C-699/21 – E. D. L. (Motif de refus fondé sur la maladie)

C-699/21 – E. D. L. (Motif de refus fondé sur la maladie)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:295

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. April 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 23 Abs. 4 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Ablehnungsgründe – Art. 4 Abs. 3 EUV – Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit – Aussetzung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Schwere, chronische und möglicherweise irreversible Krankheit – Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit der mit dem Europäischen Haftbefehl gesuchten Person“

In der Rechtssache C‑699/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 18. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 22. November 2021, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

E. D. L.,

Beteiligter:

Presidente del Consiglio dei Ministri,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, M. Safjan, L. S. Rossi und D. Gratsias, der Richter J.–C. Bonichot, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen, M. Gavalec und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu–Matei,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von E. D. L., vertreten durch N. Canestrini und V. Manes, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, Avvocato dello Stato,

–        der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, O.‑C. Ichim und A. Wellman als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und A. Spina als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) im Licht der Art. 3, 4 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen der in Italien erfolgenden Vollstreckung eines vom Općinski sud u Zadru (Gemeindegericht Zadar, Kroatien) gegen E. D. L. zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 6 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(12)      Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der [Charta] …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. … “

4        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten. “

5        In Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sind die Gründe genannt, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, in den Art. 4 und 4a des Rahmenbeschlusses die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann.

6        Art. 23 („Frist für die Übergabe der Person“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)      Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.

(2)      Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.

(3)      Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(4)      Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(5)      Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen. “

 Italienisches Recht

7        Art. 1 Abs. 1 der Legge n. 69 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 – Bestimmungen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten) vom 22. April 2005 (GURI Nr. 98 vom 29. April 2005, S. 6) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 69/2005) bestimmt:

„Dieses Gesetz setzt die Bestimmungen des [Rahmenbeschlusses 2002/584] über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in innerstaatliches Recht um, soweit sie nicht mit den obersten Grundsätzen der Verfassungsordnung in Bezug auf die Grundrechte sowie in Bezug auf die Freiheitsrechte und ein ordnungsgemäßes Verfahren unvereinbar sind.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8        Gegen E. D. L., der sich in Italien aufhält, wurde am 9. September 2019 vom Općinski sud u Zadru (Gemeindegericht Zadar) zum Zwecke der Strafverfolgung in Kroatien ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt. E. D. L. wird zur Last gelegt, 2014 im kroatischen Hoheitsgebiet das Vergehen des Besitzes von Betäubungsmitteln zum Zwecke der Abgabe und Veräußerung begangen zu haben.

9        Für die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ist die Corte d’appello di Milano (Berufungsgerichtshof Mailand, Italien) zuständig. E. D. L. legte vor diesem Gericht mehrere ärztliche Bescheinigungen über erhebliche krankhafte seelische Störungen vor. Auf der Grundlage dieser Bescheinigungen holte die Corte d’appello di Milano (Berufungsgerichtshof Mailand) ein psychiatrisches Gutachten über E. D. L. ein.

10      Das Gutachten ergab, dass E. D. L. u. a. unter einer Psychose leidet, wegen deren die Fortsetzung einer medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung erforderlich ist, um akute psychische Dekompensationen zu verhindern, die sonst wahrscheinlich auftreten würden. Nach dem Gutachten besteht bei einer Unterbringung in einer Haftanstalt zudem eine erhebliche Suizidgefahr. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass E. D. L., weil er seine Therapie fortsetzen müsse, nicht hafttauglich sei.

11      Die Corte d’appello di Milano (Berufungsgerichtshof Mailand) ging unter Zugrundelegung des Gutachtens davon aus, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Behandlung von E. D. L. unterbrechen und zu einer Verschlechterung von dessen allgemeinem Gesundheitszustand mit möglicherweise außergewöhnlich schweren Folgen führen würde. Es würde bei einer Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nachweislich sogar Suizidgefahr bestehen. Die Corte d’appello di Milano (Berufungsgerichtshof Mailand) stellte jedoch fest, dass solche gesundheitlichen Gründe nach den einschlägigen Vorschriften des Gesetzes Nr. 69/2005 in Verfahren der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls keinen Grund für die Ablehnung der Übergabe darstellten.

12      Mit Beschluss vom 17. September 2020 holte die Corte d’appello di Milano (Berufungsgerichtshof Mailand) deshalb die Entscheidung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien), des vorlegenden Gerichts, über die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften ein.

13      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Fragen, über die es zu befinden habe, nicht nur die Vereinbarkeit der einschlägigen Vorschriften des Gesetzes Nr. 69/2005 mit der italienischen Verfassung beträfen, sondern auch die Auslegung des Unionsrechts, das mit ihnen umgesetzt werde. Wie bei dem Gesetz Nr. 69/2005 gehöre der Fall einer im Fall der Übergabe wegen chronischer Krankheiten von potenziell unbeschränkter Dauer für die Gesundheit der Person bestehenden schweren Gefahr aber auch nach den Art. 3, 4, und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht zu den Gründen, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen sei oder abgelehnt werden könne.

14      Das vorlegende Gericht fragt sich allerdings, ob es möglich sei, der Gefahr einer Schädigung der Gesundheit der gesuchten Person angemessen zu begegnen, indem die Übergabe auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ausgesetzt werde. Es weist jedoch darauf hin, dass diese Lösung aus seiner Sicht bei unbestimmt lange andauernden chronischen Krankheiten wie denen, unter denen E. D. L. leide, nicht zweckmäßig sei.

15      Das vorlegende Gericht weist weiter darauf hin, dass der Grundsatz, dass der Rahmenbeschluss 2002/584, wie er von den Mitgliedstaaten umgesetzt worden sei, nicht die Pflicht berühre, die Grundrechte, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt seien, zu achten, sowohl im zwölften Erwägungsgrund als auch in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bekräftigt werde.

16      Der Gerichtshof habe ja gerade, um zu verhindern, dass die Durchführung des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu Verletzungen der Grundrechte der gesuchten Person führe, über die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Ablehnungsgründe hinaus einen Prüfungsrahmen festgelegt, mit dem die Anforderungen der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen mit der Beachtung der Grundrechte der gesuchten Person in Ausgleich gebracht werden sollten.

17      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei dies der Fall, wenn für die gesuchte Person durch die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Gefahr bestehe, dass sie im Ausstellungsmitgliedstaat wegen allgemeiner systemischer oder bestimmte Personengruppen oder Haftanstalten betreffender Mängel unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen zu erleiden habe oder dass gegen sie ein Verfahren durchgeführt werde, das wegen allgemeiner systemischer Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats den in Art. 47 der Charta genannten Garantien nicht entspreche.

18      Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass diese Rechtsprechung nur für Fälle gelte, in denen wegen allgemeiner systemischer Mängel des Ausstellungsmitgliedstaats die Gefahr bestehe, dass die Grundrechte der gesuchten Person verletzt würden, oder für Fälle, die bestimmte Gruppen von Personen oder ganze Haftanstalten beträfen. Die Fragen, über die es zu befinden habe, beträfen hingegen eine andere Fallgestaltung, nämlich den Fall, dass die Person, um deren Übergabe ersucht werde, unter schweren, chronischen Krankheiten von unbestimmter Dauer leide, die sich im Fall der Übergabe erheblich verschlechtern könnten, insbesondere dann, wenn sich der Ausstellungsmitgliedstaat dafür entscheiden sollte, die Person zu inhaftieren.

19      Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die in der dargestellten Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze analog auch in einem solchen Fall herangezogen werden sollten. Es fragt sich insbesondere, ob die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, sich mit der ausstellenden Justizbehörde auszutauschen, und ob die vollstreckende Justizbehörde das Übergabeverfahren einstellen kann, wenn in angemessener Frist nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person besteht.

20      Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 3, 4 und 35 der Charta dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Auffassung ist, dass für eine Person, die an schweren, chronischen und möglicherweise irreversiblen Krankheiten leidet, im Fall der Übergabe möglicherweise die Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit besteht, die ausstellende Justizbehörde um Informationen ersuchen muss, die es ermöglichen, das Bestehen dieser Gefahr auszuschließen, und die Übergabe ablehnen muss, wenn sie derartige Zusicherungen nicht in angemessener Frist erhält?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

21      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

22      Das vorlegende Gericht ist sich bewusst, dass E. D. L. nicht Gegenstand einer freiheitsentziehenden Maßnahme ist. Es macht geltend, dass die Vorlagefrage aber wesentliche Gesichtspunkte der Funktionsweise des Europäischen Haftbefehls betreffe und sowohl für die Behörden, die in Verfahren über einen europäischen Haftbefehl zusammenzuarbeiten hätten, als auch für die betroffenen Personen von allgemeiner Bedeutung sein könne.

23      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

24      Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Der Präsident des Gerichtshofs hat im vorliegenden Fall am 20. Dezember 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den oben in Rn. 21 genannten Antrag zurückzuweisen.

26      Der Umstand, dass die Rechtssache einen oder mehrere wesentliche Gesichtspunkte der Funktionsweise des Europäischen Haftbefehls betrifft, stellt als solcher keinen Grund dar, aus dem sich eine außerordentliche Dringlichkeit ergibt, die erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen. Dasselbe gilt für den Umstand, dass von der Vorlagefrage potenziell eine große Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 39).

27      In Anbetracht der Art und der Bedeutung der Vorlagefrage hat der Präsident des Gerichtshofs jedoch entschieden, dass die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang entschieden wird.

 Zur Vorlagefrage

28      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 3, 4 und 35 der Charta dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, die an schweren, chronischen und möglicherweise irreversiblen Krankheiten leidet, und der Auffassung ist, dass für diese Person im Fall der Übergabe möglicherweise die Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit besteht, die ausstellende Justizbehörde um Informationen ersuchen muss, die es ermöglichen, das Bestehen dieser Gefahr auszuschließen, und die Übergabe, wenn sie nicht in angemessener Frist die Zusicherungen erhält, die erforderlich sind, um eine solche Gefahr auszuschließen, ablehnen muss.

29      Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage, was den Rahmenbeschluss 2002/584 angeht, rein formal auf die Auslegung von dessen Art. 1 Abs. 3 beschränkt hat, ist der Gerichtshof dadurch nicht daran gehindert, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es diese Punkte in seiner Frage ausdrücklich angesprochen hat oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1990, SARPP, C‑241/89, EU:C:1990:459, Rn. 8, und vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 22).

30      Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raumes ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteile vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 40, und vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93).

31      Bei der Durchführung des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten daher unionsrechtlich verpflichtet, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Europäische Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 192, und Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 94).

32      Der Rahmenbeschluss 2002/584 zielt darauf ab, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der nach dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellt, kommt in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage dieses Grundsatzes und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Die vollstreckenden Justizbehörden können die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls deshalb nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 69 bis 73). Außerdem stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Der Rahmenbeschluss sieht aber nicht vor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allein deshalb ablehnen könnte, weil die Person, die mit dem Haftbefehl gesucht wird, unter schweren, chronischen und möglicherweise irreversiblen Krankheiten leidet. Nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, auf dem der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts basiert, gilt nämlich die Vermutung, dass die Möglichkeiten, die in den Mitgliedstaaten zur Behandlung u. a. solcher Krankheiten zur Verfügung stehen, angemessen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 70), sei es in einer Haftanstalt oder im Rahmen alternativer Modalitäten, mit denen sichergestellt wird, dass die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats Zugriff auf die betreffende Person haben.

36      Wie sich aus Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt, kann die Übergabe aber unter außergewöhnlichen Umständen, insbesondere bei einer offensichtlichen Gefährdung von Leib oder Leben der gesuchten Person, ausgesetzt werden.

37      Entsprechend ist die vollstreckende Justizbehörde befugt, die Übergabe der gesuchten Person vorläufig auszusetzen, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte – wie ärztlichen Bescheinigungen oder Sachverständigengutachten – ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls offensichtlich eine Gefährdung für die Gesundheit der gesuchten Person darstellt, etwa wegen einer Krankheit oder vorübergehenden Erkrankung der Person vor dem Zeitpunkt, der für ihre Übergabe vorgesehen ist.

38      Bei der Ausübung dieses Ermessens ist jedoch Art. 4 der Charta zu beachten, der u. a. das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung enthält, das einen engen Bezug zur Achtung der Würde des Menschen (Art. 1 der Charta) aufweist und deshalb absoluten Charakter hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85, und vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 57).

39      Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass für eine Person, die schwer krank ist, im Fall der Übergabe wegen der Qualität der im Ausstellungsmitgliedstaat verfügbaren Versorgung – unter bestimmten Umständen auch unabhängig davon – die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 73).

40      Eine Behandlung fällt aber nur dann unter Art. 4 der Charta, wenn sie eine gewisse Schwere hat, die über das dem Freiheitsentzug unvermeidlich innewohnende Maß des Leidens hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 90).

41      Diese Voraussetzung wäre erfüllt bei der Übergabe einer schwer kranken Person, für die unmittelbare Lebensgefahr besteht oder bei der ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass für sie unter den Umständen des betreffenden Falles wenn auch keine unmittelbare Lebensgefahr, so doch die reale Gefahr einer ernsten, raschen und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands oder einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 63 und 66).

42      Die vollstreckende Justizbehörde ist daher, wenn anhand der objektiven Informationen, über die sie verfügt, ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme bestehen, dass für die gesuchte Person, die schwer krank ist, im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, nach Art. 4 der Charta verpflichtet, von ihrer Befugnis gemäß Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 Gebrauch zu machen und die Übergabe auszusetzen.

43      Der Rahmenbeschluss 2002/584, insbesondere sein Art. 23 Abs. 4, darf allerdings nicht so ausgelegt werden, dass die Wirksamkeit des Systems der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, wovon der Europäische Haftbefehl in seiner Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber einen wesentlichen Baustein bildet, beeinträchtigt wird (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Dies gilt umso mehr, als der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls insbesondere darauf abzielt, die Straflosigkeit einer gesuchten Person zu verhindern, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet als demjenigen befindet, in dem sie der Begehung einer Straftat verdächtig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU et C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 62).

45      Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass, um insbesondere eine Lähmung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls zu vermeiden, die in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerte Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit den Dialog zwischen den vollstreckenden und den ausstellenden Justizbehörden leiten muss. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Im Hinblick auf eine wirksame justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen müssen die ausstellenden und die vollstreckenden Justizbehörden deshalb umfassend von den Instrumenten Gebrauch machen, die im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehen sind, um das gegenseitige Vertrauen zu fördern, das dieser Zusammenarbeit zugrunde liegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      In einem Fall wie dem oben in Rn. 42 geschilderten, in dem sie sich ausnahmsweise dafür entscheidet, die Übergabe der gesuchten Person gemäß Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 4 der Charta auszusetzen, muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde daher um die Übermittlung aller Informationen ersuchen, die erforderlich sind, um sich zu vergewissern, dass die oben in Rn. 42 beschriebene Gefahr durch die Modalitäten der Durchführung der Strafverfolgung, wegen deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, oder die Bedingungen einer etwaigen Inhaftierung der gesuchten Person abgewandt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 95).

48      Macht die ausstellende Justizbehörde entsprechende Zusicherungen, ergibt sich aus Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584, dass der Europäische Haftbefehl zu vollstrecken ist. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde nach dieser Bestimmung unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum.

49      Der Umstand, dass es sich bei der außergewöhnlich schweren Krankheit, unter der die gesuchte Person leiden soll, um eine chronische und möglicherweise irreversible Krankheit handelt, schließt jedoch nicht aus, dass die vollstreckende Justizbehörde, die sich dafür entschieden hat, die Übergabe der gesuchten Person auszusetzen, vom Ausstellungsmitgliedstaat Zusicherungen dahin erhält, dass die Krankheit dort angemessen behandelt werden wird, sei es in einer Haftanstalt oder im Rahmen alternativer Modalitäten, mit denen sichergestellt wird, dass die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats Zugriff auf die gesuchte Person haben.

50      Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die vollstreckende Justizbehörde unter außergewöhnlichen Umständen aufgrund der von der ausstellenden Justizbehörde gemachten Angaben und sämtlicher sonstigen Informationen, über die sie verfügt, zu dem Schluss gelangt, dass es ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person im Fall der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat eine Gefahr wie die oben in Rn. 42 beschriebene besteht und dass diese nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann.

51      Erstens stellt Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aber eine Ausnahme von der sich für die vollstreckende Justizbehörde aus Art. 23 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ergebenden Verpflichtung dar, die gesuchte Person so bald wie möglich zu übergeben. Es wäre daher weder mit dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584, in dem von einer „Aussetzung“ der Übergabe die Rede ist, noch mit der Systematik dieses Artikels vereinbar, dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der gesuchten Person, um zu verhindern, dass sich eine Gefahr wie die oben in Rn. 42 beschriebene verwirklicht, eine erhebliche Zeit lang oder gar unbegrenzt aufschieben könnte. Abgesehen davon könnte die gesuchte Person dann, obwohl keine realistische Aussicht darauf besteht, dass sie dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben wird, ohne zeitliche Beschränkung unter den gegen sie ausgestellten Europäischen Haftbefehl und die gegebenenfalls vom Vollstreckungsmitgliedstaat erlassenen Zwangsmaßnahmen fallen.

52      Zweitens ist in einem Fall wie dem oben in Rn. 50 beschriebenen auch Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu berücksichtigen, wonach die vollstreckende Justizbehörde, wenn die Gefahr besteht, dass die Grundrechte verletzt werden, befugt sein kann, einen Europäischen Haftbefehl nach angemessener Prüfung ausnahmsweise nicht zu vollstrecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      In einem solchen Fall darf die vollstreckende Justizbehörde den Europäischen Haftbefehl nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, ausgelegt im Licht von Art. 4 der Charta, nicht vollstrecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 104, und entsprechend Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 66).

54      Eine Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 3 und 35 der Charta ist daher nicht erforderlich.

55      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 4 der Charta wie folgt auszulegen sind:

–        Bestehen ernsthafte Gründe für die Annahme, dass im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Übergabe einer gesuchten Person offensichtlich eine Gefährdung für deren Gesundheit darstellt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ausnahmsweise aussetzen.

–        Hat sie im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls über die Übergabe einer gesuchten Person zu entscheiden, die schwer krank ist, und ist sie der Auffassung, dass es ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, hat die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe auszusetzen und die ausstellende Justizbehörde zu ersuchen, sie umfassend darüber zu unterrichten, unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll, und welche Möglichkeiten es gibt, diese Bedingungen, um zu verhindern dass sich die genannte Gefahr verwirklicht, dem Gesundheitszustand der gesuchten Person anzupassen.

–        Geht aus den von der ausstellenden Justizbehörde gemachten Angaben und sämtlichen Informationen, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügt, hervor, dass die genannte Gefahr nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann, hat die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Kann die genannte Gefahr hingegen in angemessener Frist abgewandt werden, ist mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.

 Kosten

56      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind wie folgt auszulegen:

–        Bestehen ernsthafte Gründe für die Annahme, dass im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Übergabe einer gesuchten Person offensichtlich eine Gefährdung für deren Gesundheit darstellt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ausnahmsweise aussetzen.

–        Hat sie im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls über die Übergabe einer gesuchten Person zu entscheiden, die schwer krank ist, und ist sie der Auffassung, dass es ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, hat die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe auszusetzen und die ausstellende Justizbehörde zu ersuchen, sie umfassend darüber zu unterrichten, unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll, und welche Möglichkeiten es gibt, diese Bedingungen, um zu verhindern, dass sich die genannte Gefahr verwirklicht, dem Gesundheitszustand der gesuchten Person anzupassen.

–        Geht aus den von der ausstellenden Justizbehörde gemachten Angaben und sämtlichen Informationen, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügt, hervor, dass die genannte Gefahr nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann, hat die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Kann die genannte Gefahr hingegen in angemessener Frist abgewandt werden, ist mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.

Unterschriften



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