Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
9. März 2023(* )
„Rechtsmittel – Wettbewerb – Kartelle – Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird – Rechtsbehelfe gegen den Ablauf der Nachprüfung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 19 – Verordnung (EG) Nr. 773/2004 – Art. 3 – Aufzeichnung der Befragungen, die die Kommission im Rahmen ihrer Ermittlungen durchführt – Beginn der Untersuchung durch die Kommission“
In der Rechtssache C‑690/20 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 18. Dezember 2020,
Casino, Guichard-Perrachon SA mit Sitz in Saint-Étienne (Frankreich),
Achats Marchandises Casino SAS (AMC) mit Sitz in Vitry-sur-Seine (Frankreich),
vertreten durch G. Aubron, Y. Boubacir, O. de Juvigny, I. Simic und A. Sunderland, Avocats,
Rechtsmittelführerinnen,
andere Parteien des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch P. Berghe, A. Cleenewerck de Crayencour, A. Dawes und I. V. Rogalski als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch A.‑L. Meyer und O. Segnana als Bevollmächtigte,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: V. Giacobbo, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 2022,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Casino, Guichard-Perrachon SA (im Folgenden: Casino) und die Achats Marchandises Casino SAS (AMC) die teilweise Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 5. Oktober 2020, Casino, Guichard-Perrachon und AMC/Kommission (T‑249/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2020:458), mit dem das Gericht ihre Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2017) 1054 final der Kommission vom 9. Februar 2017, mit dem Casino sowie allen unmittelbar oder mittelbar von ihr kontrollierten Gesellschaften aufgegeben wird, eine Nachprüfung gemäß Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zu dulden (Sache AT.40466 – Tute 1) (im Folgenden: streitiger Beschluss), teilweise abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EG) Nr. 1/2003
2 Im 25. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:
„Da es zunehmend schwieriger wird, Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln aufzudecken, ist es für einen wirksamen Schutz des Wettbewerbs notwendig, die Ermittlungsbefugnisse der [Europäischen] Kommission zu ergänzen. Die Kommission sollte insbesondere alle Personen, die eventuell über sachdienliche Informationen verfügen, befragen und deren Aussagen zu Protokoll nehmen können. Ferner sollten die von der Kommission beauftragten Bediensteten im Zuge einer Nachprüfung für die hierfür erforderliche Zeit eine Versiegelung vornehmen dürfen. Die Dauer der Versiegelung sollte in der Regel 72 Stunden nicht überschreiten. Die von der Kommission beauftragten Bediensteten sollten außerdem alle Auskünfte im Zusammenhang mit Gegenstand und Ziel der Nachprüfung einholen dürfen.“
3 In Kapitel V („Ermittlungsbefugnisse“) dieser Verordnung ist Art. 17 („Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige und einzelner Arten von Vereinbarungen“) enthalten, dessen Abs. 1 bestimmt:
„Lassen die Entwicklung des Handels zwischen Mitgliedstaaten, Preisstarrheiten oder andere Umstände vermuten, dass der Wettbewerb im Gemeinsamen Markt möglicherweise eingeschränkt oder verfälscht ist, so kann die Kommission die Untersuchung eines bestimmten Wirtschaftszweigs oder – Sektor übergreifend – einer bestimmten Art von Vereinbarungen durchführen. Im Rahmen dieser Untersuchung kann die Kommission von den betreffenden Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen die Auskünfte verlangen, die zur Durchsetzung von Artikel [101] und [102 AEUV] notwendig sind, und die dazu notwendigen Nachprüfungen vornehmen.“
4 Art. 19 („Befugnis zur Befragung“) dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben kann die Kommission alle natürlichen und juristischen Personen befragen, die der Befragung zum Zweck der Einholung von Information, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung bezieht, zustimmen.
(2) Findet eine Befragung nach Absatz 1 in den Räumen eines Unternehmens statt, so informiert die Kommission die Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Befragung erfolgt. Auf Verlangen der Wettbewerbsbehörde dieses Mitgliedstaats können deren Bedienstete die Bediensteten der Kommission und die anderen von der Kommission ermächtigten Begleitpersonen bei der Durchführung der Befragung unterstützen.“
5 Art. 20 („Nachprüfungsbefugnisse der Kommission“) dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Die Kommission kann zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen.
(2) Die mit den Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen sind befugt,
a) alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen zu betreten;
b) die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen, unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen, zu prüfen;
c) Kopien oder Auszüge gleich welcher Art aus diesen Büchern und Unterlagen anzufertigen oder zu erlangen;
d) betriebliche Räumlichkeiten und Bücher oder Unterlagen jeder Art für die Dauer und in dem Ausmaß zu versiegeln, wie es für die Nachprüfung erforderlich ist;
e) von allen Vertretern oder Mitgliedern der Belegschaft des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen zu verlangen, die mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung in Zusammenhang stehen, und ihre Antworten zu Protokoll zu nehmen.
(3) Die mit Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen üben ihre Befugnisse unter Vorlage eines schriftlichen Auftrags aus, in dem der Gegenstand und der Zweck der Nachprüfung bezeichnet sind und auf die in Artikel 23 vorgesehenen Sanktionen für den Fall hingewiesen wird, dass die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorgelegt werden oder die Antworten auf die nach Maßgabe von Absatz 2 des vorliegenden Artikels gestellten Fragen unrichtig oder irreführend sind. Die Kommission unterrichtet die Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, über die Nachprüfung rechtzeitig vor deren Beginn.
(4) Die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind verpflichtet, die Nachprüfungen zu dulden, die die Kommission durch Entscheidung angeordnet hat. Die Entscheidung bezeichnet den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung, bestimmt den Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung und weist auf die in Artikel 23 und Artikel 24 vorgesehenen Sanktionen sowie auf das Recht hin, vor dem Gerichtshof Klage gegen die Entscheidung zu erheben. Die Kommission erlässt diese Entscheidungen nach Anhörung der Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll.
(5) Die Bediensteten der Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, oder von dieser Behörde entsprechend ermächtigte oder benannte Personen unterstützen auf Ersuchen dieser Behörde oder der Kommission die Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen aktiv. Sie verfügen hierzu über die in Absatz 2 genannten Befugnisse.
(6) Stellen die beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen fest, dass sich ein Unternehmen einer nach Maßgabe dieses Artikels angeordneten Nachprüfung widersetzt, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat die erforderliche Unterstützung, gegebenenfalls unter Einsatz von Polizeikräften oder einer entsprechenden vollziehenden Behörde, damit die Bediensteten der Kommission ihren Nachprüfungsauftrag erfüllen können.
(7) Setzt die Unterstützung nach Absatz 6 nach einzelstaatlichem Recht eine Genehmigung eines Gerichts voraus, so ist diese zu beantragen. Die Genehmigung kann auch vorsorglich beantragt werden.
(8) Wird die in Absatz 7 genannte Genehmigung beantragt, so prüft das einzelstaatliche Gericht die Echtheit der Entscheidung der Kommission sowie, ob die beantragten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich und, gemessen am Gegenstand der Nachprüfung, nicht unverhältnismäßig sind. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Zwangsmaßnahmen kann das einzelstaatliche Gericht von der Kommission unmittelbar oder über die Wettbewerbsbehörde des betreffenden Mitgliedstaats ausführliche Erläuterungen anfordern, und zwar insbesondere zu den Gründen, die die Kommission veranlasst haben, das Unternehmen einer Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] oder [102 AEUV] zu verdächtigen, sowie zur Schwere der behaupteten Zuwiderhandlung und zur Art der Beteiligung des betreffenden Unternehmens. Das einzelstaatliche Gericht darf jedoch weder die Notwendigkeit der Nachprüfung in Frage stellen noch die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung ist dem Gerichtshof vorbehalten.“
6 Art. 23 („Geldbußen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor:
„Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig
…
c) bei Nachprüfungen nach Artikel 20 die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorlegen oder in einer Entscheidung nach Artikel 20 Absatz 4 angeordnete Nachprüfungen nicht dulden;
d) in Beantwortung einer nach Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe e) gestellten Frage
– eine unrichtige oder irreführende Antwort erteilen oder
– eine von einem Mitglied der Belegschaft erteilte unrichtige, unvollständige oder irreführende Antwort nicht innerhalb einer von der Kommission gesetzten Frist berichtigen oder
– in Bezug auf Tatsachen, die mit dem Gegenstand und dem Zweck einer durch Entscheidung nach Artikel 20 Absatz 4 angeordneten Nachprüfung in Zusammenhang stehen, keine vollständige Antwort erteilen oder eine vollständige Antwort verweigern;
e) die von Bediensteten der Kommission oder anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen nach Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe d) angebrachten Siegel erbrochen haben.“
Verordnung (EG) Nr. 773/2004
7 Art. 2 („Einleitung eines Verfahrens“) Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101] und [102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) sieht vor:
„Die Kommission kann von ihren Ermittlungsbefugnissen gemäß Kapitel V der Verordnung [Nr. 1/2003] Gebrauch machen, bevor sie ein Verfahren einleitet.“
8 In Kapitel III („Ermittlungen der Kommission“) der Verordnung Nr. 773/2004 ist Art. 3 („Befugnis zur Befragung“) enthalten, der bestimmt:
„(1) Befragt die Kommission eine Person mit deren Zustimmung nach Maßgabe von Artikel 19 der Verordnung [Nr. 1/2003], teilt sie ihr zu Beginn der Befragung die Rechtsgrundlage sowie den Zweck der Befragung mit und verweist auf den freiwilligen Charakter der Befragung. Sie teilt dem Befragten ferner ihre Absicht mit, die Befragung aufzuzeichnen.
(2) Die Befragung kann auf jedem Wege einschließlich per Telefon oder elektronisch erfolgen.
(3) Die Kommission kann die Aussagen des Befragten auf einen beliebigen Träger aufzeichnen. Dem Befragten wird eine Kopie der Aufzeichnung zur Genehmigung überlassen. Die Kommission setzt erforderlichenfalls eine Frist, innerhalb deren der Befragte seine Aussage berichtigen kann.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitiger Beschluss
9 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 2 bis 8 des angefochtenen Urteils wie folgt zusammengefasst:
„2. [Casino], die erste Klägerin …, ist die Muttergesellschaft des Casino-Konzerns, der u. a. in Frankreich hauptsächlich im Lebensmittel- und Nicht-Lebensmittel-Vertriebssektor tätig ist. Ihre Tochtergesellschaft Achats Marchandises Casino SAS (AMC), früher EMC Distribution, die zweite Klägerin, ist eine Einkaufszentrale, die für die Handelsketten des Casino-Konzerns in Frankreich die Bezugsbedingungen bei den Lieferanten aushandelt.
3. Nachdem die Europäische Kommission Auskünfte über den Informationsaustausch zwischen der ersten Klägerin und anderen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, u. a. Intermarché, einer Gesellschaft, die auch im Lebensmittel- und Nicht-Lebensmittel-Vertriebssektor tätig ist, erhalten hatte, erließ sie [den streitigen Beschluss].
4. Der verfügende Teil des [streitigen] Beschlusses bestimmt:
‚Artikel 1
Casino … sowie alle von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften sind verpflichtet, eine Nachprüfung betreffend ihre etwaige Beteiligung an gegen Artikel 101 [AEUV] verstoßenden abgestimmten Verhaltensweisen auf den Beschaffungsmärkten für Produkte des täglichen Bedarfs, auf dem Markt für den Verkauf von Dienstleistungen an Hersteller von Markenprodukten und auf den Märkten für den Verkauf von Produkten des täglichen Bedarfs an Verbraucher zu dulden. Diese aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestehen in
a) dem Informationsaustausch seit 2015 zwischen Unternehmen und/oder Unternehmensvereinigungen, insbesondere [der International Casino Dia Corporation (ICDC)] …, und/oder ihren Mitgliedern, insbesondere Casino und AgeCore und/oder ihren Mitgliedern, insbesondere Intermarché, über von ihnen erhaltene Rabatte auf den Beschaffungsmärkten für Produkte des täglichen Bedarfs in den Bereichen Lebensmittel, Hygieneartikel und Reinigungsmittel, und die Preise auf dem Markt für den Verkauf von Dienstleistungen an Hersteller von Markenprodukten in den Bereichen Lebensmittel, Hygieneartikel und Reinigungsmittel in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere in Frankreich, und
b) dem Informationsaustausch mindestens seit 2016 zwischen Casino und Intermarché über ihre künftigen Geschäftsstrategien, insbesondere über das Sortiment, die Entwicklung von Geschäften, den E‑Commerce und die Werbepolitik auf den Beschaffungsmärkten für Produkte des täglichen Bedarfs und auf den Märkten für den Verkauf von Produkten des täglichen Bedarfs an Verbraucher in Frankreich.
Diese Nachprüfung kann in jedem beliebigen Geschäftslokal des Unternehmens stattfinden …
Casino ermächtigt die Beamten und sonstigen Personen, die von der Kommission mit der Durchführung einer Nachprüfung beauftragt wurden, und die Beamten und sonstigen Personen, die von der Wettbewerbsbehörde des betreffenden Mitgliedstaats zu ihrer Unterstützung beauftragt wurden oder vom Mitgliedstaat für diesen Zweck benannt wurden, sich während der normalen Bürozeiten Zugang zu allen ihren Geschäftsräumen und Transportmitteln zu verschaffen. Das Unternehmen duldet die Nachprüfung der Bücher und jeglicher sonstiger Geschäftsunterlagen, unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen, wenn die Beamten und sonstigen beauftragten Personen dies verlangen, und es gestattet ihnen, diese Bücher und Unterlagen vor Ort zu prüfen und von ihnen Kopien oder Auszüge gleich welcher Art anzufertigen oder zu erhalten. Es gestattet das Anbringen von Amtssiegeln in allen Geschäftsräumen und auf allen Büchern oder Dokumenten während der Dauer der Nachprüfung und soweit dies für die Zwecke der Nachprüfung erforderlich ist. Das Unternehmen gibt unverzüglich vor Ort mündliche Erläuterungen zum Gegenstand und zum Zweck der Nachprüfung, wenn die Beamten oder Personen dies verlangen, und es ermächtigt alle Vertreter und Mitglieder der Belegschaft, solche Erläuterungen zu geben. Es gestattet die Aufzeichnung dieser Erläuterungen in beliebiger Form.
Artikel 2
Die Nachprüfung kann am 20. Februar 2017 oder kurz danach beginnen.
Artikel 3
Dieser Beschluss ist an Casino sowie alle von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften gerichtet.
Dieser Beschluss wird dem Unternehmen, an das er gerichtet ist, gemäß Artikel 297 Absatz 2 [AEUV] unmittelbar vor der Nachprüfung bekannt gegeben.‘
5. Nachdem die französische Wettbewerbsbehörde von dieser Nachprüfung durch die Kommission unterrichtet worden war, beantragte sie bei den Juges des libertés et de la détention (für die Anordnung der Untersuchungshaft zuständige Richter) des Tribunal de grande instance Créteil (Frankreich) und des Tribunal de grande instance Paris (Frankreich) die Genehmigung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen in den Geschäftsräumen der [Rechtsmittelführerinnen]. Mit Beschlüssen vom 17. Februar 2017 genehmigten diese Juges des libertés et de la détention die vorsorglich beantragten Durchsuchungen und Beschlagnahmen. Da keine der bei der Nachprüfung getroffenen Maßnahmen die Ausübung der ‚Vollzugsbefugnisse‘ im Sinne von Art. 20 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 1/2003 erforderte, wurden diese Beschlüsse den [Rechtsmittelführerinnen] nicht zugestellt.
6. Die Nachprüfung begann am 20. Februar 2017, als die Inspektoren der Kommission in Begleitung von Vertretern der französischen Wettbewerbsbehörde den Pariser Sitz des Casino-Konzerns sowie die Geschäftsräume der zweiten Klägerin aufsuchten und den Klägerinnen den [streitigen] Beschluss zustellten.
7. Im Rahmen der Nachprüfungen besuchte die Kommission u. a. die Büros, sammelte Material, insbesondere EDV-Material (Laptops, Mobiltelefone, Tablets, Speichergeräte), nahm eine Anhörung mehrerer Personen vor und kopierte den Inhalt des gesammelten Materials.
8. Die [Rechtsmittelführerinnen] übermittelten der Kommission jeweils ein Schreiben vom 24. Februar 2017, in dem sie Vorbehalte gegen den [streitigen] Beschluss und den Ablauf der auf seiner Grundlage durchgeführten Nachprüfung äußerten.“
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
10 Mit Klageschrift, die am 28. April 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, erhoben die Rechtsmittelführerinnen nach Art. 263 AEUV Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses. Zur Stützung ihrer Klagen machten die Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen drei Klagegründe geltend. Der erste war auf eine Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 gestützt, der zweite auf eine Verletzung der Begründungspflicht und der dritte auf die Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung.
11 Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen forderte das Gericht die Kommission auf, die Indizien für mutmaßliche Zuwiderhandlungen vorzulegen, über die sie zum Zeitpunkt des streitigen Beschlusses verfügte.
12 Die Kommission legte daraufhin u. a. Zusammenfassungen von Befragungen vor, die sie in den Jahren 2016 und 2017 bei 13 Lieferanten der betreffenden Produkte des täglichen Bedarfs durchgeführt hatte, die regelmäßig Vereinbarungen mit Casino und Intermarché trafen (Anlagen Q.1 bis Q.13 der Antwort der Kommission vom 10. Januar 2019) (im Folgenden: Befragungen der Lieferanten).
13 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht Art. 1 Buchst. b des streitigen Beschlusses für nichtig erklärt, da es der Ansicht war, dass die Kommission nicht über hinreichend ernsthafte Indizien verfügt habe, die den Verdacht einer Zuwiderhandlung in Form eines Informationsaustauschs zwischen Casino und Intermarché über ihre künftigen Geschäftsstrategien begründen könnten, und die Klage im Übrigen abgewiesen.
Anträge der Parteien
14 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Rechtsmittelführerinnen,
– Nr. 2 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben,
– ihren im ersten Rechtszug gestellten Anträgen stattzugeben und somit den streitigen Beschluss für nichtig zu erklären
– sowie der Kommission die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens und die vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen.
15 Die Kommission beantragt,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen und
– den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.
16 Der Rat der Europäischen Union beantragt,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen, soweit die Rechtsmittelführerinnen dem Gericht vorwerfen, es habe rechtsirrtümlich entschieden, dass das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf keinen eigenständigen und sofortigen Rechtsbehelf gegen den Ablauf der Nachprüfungen verlange, und
– den Rechtsmittelführerinnen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
17 Die Rechtsmittelführerinnen stützen ihr Rechtsmittel auf vier Gründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird gerügt, das Gericht habe rechtsirrtümlich entschieden, dass die von der Kommission eingeholten mündlichen Erklärungen nicht hätten aufgezeichnet werden müssen, um als Indizien den streitigen Beschluss stützen zu können. Mit dem zweiten und dem dritten Rechtsmittelgrund wird geltend gemacht, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es entschieden habe, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nicht verlange, dass der streitige Beschluss die Ausübung der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission zeitlich begrenze sowie die zu überprüfenden Personen und Räumlichkeiten beschränke. Mit dem vierten Rechtsmittelgrund wird geltend gemacht, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es entschieden habe, dass das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf keinen eigenständigen und sofortigen Rechtsbehelf gegen den Ablauf der Nachprüfungen verlange.
18 Da der vierte Rechtsmittelgrund darauf abzielt, die Rechtsgrundlage des streitigen Beschlusses in Frage zu stellen, hält es der Gerichtshof für angebracht, ihn als Erstes zu prüfen.
Vierter Rechtsmittelgrund: r echtsirrtümliche Entscheidung des Gerichts, dass das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf keinen eigenständigen und sofortigen Rechtsbehelf gegen den Ablauf der Nachprüfungen verlange
Vorbringen der Parteien
19 Die Rechtsmittelführerinnen wenden sich insbesondere gegen die Rn. 51, 55 und 69 des angefochtenen Urteils.
20 Zunächst weisen die Rechtsmittelführerinnen darauf hin, dass sie vor dem Gericht geltend gemacht hätten, dass die Bestimmung, auf die sich der streitige Beschluss stütze – nämlich Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 –, gegen Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoße, weil sie es nicht erlaube, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die im Rahmen einer Nachprüfung getroffenen Maßnahmen einzulegen. Sie machen nämlich geltend, dass die Verordnung Nr. 1/2003, die in ihrem Art. 20 Abs. 4 nur eine Klage gegen den Nachprüfungsbeschluss selbst vorsehe, entgegen den Anforderungen, die sich insbesondere aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 21. Februar 2008, Ravon u. a./Frankreich (CE:ECHR:2008:0221JUD001849703, § 28), vom 21. Dezember 2010, Compagnie des gaz de pétrole Primagaz/Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002961308, § 36 ff.), und vom 21. Dezember 2010, Société Canal Plus u. a./Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002940808, § 24 ff.), ergäben, keinen eigenständigen und sofortigen Rechtsbehelf gegen diese Maßnahmen zulasse.
21 Mit einer ersten Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, dass die Rechtsprechung des EGMR entgegen den Ausführungen des Gerichts in den Rn. 51 und 55 des angefochtenen Urteils nicht vorsehe, dass mehrere Rechtsbehelfe in ihrer Gesamtheit beurteilt werden könnten, um den Erfordernissen eines wirksamen Rechtsbehelfs gerecht zu werden.
22 Mit einer zweiten Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen hilfsweise geltend, das Gericht habe nicht rechtsfehlerfrei davon ausgehen können, dass alle von ihm geprüften Rechtsbehelfe zusammen genommen einem wirksamen Rechtsbehelf gleichkämen, weil es keinen unmittelbaren Rechtsbehelf aufzeige, mit dem die Beschlagnahme von Dokumenten, die nicht in den Bereich der Nachprüfung fielen, angefochten werden könne. Um die bei der Durchführung der Nachprüfungen getroffenen Maßnahmen anfechten zu können, müsse das überprüfte Unternehmen zunächst einen Beschluss abwarten, mit dem das Verfahren nach Art. 101 AEUV abgeschlossen werde. Einen solchen Rechtsbehelf habe der EGMR jedoch in seinen Urteilen vom 21. Dezember 2010, Compagnie des gaz de pétrole Primagaz/Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002961308, § 28), und vom 21. Dezember 2010, Société Canal Plus u. a./Frankreich (CE:ECHR:2010:1221JUD002940808, § 40), als unzureichend angesehen.
23 Die Kommission und der Rat treten dem Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen entgegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Rn. 51, 55 und 69 des angefochtenen Urteils, die die Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des vierten Rechtsmittelgrundes beanstanden, zu den Gründen gehören, mit denen das Gericht die Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zurückgewiesen hat, mit der eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf mit der Begründung geltend gemacht wurde, dass es an einem Rechtsbehelf gegen die im Rahmen einer Nachprüfung getroffenen Maßnahmen fehle.
25 Genauer gesagt hat das Gericht in den Rn. 46 bis 50 des angefochtenen Urteils zunächst darauf hingewiesen, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Art. 47 der Charta sowie in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankert ist. Nach dem Hinweis darauf, dass die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten sei, kein formell in die Unionsrechtsordnung übernommenes Rechtsinstrument darstelle, so dass die Rechtmäßigkeitskontrolle allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen sei, hat das Gericht ausgeführt, dass sich sowohl aus Art. 52 der Charta als auch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel ergebe, dass die Bestimmungen der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zu diesen Bestimmungen bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Charta in einem bestimmten Fall zu berücksichtigen seien.
26 Insoweit hat es festgestellt, dass nach der Rechtsprechung des EGMR die Einhaltung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Bezug auf Hausdurchsuchungen anhand der folgenden vier Voraussetzungen zu prüfen sei: Erstens müsse eine effektive gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, solche Hausdurchsuchungen durchzuführen, oder der im Rahmen solcher Hausdurchsuchungen getroffenen Maßnahmen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gegeben sein, zweitens müssten es der oder die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe im Fall der Feststellung einer Rechtswidrigkeit ermöglichen, entweder vollendete Tatsachen zu verhindern oder, wenn diese bereits eingetreten sind, den Betroffenen eine angemessene Wiedergutmachung zu gewähren, drittens müsse die Zugänglichkeit des betreffenden Rechtsbehelfs sicher sein, und viertens müsse die gerichtliche Kontrolle innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen.
27 Sodann hat das Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen, dass aus dieser Rechtsprechung auch hervorgehe, dass der Ablauf einer Nachprüfungsmaßnahme Gegenstand einer effektiven gerichtlichen Kontrolle sein müsse und dass die Kontrolle unter den besonderen Umständen der in Rede stehenden Rechtssache effektiv sein müsse, was die Berücksichtigung sämtlicher einem überprüften Unternehmen zur Verfügung stehender Rechtsschutzmöglichkeiten und somit eine umfassende Analyse dieser Rechtsschutzmöglichkeiten impliziere. In den Rn. 54 und 55 des angefochtenen Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass es, da die Prüfung der Wahrung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf auf einer umfassenden Analyse der Rechtsschutzmöglichkeiten beruhen müsse, die zur Kontrolle der im Rahmen einer Nachprüfung getroffenen Maßnahmen führen könnten, unerheblich sei, dass jede dieser Rechtsschutzmöglichkeiten für sich genommen nicht die vier Voraussetzungen für das Vorliegen eines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf erfülle.
28 In diesem Zusammenhang hat das Gericht in den Rn. 57 und 58 des angefochtenen Urteils weiter ausgeführt, dass es neben der Möglichkeit, Anträge an den Anhörungsbeauftragten der Kommission zu richten, sechs Rechtsschutzmöglichkeiten gebe, mit denen Einwände gegen eine Nachprüfungsmaßnahme vor dem Unionsrichter geltend gemacht werden könnten, nämlich die Klage gegen den Nachprüfungsbeschluss, die Klage gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Behinderung der Nachprüfung auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Buchst. c bis e der Verordnung Nr. 1/2003 geahndet werde, die Klage gegen jede Handlung, die die Voraussetzungen der Rechtsprechung für die mit Klage anfechtbare Handlung erfülle, die die Kommission nach dem Nachprüfungsbeschluss und im Rahmen des Ablaufs der Nachprüfungsmaßnahmen annehme, wie etwa eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf Schutz von Dokumenten wegen Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant abgelehnt werde, die Klage gegen die endgültige Entscheidung, mit der das nach Art. 101 AEUV eingeleitete Verfahren abgeschlossen werde, den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und die Klage aus außervertraglicher Haftung.
29 In den Rn. 58 bis 66 des angefochtenen Urteils hat das Gericht erläutert, weshalb es der Ansicht war, dass diese Rechtsbehelfe es ermöglichten, Einwände gegen den Ablauf der Nachprüfungen vor den Unionsrichter zu bringen.
30 Schließlich hat das Gericht am Ende einer in den Rn. 67 bis 80 des angefochtenen Urteils vorgenommenen Analyse festgestellt, dass davon ausgegangen werden könne, dass das System zur Kontrolle des Ablaufs der Nachprüfungen, das aus allen in Rn. 28 des vorliegenden Urteils aufgezählten Rechtsschutzmöglichkeiten bestehe, die vier Voraussetzungen erfülle, die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergäben.
31 Folglich hat das Gericht in Rn. 81 des angefochtenen Urteils die auf einen Verstoß gegen das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf gestützte Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zurückgewiesen.
32 Zur ersten Rüge, mit der geltend gemacht wird, das Gericht habe zu Unrecht eine Gesamtprüfung der verschiedenen Rechtsbehelfe vorgenommen, um zu prüfen, ob das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die im Rahmen einer Nachprüfung getroffenen Maßnahmen gewährleistet sei, ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Art. 47 der Charta verankert ist.
33 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 52 Abs. 3 der Charta klarstellt, dass in der Charta enthaltene Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 116).
34 Wie aus den Erläuterungen zu Art. 47 der Charta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, hervorgeht, entsprechen die Abs. 1 und 2 von Art. 47 der Charta Art. 13 bzw. Art. 6 Abs. 1 der EMRK (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 117). Nach der Rechtsprechung des EGMR stellt Art. 6 Abs. 1 EMRK im Verhältnis zu Art. 13 EMRK eine lex specialis dar, wobei die Anforderungen des Letzteren in den strengeren Anforderungen des Ersteren enthalten sind (EGMR, 15. März 2022, Grzęda/Polen, CE:ECHR:2022:0315JUD004357218, § 352 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass er darauf achten muss, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 1 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 13 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen [Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels], C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 35).
36 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt, dass der durch Art. 13 EMRK gewährte Schutz nicht so weit geht, dass eine bestimmte Form der Klage verlangt wird (EGMR, 20. März 2008, Boudaïeva u. a./Russland, CE:ECHR:2008:0320JUD001533902, § 190), und dass selbst dann, wenn keiner der vom innerstaatlichen Recht gebotenen Rechtsbehelfe für sich genommen die Anforderungen von Art. 13 EMRK erfüllt, die Gesamtheit dieser Rechtsschutzmöglichkeiten ihnen genügen kann (EGMR, 10. Juli 2020, Mugemangango/Belgien, CE:ECHR:2020:0710JUD000031015, § 131 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Darüber hinaus ist im Fall einer Verletzung des in Art. 8 EMRK verankerten Rechts auf Achtung der Wohnung ein Rechtsbehelf wirksam im Sinne von Art. 13 EMRK, wenn der Rechtsbehelfsführer Zugang zu einem Verfahren hat, das es ihm ermöglicht, die Ordnungsmäßigkeit der durchgeführten Durchsuchungen und Beschlagnahmen in Frage zu stellen und, wenn diese rechtswidrig angeordnet oder vollstreckt worden sind, eine angemessene Wiedergutmachung zu erwirken (EGMR, 19. Januar 2017, Posevini/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0119JUD006363814, § 84).
38 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 oder Art. 8 EMRK, dass bei Hausdurchsuchungen das Fehlen einer zuvor durch einen Richter erteilten Genehmigung der Nachprüfung, die den Ablauf dieser Nachprüfung hätte eingrenzen oder kontrollieren können, durch eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit einer solchen Ermittlungsmaßnahme ausgeglichen werden kann, sofern diese Kontrolle unter den besonderen Umständen der jeweiligen Rechtssache wirksam ist. Dies bedeutet, dass die betroffenen Personen eine wirksame gerichtliche Kontrolle der streitigen Maßnahme und ihres Ablaufs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erwirken können. Wenn eine für rechtswidrig befundene Handlung bereits stattgefunden hat, müssen der oder die verfügbaren Rechtsbehelfe dem Betroffenen eine angemessene Wiedergutmachung verschaffen können (EGMR, 2. Oktober 2014, Delta Pekárny a.s./Tschechische Republik, CE:ECHR:2014:1002JUD000009711, §§ 86 und 87 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Da die nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Nachprüfung unter bestimmten Voraussetzungen das Fehlen einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle ausgleichen kann und „der oder die verfügbaren Rechtsbehelfe“ eine angemessene Wiedergutmachung ermöglichen müssen, ist somit davon auszugehen, dass grundsätzlich die Gesamtheit aller verfügbaren Rechtsbehelfe zu berücksichtigen ist, um festzustellen, ob die Anforderungen von Art. 47 der Charta erfüllt sind.
40 Da die Rechtsmittelführerinnen zudem mit einer Einrede die Rechtswidrigkeit von Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 geltend gemacht hatten, war das Gericht, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, bei der Entscheidung über diese Einrede verpflichtet, eine allgemeine Würdigung des Systems der gerichtlichen Kontrolle der im Rahmen der Nachprüfungen ergriffenen Maßnahmen vorzunehmen, die über die besonderen Umstände der in Rede stehenden Rechtssache hinausgeht.
41 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen zu Unrecht geltend machen, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es eine Gesamtwürdigung aller Rechtsbehelfe vorgenommen habe, die zur Anfechtung des Ablaufs der Nachprüfungen zur Verfügung stünden.
42 Die erste Rüge ist daher zurückzuweisen.
43 Zur zweiten Rüge, mit der geltend gemacht wird, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es keinen unmittelbaren Rechtsbehelf aufgezeigt habe, mit dem die Beschlagnahme außerhalb des Gebiets der Nachprüfung liegender Dokumente angefochten werden könne, ist darauf hinzuweisen, dass diese Argumentation, wie sich aus der von den Rechtsmittelführerinnen beanstandeten Rn. 69 des angefochtenen Urteils ergibt, einen Fall betrifft, in dem die in Rede stehende Nachprüfung, in deren Rahmen möglicherweise nicht in das Gebiet der Nachprüfung fallende Dokumente beschlagnahmt wurden, nicht zu einer Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung und zur Verhängung einer Sanktion führte, sondern zur Einleitung einer neuen Untersuchung und zum Erlass eines neuen Nachprüfungsbeschlusses.
44 Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht in dieser Rn. 69 auf die verschiedenen Rechtsbehelfe verwiesen hat, die es in den Rn. 57 bis 66 des angefochtenen Urteils geprüft hat. Es hat insbesondere in Rn. 59 dieses Urteils festgestellt, dass die überprüften Unternehmen eine Nichtigkeitsklage gegen den neuen Nachprüfungsbeschluss erheben könnten, indem sie rügen, dass die Indizien, auf die er gestützt werde, bei der vorangegangenen Nachprüfung unrechtmäßig erlangt worden seien.
45 Was im Übrigen die unmittelbaren Rechtsbehelfe betrifft, mit denen die in Anwendung eines Nachprüfungsbeschlusses getroffenen Maßnahmen angefochten werden können, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in den Rn. 56 und 57 des angefochtenen Urteils zu Recht im Wesentlichen festgestellt hat, dass diese Unternehmen die Möglichkeit haben, gegen jede Handlung, die die Kommission im Anschluss an den Nachprüfungbeschluss – auch während des Ablaufs der Nachprüfungsmaßnahmen – vornimmt, Klage zu erheben, sofern diese Handlung unter den in der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen mit einem solchen Rechtsbehelf angefochten werden kann.
46 Somit beruht die zweite Rüge auf einem falschen Verständnis des angefochtenen Urteils, insbesondere seiner Rn. 55 bis 69, und ist daher zurückzuweisen. Folglich ist der vierte Rechtsmittelgrund insgesamt zurückzuweisen.
Erster Rechtsmittelgrund: r echtsirrtümliche Entscheidung des Gerichts, dass die von der Kommission eingeholten mündlichen Erklärungen nicht hätten aufgezeichnet werden müssen, um als Indizien den streitigen Beschluss stützen zu können
Vorbringen der Parteien
47 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 7 der Charta sowie ein Verstoß gegen Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 gerügt werden, wenden sich die Rechtsmittelführerinnen insbesondere gegen die Rn. 183 bis 198 des angefochtenen Urteils.
48 Dieser Rechtsmittelgrund besteht aus zwei Teilen.
49 Mit dem ersten Teil machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe gegen das in Art. 7 der Charta verankerte Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen, indem es entschieden habe, dass einseitig von der Kommission erstellte Zusammenfassungen mündlicher Erklärungen einen gültigen Beweis für das Vorliegen von Indizien darstellten, die eine Nachprüfung rechtfertigten.
50 Sie weisen darauf hin, dass sich das Gericht, das mit einer Klage gegen einen Nachprüfungsbeschluss befasst sei, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs vergewissern müsse, dass dieser Beschluss nicht willkürlich sei, und insoweit zu überprüfen habe, ob er nicht ohne Vorliegen von Tatsachen, die eine Nachprüfung rechtfertigen könnten, erlassen worden sei. Die Rechtsprechung des EGMR verlange auch, dass die Kontrolle der Rechtfertigung einer Hausdurchsuchung besonders wirksam und konkret sein müsse, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Verwaltung allein über eine solche Maßnahme entscheiden könne. Im vorliegenden Fall habe das Gericht auf jede wirksame gerichtliche Kontrolle der Gefahr willkürlicher Eingriffe der Kommission verzichtet, indem es anerkannt habe, dass diese den Beleg für die ihr zur Verfügung stehenden Indizien selbst erstellen könne.
51 Nach Ansicht der Rechtsmittelführerinnen kann, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichts ergebe, nur eine Aufzeichnung – unabhängig von ihren Modalitäten – den Inhalt mündlicher Erklärungen und die Richtigkeit ihrer Wiedergabe belegen und somit die Merkmale aufweisen, die sie zu einem Beweis machen, über den das Gericht eine Kontrolle ausüben kann.
52 Die Verpflichtung zur Aufzeichnung der mündlichen Erklärungen könne nicht durch die vom Gericht vorgenommene Unterscheidung zwischen Indizien, die im Stadium eines Nachprüfungsbeschlusses erforderlich seien, und Beweisen für die Zuwiderhandlung, die für den Erlass einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße erforderlich seien, in Frage gestellt werden. Diese Unterscheidung, die das erforderliche Beweismaß betreffe, wirke sich nämlich nicht auf die Form aus, die eine Information aufweisen müsse, um wirksam berücksichtigt werden zu können, sei es als Indiz oder als Beweis für eine Zuwiderhandlung.
53 Mit seiner Entscheidung, dass der Nachprüfungsbeschluss auf der Grundlage bloßer Zusammenfassungen der Kommission gerechtfertigt werden könne, deren Inhalt durch keinen Dritten bestätigt werde, habe das Gericht der Kommission die Möglichkeit eröffnet, den Beleg für ihre Behauptungen selbst zu erstellen. Damit habe das Gericht auf jede wirksame Kontrolle verzichtet und der Rechtsprechung, nach der die Kommission erst dann in die Sphäre der privaten Betätigung eingreifen dürfe, wenn hinreichend ernsthafte Indizien zusammengetragen worden seien, die praktische Wirksamkeit genommen.
54 Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe gegen Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 verstoßen, indem es entschieden habe, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, die mündlichen Erklärungen der Lieferanten aufzuzeichnen.
55 Die Rechtsmittelführerinnen weisen zunächst darauf hin, dass die Kommission selbst nie bestritten habe, nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 verpflichtet zu sein, die in Rede stehenden mündlichen Erklärungen aufzuzeichnen. Sie habe vor dem Gericht sogar geltend gemacht, dass die Zusammenfassungen, die sie ihm vorgelegt habe, mit diesen Bestimmungen im Einklang stehende Aufzeichnungen seien. Nach dem Grundsatz, dass niemand bestreiten könne, was er zuvor anerkannt habe, sei die Kommission nicht befugt, nunmehr vor dem Gerichtshof die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen in Frage zu stellen.
56 Dies vorausgeschickt, machen die Rechtsmittelführerinnen als Erstes geltend, dass die vom Gericht in Rn. 187 des angefochtenen Urteils angeführte Rechtsprechung, die den für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer des Verwaltungsverfahrens maßgeblichen Beginn betreffe, keinen Hinweis auf den Beginn einer Untersuchung im Sinne von Kapitel V der Verordnung Nr. 1/2003 enthalte.
57 Als Zweites tragen die Rechtsmittelführerinnen erstens vor, ihr Vorbringen werde durch die vom Gericht in Rn. 188 des angefochtenen Urteils angeführte Zulässigkeit einer schriftlichen Anzeige durch eine Person, die kein berechtigtes Interesse nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 nachgewiesen habe, nicht in Frage gestellt. Sofern eine solche Anzeige schriftlich erfolge, sei ihr Beweiswert als Indiz nämlich unbestreitbar.
58 Zweitens sehe die Kronzeugenregelung von 2006 vor, dass die Aufzeichnungspflicht nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 mit den ersten von der Kommission eingeholten mündlichen Erklärungen beginne. Im vorliegenden Fall habe die Kommission die Erklärungen der Lieferanten aber im gleichen Stadium des Verfahrens eingeholt wie eine Kronzeugenerklärung. In beiden Fällen handele es sich um die ersten von der Kommission eingeholten Informationen, auf deren Grundlage sie u. a. habe beschließen können, Nachprüfungen anzuordnen. Folglich hätten die Erklärungen der Lieferanten ebenso aufgezeichnet werden müssen wie Erklärungen eines Kronzeugen.
59 Drittens komme dem internen Verfahrenshandbuch der Kommission für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV vom 12. März 2012, auf das sich das Gericht in Rn. 194 des angefochtenen Urteils stütze, keinerlei rechtsverbindliche Wirkung zu.
60 Viertens würden die Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Intel Corporation/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2016:788) die im angefochtenen Urteil vorgenommene Würdigung nicht stützen.
61 Als Drittes machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, dass die Erwägungen in den Rn. 197 und 202 des angefochtenen Urteils zur Wirksamkeit der Ausübung der Untersuchungsbefugnisse der Kommission ins Leere gingen und die vom Gericht vorgenommene Würdigung rechtlich nicht rechtfertigen könnten.
62 Insoweit machen die Rechtsmittelführerinnen insbesondere geltend, dass die Erstellung eines Protokolls, in dem die von der Kommission eingeholten Erklärungen aufgezeichnet würden, ebenso wenig von der Anzeige von Zuwiderhandlungen abschrecke wie eine von der Kommission einseitig erstellte Zusammenfassung. Sicherlich könnten die Befragten ihre Anonymität wahren wollen. Der Schutz dieser Anonymität werde jedoch durch die Erstellung vertraulicher Fassungen gewährleistet. Außerdem stehe es der Kommission frei, sofort eine Audio- oder audiovisuelle Aufzeichnung vorzunehmen.
63 Als Viertes machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, dass die Befragungen der Lieferanten offenkundig im Rahmen einer Untersuchung stattgefunden hätten.
64 Der „informelle“ Charakter dieser Untersuchung sei unerheblich. Der Gerichtshof habe nämlich die Möglichkeit, dass die Kommission „informelle“ Gespräche führe, mit denen sie sich ihren durch die Verordnung Nr. 1/2003 und die Verordnung Nr. 773/2004 auferlegten verfahrensrechtlichen Verpflichtungen entziehen könne, kategorisch abgelehnt (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 88).
65 Schließlich betonen die Rechtsmittelführerinnen, dass die Erklärungen der Lieferanten mangels Aufzeichnung keinen Beweiswert hätten.
66 Die Zusammenfassungen dieser Erklärungen könnten daher nicht als hinreichend ernsthafte Indizien eingestuft werden.
67 Folglich sind die Rechtsmittelführerinnen der Ansicht, dass das Gericht Rechtsfehler begangen habe, als es festgestellt habe, dass die von der Kommission geführten Gespräche mit Lieferanten nicht unter Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 fielen.
68 Darüber hinaus machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, dass der Gerichtshof, sollte er sich wider Erwarten nicht sicher sein, dass das aus rechtlichen Gründen vorliegende Fehlen des Beweiswerts der internen Zusammenfassungen ausreiche, um die streitige Entscheidung vollständig für nichtig zu erklären, die Sache zur erneuten Prüfung des Sachverhalts unter Außerachtlassung der nicht beweiskräftigen Zusammenfassungen an das Gericht zurückverweisen sollte.
69 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
70 Sie weist zunächst darauf hin, dass sich die Einleitung der Untersuchung sowohl von der Anlegung einer Akte als auch von der Einleitung eines Verfahrens im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 unterscheide. Die Einleitung der Untersuchung finde statt, sobald die Kommission erstmals von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch mache und Maßnahmen ergreife, die den Vorwurf der Begehung einer Zuwiderhandlung beinhalteten und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Entitäten hätten. Die Anlegung der Akte sei eine interne Handlung der Geschäftsstelle der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission, wenn sie ein Aktenzeichen vergebe, und solle lediglich die Aufbewahrung von Unterlagen ermöglichen. Die Einleitung des Verfahrens entspreche dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission nach Art. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 beschließe, ein Verfahren zum Erlass eines Beschlusses gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 einzuleiten.
71 Dies vorausgeschickt, macht die Kommission als Erstes geltend, die Behauptung der Rechtsmittelführerinnen, wonach das Gericht daran gehindert würde, seine gerichtliche Kontrolle über die Verhältnismäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit einer Nachprüfung auszuüben, wenn es der Kommission gestattet wäre, einseitig Zusammenfassungen mündlicher Erklärungen zu erstellen, werde durch die im vorliegenden Fall vom Gericht vorgenommene Kontrolle der Indizien widerlegt, die zur teilweisen Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses geführt habe. Außerdem hätte das Gericht selbst dann, wenn eine mündliche Aussage nicht aufgezeichnet worden sei, gemäß Art. 94 seiner Verfahrensordnung die Möglichkeit, Zeugen zu vernehmen.
72 Die Anwendung der in den Verordnungen Nrn. 1/2003 und 773/2004 vorgesehenen Förmlichkeit vor der Einleitung der Untersuchung beeinträchtige die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts durch die Kommission, indem sie diese daran hindere, in mündlicher Form erhaltene Indizien zu sammeln und zu verwenden. Zudem liefe dies auf die Annahme hinaus, dass Indizien niemals nur in mündlicher Form vorliegen dürften, was den Zeitpunkt der Nachprüfung verzögern und dadurch die Wirksamkeit der Untersuchungen der Kommission beeinträchtigen würde.
73 Darüber hinaus sei erstens die von den Rechtsmittelführerinnen angeführte Rechtsprechung nicht einschlägig, weil sie die Verwendung mündlicher Erklärungen als Beweise und nicht als Indizien betreffe.
74 Zweitens habe der Gerichtshof in den Rn. 99 bis 101 des Urteils vom 6. September 2017, Intel/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2017:632), festgestellt, dass im Fall fehlender Aufzeichnung ein von der Kommission erstellter interner Aktenvermerk den Inhalt der Erörterungen, die hätten aufgezeichnet werden müssen, belegen könne und es dem Gerichtshof ermögliche, eine wirksame gerichtliche Kontrolle auszuüben.
75 Drittens unterlägen Indizien einem geringeren Grad der Förmlichkeit als Beweise. Die Einleitung einer Untersuchung stelle nämlich den Beginn des Verwaltungsverfahrens dar und entspreche dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission erstmals von ihren Untersuchungsbefugnissen Gebrauch mache. Wie die Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 1/2003 bestätigten, stelle Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung eine Rechtsgrundlage dar, die die Aufzeichnung mündlicher Erklärungen „im Rahmen einer Untersuchung“ gestatte, um sie nicht als bloße Indizien, sondern als „Beweismittel“ vorzulegen.
76 Als Zweites macht die Kommission geltend, sie habe vor Erlass der streitigen Entscheidung noch keine Untersuchung eingeleitet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stelle die Einleitung einer Untersuchung den Beginn des Verwaltungsverfahrens dar und entspreche dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission erstmals von ihren Untersuchungsbefugnissen Gebrauch mache.
77 Dem fügt die Kommission erstens hinzu, ihr Vorbringen vor dem Gericht, dass es sich bei den Zusammenfassungen der Befragungen der Lieferanten um Aufzeichnungen im Sinne von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 gehandelt habe, sei ohne Bedeutung, weil sich das Gericht zu diesem Vorbringen nicht geäußert habe. Zweitens spreche der Umstand, dass eine Anzeige im Rahmen einer Beschwerde, die die Förmlichkeit von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht beachte, ein wirksames Indiz sein könne, für die Unanwendbarkeit der Aufzeichnungspflicht im vorliegenden Fall. Dies bestätige nämlich, dass ein materieller Anhaltspunkt auch dann ein Indiz sein könne, wenn er bestimmte Formalien nicht beachte.
78 Drittens sei es unerheblich, dass die Kommission in ihrer Kronzeugenregelung von 2006 vorgesehen habe, mündliche Anträge auf Kronzeugenbehandlung, die vor der ersten Ausübung ihrer Untersuchungsbefugnisse gestellt worden seien, gemäß Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 aufzuzeichnen.
79 Viertens sei die vom Gericht getroffene Unterscheidung zwischen der Phase vor der ersten Ausübung der Untersuchungsbefugnisse der Kommission und der Phase nach dieser Ausübung nicht mit der Unterscheidung zwischen förmlichen Befragungen und informellen Gesprächen vergleichbar, die der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission (C‑413/14 P, EU:C:2017:632), zurückgewiesen habe.
80 Als Drittes weist die Kommission darauf hin, dass das Gericht, wenn auch nur ergänzend, in Rn. 197 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die Aufdeckung von rechtswidrigen Praktiken durch die Kommission und die Ausübung ihrer Ermittlungsbefugnisse stark beeinträchtigt würden, wenn die Kommission verpflichtet wäre, jede mündliche Erklärung vor der Einleitung einer Untersuchung aufzuzeichnen.
Würdigung durch den Gerichtshof
81 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund werfen die Rechtsmittelführerinnen dem Gericht im Wesentlichen vor, in Rn. 186 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen zu haben, indem es festgestellt habe, dass die Kommission die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Befragungen nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht zu beachten brauche, solange sie eine Untersuchung noch nicht formell eingeleitet und von ihren Untersuchungsbefugnissen, die ihr insbesondere durch die Art. 18 bis 20 der Verordnung Nr. 1/2003 übertragen worden seien, noch keinen Gebrauch gemacht habe.
82 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 1. August 2022, HOLD Alapkezelő, C‑352/20, EU:C:2022:606, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Als Erstes ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 selbst, dass diese Bestimmung auf jedes Gespräch anwendbar sein soll, das die Einholung von Informationen zum Gegenstand einer Untersuchung bezweckt (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 84).
84 Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, der Befragungen auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 der Einhaltung bestimmter Formalien unterwirft, enthält keine Klarstellung zum Anwendungsbereich der letztgenannten Bestimmung.
85 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass für die Kommission nach Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 eine Pflicht besteht, jede Befragung, die sie nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 durchführt, um Informationen einzuholen, die sich auf den Gegenstand ihrer Untersuchung beziehen, in der von ihr gewählten Form aufzuzeichnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 90 und 91).
86 Es ist daher klarzustellen, dass nach dem Gegenstand der von der Kommission geführten Gespräche zu unterscheiden ist, weil nur diejenigen Gespräche, die auf die Einholung von Informationen über den Gegenstand einer Untersuchung der Kommission gerichtet sind, in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 fallen und damit der Aufzeichnungspflicht unterliegen.
87 Dies vorausgeschickt, lässt sich dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 oder von Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass die Anwendung dieser Aufzeichnungspflicht davon abhängt, ob das von der Kommission geführte Gespräch vor der formellen Einleitung einer Untersuchung stattgefunden hat, um Indizien für eine Zuwiderhandlung einzuholen, oder danach, um Beweise für eine Zuwiderhandlung einzuholen.
88 Diese Bestimmungen sehen nämlich keineswegs vor, dass die Anwendung der Aufzeichnungspflicht davon abhängt, ob die Informationen, die Gegenstand der Aufzeichnung sind, als Indizien oder als Beweise eingestuft werden können. Vielmehr ist aufgrund des allgemeinen Charakters des Begriffs „Information“ in Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 davon auszugehen, dass diese Bestimmung unterschiedslos für jede dieser Kategorien gilt.
89 Zwar dürfen die Begriffe „Indizien“ und „Beweise“ nicht verwechselt werden, weil ein Indiz seiner Natur nach und im Unterschied zu einem Beweis nicht ausreichen kann, um eine bestimmte Tatsache zu beweisen.
90 Gleichwohl hängt die Einstufung als Indiz oder als Beweis nicht von einem bestimmten Abschnitt des Verfahrens ab, sondern vom Beweiswert der betreffenden Informationen, wobei auch hinreichend ernsthafte und übereinstimmende Indizien, die zusammen ein „Bündel“ bilden, eine Zuwiderhandlung beweisen und in der auf der Grundlage von Art. 101 AEUV erlassenen Endentscheidung der Kommission verwendet werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, EU:C:2010:389, Rn. 47).
91 Daher kann die Pflicht zur Aufzeichnung der Befragungen, wie der Generalanwalt in Nr. 141 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, nicht von der Einstufung der erlangten Informationen als Indizien oder Beweise abhängen, weil die Kommission den Beweiswert dieser Informationen erst nach Durchführung dieser Befragungen im Verlauf der folgenden Verfahrensabschnitte beurteilen kann.
92 Zudem sehen Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 auch nicht vor, dass die Anwendung der Aufzeichnungspflicht von dem Stadium des Verfahrens abhängt, in dem die Befragungen durchgeführt werden. Zwar sieht Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vor, dass es sich bei den auf diese Bestimmung gestützten Befragungen um solche handelt, die zum Zweck der Einholung von Informationen geführt werden, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung beziehen, was eine bereits laufende Untersuchung voraussetzt. Dagegen geht aus dieser Bestimmung nicht hervor, dass diese Befragungen nach der formellen Einleitung einer Untersuchung stattfinden müssen, die nach der Definition des Gerichts in Rn. 186 des angefochtenen Urteils zu dem Zeitpunkt stattfindet, zu dem die Kommission eine Maßnahme erlässt, die mit dem Vorwurf verbunden ist, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben.
93 Als Zweites ist zum Kontext von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zum einen festzustellen, dass dieser Artikel zu Kapitel V dieser Verordnung gehört, das die Ermittlungsbefugnisse der Kommission betrifft. Die Anwendung der Bestimmungen dieses Kapitels ist jedoch nicht notwendigerweise davon abhängig, dass dieses Organ eine Maßnahme erlässt, die mit dem Vorwurf verbunden ist, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben.
94 So kann die Kommission nach Art. 17 dieser Verordnung sektorbezogene Untersuchungen durchführen, die nicht voraussetzen, dass zuvor Maßnahmen dieser Art gegen Unternehmen ergriffen werden.
95 Zum anderen ist festzustellen, dass Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, wonach „[d]ie Kommission … von ihren Untersuchungsbefugnissen gemäß Kapitel V der Verordnung … Nr. 1/2003 Gebrauch machen [kann], bevor sie ein Verfahren einleitet“, die Auslegung stützt, dass die in diesem Kapitel aufgeführten Bestimmungen über die Ermittlungsbefugnisse der Kommission – einschließlich Art. 19 – entgegen dem, was sich aus Rn. 193 des angefochtenen Urteils ergibt, Anwendung finden können, bevor eine Untersuchung formell eingeleitet wurde.
96 Zwar trifft es zu, dass der Gerichtshof in den Rechtssachen, in denen die in Rn. 187 des angefochtenen Urteils angeführten Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 182), und vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission (C‑105/04 P, EU:C:2006:592, Rn. 38), ergangen sind, als Beginn der von der Kommission im Bereich des Wettbewerbs durchgeführten Voruntersuchung den Zeitpunkt bestimmt hat, zu dem dieses Organ in Ausübung der ihm vom Unionsgesetzgeber übertragenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Unternehmen haben.
97 Die diesen Urteilen zugrunde liegenden Rechtssachen betrafen jedoch die Bestimmung des Beginns des Verwaltungsverfahrens, um zu überprüfen, ob die Kommission den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer beachtet hatte. Hierzu war es erforderlich, zu prüfen, ob dieses Organ ab dem Zeitpunkt, zu dem es das Unternehmen, das einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union verdächtig ist, über das Bestehen einer Untersuchung informiert hat, sorgfältig gehandelt hat.
98 Dagegen kann dieser Zeitpunkt nicht herangezogen werden, um zu bestimmen, ab wann die Kommission die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Befragungen nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 zu beachten hat. Wie der Generalanwalt in Nr. 150 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, kann ein Unternehmen nämlich von den Erklärungen Dritter, die bei solchen Befragungen eingeholt werden, betroffen sein, ohne davon Kenntnis zu haben. Daher liefe die Heranziehung dieses Zeitpunkts darauf hinaus, die Anwendung der Aufzeichnungspflicht und der damit verbundenen Verfahrensgarantien, die in diesen Bestimmungen zugunsten der befragten Dritten und des verdächtigten Unternehmens vorgesehen sind, aufzuschieben, bis die Kommission eine Maßnahme erlässt, mit der sie dieses Unternehmen darüber informiert, dass es unter Verdacht steht. Aufgrund dieses Aufschubs wären Befragungen Dritter, die vor einer solchen Maßnahme durchgeführt werden, vom Anwendungsbereich der Verpflichtung zur Aufzeichnung der Befragungen und der für sie geltenden Verfahrensgarantien ausgenommen.
99 Drittens schließlich geht in Bezug auf den Zweck der Verordnung Nr. 1/2003 aus dem 25. Erwägungsgrund dieser Verordnung hervor, dass die Aufdeckung von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln zunehmend schwieriger wird und dass Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 die Ermittlungsbefugnisse der Kommission dadurch ergänzen soll, dass er es dieser insbesondere ermöglicht, alle Personen, die eventuell über sachdienliche Informationen verfügen, zu befragen und deren Aussagen zu Protokoll zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 85). Der Ausdruck „Verstöße … aufdecken“ in diesem Erwägungsgrund stützt jedoch die Auslegung, dass auch die Gespräche, die die Kommission in einem vorläufigen Stadium durchführt, um Indizien einzuholen, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung beziehen, unter Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 fallen.
100 Darüber hinaus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kommission gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 die Möglichkeit hat, die Befragungen auf einen beliebigen Träger aufzuzeichnen. Die Kommission kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, durch eine Aufzeichnungspflicht daran gehindert zu werden, Indizien einzuholen und zu verwenden, wenn diese nur in mündlicher Form vorlägen, was die Effizienz der Untersuchungen durch eine Verzögerung des Zeitpunkts der Nachprüfung gefährde. Ebenso wenig kann die Kommission geltend machen, dass eine solche Verpflichtung abschreckende Wirkung habe, da sie die Möglichkeit hat, die Identität der befragten Personen zu schützen.
101 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es in Rn. 193 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass Gespräche, in deren Verlauf Indizien eingeholt worden seien, die später als Grundlage für einen Nachprüfungsbeschluss gegen ein Unternehmen gedient hätten, vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1/2003 mit der Begründung auszuschließen seien, dass damit noch keine Untersuchung im Sinne von Kapitel V dieser Verordnung eingeleitet worden sei, weil die Kommission zu diesem Zeitpunkt keine Maßnahme getroffen habe, die gegenüber diesem Unternehmen den Vorwurf beinhalte, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben. Um festzustellen, ob diese Gespräche in diesen Anwendungsbereich fielen, hätte das Gericht unter Berücksichtigung des Inhalts und des Kontexts dieser Gespräche prüfen müssen, ob sie darauf abzielten, Informationen einzuholen, die sich auf den Gegenstand einer Untersuchung bezogen.
102 Im vorliegenden Fall ging das Gericht, wie sich aus Rn. 198 des angefochtenen Urteils ergibt, davon aus, dass die aus den Befragungen der Lieferanten hervorgegangenen Indizien insbesondere deshalb nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden könnten, sie seien wegen Nichtbeachtung der Aufzeichnungspflicht nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 mit einem Formfehler behaftet, weil diese Befragungen vor der Einleitung einer Untersuchung nach der Verordnung Nr. 1/2003 stattgefunden hätten und gegenüber den Rechtsmittelführerinnen und erst recht gegenüber den Lieferanten keinen Vorwurf enthielten, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben.
103 Wie der Generalanwalt in Nr. 155 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, genügt insoweit der Hinweis, dass die Kommission, wenn sie Befragungen durchführt, deren Gegenstand im Voraus festgelegt ist und als deren Ziel offen die Erlangung von Informationen über das Geschehen auf einem bestimmten Markt und das Verhalten der betreffenden Marktteilnehmer genannt wird, um etwaige wettbewerbswidrige Verhaltensweisen aufzudecken oder ihren Verdacht hinsichtlich solcher Verhaltensweisen zu bestärken, ihre Befugnis zur Einholung von Erklärungen gemäß Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 ausübt.
104 Folglich fielen die Befragungen der Lieferanten in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003, und die Kommission war gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 zur Aufzeichnung dieser Erklärungen verpflichtet.
105 Daraus folgt, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es in Rn. 198 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass die in Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 vorgesehene Aufzeichnungspflicht nicht für die Befragungen der Lieferanten gelte und dass die aus diesen Befragungen hervorgegangenen Indizien nicht mit einem Formfehler behaftet seien.
106 Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund begründet, so dass dem Rechtsmittel stattzugeben und Nr. 2 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben ist, ohne dass über die übrigen Rechtsmittelgründe entschieden zu werden braucht. Folglich ist auch Nr. 3 des Tenors des angefochtenen Urteils, die sich auf die Kosten bezieht, aufzuheben.
Zur Klage vor dem Gericht
107 Gemäß Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
108 Dies trifft im vorliegenden Fall zu.
109 Daher ist die von den Rechtsmittelführerinnen vor dem Gericht im Rahmen ihres auf eine Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gestützten Klagegrundes erhobene Rüge zu prüfen, mit der im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass die aus den Befragungen der Lieferanten hervorgegangen Indizien unberücksichtigt bleiben müssten, weil die Kommission Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 nicht beachtet habe.
110 Zur Stützung dieser Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, dass die Zusammenfassungen der Befragungen der Lieferanten keine mit diesen Bestimmungen im Einklang stehenden Aufzeichnungen gewesen seien, weil sie einseitig von der Kommission erstellt worden seien und es sich nicht um vollständige Aufzeichnungen dieser Befragungen gehandelt habe.
111 Die Kommission erwidert, sie sei ihrer Aufzeichnungspflicht nachgekommen, indem sie umfassende Zusammenfassungen erstellt habe, die den Inhalt der Erklärungen der Lieferanten getreu wiedergäben, und diese unter einem amtlichen Aktenzeichen zu den Akten genommen habe. Solche Zusammenfassungen seien eine der Formen der Aufzeichnung, die die Kommission nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 verwenden könne, ebenso wie Tonaufzeichnungen, audiovisuelle Aufzeichnungen oder wortgetreue Mitschriften.
112 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, der klarstellt, dass „[d]ie Kommission … die Aussagen des Befragten auf einen beliebigen Träger aufzeichnen [kann]“, bedeutet, dass die Kommission, wenn sie sich mit der Zustimmung des Befragten dafür entscheidet, eine Befragung auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vorzunehmen, verpflichtet ist, die Befragung in vollem Umfang aufzuzeichnen, unbeschadet der ihr überlassenen Wahl der Form dieser Aufzeichnung (Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 90).
113 Ferner geht aus Art. 3 Abs. 3 Sätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 773/2004 hervor, dass die Kommission dem Befragten eine Kopie der Aufzeichnung zur Genehmigung überlassen muss und erforderlichenfalls eine Frist setzt, innerhalb deren der Befragte seine Aussage berichtigen kann.
114 Im vorliegenden Fall hat die Kommission nicht behauptet, geschweige denn bewiesen, dass sie die von ihr verfassten Zusammenfassungen den Lieferanten zur Genehmigung vorgelegt hat.
115 Die der Kommission durch Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 auferlegte Verpflichtung, dem Befragten eine Kopie der Aufzeichnung zur Genehmigung zu überlassen, soll jedoch insbesondere die Authentizität der Erklärungen des Befragten sicherstellen, indem sie gewährleistet, dass diese Erklärungen tatsächlich dem Befragten zuzuordnen sind und dass ihr Inhalt diese Erklärungen wahrheitsgemäß und vollständig wiedergibt und nicht deren Auslegung durch die Kommission.
116 Daher ist ein Indiz, das aus einer von der Kommission eingeholten Erklärung abgeleitet wird, ohne dass dieses in Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 aufgestellte Erfordernis beachtet wird, als unzulässig anzusehen und folglich zurückzuweisen.
117 Somit erfüllen diese Zusammenfassungen, die rein interner Natur sind, nicht die Anforderungen von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004, der für Gespräche gilt, die in den Anwendungsbereich von Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 fallen.
118 Diese Feststellung kann durch die Rn. 65 bis 69 des Urteils vom 26. September 2018, Infineon Technologies/Kommission (C‑99/17 P, EU:C:2018:773), auf das sich die Kommission in der mündlichen Verhandlung berufen hat, nicht entkräftet werden.
119 Der Gerichtshof hat zwar entschieden, dass im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt, aus dem folgt, dass für die Beurteilung des Beweiswerts von ordnungsgemäß vorgelegten Beweisen allein deren Glaubhaftigkeit maßgeblich ist und dass der Beweiswert eines Beweises einer Gesamtwürdigung zu unterziehen ist, so dass bloße, nicht substantiierte Zweifel an der Authentizität eines Beweises nicht genügen, um dessen Glaubhaftigkeit zu beeinträchtigen (Urteil vom 26. September 2018, Infineon Technologies/Kommission, C‑99/17 P, EU:C:2018:773, Rn. 65 bis 69).
120 In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, handelte es sich jedoch bei dem Beweis, dessen Authentizität in Frage gestellt wurde, um eine interne E‑Mail eines Unternehmens und nicht um die Aufzeichnung einer von der Kommission unter Verstoß gegen Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 eingeholten Erklärung.
121 Somit kann sich die Kommission nicht auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung berufen, um sich den Formvorschriften für die Aufzeichnung von Erklärungen, die sie nach Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 einholt, zu entziehen. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Feststellung einer Unregelmäßigkeit bei der Erhebung von Indizien im Hinblick auf Art. 19 der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 dazu führt, dass es der Kommission nicht möglich ist, diese Indizien im weiteren Verlauf des Verfahrens zu verwenden (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Juni 2015, Deutsche Bahn u. a./Kommission, C‑583/13 P, EU:C:2015:404, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
122 Da im vorliegenden Fall, wie der Generalanwalt in Nr. 208 seiner Schlussanträge in der Rechtssache Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (C‑682/20 P, EU:C:2022:578) ausgeführt hat, die aus den Befragungen der Lieferanten hervorgegangenen Informationen den wesentlichen Teil der dem streitigen Beschluss zugrunde liegenden Indizien darstellen und dieser Beschluss aufgrund der Nichteinhaltung der Aufzeichnungspflicht nach Art. 3 der Verordnung Nr. 773/2004 mit einem Formfehler behaftet ist, ist festzustellen, dass die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Beschlusses nicht über hinreichend ernsthafte Anhaltspunkte verfügte, die sie hätte verwenden dürfen und die die in Art. 1 Buchst. a dieses Beschlusses aufgestellten Vermutungen hätten rechtfertigen können. Nach alledem ist dieser Beschluss insgesamt für nichtig zu erklären.
Kosten
123 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er selbst den Rechtsstreit endgültig entscheidet.
124 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Rechtsmittelführerinnen beantragt haben, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, und diese unterlegen ist, sind ihr neben ihren eigenen Kosten die den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels entstandenen Kosten aufzuerlegen. Da die streitige Entscheidung für nichtig erklärt wird, trägt die Kommission außerdem die gesamten Kosten, die den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des ersten Rechtszugs entstanden sind.
125 Nach Art. 184 Abs. 4 der Verfahrensordnung können einer erstinstanzlichen Streithilfepartei, wenn sie das Rechtsmittel nicht selbst eingelegt hat, im Rechtsmittelverfahren Kosten nur dann auferlegt werden, wenn sie am schriftlichen oder mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat. Nimmt eine solche Partei am Verfahren teil, so kann der Gerichtshof ihr ihre eigenen Kosten auferlegen. Da der Rat als Streithelfer im ersten Rechtszug am schriftlichen und am mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat, sind ihm seine eigenen durch das Rechtsmittelverfahren und das Verfahren im ersten Rechtszug entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Nr. 2 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 5. Oktober 2020, Casino, Guichard-Perrachon und AMC/Kommission (T ‑249/17, EU:T:2020:458 ), wird aufgehoben.
2. Nr. 3 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 5. Oktober 2020, Casino, Guichard-Perrachon und AMC/Kommission (T ‑249/17, EU:T:2020:458), wird aufgehoben, soweit damit über die Kosten entschieden worden ist.
3. Der Beschluss C(2017) 1054 final der Kommission vom 9. Februar 2017, mit dem Casino sowie allen unmittelbar oder mittelbar von ihr kontrollierten Gesellschaften aufgegeben wird, eine Nachprüfung gemäß Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zu dulden (Sache AT.40466 – Tute 1), wird für nichtig erklärt.
4. Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die der Casino, Guichard-Perrachon SA und der Achats Marchandises Casino SAS (AMC) durch das Verfahren im ersten Rechtszug und das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.
5. Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen durch das Verfahren im ersten Rechtszug und das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.
Unterschriften