C-815/21 P – Amazon.com u.a./ Kommission

C-815/21 P – Amazon.com u.a./ Kommission

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:308

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

20. April 2023(*)

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Online-Verkauf – Verordnung (EG) Nr. 773/2004 – Art. 2 Abs. 1 – Beschluss der Europäischen Kommission über die Einleitung einer Untersuchung – Räumliche Reichweite der Untersuchung – Ausschluss Italiens – Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 11 Abs. 6 – Verlust der Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten – Schutz gegen parallel von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und der Kommission geführte Verfahren – Nichtigkeitsklage – Nicht anfechtbare Handlung – Handlung, die keine Rechtswirkung gegenüber Dritten entfaltet – Vorbereitende Handlung – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache C‑815/21 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 21. Dezember 2021,

Amazon.com Inc. mit Sitz in Seattle (Vereinigte Staaten),

Amazon Services Europe Sàrl mit Sitz in Luxemburg (Luxemburg),

Amazon EU Sàrl mit Sitz in Luxemburg,

Amazon Europe Core Sàrl mit Sitz in Luxemburg,

vertreten durch A. Komninos, Dikigoros, und G. Tantulli, Abogado,

Rechtsmittelführerinnen,

andere Parteien des Verfahrens:

Europäische Kommission, vertreten durch B. Ernst, T. Franchoo, G. Meessen und C. Sjödin als Bevollmächtigte,

Beklagte im ersten Rechtszug,

unterstützt durch:

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato mit Sitz in Rom (Italien), vertreten durch P. Gentili, Avvocato dello Stato,

Streithelferin im Rechtsmittelverfahren,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Amazon.com Inc., die Amazon Services Europe Sàrl, die Amazon EU Sàrl und die Amazon Europe Core Sàrl (im Folgenden zusammen: Amazon) die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 14. Oktober 2021, Amazon.com u. a./Kommission (T‑19/21, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2021:730), mit dem dieses ihre Klage auf teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses C(2020) 7692 final der Kommission vom 10. November 2020 zur Einleitung eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV in der Sache AT.40703 – Amazon – Buy Box (im Folgenden: streitiger Beschluss) als unzulässig abgewiesen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung (EG) Nr. 1/2003

2        Die Erwägungsgründe 17 und 32 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) lauten:

„(17)      Um eine einheitliche Anwendung der Wettbewerbsregeln und gleichzeitig ein optimales Funktionieren des Netzwerks zu gewährleisten, muss die Regel beibehalten werden, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten automatisch ihre Zuständigkeit verlieren, sobald die [Europäische] Kommission ein Verfahren einleitet. Ist eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem Fall bereits tätig und beabsichtigt die Kommission, ein Verfahren einzuleiten, sollte sie sich bemühen, dies so bald wie möglich zu tun. Vor der Einleitung eines Verfahrens sollte die Kommission die betreffende nationale Behörde konsultieren.

(32)      Das Recht der beteiligten Unternehmen, von der Kommission gehört zu werden, sollte bestätigt werden. Dritten, deren Interessen durch eine Entscheidung betroffen sein können, sollte vor Erlass der Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, und die erlassenen Entscheidungen sollten auf breiter Ebene bekannt gemacht werden. Ebenso unerlässlich wie die Wahrung der Verteidigungsrechte der beteiligten Unternehmen, insbesondere des Rechts auf Akteneinsicht, ist der Schutz der Geschäftsgeheimnisse. Es sollte sichergestellt werden, dass die innerhalb des Netzwerks ausgetauschten Informationen vertraulich behandelt werden.“

3        Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„Leitet die Kommission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung nach Kapitel III ein, so entfällt damit die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Artikel [101 und 102 AEUV]. Ist eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem Fall bereits tätig, so leitet die Kommission ein Verfahren erst ein, nachdem sie diese Wettbewerbsbehörde konsultiert hat.“

 Verordnung Nr. 773/2004

4        Im 10. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101 und 102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 622/2008 der Kommission vom 30. Juni 2008 (ABl. 2008, L 171, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 773/2004) heißt es:

„Um die Verteidigungsrechte der Unternehmen zu wahren, sollte die Kommission den Parteien rechtliches Gehör gewähren, bevor sie eine Entscheidung trifft.“

5        Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 sieht vor:

„Die Kommission kann jederzeit die Einleitung eines Verfahrens zum Erlass einer Entscheidung gemäß Kapitel III der Verordnung [Nr. 1/2003] beschließen; dieser Beschluss muss jedoch vor der Versendung einer vorläufigen Beurteilung gemäß Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung [Nr. 1/2003], vor der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte, vor der Aufforderung an die Parteien, ihr Interesse an der Aufnahme von Vergleichsgesprächen zu bekunden, oder vor dem Datum der Veröffentlichung einer Mitteilung gemäß Artikel 27 Absatz 4 der genannten Verordnung ergehen, je nachdem, welche Handlung früher stattfindet.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

6        Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wurde in den Rn. 1 bis 5 des angefochtenen Beschlusses wie folgt geschildert:

„1      Die Klägerinnen … gehören zum Unternehmen Amazon. Amazon ist insbesondere im Internet tätig, betreibt u. a. Online-Einzelhandel und erbringt verschiedene Online-Dienstleistungen.

2      Am 10. November 2020 erließ die Europäische Kommission den [streitigen] Beschluss …

3      Nach Ansicht der Kommission könnten bestimmte Geschäftspraktiken von Amazon deren eigene Einzelhandelsangebote und die Angebote der Verkäufer auf ihrem Marktplatz, die die Logistik- und Lieferdienste von Amazon nutzten, künstlich begünstigen.

4      Wäre die fragliche Praxis erwiesen, könnte sie nach Ansicht der Kommission gegen Art. 102 AEUV verstoßen.

5      Im [streitigen] Beschluss erklärte die Kommission, dass sich die Untersuchung auf den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit Ausnahme Italiens erstrecken werde, was sie in der Pressemitteilung zu dem Beschluss damit rechtfertigte, dass die italienische Wettbewerbsbehörde im April 2019 begonnen habe, teilweise ähnliche Bedenken mit Schwerpunkt auf dem italienischen Markt zu prüfen.“

 Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

7        Mit Klageschrift, die am 19. Januar 2021 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Amazon Klage auf teilweise Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses, soweit er Italien vom Anwendungsbereich der Untersuchung und den Rechtsfolgen von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ausnimmt.

8        Mit am 29. März 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem gesonderten Schriftsatz machte die Kommission die Unzulässigkeit der Klage u. a. mit dem Vorbringen geltend, dass der streitige Beschluss keine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV darstelle, da er keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeuge, die geeignet wären, über eine qualifizierte Änderung der Rechtsstellung von Amazon deren Interessen zu beeinträchtigen. Amazon reichte ihre Stellungnahme zu dieser Unzulässigkeitseinrede am 14. Mai 2021 ein.

9        Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Gericht die Klage von Amazon mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, dass der streitige Beschluss nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung entfalte und daher die Rechtsstellung von Amazon, abgesehen von ihrer verfahrensrechtlichen Lage, nicht berühre.

10      Außerdem hat das Gericht nach Art. 144 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung entschieden, dass sich die Anträge auf Zulassung zur Streithilfe, darunter der von der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) gestellte, erledigt haben.

 Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

11      Mit Schriftsatz, der am 21. Dezember 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat Amazon das vorliegende Rechtsmittel eingelegt.

12      Mit Schriftsatz, der am 13. April 2022 eingegangen ist, hat die AGCM gemäß Art. 40 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie den Art. 129 und 130 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden.

13      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juli 2022, Amazon.com u. a./Kommission (C‑815/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:596), hat dieser dem Antrag stattgegeben. Da der Antrag nach Ablauf der in Art. 130 der Verfahrensordnung bezeichneten Frist, aber vor der Entscheidung über die Eröffnung des mündlichen Verfahrens gestellt worden ist, ist die AGCM gemäß Art. 129 Abs. 4 der Verfahrensordnung als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen und ihr gestattet worden, in der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen, wenn eine solche stattfindet.

14      Mit ihrem Rechtsmittel beantragt Amazon,

–        den angefochtenen Beschluss aufzuheben,

–        die von der Kommission vor dem Gericht erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen und

–        die Rechtssache zur Entscheidung in der Sache an das Gericht zurückzuverweisen.

15      Die Kommission beantragt,

–        das Rechtsmittel zurückzuweisen und

–        Amazon sämtliche Kosten des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen.

 Zum Rechtsmittel

16      Zur Stützung ihres Rechtsmittels macht Amazon einen einzigen Rechtsmittelgrund geltend, der in drei Teile gegliedert ist, und zwar erstens einen Verstoß des Gerichts gegen Art. 263 AEUV, zweitens eine fehlerhafte Auslegung von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 und drittens, dass die Begründung des Gerichts auf fehlerhaften und nicht stichhaltigen Hilfserwägungen beruhe.

 Zum zweiten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes

 Vorbringen der Parteien

17      Mit dem an erster Stelle zu prüfenden zweiten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes macht Amazon geltend, das Gericht habe im angefochtenen Beschluss Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 fehlerhaft ausgelegt.

18      So habe das Gericht diese Bestimmung in den Rn. 28 bis 50 des angefochtenen Beschlusses in einer paradoxen Art und Weise ausgelegt, indem es einerseits in Rn. 41 des Beschlusses ausgeführt habe, dass diese Bestimmung die Unternehmen vor paralleler Verfolgung durch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und die Kommission schützen solle, gleichzeitig aber andererseits eingeräumt habe, dass es im Ermessen der Kommission stehe, diesen Schutz zu verweigern.

19      Diese fehlerhafte Auslegung gehe auf eine Vermischung der Begriffe „geografischer Markt“, „geografischer Umfang“ und „geografischer Umfang des Verfahrens“ in den Rn. 26 bis 28 des angefochtenen Beschlusses zurück. Insofern macht Amazon geltend, der streitige Beschluss habe keinerlei „geografischen Markt“ eingegrenzt, sondern sich mit dem alleinigen Ziel einer Umgehung der sich aus Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ergebenden Verpflichtungen darauf beschränkt, Italien vom räumlichen Anwendungsbereich der Untersuchung auszunehmen.

20      Schließlich trägt Amazon vor, das Gericht habe in Rn. 28 des angefochtenen Beschlusses den mit Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 gewährten Schutz in das Ermessen der Kommission gestellt. Es gebe aber grundsätzlich keinen Bereich des Unionsrechts, in dem die Verwaltung einen gesetzlich gewährten Schutz über eine Ermessensentscheidung beseitigen dürfe.

21      Die Kommission hält dieses Vorbringen für nicht stichhaltig.

 Würdigung durch den Gerichtshof

22      Zur Auslegung von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 23 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, eine Handlung, mit der die Kommission ein Verfahren nach Art. 102 AEUV einleite, entfalte grundsätzlich nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung und berühre die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerinnen, von ihrer verfahrensrechtlichen Lage abgesehen, nicht. Daher ist es in Rn. 38 des Beschlusses davon ausgegangen, dass die Entscheidung, Italien vom Umfang des von der Kommission infolge des Erlasses des streitigen Beschlusses eingeleiteten Verfahrens auszunehmen, im vorliegenden Fall nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung entfaltet habe und die Rechtsstellung von Amazon, abgesehen von ihrer verfahrensrechtlichen Lage, nicht berührt habe.

23      In Rn. 39 des angefochtenen Beschlusses hat es weiter ausgeführt, dass das Vorbringen von Amazon, dass der angefochtene Beschluss zwar das Verfahren betreffe, aber verbindliche Rechtswirkungen entfalte, da Amazon dadurch, dass das italienische Hoheitsgebiet vom Anwendungsbereich des Beschlusses ausgenommen worden sei, der in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Schutz vor Parallelverfahren genommen worden sei, diese Schlussfolgerung nicht in Frage stelle.

24      So hat das Gericht, nachdem es in Rn. 41 des angefochtenen Beschlusses darauf verwiesen hat, dass der sich aus dieser Bestimmung ergebende Verlust der Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten es ermögliche, Unternehmen vor paralleler Verfolgung durch diese Behörden und die Kommission zu schützen, in den Rn. 45 bis 48 des Beschlusses ausgeführt, dieser Schutz bedeute nicht, dass ein Unternehmen Anspruch darauf habe, dass eine Angelegenheit in vollem Umfang von der Kommission behandelt werde. Das Gericht ist daher in Rn. 49 des Beschlusses davon ausgegangen, dass Amazon nicht mit Erfolg geltend machen könne, ihr sei durch den beanstandeten Teil des streitigen Beschlusses der Schutz nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorenthalten worden, da diese Schutzwirkung nicht bedeute, dass die Kommission verpflichtet wäre, ein Verfahren einzuleiten, um den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu nehmen.

25      Eine solche Auslegung von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ist entgegen dem Vorbringen von Amazon nicht fehlerbehaftet.

26      Nach Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 entfällt die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV nämlich, sobald die Kommission ein Verfahren einleitet, um eine der in den Bestimmungen des Kapitels III dieser Verordnung aufgeführten Entscheidungen zu erlassen, mit denen eine Zuwiderhandlung gegen die Art. 101 und 102 AEUV festgestellt werden soll, die fraglichen Unternehmen zur Abstellung entsprechender Zuwiderhandlungen verpflichtet werden sollen, auf der Grundlage von prima facie festgestellten Zuwiderhandlungen einstweilige Maßnahmen angeordnet werden sollen, Verpflichtungszusagen von Unternehmen für bindend erklärt werden sollen oder die Nichtanwendbarkeit der Art. 101 und 102 AEUV festgestellt werden soll.

27      Leitet die Kommission nach Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ein Verfahren gegen eines oder mehrere Unternehmen aufgrund einer mutmaßlichen Zuwiderhandlung gegen die Art. 101 und 102 AEUV ein, verlieren die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten mithin ihre Zuständigkeit zur Verfolgung derselben Unternehmen wegen derselben mutmaßlich wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen auf dem- oder denselben Produktmärkten und dem- oder denselben geografischen Märkten in dem- oder denselben Zeiträumen (Urteil vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 30).

28      Ein solcher Verlust der Zuständigkeit rechtfertigt sich durch den Umstand, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten befugt sind, die Wettbewerbsregeln der Union parallel zur Kommission anzuwenden, so dass – wie sich aus dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 ergibt – dieser Verlust u. a. darauf abzielt, eine einheitliche Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union sicherzustellen und ein optimales Funktionieren des Netzwerks der Behörden zu gewährleisten, die mit der Durchführung dieser Regeln betraut sind. Außerdem wird es, da die parallele Anwendung dieser Regeln nicht auf Kosten der Unternehmen erfolgen darf, durch den Verlust der Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten ermöglicht, die Unternehmen vor paralleler Verfolgung durch diese Behörden und die Kommission zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom, C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht die Wirkung hat, den Adressaten ihre Verfahrensrechte zu nehmen. Vielmehr soll die Ausgestaltung dieses Verfahrens es den betroffenen Unternehmen gerade ermöglichen, ihren Standpunkt zur Kenntnis zu bringen und die Kommission möglichst umfassend zu informieren, bevor sie eine Entscheidung trifft, die die Interessen der Unternehmen beeinträchtigt. Damit sollen zu ihren Gunsten verfahrensmäßige Garantien geschaffen und, wie sich aus dem 32. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 sowie aus dem 10. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 773/2004 ergibt, das Recht der Unternehmen gewährleistet werden, von der Kommission angehört zu werden (Beschluss vom 29. Januar 2020, Silgan Closures und Silgan Holdings/Kommission, C‑418/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:43, Rn. 48).

30      Das Vorbringen von Amazon zur Stützung des vorliegenden Teils des einzigen Rechtsmittelgrundes, Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 gewähre Unternehmen Schutz gegen parallel von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und der Kommission betriebene Verfahren, und die Kommission habe ihr diesen Schutz dadurch vorenthalten, dass sie Italien mit dem streitigen Beschluss rechtswidrig vom räumlichen Anwendungsbereich der eingeleiteten Untersuchung ausgenommen habe, beruht folglich auf einer offensichtlich fehlerhaften Auslegung dieser Bestimmung.

31      Denn der durch Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 bewirkte Schutz findet nur Anwendung, soweit eine parallele Verfolgung durch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und die Kommission vorliegt, die sich auf dieselben Unternehmen wegen derselben mutmaßlich wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen auf dem- oder denselben Produktmärkten und dem- oder denselben geografischen Märkten in dem- oder denselben Zeiträumen bezieht.

32      Wie die Kommission in ihrer Rechtsmittelbeantwortung zu Recht geltend macht, hängt dieser Schutz von der Reichweite des Beschlusses über die Einleitung des Verfahrens nach Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV ab.

33      Folglich können sich Unternehmen nicht auf diesen Schutz berufen, wenn die Kommission kein Verfahren eingeleitet hat oder aber für ein bestimmtes Gebiet kein Verfahren eingeleitet hat.

34      Da die räumliche Reichweite des mit dem streitigen Beschluss eingeleiteten Verfahrens Italien nicht abdeckte, konnte der in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Schutz im vorliegenden Fall keine Anwendung finden.

35      Wie das Gericht in Rn. 45 des angefochtenen Beschlusses fehlerfrei ausgeführt hat, bedeutet dieser Schutz zudem nicht, dass ein Unternehmen Anspruch darauf hat, dass eine Angelegenheit in vollem Umfang von der Kommission behandelt wird.

36      Wollte man, wie Amazon, die Auffassung vertreten, dass sich ein Beschluss der Kommission über die Einleitung eines Verfahrens zum Erlass einer Entscheidung gemäß den Bestimmungen von Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 zwingend auf den gesamten EWR erstrecken müsste, würde dies der Kommission den weiten Beurteilungsspielraum nehmen, über den sie beim Erlass eines solchen Beschlusses gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 verfügt.

37      Aus den vorstehenden Gründen ergibt sich, dass dem Gericht bei der Auslegung von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 kein Fehler unterlaufen ist. Das Vorbringen von Amazon, das Gericht habe die Begriffe „geografischer Markt“, „geografischer Umfang“ und „geografischer Umfang des Verfahrens“ vermischt, greift folglich nicht durch.

38      Daher ist der zweite Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum ersten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes

 Vorbringen der Parteien

39      Amazon macht geltend, das Gericht habe dadurch gegen Art. 263 Abs. 1 und 4 AEUV verstoßen, dass es die Nichtigkeitsklage zu Unrecht mit der Begründung als unzulässig eingestuft habe, der streitige Beschluss entfalte gegenüber Amazon keine Rechtswirkung.

40      Die Wirkungen und die Rechtsnatur des streitigen Beschlusses hätten anhand seines Zwecks bestimmt werden müssen. Amazon wirft dem Gericht vor, sich ohne eine konkrete Prüfung des Beschlusses auf die Feststellung beschränkt zu haben, dass eine Handlung, mit der die Kommission ein Verfahren nach Art. 102 AEUV einleite, nach der Rechtsprechung im Allgemeinen nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung entfalte und die Rechtsstellung der Unternehmen, an die sie gerichtet sei, von deren verfahrensrechtlicher Lage abgesehen, nicht berühre.

41      Hätte das Gericht den Beschluss in der Sache geprüft, hätte es festgestellt, dass damit nicht nur ein Verfahren eingeleitet worden sei, sondern dass er dadurch eigenständige Rechtswirkungen entfaltet habe, dass er Amazon den in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Schutz gegen jegliche von zwei Wettbewerbsbehörden gegen ein und dasselbe Unternehmen betriebene Parallelverfahren vorenthalten habe.

42      Die Kommission tritt dem Vorbringen von Amazon entgegen und vertritt die Auffassung, dass der erste Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes unzulässig sei, da die beanstandeten Punkte des angefochtenen Beschlusses nicht bezeichnet würden. Hilfsweise sei dieser Teil unbegründet.

 Würdigung durch den Gerichtshof

43      Zur Zulässigkeit des vorliegenden Teils genügt die Feststellung, dass Amazon die beanstandeten Punkte des angefochtenen Beschlusses, auf den sich ihre Argumentation bezieht, entgegen dem Vorbringen der Kommission hinreichend genau bezeichnet. Der Rechtsmittelschrift lässt sich nämlich eindeutig entnehmen, dass Amazon rügt, das Gericht habe ohne eine konkrete Prüfung des streitigen Beschlusses entschieden, dieser sei eine Handlung, mit der ein Verfahren nach Art. 102 AEUV eingeleitet worden sei, die nur die Wirkungen einer Verfahrenshandlung entfalte und die Rechtsstellung der Unternehmen, an die sie gerichtet sei, von deren verfahrensrechtlicher Lage abgesehen, nicht berühre.

44      Somit ist der vorliegende Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes zulässig.

45      In der Sache wird in den Rn. 27 und 28 der Rechtsmittelschrift von Amazon explizit darauf verwiesen, dass sie geltend mache, das Gericht habe gegen Art. 263 AEUV verstoßen, indem es sich auf eine formale Darstellung des streitigen Beschlusses beschränkt habe, ohne eine sachliche Prüfung vorzunehmen. Eine solche Prüfung hätte die Feststellung erlaubt, dass mit diesem Beschluss nicht nur gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 773/2004 ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung gemäß den Bestimmungen von Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 eingeleitet worden sei, sondern dass er dadurch eine gesonderte Rechtswirkung entfaltet habe, dass er den in Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Schutz beendet habe.

46      Dieses Vorbringen beruht auf der Annahme, dass sich Amazon auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen Schutz berufen könnte. Wie sich aus der Prüfung des zweiten Teils des einzigen Rechtsmittelgrundes ergibt, geht eine solche Annahme fehl.

47      Folglich ist der erste Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes, der vollständig auf dieser falschen Annahme beruht, als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum dritten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes

 Vorbringen der Parteien

48      Mit dem gegen die Rn. 32 bis 50 des angefochtenen Beschlusses gerichteten dritten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes macht Amazon geltend, dass der Beschluss auf „fehlerhaften und nicht stichhaltigen Hilfserwägungen“ beruhe. Zunächst habe sich das Gericht in seiner Begründung zu Unrecht auf das Vorbringen von Amazon bezogen, sie laufe Gefahr, sich vor zwei unterschiedlichen Wettbewerbsbehörden verteidigen zu müssen, soweit das Gericht die Verletzung der Rechte von Amazon nicht berücksichtige. Weiterhin sei der vorläufige Charakter des streitigen Beschlusses für das vorliegende Rechtsmittel irrelevant. Schließlich sei es fehlerhaft, die Klage einem Antrag auf Einleitung eines Verfahrens auf dem italienischen Markt gleichzustellen.

49      Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

50      Da die ersten beiden Teile des einzigen Rechtsmittelgrundes zurückgewiesen wurden, ist insoweit darauf hinzuweisen, dass die Schlussfolgerung des Gerichts, die Klage von Amazon sei unzulässig, mit dem dritten Teil dieses Rechtsmittelgrundes nicht in Frage gestellt werden kann, mit dem sich Amazon lediglich gegen „Hilfserwägungen“ des Gerichts wendet, die sie für fehlerhaft und nicht stichhaltig hält. Der dritte Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes ist damit als ins Leere gehend zurückzuweisen.

51      Nach alledem ist der einzige Rechtsmittelgrund in allen Teilen und folglich das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.

 Kosten

52      Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

53      Da das Rechtsmittel von Amazon zurückgewiesen wurde, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

54      Nach Art. 140 Abs. 3 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, kann der Gerichtshof entscheiden, dass ein anderer Streithelfer als die in Art. 140 Abs. 1 und 2 der Verfahrensordnung genannten seine eigenen Kosten trägt. Im vorliegenden Fall ist zu entscheiden, dass die AGCM ihre eigenen Kosten im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel trägt.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

2.      Die Amazon.com Inc., die Amazon Services Europe Sàrl, die Amazon EU Sàrl und die Amazon Europe Core Sàrl tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.

3.      Die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) trägt ihre eigenen Kosten im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverfahren.

Unterschriften



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