C-743/18 – Elme Messer Metalurgs

C-743/18 – Elme Messer Metalurgs

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:767

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

1. Oktober 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Strukturfonds – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 –Art. 2 Nr. 7 – Begriff ‚Unregelmäßigkeit‘ – Verstoß gegen eine Unionsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers – Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union – Insolvenz des einzigen Geschäftspartners des Begünstigten“

In der Rechtssache C‑743/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rēzeknes tiesa (Gericht erster Instanz Rēzekne, Lettland) mit Entscheidung vom 20. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. November 2018, in dem Verfahren

LSEZ SIA „Elme Messer Metalurgs“

gegen

Latvijas Investīciju un attīstības aģentūra

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter J. Malenovský (Berichterstatter), F. Biltgen und N. Wahl,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der LSEZ SIA „Elme Messer Metalurgs“, vertreten durch L. Rasnačs, advokāts, und E. Petrocka-Petrovska, Juristin,

–        der Latvijas Investīciju un attīstības aģentūra, vertreten durch A. Pavlovs, A. Šļakota und I. Šate,

–        der lettischen Regierung, zunächst vertreten durch V. Kalniņa und I. Kucina, dann durch V. Kalniņa und V. Soņeca als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Očková als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und E. Kalniņš als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 23. April 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 539/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2010 (ABl. 2010, L 158, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1083/2006).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der LSEZ SIA „Elme Messer Metalurgs“ (im Folgenden: EMM) und der Latvijas Investīciju un attīstības aģentūra (Lettische Agentur für Investitionen und Entwicklung) (im Folgenden: Agentur) wegen der Kündigung durch Letztere eines mit EMM geschlossenen Vertrags über die Gewährung eines vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) kofinanzierten Zuschusses mit der Begründung, EMM habe schwerwiegende Unregelmäßigkeiten begangen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95

3        Im fünften Erwägungsgrund der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) heißt es, dass „[d]ie Verhaltensweisen, die Unregelmäßigkeiten darstellen, sowie die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und die entsprechenden Sanktionen … im Einklang mit dieser Verordnung in sektorbezogenen Regelungen vorgesehen [sind]“.

4        Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung lautet:

„Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

5        Art. 4 der Verordnung sieht vor:

„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils

–        durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;

(2)      Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen …

(4)      Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“

6        In Art. 5 Abs. 1 der Verordnung heißt es:

„Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen …“

 Verordnung Nr. 1083/2006

7        In den Erwägungsgründen 60, 65 und 66 der Verordnung Nr. 1083/2006 heißt es:

„(60)      In Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip sollten, abgesehen von den Ausnahmen, die im Rahmen der [Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den EFRE und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1783/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 1)], der [Verordnung (EG) Nr. 1081/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Sozialfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1784/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 12)] und der [Verordnung (EG) Nr. 1084/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 zur Errichtung des Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1164/94 (ABl. 2006, L 210, S. 79)] vorgesehen sind, für die Zuschussfähigkeit der Ausgaben die nationalen Vorschriften gelten.

(65)      Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollten für die Umsetzung und die Kontrolle der Interventionen in erster Linie die Mitgliedstaaten zuständig sein.

(66)      Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Finanz- und Kontrollsysteme, die Bescheinigung von Ausgaben, die vorbeugenden Maßnahmen gegen Unregelmäßigkeiten und Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht und die Maßnahmen zu deren Aufdeckung und Korrektur sollten näher bestimmt werden, um die effektive und korrekte Durchführung der operationellen Programme zu gewährleisten …“

8        Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung enthält die allgemeinen Bestimmungen für den [EFRE], den Europäischen Sozialfonds (ESF) (nachstehend ‚die Strukturfonds‘ genannt) und den Kohäsionsfonds, unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die in den Verordnungen … Nr. 1080/2006, … Nr. 1081/2006 und … Nr. 1084/2006 enthalten sind.

Diese Verordnung beschreibt die Ziele, zu deren Erreichung die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds (nachstehend ‚die Fonds‘ genannt) beitragen sollen, die Kriterien, nach denen die Mitgliedstaaten und Regionen für eine Förderung aus diesen Fonds in Betracht kommen, die verfügbaren Finanzmittel und die Kriterien für ihre Aufteilung.

Diese Verordnung steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen die Kohäsionspolitik durchgeführt wird, einschließlich der Methode zur Erstellung der strategischen Kohäsionsleitlinien der Gemeinschaft, des nationalen strategischen Rahmenplans und des Verfahrens zur Überprüfung auf Gemeinschaftsebene.

Zu diesem Zweck legt diese Verordnung auf der Grundlage von zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Zuständigkeiten die Grundsätze und Regeln für die Partnerschaft, die Programmplanung, die Bewertung, die Verwaltung einschließlich der finanziellen Abwicklung, die Begleitung und die Kontrolle fest.“

9        Art. 2 der Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚operationelles Programm‘ das von einem Mitgliedstaat vorgelegte und von der Kommission angenommene Dokument, in dem eine Entwicklungsstrategie mit einem kohärenten Bündel von Prioritäten dargelegt wird, zu deren Durchführung auf einen Fonds bzw. im Rahmen des Ziels ‚Konvergenz‘ auf den Kohäsionsfonds und den EFRE zurückgegriffen wird;

2.      ‚Prioritätsachse‘ eine der strategischen Prioritäten in einem operationellen Programm, die ein Bündel miteinander verbundener Vorhaben mit messbaren spezifischen Zielen umfasst;

3.      ‚Vorhaben‘ ein Projekt oder ein Bündel von Projekten, das von der Verwaltungsbehörde des betreffenden operationellen Programms oder unter ihrer Verantwortung nach den vom Begleitausschuss festgelegten Kriterien ausgewählt und von einem oder mehreren Begünstigten durchgeführt wird, um die Ziele der zugehörigen Prioritätsachse zu erreichen;

4.      ‚Begünstigter‘ einen Wirtschaftsbeteiligten oder eine Einrichtung bzw. ein Unternehmen des öffentlichen oder privaten Rechts, die mit der Einleitung oder der Einleitung und Durchführung der Vorhaben betraut sind. …

7.      ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.“

10      Art. 56 Abs. 4 der Verordnung bestimmt:

„Die Regeln für die Förderfähigkeit der Ausgaben werden bis auf die in den Verordnungen der einzelnen Fonds vorgesehenen Ausnahmen auf nationaler Ebene festgelegt. Sie umfassen die Gesamtheit der Ausgaben, die im Rahmen eines operationellen Programms geltend gemacht werden.“

11      Art. 58 der Verordnung Nr. 1083/2006 sieht vor:

„Bei den von den Mitgliedstaaten eingerichteten Verwaltungs- und Kontrollsystemen für die operationellen Programme muss Folgendes gewährleistet sein:

h)      Verfahren zur Berichterstattung und Begleitung bei Unregelmäßigkeiten und bei der Wiedereinziehung rechtsgrundlos gezahlter Beträge.“

12      In Art. 60 der Verordnung heißt es:

„Die Verwaltungsbehörde ist verantwortlich dafür, dass das operationelle Programm im Einklang mit dem Grundsatz der wirtschaftlichen Haushaltsführung verwaltet und durchgeführt wird; sie hat insbesondere

a)      sicherzustellen, dass die zu finanzierenden Vorhaben nach den für das operationelle Programm geltenden Kriterien ausgewählt werden und während ihrer Durchführung stets den geltenden gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen;

b)      sich zu vergewissern, dass die kofinanzierten Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen geliefert bzw. erbracht und die im Zusammenhang mit Vorhaben von den Begünstigten geltend gemachten Ausgaben tatsächlich und im Einklang mit den gemeinschaftlichen oder einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getätigt wurden; …

…“

13      Art. 70 der Verordnung bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sind zuständig für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und treffen hierzu insbesondere folgende Maßnahmen:

a)      Sie sorgen dafür, dass Verwaltungs- und Kontrollsysteme für die operationellen Programme nach den Artikeln 58 bis 62 eingerichtet werden und wirksam funktionieren.

b)      Sie treffen vorbeugende Maßnahmen gegen Unregelmäßigkeiten, decken sie auf und korrigieren sie und ziehen rechtsgrundlos gezahlte Beträge, gegebenenfalls mit Verzugszinsen, wieder ein. Sie unterrichten die Kommission darüber und halten sie über den Stand von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auf dem Laufenden.

(2)      Können rechtsgrundlos an einen Begünstigten gezahlte Beträge nicht wieder eingezogen werden, so haftet der Mitgliedstaat für die Erstattung der verlorenen Beträge an den Gesamthaushalt der Europäischen Union, wenn nachgewiesen wird, dass der Verlust durch einen ihm anzulastenden Fehler oder durch seine Fahrlässigkeit entstanden ist.

…“

14      Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung sieht vor:

„(1)      Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen.

(2)      Der Mitgliedstaat nimmt die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Die vom Mitgliedstaat vorgenommenen Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den dem Fonds entstandenen finanziellen Verlust.

…“

 Verordnung (EG) Nr. 1828/2006

15      In Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1828/2006 der Kommission vom 8. Dezember 2006 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1083/2006 und der Verordnung Nr. 1080/2006 (ABl. 2006, L 371, S. 1, und Berichtigung ABl. 2007, L 45, S. 3) heißt es:

„Diese Verordnung enthält die Durchführungsbestimmungen zur Verordnung … Nr. 1083/2006 sowie zur Verordnung … Nr. 1080/2006 in Bezug auf Folgendes:

d)      Unregelmäßigkeiten;

…“

16      Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Verwaltungsbehörde trägt im Rahmen des in Artikel 60 Buchstabe a der Verordnung … Nr. 1083/2006 vorgesehenen Verfahrens für die Auswahl und die Genehmigung von Projekten dafür Sorge, dass die Begünstigten über die spezifischen Bedingungen betreffend die Produkte oder Dienstleistungen, die im Rahmen des Vorhabens zu liefern bzw. zu erbringen sind, über den Finanzierungsplan, die Frist für die Durchführung sowie über die finanziellen und sonstigen Angaben, die aufzuzeichnen und zu übermitteln sind, informiert werden.

Sie vergewissert sich vor der Genehmigung, dass der Begünstigte in der Lage ist, diesen Verpflichtungen nachzukommen.“

17      Art. 27 der Verordnung, der zu deren Abschnitt 4 („Unregelmäßigkeiten“) gehört, bestimmt:

„Für die Zwecke dieses Abschnitts gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)      ‚Wirtschaftsteilnehmer‘: jede natürliche oder juristische Person sowie jede andere Einrichtung, die an der Durchführung von Interventionen aus den Fonds beteiligt ist, ausgenommen Mitgliedstaaten, die in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse handeln;

c)      ‚Betrugsverdacht‘: Unregelmäßigkeit, aufgrund deren in dem betreffenden Mitgliedstaat ein Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren eingeleitet wird, um festzustellen, ob ein vorsätzliches Handeln, insbesondere Betrug im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a des [am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 48)], vorliegt;

…“

18      Art. 28 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Unbeschadet der sich aus Artikel 70 der Verordnung … Nr. 1083/2006 ergebenden Verpflichtungen übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission binnen zwei Monaten nach Ablauf eines jeden Vierteljahres einen Bericht über die Unregelmäßigkeiten, die Gegenstand einer ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung gewesen sind.

Die Mitgliedstaaten teilen in diesem Bericht auf jeden Fall Folgendes mit:

b)      gegen welche Vorschrift verstoßen wurde;

d)      die Begehungsweise der Unregelmäßigkeit;

e)      gegebenenfalls ob die Begehungsweise Anlass zu einem Betrugsverdacht gibt;

…“

 Lettisches Recht

19      Art. 16.1 des Ministru kabineta noteikumi Nr. 200 „Noteikumi par darbības programmas ‚Uzņēmējdarbība un inovācijas‘ papildinājuma 2.1.2.4. aktivitātes ‚Augstas pievienotās vērtības investīcijas‘ projektu iesniegumu atlases pirmo kārtu“ (Erlass Nr. 200 des Ministerrats, „Erlass über die erste Auswahlphase von Projekten im Zusammenhang mit der Strategie ‚Investitionen mit erhöhtem Mehrwert‘ in Anhang 2.1.2.4 des operationellen Programms ‚Unternehmergeist und Innovation‘“) vom 24. Februar 2009 (Latvijas Vēstnesis, 2009, Nr. 41) bestimmt, dass langfristige Investitionen förderfähig sind, „sofern sie ausschließlich am Ort der Durchführung des im Antrag angegebenen Projekts und ausschließlich für die wirtschaftliche Tätigkeit des Begünstigten der Finanzierung verwendet werden“.

20      Gemäß Art. 17.1 dieses Erlasses sind u. a. förderfähig „die Kosten für den Erwerb neuer Ausstattungen (und Einrichtungen), die unmittelbar zum Produktionsprozess oder zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Ausführung des Projekts beitragen“.

21      Nach Art. 2.1 des Ministru kabineta noteikumi Nr. 740 „Kārtība, kādā ziņo par Eiropas Savienības struktūrfondu un Kohēzijas fonda ieviešanā konstatētajām neatbilstībām, pieņem lēmumu par piešķirtā finansējuma izlietojumu un atgūst neatbilstošos izdevumus“ (Erlass Nr. 740 des Ministerrats, „Einführung des Verfahrens zur Meldung von Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Verwendung der Struktur- und Kohäsionsfonds der Europäischen Union, Annahme von Entscheidungen über die Verwendung der gewährten Finanzierung und Rückerstattung mit Unregelmäßigkeiten behafteter Zahlungen“) vom 10. August 2010 (Latvijas Vēstnesis, 2010, Nr. 128) ist eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieses Erlasses „jeder Verstoß gegen eine Bestimmung des Rechts der Republik Lettland oder der Europäischen Union gemäß Art. 2 Nr. 7 der Verordnung … Nr. 1083/2006“.

22      Art. 1774 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:

„Ein zufälliger Verlust muss nicht ausgeglichen werden. Daher wird, wenn eine Person durch ein zufälliges Hindernis nicht in der Lage ist, eine Verpflichtung zu erfüllen, davon ausgegangen, dass sie diese erfüllt hat, es sei denn, sie hätte vertraglich die Gefahr des Auftretens zufälliger Hindernisse übernommen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

23      Am 7. April 2010 schloss EMM mit der Agentur einen Vertrag über die Gewährung eines vom EFRE kofinanzierten Zuschusses an EMM für ein Projekt, das die Errichtung einer Produktionseinheit für Industriegase – die u. a. in der Metallindustrie verwendet werden – im Fabrikgebäudekomplex der AS „Liepājas Metalurgs“ vorsah (im Folgenden: Vertrag). Nach dem Vertrag war EMM u. a. verpflichtet, die Herstellung von Industriegasen und deren Lieferung an die von Liepājas Metalurgs betriebene Fabrik sicherzustellen, ohne die Letztere nicht funktionsfähig gewesen wäre.

24      Die Durchführung des zuschussfähigen Projekts (im Folgenden: Projekt) begann am selben Tag und sollte am 6. Dezember 2012 enden.

25      Zu diesem Zweck erwarb und installierte EMM die erforderlichen Betriebsmittel, es wurden Fachleute eingestellt und geschult und die Produktionsanlage nahm ihren Betrieb auf. EMM investierte so 12 283 579,00 Euro aus eigenen Mitteln sowie 2 212 511,14 Euro, die der im Rahmen des Vertrags ausbezahlten Kofinanzierung durch den EFRE entsprachen.

26      Am 3. Januar 2013 legte EMM der Agentur einen Abschlussbericht über das Projekt vor, den sie am 7. Februar 2013 ergänzte, und beantragte, ihr vertragsgemäß die Schlusszahlung in Höhe von 737 488,86 Euro als EFRE‑Beteiligung zu überweisen.

27      In Anbetracht der Liquiditätsprobleme von Liepājas Metalurgs ab Anfang 2013 und des Umstands, dass die Tätigkeit von EMM unmittelbar von derjenigen von Liepājas Metalurgs abhing, äußerte die Agentur ihre Besorgnis, ob es EMM möglich wäre, ihre verbindlichen vertraglichen Zusagen zu erfüllen, die darin bestanden, ein Mindestproduktionsvolumen von Industriegasen in Höhe von mindestens ca. 50,5 Mio. m3 pro Jahr aufrechtzuerhalten und eine durchschnittliche Umsatzsteigerung von mindestens 20 % während der ersten beiden Jahre nach Abschluss des Projekts zu gewährleisten. Die Agentur setzte daher die Zuschusszahlung aus.

28      Am 12. November 2013 wurde ein Insolvenzverfahren über das Vermögen von Liepājas Metalurgs eröffnet.

29      Mit Schreiben vom 28. Juli 2014 forderte die Agentur EMM auf, ihr Unterlagen mit Informationen über die Durchführung des Projekts vorzulegen, und wies sie auf die Möglichkeit der Kündigung des Vertrags hin.

30      Nachdem der Betrieb von Liepājas Metalurgs von der AS „KVV Liepājas Metalurgs“ übernommen worden war, konnte EMM ihren eigenen Betrieb wieder aufnehmen, was sie der Agentur mitteilte.

31      Am 31. März 2016 sandte die Agentur EMM ein Schreiben, in dem sie unter Hinweis auf die Situation von Liepājas Metalurgs den Vertrag mit der Begründung einseitig kündigte, dass EMM während der Durchführung des Projekts schwerwiegende Unregelmäßigkeiten begangen habe, da sie u. a. wesentlich von den von ihr gemachten Zusagen abgewichen sei, indem sie die regelmäßige Produktionstätigkeit, zu der sie sich verpflichtet habe, nicht aufrechterhalten habe.

32      EMM erhob beim vorlegenden Gericht, der Rēzeknes tiesa (Gericht erster Instanz Rēzekne, Lettland), gegen die Agentur Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Vertragskündigung. EMM macht geltend, dass die Agentur durch die einseitige Kündigung des Vertrags gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen habe, da EMM ihre vertraglichen Pflichten nicht verletzt habe und unstreitig sei, dass sie die ihr gewährte finanzielle Unterstützung für die Durchführung von Tätigkeiten verwendet habe, die das Projekt vorsehe.

33      Die Agentur macht geltend, dass die finanziellen Schwierigkeiten von Liepājas Metalurgs und die Unterbrechung von deren Tätigkeit nicht als zufällige Hindernisse im Sinne von Art. 1774 des Zivilgesetzbuches angesehen werden könnten.

34      Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation sei als „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 und Art. 2.1 des Erlasses Nr. 740 des Ministerrats vom 10. August 2010 einzustufen, so dass sie berechtigt gewesen sei, die bereits bewilligte Finanzierung nach den in diesem Erlass vorgesehenen Verfahren zurückzufordern.

35      Die Agentur erhob daher gegen EMM beim vorlegenden Gericht eine Widerklage auf Rückzahlung des gesamten bereits an EMM gezahlten Zuschusses, d. h. von 2 212 511,14 Euro, und auf Zahlung von Verzugszinsen für die Zeit vom 18. April 2016 bis zum 14. Februar 2017 in Höhe von 670 390,53 Euro.

36      EMM wiederum macht geltend, dass die Verordnung Nr. 1083/2006, nach deren Wortlaut eine „Unregelmäßigkeit“ „jede[r] Verstoß gegen eine [Union]sbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers“ sei, im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Die Situation, die es ihr unmöglich gemacht habe, die Produktionsanlage im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zu nutzen, sei nicht auf eine ihr zuzuschreibende Handlung oder Unterlassung zurückzuführen, sondern sei die Folge der Unterbrechung der Geschäftstätigkeit von Liepājas Metalurgs.

37      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts bestehen Zweifel hinsichtlich der genauen Bedeutung des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006.

38      Unter diesen Umständen hat die Rēzeknes tiesa (Gericht erster Instanz Rēzekne) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen, dass es als Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers (des Begünstigten der Finanzierung), die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt oder bewirken kann, anzusehen ist, wenn der Begünstigte der Finanzierung nicht in der Lage ist, im maßgeblichen Zeitraum die vorgesehene Umsatzhöhe zu erreichen, weil in diesem Zeitraum sein einziger Geschäftspartner die Geschäftstätigkeit eingestellt hat oder insolvent geworden ist?

 Zur Vorlagefrage

 Zur Zulässigkeit

39      Ohne förmlich die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens einzuwenden, machen die estnische Regierung und die Europäische Kommission geltend, dass bestimmte Aspekte des tatsächlichen und rechtlichen Kontexts des Ausgangsrechtsstreits, wie er vom vorlegenden Gericht beschrieben worden sei, unklar seien. Insbesondere gehe aus der Vorlageentscheidung weder hinreichend klar hervor, ob EMM die im Rahmen des Projekts vorgesehene Tätigkeit tatsächlich ausgeübt habe, noch, welche Voraussetzungen überhaupt erfüllt sein müssten, damit das Projekt als abgeschlossen angesehen werden könne.

40      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung, die nunmehr Ausdruck in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gefunden hat, ist eine Auslegung des Unionsrechts, die für das nationale Gericht von Nutzen ist, nur dann möglich, wenn das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen, auf denen diese beruhen, erläutert. Außerdem müssen in der Vorlageentscheidung die genauen Gründe angegeben sein, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage an den Gerichtshof erforderlich erscheint (Urteil vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      In Anbetracht der Zusammenarbeit, die das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens kennzeichnet, führt das Fehlen bestimmter vorheriger Feststellungen durch das vorlegende Gericht jedoch nicht zwingend zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sofern sich der Gerichtshof trotz dieser Unzulänglichkeiten in der Lage sieht, dem vorlegenden Gericht anhand der in der Akte enthaltenen Angaben eine sachdienliche Antwort zu geben (Urteil vom 27. Oktober 2016, Audace u. a., C‑114/15, EU:C:2016:813, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Im vorliegenden Fall wäre es zwar sicherlich sachdienlich gewesen, wenn das vorlegende Gericht die Rechtsvorschrift oder vertragliche Bestimmung genauer angegeben hätte, in der die in seiner Frage genannte Verpflichtung betreffend das Erreichen eines bestimmten Umsatzes durch EMM während des relevanten Zeitraums ihren Ursprung hat, jedoch steht diese Ungenauigkeit in Anbetracht der Art und der Tragweite der Bestimmung des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, einem hinreichenden Verständnis des Kontexts, in dem diese Frage steht, nicht entgegen. Insbesondere aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ergibt sich nämlich, dass der Ausgang des Ausgangsrechtsstreits davon abhängt, ob der Klägerin eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 vorgeworfen werden kann. Ungeachtet der genannten Ungenauigkeit ermöglichen es die Angaben des vorlegenden Gerichts zum tatsächlichen und rechtlichen Rahmen aber, die Tragweite dieser Frage zu beurteilen und dem vorlegenden Gericht eine Antwort zu geben, die sich für dieses Gericht als nützlich erweisen kann, was im Übrigen die lettische und die estnische Regierung sowie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen bestätigen.

44      Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.

 Beantwortung der Vorlagefrage

45      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass die Situation, in der der Empfänger eines EFRE‑Zuschusses im relevanten Zeitraum wegen der Insolvenz oder der Unterbrechung der Tätigkeiten seines einzigen Geschäftspartners nicht die Umsatzhöhe erreicht, die im Rahmen des zuschussfähigen Projekts vorgesehen ist, als „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der genannten Bestimmung anzusehen ist.

46      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1083/2006 gemäß ihrem Art. 1 u. a. die Regeln für die Verwaltung, die Begleitung und die Kontrolle der von den Fonds finanziell unterstützten Maßnahmen auf der Grundlage der zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Verantwortung festlegt (Urteil vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 39).

47      Des Weiteren wird im 65. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1083/2006 klargestellt, dass gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in erster Linie die Mitgliedstaaten für die Umsetzung und die Kontrolle der Interventionen der nach dieser Verordnung vorgesehenen Fonds zuständig sind.

48      Mit der Übernahme dieser Kontrolle sind die Mitgliedstaaten die Hauptgaranten für die effiziente und korrekte Verwendung von Unionsmitteln und tragen somit zur ordnungsgemäßen Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Union bei (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2014, Baltlanta, C‑410/13, EU:C:2014:2134, Rn. 44).

49      Zu diesem Zweck übernehmen die Mitgliedstaaten nach Art. 70 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 u. a. die Verantwortung für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und decken insoweit etwaige Unregelmäßigkeiten auf.

50      Was den Begriff „Unregelmäßigkeit“ anbelangt, so ist dieser in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 definiert als jeder Verstoß gegen eine Bestimmung des Unionsrechts als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.

51      Das Vorliegen einer solchen Unregelmäßigkeit setzt somit die Erfüllung dreier Kriterien voraus, nämlich erstens, dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, zweitens, dass dieser Verstoß auf einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers beruht, und drittens, dass dem Unionshaushalt ein tatsächlicher oder potenzieller Schaden entstanden ist.

52      Was erstens das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht anbelangt, ist zunächst klarzustellen, dass Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 nicht nur Verstöße gegen eine Vorschrift des Unionsrechts als solches betrifft, sondern auch Verstöße gegen Vorschriften des nationalen Rechts, die für die von den Strukturfonds geförderten Vorhaben gelten und auf diese Weise dazu beitragen, die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts im Bereich der Verwaltung von Vorhaben, die von diesen Fonds gefördert werden, sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 37 und 43).

53      Zum einen sieht nämlich Art. 56 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1083/2006 vor, dass die Regeln für die Förderfähigkeit der Ausgaben bis auf die in den Verordnungen der einzelnen Fonds vorgesehenen Ausnahmen auf nationaler Ebene festgelegt werden. Zum anderen bestimmt Art. 60 Buchst. a dieser Verordnung, dass die zuständige Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, sicherzustellen, dass die für eine Finanzierung ausgewählten Vorhaben während ihrer Durchführung stets sowohl den geltenden unionsrechtlichen als auch den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen (Urteil vom 6. Dezember 2017, Compania Naţională de Administrare a Infrastructurii Rutiere, C‑408/16, EU:C:2017:940, Rn. 55).

54      Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass das mit der Regelung der Union errichtete Subventionssystem insbesondere darauf beruht, dass der Begünstigte eine Reihe von Verpflichtungen erfüllt und dadurch Anspruch auf den vorgesehenen Zuschuss erhält. Somit ist es im Rahmen der in den nationalen Verwaltungs- und Kontrollsystemen vorgesehenen Verfahren Sache der zuständigen nationalen Behörden, sicherzustellen, dass der betreffende Begünstigte verbindlich zusagt, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck können die genannten Behörden fordern, dass der Begünstigte, dem ein Zuschuss für die Durchführung seines Vorhabens bewilligt worden ist, eine solche verbindliche Zusage erteilt, bevor dieses Vorhaben in die betreffende Intervention aufgenommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2014, Baltlanta, C‑410/13, EU:C:2014:2134, Rn. 56 bis 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem geht aus Art. 60 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 hervor, dass sich die Verwaltungsbehörde vergewissern muss, dass die kofinanzierten Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen geliefert bzw. erbracht werden.

55      Im Ausgangsverfahren hat der Empfänger des EFRE‑Zuschusses, wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorlagefrage ergibt, im Referenzzeitraum nicht die im Rahmen des für die Kofinanzierung zugelassenen Projekts vorgesehene Umsatzhöhe erreicht.

56      Somit wurden die kofinanzierten Wirtschaftsgüter oder Dienstleistungen entgegen Art. 60 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 offenbar nicht vollständig geliefert bzw. erbracht und die Begünstigte hat folglich die Verpflichtung nicht erfüllt, die ihr einen Anspruch auf die nach dem Unionsrecht und dem anwendbaren nationalen Recht vorgesehene Unterstützung verschafft hätte.

57      Was zweitens den Umstand anbelangt, dass ein solcher Verstoß gegen das Unionsrecht oder gegen das anwendbare nationale Recht auf „einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers“ beruhen muss, ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Wortlaut von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 nicht hervorgeht, ob zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen einer solchen Handlung oder Unterlassung und letztlich einer „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung gehört, dass dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer Vorsatz oder Fahrlässigkeit zuzurechnen ist.

58      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien [Feldhamster], C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Was den Kontext anbelangt, in dem Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 steht, ist zu berücksichtigen, dass der Wortlaut dieser Bestimmung dem von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 sehr ähnlich ist. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in der Erwägung, dass diese beiden Verordnungen Teil desselben Systems sind, das die ordnungsgemäße Verwaltung der Finanzmittel der Union und den Schutz ihrer finanziellen Interessen gewährleisten soll, entschieden, dass der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 einheitlich auszulegen ist (Urteil vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 34).

60      Die Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 2988/95 unterscheiden jedoch zwischen dem allgemeinen Begriff „Unregelmäßigkeit“ einerseits und dem Begriff „Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden“, d. h. einer qualifizierten Unregelmäßigkeit, die zu verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen kann, andererseits (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      In ähnlicher Weise wird in Art. 28 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Art. 27 Buchst. c der Verordnung Nr. 1828/2006, die Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1083/2006 festlegt und folglich mit dieser zusammen ein Ganzes bildet, betont, dass das Verhalten, auf dem die in einem Betrugsverdacht bestehende Unregelmäßigkeit beruht, „vorsätzlich“ sein muss, so dass dieser Begriff ein weiteres Beispiel für eine qualifizierte Unregelmäßigkeit wie die in der vorstehenden Randnummer erwähnte darstellt.

62      In Anbetracht dieser auf legislativer Ebene getroffenen Unterscheidung und des Umstands, dass die Definition des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 keine näheren Angaben dazu enthält, ob das Verhalten des betreffenden Begünstigten vorsätzlich oder fahrlässig sein muss, kann dies nicht als zwingendes Tatbestandsmerkmal für die Feststellung einer Unregelmäßigkeit im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden.

63      Diese Auslegung wird durch das in Rn. 48 des vorliegenden Urteils genannte mit der Verordnung Nr. 1083/2006 verfolgte Ziel bestätigt, das darin besteht, die ordnungsgemäße und effiziente Verwendung der Strukturfonds zu gewährleisten, um die finanziellen Interessen der Union zu schützen. In Anbetracht dieses Ziels ist der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 nämlich weit auszulegen.

64      Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat, dass die Pflicht, einen durch eine Unregelmäßigkeit unrechtmäßig erhaltenen Vorteil zurückzugewähren, keine Sanktion ist, sondern lediglich die Folge der Feststellung, dass die Voraussetzungen für den Erhalt des unionsrechtlich vorgesehenen Vorteils nicht beachtet worden sind und der erlangte Vorteil rechtsgrundlos gewährt wurde (Urteil vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65      Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass auch dann, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgrund der Insolvenz oder der Unterbrechung der Geschäftstätigkeit seines einzigen Geschäftspartners gegen die Verpflichtung verstoßen hat, die ihm einen Anspruch auf Unterstützung aus den Fonds verschafft, dieser Umstand für sich genommen dem nicht entgegensteht, dass ein solcher Verstoß als eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 angesehen werden kann, da der Nachweis irgendeines Vorsatzes oder irgendeiner Fahrlässigkeit des Begünstigten für das Vorliegen einer solchen Unregelmäßigkeit nicht erforderlich ist.

66      Was drittens das Vorliegen eines dem Unionshaushalt durch eine solche Unterlassung entstandenen Schadens anbelangt, ergibt sich aus Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006, dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht oder das auf durch die Fonds geförderte Vorhaben anwendbare nationale Recht nur dann eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn er dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.

67      Der Gerichtshof hat hierzu festgestellt, dass der Nachweis einer konkreten finanziellen Auswirkung nicht erforderlich ist. Es genügt nämlich, dass die Möglichkeit von Auswirkungen auf den Haushalt des betreffenden Fonds nicht ausgeschlossen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2017, Compania Naţională de Administrare a Infrastructurii Rutiere, C‑408/16, EU:C:2017:940, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Im vorliegenden Fall bedeutet der Umstand – auf den sich die Vorlagefrage bezieht –, dass der Begünstigte es unterlassen hat, das von ihm verlangte Mindesttätigkeitsvolumen zu erreichen, dass die von der Union als Gegenleistung für das Erreichen eines solchen Mindestvolumens gewährte Kofinanzierung zwangsläufig zumindest teilweise rechtsgrundlos gezahlt wurde. Daher kann ein solcher Verstoß gegen das Unionsrecht oder das anwendbare nationale Recht, der auf einer dem Begünstigten zuzuschreibenden Unterlassung beruht, den Gesamthaushaltsplan der Union schädigen.

69      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass EMM – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 vorgeworfen werden kann. Sollte eine Unregelmäßigkeit festgestellt werden, bewirkt sie aber gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils.

70      Im Ausgangsverfahren ist, wie sich aus Rn. 33 des vorliegenden Urteils ergibt, offenbar das Vorliegen eines zufälligen Hindernisses geltend gemacht worden, dessen Anerkennung nach nationalem Recht zur Folge haben könnte, dass die Rückzahlung der Beträge, die dem Begünstigten im Rahmen des EFRE rechtsgrundlos gezahlt worden sind, nicht verlangt werden kann.

71      Ohne dass es erforderlich wäre, darüber zu befinden, ist festzustellen, dass es zum einen nach Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt, rechtsgrundlos gezahlte Beträge, gegebenenfalls mit Verzugszinsen, wieder einzuziehen, und dass zum anderen nach Art. 70 Abs. 2 dieser Verordnung der betreffende Mitgliedstaat für die Erstattung rechtsgrundlos an den Begünstigten gezahlter Beträge an den Gesamthaushalt der Europäischen Union in dem Fall haftet, dass diese nicht wieder eingezogen werden können, wenn nachgewiesen wird, dass diese Unmöglichkeit die Folge eines diesem Mitgliedstaat anzulastenden Fehlers oder durch dessen Fahrlässigkeit entstanden ist.

72      Ferner sind die Mitgliedstaaten, wenn eine Unregelmäßigkeit sich erheblich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung eines Vorhabens auswirkt, nach Art. 98 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 gehalten, eine finanzielle Berichtigung vorzunehmen. Wie die Generalanwältin in Nr. 88 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, besteht diese finanzielle Berichtigung nach Art. 98 Abs. 2 darin, dass der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird, wobei der Mitgliedstaat bei der Bestimmung des Umfangs der Berichtigung Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeit sowie den dem betreffenden Fonds entstandenen finanziellen Verlust zu berücksichtigen hat.

73      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass die Situation, in der der Empfänger eines EFRE‑Zuschusses es im relevanten Zeitraum wegen der Insolvenz oder der Unterbrechung der Tätigkeiten seines einzigen Geschäftspartners unterlässt, die Umsatzhöhe zu erreichen, die im Rahmen des zuschussfähigen Vorhabens vorgesehen ist, als „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden kann.

 Kosten

74      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 539/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Situation, in der der Empfänger eines Zuschusses aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung es im relevanten Zeitraum wegen der Insolvenz oder der Unterbrechung der Tätigkeiten seines einzigen Geschäftspartners unterlässt, die Umsatzhöhe zu erreichen, die im Rahmen des zuschussfähigen Vorhabens vorgesehen ist, als „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden kann.

Unterschriften



Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar