innerstaatlichen Rechtsordnung so große Bedeutung zukommt, dass ein Abweichen von dem gemäß Art. 4 dieser Verordnung anwendbaren Recht gerechtfertigt erscheint(33 ). Das vorlegende Gericht muss konkret das Vorliegen besonders wichtiger Gründe , wie etwa einer offensichtlichen Beeinträchtigung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, bei Heranziehung des nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung anwendbaren Rechts feststellen(34 ).
45. Der Gerichtshof hat infolgedessen entschieden, dass eine nationale Rechtsvorschrift wie die in jener Rechtssache in Rede stehende, die eine dreijährige Verjährungsfrist für die Klage auf Ersatz der aus einem Schadensereignis resultierenden Schäden vorsieht, nicht als Eingriffsnorm im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung angesehen werden kann, es sei denn, das angerufene Gericht stellt auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse des Wortlauts, der allgemeinen Systematik, des Telos sowie des Entstehungszusammenhangs dieser Vorschrift fest, dass ihr in der innerstaatlichen Rechtsordnung so große Bedeutung zukommt, dass ein Abweichen von dem gemäß Art. 4 dieser Verordnung anwendbaren Recht gerechtfertigt erscheint(35 ).
46. Vor diesem Hintergrund halte ich es für wichtig, zu betonen, dass das nationale Gericht auf Eingriffsnormen im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung nur als ultima ratio zurückgreifen darf, denn die Anwendung solcher Normen hat, wie schon erwähnt, zur Folge, dass das nach dieser Verordnung anzuwendende Recht – abweichend von dem in der Verordnung vorgesehenen Mechanismus der Kollisionsnormen – unangewendet bleibt.
47. In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof nämlich bestätigt, dass das mit der Rom‑II-Verordnung verfolgte Ziel, wie aus ihren Erwägungsgründen 6(36 ), 14(37 ) und 16(38 ) hervorgeht, darin besteht, die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht zu gewährleisten, unabhängig von dem Staat, in dem sich das Gericht befindet, bei dem der Anspruch geltend gemacht wird, sowie die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen zu verbessern und einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Personen, deren Haftung geltend gemacht wird, und Geschädigten zu gewährleisten(39 ).
48. Meines Erachtens hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Definition des Begriffs „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung implizit anerkannt, dass die Einstufung einer nationalen Rechtsvorschrift als „Eingriffsnorm“ im Sinne dieser Bestimmung kein automatischer Vorgang sein kann, sondern eine Würdigung des jeweiligen konkreten Sachverhalts verlangt, die dazu führen muss, dass die Anwendung der lex fori als für die Wahrung der öffentlichen Interessen eines Landes erforderlich angesehen wird(40 ).
49. Insoweit muss sich nicht nur aus einer ausführlichen Prüfung ergeben, dass die Anwendung der Eingriffsnormen in der am Gerichtsstand geltenden Rechtsordnung notwendig ist, sondern eine solche Anwendung muss auch das wirksamste Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels , nämlich des Schutzes der staatlichen Interessen, sein. Wenn dies nicht der Fall ist und die öffentlichen Interessen des Staates durch die Anwendung des nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung auf außervertragliche Schuldverhältnisse allgemein anwendbaren Rechts ebenso gut oder sogar besser geschützt werden können, sollte das vorlegende Gericht von der Anwendung des in Art. 16 dieser Verordnung vorgesehenen Eingriffsmechanismus absehen(41 ).
50. Außerdem weise ich auf einen für die Anwendung von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung wichtigen Aspekt hin, der aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht klar hervorgeht: die Bedeutung der Existenz hinreichend enger Verbindungen zum Land der lex fori . In der Tat lassen sich manche Vorschriften nicht a priori als „Eingriffsnormen“ einstufen, da diese Einstufung gegebenenfalls von den tatsächlichen Umständen abhängt, aus denen sich hinreichend enge Verbindungen zum Land des angerufenen Gerichts ergeben.
3. Zum Vorliegen h inreichend enge r Verbindung en zu m Land der lex fori
51. Bekanntlich hat der Unionsgesetzgeber, wie Art. 16 der Rom‑II-Verordnung zeigt, keine weiteren Bedingungen dafür aufgestellt, dass das angerufene Gericht in Abweichung vom allgemein anzuwendenden Recht Eingriffsnormen der lex fori anwenden kann. Insbesondere wird nirgends der Nachweis verlangt, dass der betreffende Sachverhalt eine enge Verbindung zum Land des angerufenen Gerichts aufweist, aufgrund deren die Anwendung dieser Normen ausnahmsweise gerechtfertigt wäre(42 ). Wie manche Stimmen im Schrifttum betont haben, darf diesem Schweigen aber nicht entnommen werden, dass Eingriffsnormen ohne Rücksicht auf das Erfordernis einer engen Verbindung zum Land der lex fori angewendet werden könnten(43 ).
52. Da die Anwendung von Eingriffsnormen von der Anwendung des nach der Rom‑II-Verordnung allgemein anzuwendenden Rechts abweicht, sind diese Normen nämlich nicht automatisch anwendbar, und die nationalen Gerichte müssen zunächst prüfen, ob der betreffende Sachverhalt eine enge Verbindung zum Land des angerufenen Gerichts aufweist(44 ). Mit anderen Worten: Das angerufene Gericht darf insbesondere bei Vorschriften, die nicht ausschließlich dem Schutz öffentlicher oder staatlicher Interessen dienen, nur dann auf Art. 16 dieser Verordnung zurückgreifen, wenn der Mitgliedstaat, dem es angehört, begründen kann, dass eine Regelung dieses Sachverhalts zwingend geboten ist(45 ).
53. Zudem kann durch das Erfordernis einer engen Verbindung dem forum shopping entgegengewirkt werden. Dieses Phänomen droht vor allem in einer Situation aufzutreten, wie sie Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil Inkreal(46 ) ergangen ist.
54. Folglich kann weder eine Regelung abstrakt als „Eingriffsnorm“ eingestuft werden noch lässt sich – ebenfalls abstrakt – sagen, ob im vorliegenden Fall auf Art. 16 der Rom‑II-Verordnung zurückzugreifen ist. Für die Anwendung dieser Bestimmung muss insbesondere aus den gesamten Umständen hervorgehen, dass der betreffende Sachverhalt hinreichend enge Verbindungen zum Land der lex fori aufweist.
55. Mir bleibt also noch zu klären, anhand welcher Kriterien Vorschriften zum Schutz individueller Rechte als „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung in Verbindung mit deren 32. Erwägungsgrund eingestuft werden können.
4. Zu den Kriterien für die Einstufung von Vorschrift en zum Schutz individueller Rechte und Freiheiten als „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art . 16 der Rom ‑I I-Verordnung
56. Erstens ist meines Erachtens die Definition des Begriffs „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung, wie sie sich aus der Definition des Begriffs „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 9 der Rom‑I-Verordnung und der oben erwähnten gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt(47 ), in Verbindung mit dem 32. Erwägungsgrund der Rom‑II-Verordnung zu verstehen. In diesem Erwägungsgrund heißt es u. a., dass „Gründe des öffentlichen Interesses [es] rechtfertigen …, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen die Vorbehaltsklausel (ordre public) und Eingriffsnormen anwenden können“(48 ).
57. Nach meinem Dafürhalten ergibt sich aus dieser Rechtsprechung in Verbindung mit dem 32. Erwägungsgrund der Rom‑II-Verordnung, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte unter „außergewöhnlichen Umständen“ auf den Eingriffsmechanismus von Art. 16 dieser Verordnung zurückgreifen können, wenn sie die Anwendung der lex fori aus „Gründen des öffentlichen Interesses“ für „entscheidend“ erachten. Mit anderen Worten, Gründe des öffentlichen Interesses sind ausschlaggebend für die Anwendung von Vorschriften der lex fori , „deren Einhaltung von [den nationalen Gerichten] als … entscheidend … angesehen wird“. Insbesondere heißt es im 32. Erwägungsgrund, dass „die Anwendung einer Norm des nach dieser Verordnung bezeichneten Rechts, die zur Folge haben würde, dass ein unangemessener, über den Ausgleich des entstandenen Schadens hinausgehender Schadensersatz mit abschreckender Wirkung oder Strafschadensersatz zugesprochen werden könnte, je nach der Rechtsordnung des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts als mit der öffentlichen Ordnung (‚ordre public‘) dieses Staates unvereinbar angesehen werden [kann]“.
58. Zweitens betrifft meines Erachtens der nach Art. 16 der Rom‑II-Verordnung angestrebte Schutz nicht automatisch alle öffentlichen Interessen eines Staates. Um unter diese Bestimmung zu fallen, müssen diese Interessen so wichtig sein, dass sie insbesondere die politische, soziale oder wirtschaftliche Organisation des betreffenden Staates berühren(49 ). Daher ist es wichtig, zu ermitteln, ob der Hinweis des Unionsgesetzgebers auf Ziele des öffentlichen Interesses im Rahmen des 32. Erwägungsgrundes dieser Verordnung eng auszulegen ist oder ob er sich auch auf nationale Vorschriften erstrecken kann, die dem Schutz von Individualinteressen dienen. Diese Frage wird in der Rechtslehre heftig diskutiert, denn die Grenze zwischen dem Schutz kollektiver Interessen und dem Schutz individueller Interessen ist nicht leicht auszumachen(50 ). Eine Klärung des Verlaufs dieser Grenze wird einen entscheidenden Beitrag zur autonomen Auslegung des Begriffs „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung leisten. In der Tat sollte bei dessen Auslegung im Licht des 32. Erwägungsgrundes der Verordnung in Betracht gezogen werden, gegebenenfalls auch Individualinteressen zu schützen.
59. Für diese Auslegung sprechen meines Erachtens zwei Argumente.
60. Ein erstes Argument bezieht sich auf die Wechselwirkung zwischen Kollektiv- und Individualinteressen. So könnten im Bereich der Deliktshaftung die Vorschriften, die ein Mitgliedstaat zum Schutz einer Gruppe von Geschädigten einführt, indem er etwa die Beweislast ändert oder eine Mindesthöhe für den Schadensersatz festlegt, hauptsächlich darauf abzielen, die widerstreitenden Interessen privater Parteien wieder miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. Dadurch könnten sie mittelbar auch zum Schutz der Sozial- und Wirtschaftsordnung des Mitgliedstaats insoweit beitragen, als sie die Belastung der öffentlichen Ressourcen infolge von Unfällen verringern(51 ).
61. Ein zweites Argument, das in die gleiche Richtung geht, ist die Feststellung, dass im 32. Erwägungsgrund der Rom‑II-Verordnung insbesondere von Vorschriften über die Bemessung von Schadensersatz die Rede ist, was folglich die Möglichkeit einschließt, dass er zwischen bestimmten Kategorien natürlicher Personen zu leisten ist. Hierzu möchte ich klarstellen: Auch wenn in diesem Erwägungsgrund nur davon die Rede ist, dass die Anwendung solcher Vorschriften „als mit der öffentlichen Ordnung (‚ordre public‘) [des] Staates [des angerufenen Gerichts] unvereinbar“ angesehen werden kann, ohne dabei auch die Eingriffsnormen zu erwähnen, gilt dies meiner Ansicht nach auch für diese Normen.
62. Daher können Vorschriften, die vorrangig dem Schutz individueller Rechte und Freiheiten dienen, meines Erachtens als „Eingriffsnormen“ im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung qualifiziert werden, wenn sie nicht nur Individualinteressen in Einklang miteinander bringen, sondern darüber hinaus nachweislich hinreichend eng mit öffentlichen Interessen verbunden sind, die in der Rechtsordnung des betreffenden Staates als entscheidend angesehen werden .
63. In diesem Zusammenhang halte ich drittens den Hinweis der deutschen Regierung für wichtig, dass der durch eine Eingriffsnorm gewährte besondere Schutz als notwendiger Ausdruck ganz fundamentaler Rechtsprinzipien erscheinen sollte.
64. Zwar kann staatlichen Vorschriften zum Schutz bestimmter Kategorien von Individualrechten, wie etwa des Rechts auf Schadensersatz für die Opfer von Straftaten oder von Verkehrsunfällen, in einer nationalen Rechtsordnung so große Bedeutung zukommen, dass sie als fundamentale Rechtsprinzipien gelten, wozu auch der Grundsatz der Billigkeit gehören mag.
65. Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, der in Art. 52 ZZD festgelegte Grundsatz der billigen Entschädigung sei ein Grundprinzip des bulgarischen Rechts, da der Billigkeitsgrundsatz Teil der öffentlichen Ordnung des Staates sei. Wie bereits erwähnt, hat dieses Gericht jedoch festgestellt, dass die Rechtsprechung der bulgarischen Gerichte uneinheitlich in der Frage sei, ob Art. 52 ZZD – wonach nicht nur ein Leid, das eine pathologische Schädigung verursacht habe, sondern jede Art von zugefügtem Leid Gegenstand einer solchen Entschädigung sein könne – eine Eingriffsnorm im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung sei, was dazu führen würde, dass das deutsche Recht im Ausgangsrechtsstreit nicht anzuwenden wäre(52 ). Der Umstand, dass die Rechtsprechung der bulgarischen Gerichte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts uneinheitlich ist, lässt mich auf den ersten Blick daran zweifeln, dass der Billigkeitsgrundsatz ein fundamentales Prinzip der bulgarischen Rechtsordnung darstellt. Es ist jedoch Sache dieses Gerichts, das zu überprüfen.
66. Viertens muss ich schließlich darauf hinweisen, dass bei der Anwendung von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung in Verbindung mit deren 32. Erwägungsgrund die Möglichkeit, auf Eingriffsnormen zurückzugreifen, um sowohl Kollektiv- als auch Individualinteressen zu schützen, jedenfalls mit dem materiellen Unionsrecht in Einklang zu bringen ist, das möglicherweise das nach Art. 4 dieser Verordnung anzuwendende Recht darstellt.
67. Im Urteil HUK-COBURG I hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Richtlinie 2009/103 einer nationalen Regelung, die zwingende Kriterien für die Bestimmung der entschädigungsfähigen immateriellen Schäden festlegt, grundsätzlich nicht entgegensteht. Er hat deshalb entschieden, dass diese Richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Ersatz des von nahen Familienangehörigen von Verkehrsunfallopfern erlittenen immateriellen Schadens durch den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer von der Voraussetzung abhängig macht, dass dieser Schaden bei den nahen Familienangehörigen zu einer pathologischen Schädigung geführt hat(53 ). Der Gerichtshof hat folglich erklärt, dass eine nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung anwendbare nationale Regelung, die die Richtlinie 2009/103 in nationales Recht umsetzt(54 ), mit dieser Richtlinie vereinbar ist, wenn sie ein Kriterium für einen angemessenen Ersatz des immateriellen Schadens vorsieht.
68. Angesichts dessen, dass die Richtlinie 2009/103 Mindestdeckungssummen für die Haftpflichtversicherung vorsieht, wird eine Berücksichtigung der lex fori , vor allem wenn darin höhere Deckungssummen festgelegt sind, nur dann in Betracht gezogen werden können, wenn es zur Wahrung der öffentlichen Interessen des Staates des angerufenen Gerichts in der Rechtsordnung dieses Staates im Sinne von Art. 16 der Rom‑II-Verordnung als entscheidend angesehen wird, dass ein über die unionsrechtlich gewährleisteten Mindeststandards hinausgehender Schutz gewährt wird, unabhängig von den in anderen Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen.
69. Es ist jedoch, wie ebenfalls aus dem Urteil HUK-COBURG I hervorgeht, zwischen der Pflicht zur Deckung von Schäden, die Dritten durch Kraftfahrzeuge entstehen, durch die Haftpflichtversicherung auf der einen und dem Umfang ihrer Entschädigung im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten auf der anderen Seite zu unterscheiden. Erstere ist nämlich durch die Unionsregelung festgelegt und garantiert, Letzterer hingegen im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt. Laut dem Gerichtshof ergibt sich nämlich aus dem Zweck der Richtlinie 2009/103 und aus ihrem Wortlaut, dass sie wie die von ihr kodifizierten Richtlinien nicht die Haftpflichtregelungen der Mitgliedstaaten harmonisieren soll und dass es diesen beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor freisteht, die Haftpflicht für Schäden aus Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen selbst zu regeln(55 ). In Anbetracht u. a. von Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2009/103 hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor grundsätzlich freisteht, insbesondere zu regeln, welche von Kraftfahrzeugen verursachten Schäden zwingend zu ersetzen sind, welchen Umfang der Entschädigungsanspruch hat und welche Personen Anspruch auf eine Entschädigung haben müssen(56 ).
70. In der vorliegenden Rechtssache fällt das nach Art. 4 der Rom‑II-Verordnung anwendbare Recht, von dem zugunsten des nach Art. 16 dieser Verordnung anwendbaren Rechts des Staates des angerufenen Gerichts abgewichen würde, unter das materielle Haftpflichtrecht, auf das die Richtlinie 2009/103 verweist(57 ).
V. Ergebnis
71. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:
Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“)
ist dahin auszulegen, dass
er dem entgegensteht, dass eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die als Kriterium für die Festsetzung der Entschädigung für den immateriellen Schaden, den nahe Familienangehörige eines tödlich verunglückten Verkehrsunfallopfers erlitten haben, die Anwendung eines fundamentalen Grundsatzes des Rechts eines Mitgliedstaats wie des Grundsatzes der Billigkeit vorsieht, als Eingriffsnorm im Sinne dieses Artikels angesehen werden kann, es sei denn, das angerufene Gericht stellt aufgrund des Vorliegens hinreichend enger Verbindungen zum Staat dieses Gerichts und einer ausführlichen Analyse des Wortlauts, der allgemeinen Systematik, des Telos sowie des Entstehungszusammenhangs dieser Vorschrift fest, dass ihr in der innerstaatlichen Rechtsordnung so große Bedeutung zukommt, dass ein Abweichen von dem nach Art. 4 dieser Verordnung anwendbaren Recht gerechtfertigt erscheint.