C-671/21 – Gargždų geležinkelis

C-671/21 – Gargždų geležinkelis

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:221

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 16. März 2023(1)

Rechtssache C671/21

UAB „Gargždų geležinkelis“

Beteiligte:

Lietuvos transporto saugos administracija,

Lietuvos Respublikos ryšių reguliavimo tarnyba,

AB „LTG Infra“

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas [Oberstes Verwaltungsgericht Litauens])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eisenbahnverkehr – Richtlinie 2012/34/EU – Zuweisung von Fahrwegkapazität – Netzfahrplanerstellung – Art. 45 – Koordinierungsverfahren – Art. 46 – Überlastete Fahrwege – Vorrangkriterien – Art. 47 – Nationale Regelung, nach der die prognostizierte Intensität der Nutzung der Infrastruktur als Vorrangkriterium zu berücksichtigen ist – Gerechte und nichtdiskriminierende Zuweisung“

1.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen geht auf einen Rechtsstreit zurück, der die Auslegung verschiedener Bestimmungen der Richtlinie 2012/34/EU(2) im Verhältnis zu den nationalen Rechtsvorschriften betrifft, die die Zuweisung von Kapazität für die Nutzung der öffentlichen Eisenbahninfrastruktur regeln.

2.        Zusammenfassend geht es in dem Streit um: a) die Vorrangkriterien, die nach der litauischen Regelung auf Anträge von Unternehmen, die Eisenbahninfrastruktur nutzen möchten, insbesondere bei überlasteten Fahrwegen anzuwenden sind, und b) das vom Betreiber dieser Infrastruktur vorab durchzuführende Koordinierungsverfahren.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht. Richtlinie 2012/34

3.        Art. 39 („Zuweisung von Fahrwegkapazität“) bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können eine Rahmenregelung für die Zuweisung von Fahrwegkapazität schaffen, sofern dabei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 gewahrt wird. Es werden spezifische Regeln für die Zuweisung von Fahrwegkapazität aufgestellt. Der Infrastrukturbetreiber führt die Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität durch. Insbesondere gewährleistet der Infrastrukturbetreiber, dass die Fahrwegkapazität gerecht und nichtdiskriminierend unter Einhaltung des Unionsrechts zugewiesen wird.

…“

4.        In Art. 44 („Antragstellung“) heißt es:

„(1)      Die Antragsteller können bei dem Infrastrukturbetreiber auf öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Grundlage einen Antrag auf eine Vereinbarung zur Einräumung von Rechten zur … Fahrwegnutzung … stellen.

…“

5.        Art. 45 („Netzfahrplanerstellung“) bestimmt:

„(1)      Der Infrastrukturbetreiber bemüht sich, so weit wie möglich allen Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität, einschließlich Anträgen auf netzübergreifenden Zugtrassen, stattzugeben und allen Sachzwängen, denen die Antragsteller unterliegen, einschließlich der wirtschaftlichen Auswirkungen auf ihr Geschäft, so weit wie möglich Rechnung zu tragen.

(2)      Der Infrastrukturbetreiber darf lediglich in den in Artikel 47 und Artikel 49 geregelten Fällen speziellen Verkehrsarten im Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren Vorrang einräumen.

(3)      Der Infrastrukturbetreiber hört die Beteiligten zum Netzfahrplanentwurf und räumt ihnen zur Stellungnahme eine Frist von mindestens einem Monat ein. …

(4)      Der Infrastrukturbetreiber trifft geeignete Maßnahmen, um Beanstandungen Rechnung zu tragen.“

6.        Art. 46 („Koordinierungsverfahren“) sieht vor:

„(1)      Ergeben sich bei der Netzfahrplanerstellung gemäß Artikel 45 Unvereinbarkeiten zwischen verschiedenen Anträgen, so bemüht sich der Infrastrukturbetreiber durch Koordinierung der Anträge um eine bestmögliche Erfüllung aller Erfordernisse.

(2)      Ergibt sich eine Situation, in der eine Koordinierung erforderlich ist, so hat der Infrastrukturbetreiber das Recht, innerhalb vertretbarer Grenzen Fahrwegkapazität anzubieten, die von der beantragten Kapazität abweicht.

(3)      Der Infrastrukturbetreiber bemüht sich in Absprache mit den betreffenden Antragstellern um eine Lösung für Unvereinbarkeiten. Für die Zwecke der Absprache werden die folgenden Informationen innerhalb einer angemessenen Frist unentgeltlich und in schriftlicher oder elektronischer Form offengelegt:

(4)      Die Grundsätze des Koordinierungsverfahrens sind in die Schienennetz-Nutzungsbedingungen aufzunehmen. Sie tragen insbesondere der Schwierigkeit, grenzüberschreitende Zugtrassen zu vereinbaren, und den Auswirkungen etwaiger Änderungen auf andere Infrastrukturbetreiber Rechnung.

(5)      Kann Anträgen auf die Zuweisung von Fahrwegkapazität nicht ohne Koordinierung stattgegeben werden, so bemüht sich der Infrastrukturbetreiber, allen Anträgen im Rahmen der Koordinierung stattzugeben.

(6)      Unbeschadet der bestehenden Rechtsbehelfe und des Artikels 56 ist für Streitfälle in Bezug auf die Zuweisung von Fahrwegkapazität ein Streitbeilegungssystem einzurichten, damit derartige Streitigkeiten rasch beigelegt werden können. Dieses System wird in die Schienennetz-Nutzungsbedingungen aufgenommen. Gelangt dieses System zur Anwendung, ist innerhalb von zehn Arbeitstagen eine Entscheidung zu treffen.“

7.        In Art. 47 („Überlastete Fahrwege“) heißt es:

„(1)      In den Fällen, in denen Anträgen auf die Zuweisung von Fahrwegkapazität nach Koordinierung der beantragten Zugtrassen und nach Konsultation der Antragsteller nicht in angemessenem Umfang stattgegeben werden kann, hat der Infrastrukturbetreiber den betreffenden Fahrwegabschnitt unverzüglich für überlastet zu erklären. Dies geschieht auch bei Fahrwegen, bei denen abzusehen ist, dass ihre Kapazität in naher Zukunft nicht ausreichen wird.

(3)      Wurden Entgelte nach Artikel 31 Absatz 4 nicht erhoben oder haben sie zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt und wurde der Fahrweg für überlastet erklärt, so kann der Infrastrukturbetreiber bei der Zuweisung von Fahrwegkapazität zusätzlich Vorrangkriterien anwenden.

(4)      Die Vorrangkriterien haben dem gesellschaftlichen Nutzen eines Verkehrsdienstes gegenüber anderen Verkehrsdiensten, die hierdurch von der Fahrwegnutzung ausgeschlossen werden, Rechnung zu tragen.

Die Mitgliedstaaten können in diesem Rahmen zur Sicherstellung angemessener Verkehrsdienste, insbesondere um gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen gerecht zu werden oder um die Entwicklung des inländischen und grenzüberschreitenden Schienengüterverkehrs zu fördern, unter nichtdiskriminierenden Bedingungen die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass diese Dienste bei der Zuweisung von Fahrwegkapazität Vorrang erhalten.

(6)      Die in Bezug auf überlastete Fahrwege zu befolgenden Verfahren und anzuwendenden Kriterien sind in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen festzulegen.“

8.        Art. 52 („Nutzung von Zugtrassen“) bestimmt:

„(1)      Der Infrastrukturbetreiber legt in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen Bedingungen fest, anhand deren er dem Grad der bisherigen Inanspruchnahme von Zugtrassen bei der Festlegung von Rangfolgen im Zuweisungsverfahren Rechnung trägt.

(2)      Der Infrastrukturbetreiber hat insbesondere bei überlasteten Fahrwegen die Aufgabe von Zugtrassen zu verlangen, die in einem Zeitraum von mindestens einem Monat unterhalb eines in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen festzulegenden Schwellenwerts genutzt wurden, es sei denn, dass dies auf nichtwirtschaftliche Gründe zurückzuführen ist, die sich dem Einfluss des Antragstellers entziehen.“

B.      Litauisches Recht. Lietuvos Respublikos Vyriausybės 2004 m. gegužės 19 d. nutarimas Nr. 611 „Dėl viešosios geležinkelių infrastruktūros pajėgumų skyrimo taisyklių patvirtinimo“(3)

9.        In Nr. 28 heißt es:

„Wenn dies möglich ist, bietet der Betreiber öffentlicher Eisenbahninfrastruktur, um Anträge miteinander in Einklang zu bringen, die die Zuweisung derselben Kapazität betreffen, den Antragstellern … andere Kapazitäten als die von ihnen beantragten an. Lehnen die Antragsteller … die vom Betreiber der öffentlichen Eisenbahninfrastruktur vorgeschlagenen Ersatzkapazitäten ab oder stehen solche nicht zur Verfügung, so wendet der Betreiber der öffentlichen Eisenbahninfrastruktur die Vorrangregelung an, d. h., die betreffende Kapazität wird dem Antragsteller zugewiesen, der sie für die Erbringung von Personen- und Güterverkehrsdiensten auf grenzüberschreitenden Strecken nutzen wird; wird die Kapazität nicht für die Erbringung von Personen- und Güterverkehrsdiensten auf grenzüberschreitenden Strecken genutzt werden, so wird sie dem Antragsteller zugewiesen, der sie für die Erbringung von Personen- und Güterverkehrsdiensten auf örtlichen Strecken nutzen wird; wird die Kapazität weder für die Erbringung von Personen- und Güterverkehrsdiensten auf grenzüberschreitenden noch auf örtlichen Strecken genutzt werden, so wird sie dem Antragsteller … zugewiesen, der … sie an mehr Tagen nutzen wird; ist eine Nutzung für dieselbe Anzahl von Tagen beabsichtigt, so wird die Kapazität dem Antragsteller … zugewiesen, der … die Zuweisung von mehr Fahrten auf der betreffenden Strecke beantragt hat.“

II.    Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10.      Am 3. April 2019 beantragte die Gargždų geležinkelis UAB (im Folgenden: Gargždų geležinkelis) die Zuweisung von Eisenbahninfrastrukturkapazität für Güterzüge für den Zeitraum 2019/2020.

11.      Am 3. Mai 2019 leitete die Lietuvos transporto saugos administracija (litauische Verkehrssicherheitsbehörde) diesen Antrag zur Prüfung an den Betreiber der öffentlichen Infrastruktur(4) weiter.

12.      Am 10. Juli 2019 übermittelte der Infrastrukturbetreiber der Verkehrssicherheitsbehörde den Netzfahrplanentwurf. Er teilte ihr außerdem mit, dass es nicht möglich sei, alle von den Antragstellern (einschließlich Gargždų geležinkelis) beantragten Fahrwegkapazitäten in den Netzfahrplanentwurf aufzunehmen, da die Kapazität bestimmter Teile der Eisenbahninfrastruktur begrenzt sei und einige dieser Anträge nicht miteinander vereinbar seien.

13.      Am 17. Juli 2019 machte Gargždų geležinkelis vor dem Infrastrukturbetreiber und der Verkehrssicherheitsbehörde geltend, dass die mögliche Sättigung der Infrastruktur künstlich sei, da der Netzfahrplan Anträge verschiedener Antragsteller für die Beförderung derselben Güter enthalte.

14.      Am 3. August 2019 informierte der Infrastrukturbetreiber Gargždų geležinkelis darüber, dass aufgrund von Differenzen in Bezug auf die Zuweisung ein und derselben Kapazität auf einem Abschnitt der öffentlichen Eisenbahninfrastruktur ein Koordinierungsverfahren eingeleitet worden sei. Er wies darauf hin, dass die Anträge auf Zuweisung von Kapazität keine Angaben zu den Gütern enthielten, die befördert werden sollten.

15.      Am 23. September 2019 teilte der Infrastrukturbetreiber Gargždų geležinkelis mit, die Erklärung, dass ein Abschnitt der öffentlichen Eisenbahninfrastruktur überlastet sei, beruhe auf der tatsächlichen Kapazität dieses Abschnitts, die sich aus der Analyse der Anträge auf Zuweisung von Fahrwegkapazität für die betreffende Netzfahrplanperiode ergebe. Da einer der Antragsteller die Teilnahme am Koordinierungsverfahren abgelehnt habe, könne der Infrastrukturbetreiber keine anderen als die beantragten Fahrwegkapazitäten anbieten.

16.      Am 24. September 2019 teilte der Infrastrukturbetreiber der Verkehrssicherheitsbehörde mit, dass er vom 27. August 2019 bis zum 23. September 2019 ein Koordinierungsverfahren durchgeführt habe, an dessen Ende er nicht allen Anträgen habe stattgeben können. Dementsprechend habe er für die Netzfahrplanperiode 2019 erklärt, dass die öffentliche Eisenbahninfrastruktur auf den angegebenen Abschnitten überlastet sei.

17.      Am 30. September 2019 beantragte Gargždų geležinkelis bei der Verkehrssicherheitsbehörde eine Überprüfung des Vorgehens des Infrastrukturbetreibers.

18.      Am 15. Oktober 2019 kam die Verkehrssicherheitsbehörde zu dem Ergebnis, dass der Infrastrukturbetreiber bei der Prüfung und Koordinierung der Anträge im Einklang mit den zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtsvorschriften gehandelt und weder die Rechte von Gargždų geležinkelis verletzt noch ihre berechtigten Interessen beeinträchtigt habe.

19.      Am 17. Oktober 2019 entschied der Direktor der Verkehrssicherheitsbehörde, Gargždų geležinkelis die beantragten Kapazitäten nicht zuzuweisen, da sie gemäß der Vorrangregelung in Nr. 28 der Zuweisungsregeln bereits anderen Unternehmen zugewiesen worden seien. Er wies zudem darauf hin, dass es nicht möglich gewesen sei, Ersatzkapazitäten anzubieten, weil der betreffende Teil der öffentlichen Eisenbahninfrastruktur überlastet sei.

20.      Am 12. November 2019 legte Gargždų geležinkelis beim Direktor der Regulierungsbehörde eine Beschwerde gegen diese Entscheidung ein, die mit Entscheidung vom 13. Februar 2020 zurückgewiesen wurde.

21.      Gegen diese Entscheidung erhob Gargždų geležinkelis Klage beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen), die mit Urteil vom 22. Oktober 2020 abgewiesen wurde.

22.      Gegen das Urteil vom 22. Oktober 2020 legte Gargždų geležinkelis ein Rechtsmittel beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) ein.

23.      Dieses Gericht hat zum einen Zweifel hinsichtlich der nationalen Rechtsvorschriften über die Zuweisung von Fahrwegkapazität. Insbesondere fragt es sich, ob die Vorrangregelung in Nr. 28 der Zuweisungsregeln im Hinblick auf das dritte und das vierte Vorrangkriterium mit der Richtlinie 2012/34 vereinbar sei.

24.      Nach dieser Regelung sei ein Vorrangkriterium für die Zuweisung von Fahrwegkapazität die Intensität der Nutzung des Netzes, ein Faktor, der gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen könne, da er dem etablierten Betreiber einen ungerechtfertigten Vorteil verschaffe. So sei es im Urteil des Gerichtshofs vom 28. Februar 2013(5) auf der Grundlage der Richtlinie 2001/14/EG(6) festgestellt worden, die durch die Richtlinie 2012/34 aufgehoben und ersetzt worden sei.

25.      Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Anwendung der Vorrangkriterien voraussetze, dass die Infrastruktur für überlastet erklärt worden sei, oder ob der Infrastrukturbetreiber, wie man aus Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2012/34 ableiten könne, diese Kriterien auch im Rahmen des Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahrens heranziehen könne.

26.      Vor diesem Hintergrund legt der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vor:

Ist Art. 47 Abs. 4 Sätze 1 und 2 der Richtlinie 2012/34 dahin auszulegen, dass er eindeutig die Schaffung einer nationalen rechtlichen Regelung verbietet, die vorsieht, dass im Fall von überlasteten Fahrwegen bei der Zuweisung von Fahrwegkapazität die Intensität der Nutzung der Eisenbahninfrastruktur berücksichtigt werden kann? Ist es für diese Beurteilung von Bedeutung, ob der Nutzungsgrad der Eisenbahninfrastruktur an die tatsächliche Nutzung dieser Infrastruktur in der Vergangenheit oder an die geplante Nutzung während der Gültigkeitsdauer des betreffenden Fahrplans geknüpft ist? Sind die Bestimmungen der Art. 45 und 46 der Richtlinie 2012/34, die dem Betreiber der öffentlichen Infrastruktur oder der Stelle, die über die Fahrwegkapazität entscheidet, ein weites Ermessen bei der Koordinierung der beantragten Fahrwegkapazität einräumen, und die Umsetzung dieser Bestimmungen in nationales Recht für diese Beurteilung von Bedeutung? Ist der Umstand, dass Fahrwege in einem bestimmten Fall aufgrund der von zwei oder mehr Eisenbahnunternehmen für die Beförderung derselben Fracht beantragten Fahrwegkapazität als überlastet eingestuft werden, für diese Beurteilung von Bedeutung?

Ist Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2012/34 … dahin auszulegen, dass der Infrastrukturbetreiber eine nationale Vorrangregel auch in Fällen anwenden kann, in denen Fahrwege nicht als überlastet eingestuft werden? Inwieweit (anhand welcher Kriterien) muss der Infrastrukturbetreiber, bevor er Fahrwege als überlastet einstuft, auf der Grundlage von Art. 47 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2012/34 die beantragten Zugtrassen koordinieren und die Antragsteller konsultieren? Hat diese Konsultation der Antragsteller die Beurteilung der Frage zu umfassen, ob zwei oder mehr Antragsteller konkurrierende Anträge auf Beförderung derselben Fracht (Güter) gestellt haben?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

27.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 9. November 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

28.      Gargždų geležinkelis, die litauische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

29.      Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist nicht als erforderlich angesehen worden.

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkungen

30.      Zum besseren Verständnis des Rechtsstreits sind zusammenzufassend die Regeln darzustellen, die für das Vorgehen des Infrastrukturbetreibers bei der Zuweisung von Fahrwegkapazität gelten(7).

31.      Die Richtlinie 2012/34 enthält Vorschriften zum einen über den Betrieb der Eisenbahninfrastruktur und zum anderen über die Tätigkeit der Eisenbahnunternehmen. Zu den letztgenannten Vorschriften gehören die Regelungen über den Erhalt von Genehmigungen und die Zuweisung von Fahrwegkapazität an diese Unternehmen, die für ihre Nutzung Entgelte entrichten müssen.

32.      Eisenbahninfrastrukturen verfügen logischerweise über eine beschränkte Kapazität(8), da sie ein „natürliches Monopol“(9) darstellen, und es wäre sinnlos, sie auszuweiten. In der Richtlinie 2012/34 werden die Elemente, die sie bilden, nicht definiert, sondern beschrieben und in ihrem Anhang I einzeln aufgeführt(10). Der Begriff des Netzes knüpft an diese Infrastrukturen an: Das Eisenbahnnetz ist „die gesamte Eisenbahninfrastruktur, [die] von einem Infrastrukturbetreiber verwaltet wird“(11).

33.      Die Eisenbahninfrastruktur (die mit dem Begriff der Zugtrasse verbunden ist)(12) wird von ihrem Betreiber verwaltet, der für ihren Betrieb, ihren Unterhalt und ihre Erneuerung verantwortlich ist. Wer zuvor eine Genehmigung erhalten hat, die ihn als Eisenbahnunternehmen qualifiziert, muss bei ihm die Anerkennung des Rechts auf Nutzung einer bestimmten Kapazität dieser Infrastruktur beantragen.

34.      Dem Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazitäten gehen die sogenannten „Schienennetz-Nutzungsbedingungen“ voraus, in denen der Infrastrukturbetreiber die allgemeinen Regeln, die Fristen, die Verfahren und die Kriterien für die Zuweisung detailliert darlegt. Die Richtlinie 2012/34 überlässt dem Betreiber die Konkretisierung eines breiten Spektrums diesbezüglicher Einzelheiten(13).

35.      Das Grundprinzip besteht darin, dass der Infrastrukturbetreiber so weit wie möglich sämtlichen Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität stattgibt. Sollte dies nicht durchführbar sein, wendet er andere Zuweisungskriterien an(14). Darüber hinaus muss er den Netzfahrplanentwurf ausarbeiten und ihn den Beteiligten mitteilen, damit sie Stellung nehmen können.

36.      Die Gesamtheit der Entscheidungen(15) über die Zuweisung von Fahrwegkapazität ermöglicht es, durch Planung der Zugbewegungen und der Bewegungen der Fahrzeuge, die während der Gültigkeitsdauer des Netzfahrplans auf dem Schienennetz durchgeführt werden, den Netzfahrplan fertigzustellen. Anhang VII Nr. 2 der Richtlinie 2012/34 regelt die Möglichkeit von Netzfahrplanwechseln oder Netzfahrplananpassungen, was eine Vorstellung von ihrer Flexibilität und Fähigkeit zur Anpassung an wechselnde Umstände vermittelt.

37.      Der Infrastrukturbetreiber agiert im Rahmen einer Realität, die nur (räumlich und zeitlich) eingeschränkte Möglichkeiten bietet, den Anträgen der antragstellenden Unternehmen stattzugeben. Da die Strecken auf die verlegten Gleise beschränkt sind und von der Leistungsfähigkeit der Serviceeinrichtungen abhängen, muss der Betreiber zwangsläufig die Erbringung des Verkehrsdienstes durch sämtliche Eisenbahnunternehmen koordinieren.

38.      Tatsächlich ist die Freiheit der Eisenbahnverkehrsunternehmen, der Allgemeinheit die von ihnen vorgezogenen Strecken und die für sie günstigsten Fahrzeiten der Züge anzubieten, damit vereinbar, dass diese Angebote von den Koordinierungsentscheidungen des Infrastrukturbetreibers abhängen. Es ist demnach Letzterer, der die sogenannten „Bedingungen“ für die Dienstleistung letztendlich „festlegt“ (auch wenn er den Anträgen der Unternehmen stattgibt).

39.      Die Richtlinie 2012/34 regelt zahlreiche Fälle, in denen dem Infrastrukturbetreiber Befugnisse zugewiesen werden, die diese Bedingungen betreffen. Die Begriffsbestimmungen in Art. 3 bezüglich der Begriffe „Alternativstrecke“, „tragfähige Alternative“ oder „überlastete Fahrwege“ spiegeln sich später in der Regelung wider, nach der der Infrastrukturbetreiber in die Festlegung der Bedingungen für die Nutzung des Eisenbahnnetzes eingreifen kann – und muss –, gleichgültig, ob es sich um die „Transportkapazitäten“, die „Strecken“ selbst oder die „Fahrpläne“ handelt, um Überschneidungen oder Überlastungen zu vermeiden(16).

40.      Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen, die der Infrastrukturbetreiber veröffentlichen muss, ermöglichen es ihm ebenfalls, Aspekte abzuändern, die nicht von vornherein festgelegt werden können. Er kann darüber hinaus Kapazitäten zuweisen, die von den beantragten Kapazitäten abweichen. Daran wird deutlich, dass der Entscheidungsspielraum der Unternehmen, die Eisenbahnverkehrsdienste erbringen, den Zwängen begrenzter Möglichkeiten unterliegt, die der Knappheit an verfügbaren Ressourcen, die der Betreiber der Infrastrukturen verwalten muss, inhärent sind.

41.      Schlussendlich hat die Notwendigkeit, beschränkte Eisenbahnressourcen zu verwalten und zu verteilen, zur Folge, dass der Infrastrukturbetreiber befugt sein muss, den Unternehmen, die sie nutzen, Bedingungen für die Erbringung ihrer Dienste betreffend die Transportkapazitäten, die Festlegung der Strecken und die Fahrpläne aufzuerlegen.

42.      Der Infrastrukturbetreiber spielt eine zentrale Rolle als Verantwortlicher für den Betrieb, den Unterhalt und die Erneuerung des physischen Netzes, das den Eisenbahnverkehr ermöglicht. Gemäß Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 obliegt es ihm, zu gewährleisten, „dass die Fahrwegkapazität gerecht und nichtdiskriminierend … zugewiesen wird“.

43.      Ihm stehen die Eisenbahnunternehmen gegenüber, die eine Genehmigung(17) für die Tätigkeit in diesem Bereich erhalten haben und die beim Infrastrukturbetreiber das Recht zur Nutzung einer bestimmten Fahrwegkapazität für die Erbringung ihrer Verkehrsdienstleistungen beantragen müssen(18).

44.      Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34 verpflichtet die Infrastrukturbetreiber, für alle Eisenbahnunternehmen auf nichtdiskriminierende Weise die Leistungen des Mindestzugangspakets gemäß Anhang II Nr. 1 zu erbringen.

45.      Mit dem in der Richtlinie 2012/34 vorgesehenen Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität soll im Einklang mit dem Mandat in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie(19) sichergestellt werden, dass die Eisenbahnunternehmen tatsächlich über die zugewiesene Kapazität verfügen.

46.      Dieses Verfahren reicht von den Schienennetz-Nutzungsbedingungen bis zur Genehmigung des Netzfahrplans(20). Die einzelnen Verfahrensschritte sind in Kapitel IV Abschnitt 3 der Richtlinie 2012/34 geregelt und umfassen:

–        die Anträge auf Zuweisung von Fahrwegkapazität durch einen oder mehrere Antragsteller (Eisenbahnunternehmen);

–        die Phase der Netzfahrplanerstellung nach dem Eingang der Anträge der Antragsteller;

–        die Koordinierungsphase, die eingeleitet wird, wenn dem Infrastrukturbetreiber miteinander unvereinbare Anträge vorliegen;

–        die Erklärung von Fahrwegen für überlastet, die dann zum Tragen kommt, wenn eine Koordinierung nicht möglich ist. In diesem Fall wendet der Infrastrukturbetreiber bei der Zuweisung Vorrangkriterien an.

47.      Bei der Prüfung der aufgeworfenen Fragen erscheint es mir sinnvoller, mich am zeitlichen Ablauf dieser Verfahrensschritte zu orientieren. Ich werde daher zunächst auf das Koordinierungsverfahren eingehen und mich danach den Regeln für überlastete Fahrwege zuwenden.

B.      Zur zweiten Vorlagefrage

48.      Mit der zweiten Vorlagefrage, die mehrere Fragestellungen umfasst, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Infrastrukturbetreiber, bevor er Fahrwege für überlastet erklärt,

–        eine nationale Vorrangregel anwenden darf;

–        die beantragten Zugtrassen koordinieren und die Antragsteller konsultieren muss;

–        prüfen muss, ob zwei oder mehr Antragsteller beabsichtigen, dieselben Güter zu befördern.

49.      Bei diesen Fragen überschneiden sich materielle Gesichtspunkte (Regeln für die Kapazitätszuweisung) mit formalen Gesichtspunkten (Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren). Ich möchte zunächst auf die formalen Gesichtspunkte eingehen.

1.      Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren: Art. 45 und 46 der Richtlinie 2012/34

50.      Bei der Netzfahrplanerstellung „[bemüht sich d]er Infrastrukturbetreiber …, so weit wie möglich allen Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität … stattzugeben“(21). Ergeben sich Unvereinbarkeiten zwischen verschiedenen Anträgen, „so bemüht sich der Infrastrukturbetreiber durch Koordinierung der Anträge um eine bestmögliche Erfüllung aller Erfordernisse“(22).

51.      Die Koordinierung(23) spielt dementsprechend eine Schlüsselrolle bei der Zuweisung von Fahrwegkapazität, wenn miteinander unvereinbare Anträge vorliegen. Im Hinblick auf die Durchführung dieser Aufgabe der Koordinierung, deren Grundsätze in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen festgelegt sein müssen(24), sieht Art. 46 der Richtlinie 2012/34 Folgendes vor:

–        Der Infrastrukturbetreiber erhält das Recht, „innerhalb vertretbarer Grenzen Fahrwegkapazität anzubieten, die von der beantragten Kapazität abweicht“ (Abs. 2).

–        Es gibt einen Verfahrensschritt, in dem eine Absprache zwischen dem Infrastrukturbetreiber und den Antragstellern erfolgt, denen Angaben zum Inhalt der Anträge der übrigen Antragsteller übermittelt werden, ohne deren Identität offenzulegen. Zweck dieser Absprache ist, dass der Infrastrukturbetreiber eine Lösung für Unvereinbarkeiten findet (Abs. 3).

–        Es ist „ein Streitbeilegungssystem einzurichten, damit“ Streitigkeiten über die Zuweisung von Fahrwegkapazität „rasch beigelegt werden können“ (Abs. 6).

52.      Aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen ergibt sich, dass die Eisenbahnunternehmen und der Infrastrukturbetreiber im Koordinierungsverfahren eine aktive Rolle spielen müssen, um eine angemessene Lösung zu finden. Auf der Grundlage seiner Kenntnis der Anträge aller Antragsteller und der bestehenden Kapazitätsgrenzen stellt der Infrastrukturbetreiber sicher, dass alle Antragsteller die Möglichkeit erhalten, ihre Dienste zu erbringen, auch wenn dies mit gewissen Abstrichen verbunden ist.

53.      Meiner Ansicht nach geht die Rolle des Infrastrukturbetreibers über die eines reinen Mediators, der versucht, die einander gegenüberstehenden Parteien zu einer Einigung zu bringen, hinaus. Wie ich schon angemerkt habe, räumt ihm die Richtlinie 2012/34 Entscheidungsbefugnisse ein. Insbesondere wird er in Art. 46 Abs. 3 ermächtigt, Konflikte zwischen den Antragstellern zu lösen.

54.      Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der Parteien könnte man schlussfolgern, dass das im vorliegenden Fall durchgeführte Koordinierungsverfahren den Anforderungen von Art. 46 der Richtlinie 2012/34 nicht in vollem Umfang entsprochen hat(25), dabei handelt es sich aber um eine Frage, die allein das vorlegende Gericht aufgrund seiner Sachnähe klären kann.

2.      Vorrang im Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren?

55.      Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie bestimmt, dass der Infrastrukturbetreiber „lediglich in den in Artikel 47 und Artikel 49 geregelten Fällen speziellen Verkehrsarten im Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren Vorrang einräumen [darf]“.

56.      Die Auslegung dieser Bestimmung ist insofern nicht einfach, als Art. 47 die Erklärung eines Abschnitts für überlastet regelt und Art. 49 sich auf besondere Fahrwege bezieht (die im vorliegenden Fall nicht relevant sind).

57.      Meines Erachtens ermöglicht es die in Art. 45 enthaltene Bezugnahme auf Art. 47, die in dem zuletzt genannten Artikel zugunsten bestimmter Verkehrsdienste enthaltenen Vorrangkriterien für die Zuweisung von Kapazität auf überlasteten Fahrwegen sinngemäß auch in dem (vorangehenden) Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren heranzuziehen.

58.      In diesem Punkt stimme ich mit der Auffassung der litauischen Regierung überein und teile nicht die Ansicht der Kommission, nach deren Verständnis Vorrangregeln lediglich im Rahmen von Art. 47 und nicht im Rahmen der Art. 45 und 46 anzuwenden sind. Die Kommission macht geltend, dies ergebe sich aus dem Urteil SJ(26), Rn. 39 und 40, aber ich verstehe diese Absätze anders.

59.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof, nachdem er die wesentlichen Elemente des Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahrens dargestellt hat, ausgeführt: „Art. 47 der Richtlinie 2012/34 sieht für den Fall einer Überlastung der Eisenbahninfrastruktur Bestimmungen vor, in deren Rahmen der Infrastrukturbetreiber Vorrangkriterien festlegen darf.“ Der Gerichtshof hat sich mit der Frage, ob dieselben Kriterien im Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren herangezogen werden können, nicht befasst (weil es in jenem Rechtsstreit nicht notwendig war).

60.      Wie bereits erwähnt, räumen die Art. 45 und 46 der Richtlinie 2012/34 dem Infrastrukturbetreiber bei der Entscheidung über Zuweisungsanträge ein weites Ermessen ein. Insofern steht es ihm frei, im Vorfeld (in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen) anzugeben, nach welchen vernünftigen, objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien er die Netzfahrplanerstellung und ggf. die Koordinierung miteinander unvereinbarer Anträge durchführen wird. Ebenso kann er auch bestimmten Verkehrsdiensten Vorrang vor anderen einräumen, wenn dies im Interesse der Allgemeinheit geboten ist.

61.      Wie die litauische Regierung vorträgt, fördert dies die Transparenz des Verfahrens, da die Antragsteller im Voraus wissen, was sie erwartet, wenn ihre Anträge koordiniert werden müssen.

62.      Anders verhält es sich, wenn die Vorrangregeln die Intensität der Nutzung als entscheidendes Kriterium vorsehen. Weiter unten werde ich prüfen, inwieweit dieses Kriterium eine Begünstigung des etablierten Betreibers bedeutet und daher in Widerspruch zu einem der wesentlichen Ziele der Richtlinie 2012/34, nämlich der Öffnung des Eisenbahnmarkts für den Wettbewerb, steht.

3.      Art der beförderten Güter

63.      Wie die litauische Regierung und die Kommission bin auch ich der Ansicht, dass die Art der beförderten Güter kein relevantes Element im Verfahren zur Koordinierung von Anträgen auf Zuweisung von Fahrwegkapazität ist, die sich als unvereinbar erweisen.

64.      In der Richtlinie 2012/34 werden Besonderheiten in Bezug auf die Art der Güter bei der Festsetzung der Aufschläge berücksichtigt, nicht aber im Koordinierungsverfahren. Nach Art. 32 Abs. 1 Unterabs. 4 dieser Richtlinie können die Infrastrukturbetreiber Marktsegmente je nach Art der Güterbeförderung untergliedern.

65.      Zudem müssen die Anträge auf Zuweisung von Fahrwegkapazität nicht unbedingt Angaben über die Art der Güter enthalten, die ein Eisenbahnunternehmen zu befördern beabsichtigt. So bezog sich der Antrag von Gargždų geležinkelis nach ihren eigenen Angaben(27) auf Güterzüge, ohne nähere Angabe der Güter, die sie zu befördern beabsichtigte (was logisch erscheint, da diese von den konkreten Anforderungen des Marktes abhängen)(28).

C.      Zur ersten Vorlagefrage

66.      Mit dieser Vorlagefrage, die mehrere Fragestellungen umfasst, möchte das vorlegende Gericht zusammenfassend wissen, ob nach Art. 47 Abs. 4 der Richtlinie 2012/34 für den Fall, dass ein Fahrweg für überlastet erklärt wurde, die Festlegung von Vorrangkriterien für die Zuweisung zulässig ist, die die bisherige oder künftige Intensität der Nutzung der Infrastruktur durch ein Eisenbahnunternehmen berücksichtigen.

67.      Die Standpunkte der Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, unterscheiden sich in diesem Punkt: Gargždų geležinkelis macht geltend, es gebe eine Diskriminierung neuer Marktteilnehmer, was die litauische Regierung bestreitet. Die Kommission trägt vor, selbst wenn dieses Kriterium abstrakt gültig wäre, sei es nur dann zulässig, wenn es nicht zu einer Wettbewerbsbeschränkung führe und nicht die Beibehaltung von Kapazitäten begünstige.

68.      Das Urteil Kommission/Spanien liefert meines Erachtens die notwendigen Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen. Der Gerichtshof hat darin festgestellt,

–        dass nach „Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 [jetzt Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34] der Betreiber der Infrastruktur insbesondere gewährleistet, dass die Fahrwegkapazität auf gerechte und nichtdiskriminierende Weise unter Einhaltung des Unionsrechts zugewiesen wird“,

–        und dass „das Kriterium der tatsächlichen Nutzung des Schienennetzes als Kriterium für die Zuweisung von Fahrwegkapazität insoweit diskriminierend ist, als es, wenn sich die Anträge für dieselbe Fahrplantrasse überschneiden oder wenn das Netz überlastet ist, dazu führt, dass die Vorteile für die herkömmlichen Nutzer aufrechterhalten werden und der Zugang zu den attraktivsten Trassen für neue Marktteilnehmer blockiert wird“(29).

69.      Zwar ging es in jenem Fall um die Intensität der Nutzung in der Vergangenheit, während es im vorliegenden Rechtsstreit um die für die Zukunft prognostizierte Nutzung geht. Ich bin jedoch der Ansicht, dass dieser Umstand keinen Einfluss auf das Ergebnis hat.

70.      Denn um überzeugend und realistisch zu sein, müssen sich Prognosen über den künftigen Bedarf an Fahrwegkapazität auf objektive Daten über die Nutzung in der unmittelbaren Vergangenheit (oder in der Gegenwart) stützen. Da nur die etablierten Betreiber in der Lage sind, solche Bewertungselemente anzugeben, befinden sich alle anderen, die in den Markt eintreten möchten, in einer unterlegenen Position: Sie können sich nicht (oder nur in geringerem Umfang) auf bereits erbrachte Dienste stützen.

71.      Tatsächlich könnte die Zulassung dieses Kriteriums zu einem Teufelskreis führen, in dem die Zuweisung der Kapazität immer wieder an den etablierten Marktteilnehmer erfolgt, womit die Bestimmung des Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2012/34 („Das Recht, spezifische Fahrwegkapazität in Form einer Zugtrasse in Anspruch zu nehmen, kann Antragstellern längstens für die Dauer einer Netzfahrplanperiode zuerkannt werden.“) umgangen würde(30).

72.      Selbst wenn diese Ungleichbehandlung durch andere Zwecke der Richtlinie 2012/34 gerechtfertigt wäre, wie z. B. die Gewährleistung einer effizienteren Nutzung der Fahrwege, „[ist] es, um dieses Ziel zu erreichen, keineswegs erforderlich …, dass die fragliche Maßnahme zwischen den das Schienennetz nutzenden Wirtschaftsteilnehmern eine Diskriminierung schafft oder dass sie den Zugang neuer Marktteilnehmer zu diesem Netz blockiert“(31).

73.      Aus dem in der Vorlageentscheidung und in den Erklärungen der Parteien dargestellten Sachverhalt scheint sich zu ergeben, dass eine solche Diskriminierung zum Nachteil des neuen Marktteilnehmers de facto stattgefunden hat. Auch wenn es wiederum Sache des vorlegenden Gerichts ist, dies zu prüfen, so deutet doch alles darauf hin, dass bei Anwendung des dritten und des vierten Kriteriums in Nr. 28 der Zuweisungsregeln die Anträge eines neuen Marktteilnehmers auf Zugang zur Infrastruktur systematisch zugunsten des im Eigentum der öffentlichen Hand stehenden traditionellen Betreibers abgelehnt werden. Obendrein beantragt der traditionelle Betreiber offenbar Kapazitäten, die er anschließend nach ihrer Zuweisung gar nicht nutzt(32), und weigert sich, am Koordinierungsverfahren teilzunehmen.

V.      Ergebnis

74.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) wie folgt zu antworten:

Die Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums

ist dahin auszulegen, dass

–        nach ihrem Art. 46 Koordinierungs- und Streitbeilegungsverfahren vorhanden sein müssen, damit der Infrastrukturbetreiber innerhalb vertretbarer Grenzen selbst über die Zuweisung von Fahrwegkapazität an die Antragsteller entscheiden kann, indem er in Absprache mit ihnen für miteinander unvereinbare Anträge eine Lösung findet;

–        es nach ihrem Art. 45 Abs. 2 in Verbindung mit ihrem Art. 47 zulässig ist, dass der Infrastrukturbetreiber in Netzfahrplanerstellungs- und Koordinierungsverfahren bestimmten Verkehrsdiensten einen Vorrang einräumt, sofern er dabei objektive, transparente, vernünftige, verhältnismäßige und nichtdiskriminierende Kriterien anwendet;

–        ihr Art. 47 Abs. 4 einer nationalen Regelung entgegensteht, die als Vorrangkriterium für die Zuweisung von Fahrwegkapazität bei überlasteten Fahrwegen die vergangene oder künftige Intensität der Nutzung des Schienennetzes durch einen etablierten Marktteilnehmer festlegt, was zur Folge hat, dass der Zugang zu dieser Fahrwegkapazität für neue Marktteilnehmer blockiert wird.


































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