C-752/21 – Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“

C-752/21 – Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:179

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

9. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Rechtsbehelfe – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2005/212/JI – Zollschmuggel – Vermögensgegenstände eines Dritten, die im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens eingezogen worden sind – Nationale Regeln, die diesen Dritten aus der Kategorie der Personen ausschließt, die zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion, mit der die Einziehung angeordnet wurde, berechtigt sind“

In der Rechtssache C‑752/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad – Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien) mit Entscheidung vom 17. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2021, in dem Verfahren

JP EOOD

gegen

Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“/MRR/ v TD „Mitnitsa Burgas“,

Beteiligte:

Okrazhna prokuratura – Haskovo,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–      der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 22 Abs. 7, Art. 29 und Art. 44 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1) (im Folgenden: Zollkodex der Union), von Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen (ABl. 2005, L 68, S. 49) und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der JP EOOD, einer Handelsgesellschaft bulgarischen Rechts, und dem Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“ /MRR/ v TD „Mitnitsa Burgas“ (Abteilung der Zolldirektion Burgas, Bulgarien) wegen deren Entscheidung über die Einziehung eines JP gehörenden, für den Warenschmuggel verwendeten Transportfahrzeugs zugunsten des bulgarischen Staates.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Rahmenbeschluss 2005/212

3        Der erste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2005/212 lautet:

„Das Hauptmotiv für grenzüberschreitende organisierte Kriminalität ist wirtschaftlicher Gewinn. Im Rahmen einer effizienten Verhütung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität muss der Schwerpunkt daher auf die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Erträgen aus Straftaten gelegt werden. Dies wird jedoch unter anderem durch Unterschiede zwischen den diesbezüglichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erschwert.“

4        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses bestimmt im vierten Gedankenstrich:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

–        ‚Einziehung‘ eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt“.

5        Art. 2 („Einziehung“) dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

…“

6        Art. 4 („Rechtsmittel“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle von den Maßnahmen nach den Artikeln 2 und 3 betroffenen Parteien über wirksame Rechtsmittel zur Wahrung ihrer Rechte verfügen.“

 Zollkodex der Union

7        Art. 5 („Begriffsbestimmungen“) des Zollkodex der Union sieht vor:

„Für den Zollkodex [der Union] gelten folgende Begriffsbestimmungen:

1.      ‚Zollbehörden‘ sind die für die Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften zuständigen Zollverwaltungen der Mitgliedstaaten und sonstige nach einzelstaatlichem Recht zur Anwendung bestimmter zollrechtlicher Vorschriften ermächtigte Behörden.

2.      Zu den ‚zollrechtlichen Vorschriften‘ gehören alle folgenden Rechtsinstrumente:

a)      der Zollkodex sowie die auf Unionsebene und auf einzelstaatlicher Ebene zu seiner Ergänzung oder Durchführung erlassenen Vorschriften,

b)      der Gemeinsame Zolltarif,

c)      die Rechtsvorschriften über das Unionssystem der Zollbefreiungen,

d)      internationale Übereinkünfte, die zollrechtliche Vorschriften enthalten, soweit sie in der Union anwendbar sind.

39.      ‚Entscheidung‘ ist eine Handlung der Zollbehörden auf dem Gebiet des Zollrechts zur Regelung eines Einzelfalls mit Rechtswirkung für die betreffende Person oder die betreffenden Personen.

…“

8        Art. 22 („Entscheidungen auf Antrag“) Abs. 7 des Zollkodex der Union lautet:

„Eine den Antragsteller belastende Entscheidung muss mit Gründen versehen sein und eine Belehrung über das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs nach Artikel 44 enthalten.“

9        Art. 29 („Entscheidungen ohne vorherigen Antrag“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„Außer in dem Fall, in dem eine Zollbehörde als Gericht handelt, gelten Artikel 22 Absätze 4, 5, 6 und 7, Artikel 23 Absatz 3 und die Artikel 26, 27 und 28 auch für die Entscheidungen, die die Zollbehörden ohne vorherigen Antrag des Beteiligten erlassen.“

10      Art. 42 („Anwendung von Sanktionen“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat sieht Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

(2)      Werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, so können sie unter anderem in einer oder beiden folgenden Formen erfolgen:

a)      als eine von den Zollbehörden auferlegte finanzielle Belastung, gegebenenfalls auch an Stelle oder zur Abwendung einer strafrechtlichen Sanktion,

b)      als Widerruf, Aussetzung oder Änderung einer dem Beteiligten erteilten Bewilligung.

(3)      Die Mitgliedstaaten unterrichten die [Europäische] Kommission innerhalb von 180 Tagen nach Beginn der Anwendung dieses Artikels gemäß Artikel 288 Absatz 2 über die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels vorgesehenen geltenden einzelstaatlichen Vorschriften und teilen ihr jede spätere Änderung dieser Vorschriften unverzüglich mit.“

11      Art. 43 („Von einem Gericht erlassene Entscheidungen“) des Zollkodex der Union lautet:

„Die Artikel 44 und 45 gelten nicht für Rechtsbehelfe, die im Hinblick auf die Rücknahme, den Widerruf oder die Änderung einer von einem Gericht oder von einer Zollbehörde, die als Gericht handelt, im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassenen Entscheidung eingelegt werden.“

12      Art. 44 („Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Jede Person hat das Recht, einen Rechtsbehelf gegen eine von den Zollbehörden im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassene Entscheidung einzulegen, die sie unmittelbar und persönlich betrifft.

(2)      Das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs kann in einem mindestens zweistufigen Verfahren ausgeübt werden:

a)      auf der ersten Stufe bei einer Zollbehörde oder einem Gericht oder einer von den Mitgliedstaaten für diesen Zweck benannten anderen Stelle,

b)      auf der zweiten Stufe bei einer höheren unabhängigen Stelle, bei der es sich nach Maßgabe der geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten um ein Gericht oder eine gleichwertige spezialisierte Stelle handeln kann.

(3)      Der Rechtsbehelf wird in dem Mitgliedstaat eingelegt, in dem die Entscheidung erlassen oder beantragt worden ist.

(4)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Rechtsbehelfsverfahren eine umgehende Bestätigung oder Berichtigung der von den Zollbehörden erlassenen Entscheidung ermöglicht.“

 Richtlinie 2014/42/EU

13      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl. 2014, L 127, S. 39) sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

4.      ‚Einziehung‘ eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen;

…“

14      Art. 14 („Ersetzung der Gemeinsamen Maßnahme 98/699/JI und bestimmter Regelungen der Rahmenbeschlüsse 2001/500/JI und 2005/212/JI“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„… die Artikel 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2001/500/JI [des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 2001, L 182, S. 1)] und die Artikel 1 Gedankenstriche 1 bis 4 und Artikel 3 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI werden durch die vorliegende Richtlinie für die Mitgliedstaaten ersetzt, die durch die vorliegende Richtlinie gebunden sind, unbeschadet der Pflichten dieser Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Fristen für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse in innerstaatliches Recht.“

 Bulgarisches Recht

 ZM

15      Art. 231 des Zakon za mitnitsite (Zollgesetz) (DV Nr. 15 vom 6. Februar 1998) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZM) sieht vor:

„Die Entscheidungen über eine verwaltungsrechtliche Sanktion werden vom Direktor der Zollagentur oder von den von diesem benannten Bediensteten erlassen.“

16      Art. 232 ZM bestimmt:

„(1)      Ist der Zuwiderhandelnde unbekannt, wird das Protokoll von demjenigen, der es erstellt hat, sowie von einem Zeugen unterzeichnet, und es wird nicht zugestellt. In diesem Fall wird eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion erlassen, die mit ihrem Erlass bestandskräftig wird.

…“

17      Art. 233 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Wer Waren ohne Wissen und Genehmigung der Zollbehörden über die Staatsgrenze mitführt oder befördert oder dies versucht, wird, sofern die begangene Handlung keine Straftat darstellt, wegen Zollschmuggels mit einer Geldstrafe von 100 % bis 200 % des Einfuhrzollwerts oder des Ausfuhrwerts der Waren bestraft.

(8)      Beförderungsmittel oder Behältnisse, die der Mitführung oder Beförderung der Waren, die Gegenstand des Zollschmuggels sind, gedient haben, werden ungeachtet der Eigentumsverhältnisse zugunsten des Staates eingezogen, es sei denn, ihr Wert entspricht offensichtlich nicht dem Wert der geschmuggelten Ware.“

 ZANN

18      Art. 59 des Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen) (DV Nr. 92 vom 28. November 1969) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZANN) bestimmt:

„(1)      Die Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion und das elektronische Datenblatt können vor dem [Rayonen sad (Rayongericht)], in dessen Bezirk die Zuwiderhandlung begangen oder beendet wurde, und wegen im Ausland begangener Zuwiderhandlungen vor dem [Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia)] angefochten werden.

(2)      Der Zuwiderhandelnde und die Person, die Schadensersatz verlangt, können gegen diese Entscheidung innerhalb von sieben Tagen ab deren Zustellung einen Rechtsbehelf einlegen, während die Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung innerhalb von zwei Wochen ab deren Erlass Beschwerde einlegen kann.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      Am 11. Juli 2020 stellten die bulgarischen Zollbehörden einen Versuch fest, Einspritzdüsen für Autos, die auf einem Lastkraftwagen mit angehängtem Sattelauflieger geladen waren, ohne Genehmigung von der Türkei nach Bulgarien zu transportieren.

20      Von der Okrazhna prokuratura – Haskovo (Regionalstaatsanwaltschaft Haskovo, Bulgarien) wurde ein Ermittlungsverfahren wegen schweren Zollschmuggels eingeleitet. Mit Entscheidung vom 15. Dezember 2020 wurde das strafrechtliche Verfahren vom Staatsanwalt bei der Regionalstaatsanwaltschaft Haskovo jedoch wegen fehlender Beweise eingestellt.

21      Gleichzeitig wurde die Akte der Zollfahndungs- und ‑ermittlungsstelle übermittelt, damit diese prüfen konnte, ob es angebracht war, ein Verwaltungsstrafverfahren nach dem ZM einzuleiten.

22      Da er den Zuwiderhandelnden nicht ermitteln konnte, erließ der Leiter der Abteilung der Zolldirektion Burgas am 22. Februar 2021 gemäß Art. 232 Abs. 1 ZM eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion gegen unbekannt. Gemäß dieser Vorschrift wird, wenn der Zuwiderhandelnde unbekannt ist, die Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion mit ihrem Erlass bestandskräftig.

23      Mit dieser Entscheidung wurde dem unbekannten Zuwiderhandelnden der Besitz an den Einspritzdüsen entzogen, die zugunsten des bulgarischen Staates eingezogen wurden. Mit derselben Entscheidung zogen die bulgarischen Zollbehörden gemäß Art. 233 Abs. 8 ZM den Lastkraftwagen und den Sattelauflieger mit einem Gesamtwert von 111 604,20 bulgarischen Leva (BGN) (ungefähr 57 300 Euro), die beide Eigentum von JP sind, zugunsten des Staates ein.

24      Diese Gesellschaft erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad, Bulgarien), der diese Klage mit Beschluss vom 20. April 2021 als unzulässig abwies, weil die Gesellschaft kein Rechtsschutzinteresse habe.

25      Dieses Gericht führte zum einen aus, dass nach Art. 59 Abs. 2 ZANN der Zuwiderhandelnde und die Person, die Schadensersatz verlange, berechtigt seien, einen Rechtsbehelf gegen die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung einzulegen, während die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegen könne. Zum anderen sei die Entscheidung über die verwaltungsrechtliche Sanktion, da sie gegenüber einem unbekannten Zuwiderhandelnden erlassen worden sei, gemäß Art. 232 Abs. 1 ZM mit ihrem Erlass bestandskräftig geworden und nicht anfechtbar.

26      JP legte gegen diesen Beschluss ein Rechtsmittel beim Administrativen sad – Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, ein. Sie macht geltend, dass sie, auch wenn sie eine nicht am Verwaltungsstrafverfahren beteiligte Dritte gewesen sei, bei der Einziehung ihrer Vermögensgegenstände einen Vermögensschaden erlitten habe, ohne dass ihr eine echte Möglichkeit eingeräumt worden sei, ihre Rechte und berechtigten Interessen zu verteidigen.

27      Dieses Gericht bestätigt, dass das bulgarische Recht keinen Rechtsbehelf vorsehe, wenn wie im Ausgangsverfahren eine verwaltungsrechtliche Sanktion gegen einen unbekannten Zuwiderhandelnden verhängt werde. Aus Art. 232 Abs. 1 ZM gehe nämlich ausdrücklich hervor, dass in einem solchen Fall eine solche Entscheidung unanfechtbar sei.

28      Das vorlegende Gericht hat daher Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung zum einen mit dem Zollkodex der Union und zum anderen mit dem Rahmenbeschluss 2005/212, sofern der Letztgenannte auch für Fälle gelte, in denen die begangene Handlung keine Straftat darstelle.

29      Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad – Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 44 Abs. 1 des Zollkodex der Union in Verbindung mit Art. 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie Art. 59 Abs. 2 ZANN unzulässig ist, wonach der Kreis der Personen, die berechtigt sind, einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion einzulegen, nicht den Eigentümer der mit derselben Entscheidung eingezogenen Gegenstände umfasst, wenn er die inkriminierte Tat nicht begangen hat?

2.      Sind die Bestimmungen des Art. 22 Abs. 7 in Verbindung mit den Art. 29 und 44 des Zollkodex der Union, mit Art. 13 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie Art. 232 Abs. 1 ZM – die Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die gegen einen unbekannten Zuwiderhandelnden erlassen wurde, ausschließt – unzulässig ist, sofern mit dieser Entscheidung nach dem nationalen Recht die Einziehung von Vermögensgegenständen, die einem am Verwaltungsstrafverfahren nicht beteiligten Dritten gehören, zugunsten des Staates angeordnet werden kann?

3.      Ist Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2005/212 in Verbindung mit Art. 47 der Charta per argumentum a fortiori dahin auszulegen, dass er auch dann anwendbar ist, wenn die Tat keine Straftat darstellt, sowie dahin, dass nationale Regelungen unzulässig sind, die wie Art. 59 Abs. 2 ZANN den Eigentümer der eingezogenen Vermögensgegenstände aus dem Kreis der zur Einlegung eines Rechtsbehelfs berechtigten Personen ausschließen bzw. wie Art. 232 ZM ausdrücklich vorsehen, dass gegen einen Bescheid, mit dem nach dem nationalen Recht Vermögensgegenstände von einem am Verwaltungsstrafverfahren nicht beteiligten Dritten eingezogen werden können, keine Rechtsbehelfe gegeben sind?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

30      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 44 des Zollkodex der Union dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die kein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion für eine Person vorsieht, deren Vermögensgegenstände aufgrund einer solchen Entscheidung eingezogen worden sind, die aber in dieser Entscheidung nicht als die Person angesehen wird, die die Zuwiderhandlung, mit der die verhängte Verwaltungssanktion in Zusammenhang steht, begangen hat.

31      Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 44 des Zollkodex der Union jede Person das Recht hat, einen Rechtsbehelf gegen eine von den Zollbehörden im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassene Entscheidung einzulegen, die sie unmittelbar und persönlich betrifft.

32      Der Begriff „Entscheidung“, auf den diese Bestimmung Bezug nimmt, wird in Art. 5 Nr. 39 des Zollkodex definiert als „eine Handlung der Zollbehörden auf dem Gebiet des Zollrechts zur Regelung eines Einzelfalls mit Rechtswirkung für die betreffende Person oder die betreffenden Personen“, wobei zu den zollrechtlichen Vorschriften gemäß Art. 5 Nr. 2 u. a. der Zollkodex der Union sowie die auf einzelstaatlicher Ebene zu seiner Ergänzung oder Durchführung erlassenen Vorschriften gehören.

33      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die von den Zollbehörden zur Regelung eines Einzelfalls von Zollschmuggel erlassen wurde, Rechtswirkung für JP hat, da Vermögensgegenstände dieser juristischen Person als „Beteiligter“ eingezogen wurden. Folglich handelt es sich um eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 5 Nr. 39 des Zollkodex der Union.

34      Ferner ist zum einen festzustellen, dass Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vorsehen müssen, so dass die Entscheidung, bei einem Zollschmuggel wie dem im Ausgangsverfahren festgestellten eine solche Sanktion, insbesondere die Einziehung von Waren, zu verhängen, eine im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassene Entscheidung im Sinne von Art. 44 des Zollkodex darstellt.

35      Zum anderen ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verwaltungsrechtliche Sanktion zwar offenbar nicht formell an JP gerichtet worden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, doch entfaltet sie unmittelbare Rechtswirkungen für diese Gesellschaft, da ihre Vermögensgegenstände aufgrund dieser Entscheidung eingezogen wurden. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Entscheidung JP im Sinne von Art. 44 des Zollkodex unmittelbar und persönlich betrifft.

36      Daraus folgt, dass eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nach Art. 44 des Zollkodex der Union anfechtbar sein muss, so dass dieser Kodex einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine von dieser Entscheidung unmittelbar und persönlich betroffene Person nicht das Recht hat, einen Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung einzulegen.

37      Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 44 des Zollkodex der Union dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die kein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion für eine Person vorsieht, deren Vermögensgegenstände aufgrund einer solchen Entscheidung eingezogen worden sind, die aber in dieser Entscheidung nicht als die Person angesehen wird, die die Zuwiderhandlung, mit der die verhängte Verwaltungssanktion in Zusammenhang steht, begangen hat.

 Zur dritten Frage

38      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Entscheidung anwendbar ist, die eine Handlung betrifft, die keine Straftat darstellt, und, falls ja, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Dritter, dessen Vermögensgegenstand im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens eingezogen werden kann, gegen diese Entscheidung keinen Rechtsbehelf einlegen kann.

39      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 dieses Rahmenbeschlusses, auf den in Art. 4 des Rahmenbeschlusses verwiesen wird, jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

40      Aus dem Wortlaut dieses Artikels ergibt sich, dass der materielle Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses, wie sich auch aus seinem Titel und seinem ersten Erwägungsgrund ergibt, in denen auf die „Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten“ bzw. die „organisierte Kriminalität“ Bezug genommen wird, auf Straftaten beschränkt ist, so dass dieser Rahmenbeschluss auf eine Entscheidung, die nicht in einem oder im Anschluss an ein Verfahren ergeht, das eine Straftat oder mehrere Straftaten betrifft, nicht anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2020, „Agro In 2001“, C‑234/18, EU:C:2020:221, Rn. 61).

41      Dieser Anwendungsbereich ist auch in dem Sinne beschränkt, dass er nur Straftaten von bestimmter Schwere erfasst, nämlich solche, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind.

42      Was den Begriff „Einziehung“ angeht, ist nicht auf die Definition in Art. 1 vierter Gedankenstrich des Rahmenbeschlusses 2005/212 abzustellen, sondern auf die Definition in Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42, da diese Richtlinie nach ihrem Art. 14 Abs. 1 u. a. Art. 1 Gedankenstriche 1 bis 4 dieses Rahmenbeschlusses ersetzt hat (Urteil vom 10. November 2022, DELTA STROY 2003, C‑203/21, EU:C:2022:865, Rn. 30).

43      Nach Art. 2 Nr. 4 dieser Richtlinie ist die Einziehung „eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen“.

44      Es genügt die Feststellung, dass zum einen die Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion im Ausgangsverfahren im Anschluss an ein Verwaltungsverfahren ergangen ist, in dem es nicht um eine oder mehrere Straftaten und erst recht nicht um eine Straftat ging, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht ist, wie es Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2005/212 verlangt.

45      Zum anderen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch hervor, dass diese Entscheidung von den bulgarischen Zollbehörden erlassen wurde und nicht, wie dies Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42 verlangt, von einem Gericht.

46      Folglich ist der Rahmenbeschluss 2005/212 in materieller Hinsicht nicht anwendbar, wenn die begangene Handlung keine Straftat darstellt.

47      Da der materielle Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses klar definiert ist und dieser erlassen wurde, um gemeinsame Mindestregelungen in einem genau abgegrenzten Bereich einzuführen, der im Übrigen die Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft, kann dieser Rahmenbeschluss auch in materieller Hinsicht nicht analog auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar sein.

48      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Entscheidung, die eine Handlung betrifft, die keine Straftat darstellt, nicht anwendbar ist.

 Kosten

49      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 44 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die kein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion für eine Person vorsieht, deren Vermögensgegenstände aufgrund einer solchen Entscheidung eingezogen worden sind, die aber in dieser Entscheidung nicht als die Person angesehen wird, die die Zuwiderhandlung, mit der die verhängte Verwaltungssanktion in Zusammenhang steht, begangen hat.

2.      Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten

ist dahin auszulegen, dass

er auf eine Entscheidung, die eine Handlung betrifft, die keine Straftat darstellt, nicht anwendbar ist.

Unterschriften



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