Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
23. März 2023(* )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 34 und 36 AEUV – Freier Warenverkehr – Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung – Aufzeichnungen audiovisueller Programme – Online-Verkauf – Regelung eines Mitgliedstaats, die eine Alterseinstufung und eine Kennzeichnung der Programme vorschreibt – Minderjährigenschutz – Aufzeichnungen, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat eingestuft und gekennzeichnet wurden – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑662/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland) mit Entscheidung vom 29. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. November 2021, in dem Verfahren
Booky.fi Oy,
Beteiligte:
Kansallinen audiovisuaalinen instituutti (KAVI),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des Kansallinen audiovisuaalinen instituutti (KAVI), vertreten durch E. Lauri und L. Pekkala,
– der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Ringborg, I. Söderlund und F. Thiran als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 34 und 36 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens, das von der Booky.fi Oy wegen der Entscheidung des Kansallinen audiovisuaalinen instituutti (KAVI) (Nationales Institut für audiovisuelle Medien, Finnland) eingeleitet wurde, mit der Booky.fi verpflichtet wurde, in den Informationen zu Aufzeichnungen audiovisueller Programme, die über ihren Online-Shop zum Verkauf angeboten werden, die auf der Einstufung nach der finnischen Regelung beruhende Altersgrenze anzugeben, unterhalb deren diese Programme nicht angesehen werden dürfen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 Art. 17 des am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes (United Nations Treaty Series , Bd. 1577, S. 3), das am 2. September 1990 in Kraft getreten ist, bestimmt:
„Die Vertragsstaaten erkennen die wichtige Rolle der Massenmedien an und stellen sicher, dass das Kind zu Informationen und Material aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen Zugang hat, insbesondere denjenigen, welche die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben. Zu diesem Zweck
…
e) fördern die Vertragsstaaten unter Berücksichtigung der Art. 13 und 18 die Erarbeitung geeigneter Richtlinien zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material, die sein Wohlergehen beeinträchtigen.“
Unionsrecht
4 Die Erwägungsgründe 59 und 104 der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) (ABl. 2010, L 95, S. 1) lauten:
„(59) Die Verfügbarkeit schädlicher Inhalte im Bereich der audiovisuellen Mediendienste gibt Anlass zur Sorge für den Gesetzgeber, die Medienbranche und Eltern. Gerade im Zusammenhang mit neuen Plattformen und neuen Produkten werden hier neue Herausforderungen entstehen. Vorschriften zum Schutz der körperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung Minderjähriger sowie zur Wahrung der Menschenwürde in allen audiovisuellen Mediendiensten, einschließlich der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation[,] sind daher erforderlich.
…
(104) Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Schaffung eines Raums für audiovisuelle Mediendienste ohne innere Grenzen bei gleichzeitiger Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für Ziele allgemeinen Interesses, insbesondere der Schutz von Minderjährigen und der menschlichen Würde sowie die Förderung der Rechte der Menschen mit Behinderungen, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Richtlinie besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des [EUV] niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das zur Erreichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.“
Finnisches Recht
5 Nach § 1 des kuvaohjelmalaki (710/2011) (Gesetz über audiovisuelle Programme [710/2011]) vom 17. Juni 2011 (im Folgenden: Gesetz über audiovisuelle Programme) soll dieses Gesetz Kinder vor audiovisuellen Programmen schützen, die ihre Entwicklung beeinträchtigen.
6 § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:
„Dieses Gesetz findet auf die Bereitstellung eines audiovisuellen Programms und seine Überwachung in Finnland Anwendung, wenn es im Fernsehen oder bei einem On-Demand-Dienst angeboten wird, für die das Laki sähköisen viestinnän palveluista (917/2014) [(Gesetz über elektronische Kommunikationsdienste [917/2014])] gilt. Auf das sonstige Bereitstellen eines audiovisuellen Programms und seine Überwachung in Finnland wird das Gesetz angewandt, sofern
1) das Programm von Unternehmen oder Betreibern bereitgestellt wird, die in Finnland registriert sind oder über eine Niederlassung verfügen;
2) das Programm von einer Person bereitgestellt wird, die finnischer Staatsangehöriger ist oder in Finnland ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat; oder
3) die Entscheidung über die Bereitstellung des Programms in Finnland getroffen wurde.“
7 Nach § 3 Nr. 3 des Gesetzes über audiovisuelle Programme bedeutet die Bereitstellung eines audiovisuellen Programms, dass es öffentlich zum Anschauen zugänglich gemacht wird.
8 § 3 Nr. 5 dieses Gesetzes sieht vor, dass die Einstufung darin besteht, auf der Grundlage der Betrachtung des audiovisuellen Programms zu bestimmen, ob sich dieses Programm auf die Entwicklung eines Kindes unterhalb einer bestimmten Altersgrenze schädlich auswirken kann.
9 § 5 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:
„Soweit in den §§ 9 bis 11 nichts anderes bestimmt ist, darf ein audiovisuelles Programm nur dann bereitgestellt werden, wenn es gemäß § 16 Abs. 1 eingestuft worden ist und einen deutlich sichtbaren Hinweis auf die Altersfreigabe und den Inhalt enthält oder mit ihm versehen ist oder, wenn es sich um ein audiovisuelles Programm im Sinne von § 16 Abs. 3 handelt, einen deutlich sichtbaren Hinweis auf die Altersfreigabe und den Inhalt enthält oder mit ihm versehen ist. Handelt es sich um ein audiovisuelles Programm im Sinne von § 16 Abs. 2, so darf es nur bereitgestellt werden, wenn es einen deutlich erkennbaren Hinweis auf die Altersgrenze von 18 Jahren enthält oder mit ihm versehen ist.“
10 § 6 Abs. 5 des Gesetzes über audiovisuelle Programme lautet:
„Der Anbieter audiovisueller Programme muss im Zusammenhang mit der Bereitstellung der Programme Informationen über die Altersgrenzen und sonstige Maßnahmen zum Schutz von Kindern erteilen.“
11 § 9 dieses Gesetzes bestimmt:
„Ein audiovisuelles Programm muss nicht eingestuft oder gekennzeichnet werden, wenn es
1) ausschließlich Lehr- oder Kulturmaterial zum Inhalt hat;
2) ausschließlich Musik, Sport oder Aufzeichnungen von Sportveranstaltungen, von Kulturveranstaltungen oder Andachtsstunden bzw. von ähnlichen Veranstaltungen oder Ereignissen zum Inhalt hat;
3) ausschließlich Basteln, Wellness, Diskussionen, Spiele, Mode, Gartenpflege, Bauen, Kochen, Einrichtung, Denksport, Ratespiele oder ähnliche Themen für Adressaten jeder Altersgruppe zum Inhalt hat;
4) ausschließlich Marketingmaterialien für Waren und Dienstleistungen zum Inhalt hat;
5) ausschließlich Informationen über ideelle oder politische Tätigkeiten zum Inhalt hat;
6) aktuellen Nachrichtenstoff zum Inhalt hat;
7) Live-Übertragungen zum Inhalt hat.
Abweichend von Abs. 1 Nr. 4 muss ein audiovisuelles Programm, das ausschließlich Marketingmaterial für audiovisuelle Programme zum Inhalt hat, eingestuft werden.“
12 § 10 dieses Gesetzes bestimmt:
„Ein audiovisuelles Programm muss nicht eingestuft und gekennzeichnet werden, wenn es
1) in einer Online-Veröffentlichung im Sinne des Laki sananvapauden käyttämisestä joukkoviestinnässä (460/2003) [(Gesetz über die Ausübung der Meinungsfreiheit in den Medien [460/2003])] abrufbar ist und im Zuge der Verbreitung dieser Online-Veröffentlichung erstellt oder erworben wurde;
2) im Rahmen eines Dienstes, der von Privatpersonen erstellte Programme bereitstellt, abrufbar ist und von einer Privatperson zu Hobbyzwecken erstellt wurde;
3) im Rahmen einer Ausbildungs- oder sonstigen Kulturtätigkeit bereitgestellt wird und in Verbindung mit einer Ausbildungs- oder sonstigen Kulturtätigkeit erstellt wurde;
4) sich um ein Spiel handelt, das im Rahmen eines Gaming-Service zur Verfügung gestellt wird, dessen Anbieter seinen für einen derartigen Dienst aufgestellten und gemäß § 8 überwachten Verhaltenskodex einhält.“
13 § 11 Abs. 1 des Gesetzes über audiovisuelle Programme sieht vor:
„Das [KAVI] kann auf Antrag die Bereitstellung audiovisueller Programme ohne Einstufung oder Kennzeichnung nach diesem Gesetz bei einer besonderen Veranstaltung, die für die Bereitstellung audiovisueller Programme organisiert wird, genehmigen.“
14 § 15 dieses Gesetzes bestimmt:
„Ein audiovisuelles Programm gilt als schädlich für die Entwicklung von Kindern, wenn es aufgrund von Gewalt oder sexuellem Inhalt oder durch Verursachung von Beklemmung bzw. in sonstiger vergleichbarer Weise die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen kann.
Der Kontext und die Art und Weise, wie die Ereignisse im Programm beschrieben werden, müssen bei der Bewertung der Schädlichkeit eines audiovisuellen Programms berücksichtigt werden.“
15 § 16 des Gesetzes über audiovisuelle Programme lautet:
„Ist ein audiovisuelles Programm im Sinne des § 15 für die Entwicklung eines Kindes schädlich, so ist es seinem Inhalt nach für eine Altersfreigabe von 7, 12, 16 oder 18 Jahren einzustufen, und ihm ist ein Symbol zuzuweisen, das seinen Inhalt beschreibt. Ist das Programm als nicht schädlich für die Entwicklung eines Kindes anzusehen, so ist es als für alle Altersgruppen freigegeben einzustufen.
Richtet sich ein Programm ausdrücklich an Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, ist es nicht einzustufen. Ein solches Programm darf nur bereitgestellt werden, wenn es eine deutlich erkennbare Angabe der Altersfreigabe ab 18 Jahren enthält oder mit ihr versehen ist.
Das [KAVI] kann die Altersfreigabe und ein den Inhalt beschreibendes Symbol, das im Unionsgebiet vergeben wurde, für eine in Finnland nach Maßgabe des Gesetzes erfolgende Verwendung dieses Programms genehmigen, ohne dass das Programm in Finnland eingestuft wird.“
16 Nach § 19 dieses Gesetzes hat das KAVI die Aufgabe, die Einhaltung dieses Gesetzes zu überwachen.
17 § 30 dieses Gesetzes sieht die Möglichkeit vor, einen Rechtsbehelf gegen die Einstufungsentscheidung des KAVI einzulegen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Booky.fi ist ein finnisches Unternehmen, das über seinen Online-Shop auf physischen Trägern wie DVDs und Blu-ray-Discs gespeicherte audiovisuelle Programme vertreibt.
19 Bei einer Kontrolle im Jahr 2018 stellte das KAVI fest, dass Booky.fi Aufzeichnungen audiovisueller Programme ohne Angabe der nach dem Gesetz über audiovisuelle Programme erforderlichen Informationen über die zulässige Altersgrenze und den Inhalt des audiovisuellen Programms zum Verkauf anbot.
20 Mit Bescheid vom 9. Juli 2018 gab das KAVI Booky.fi u. a. auf, diese Angaben zu den Informationen über die von ihr vertriebenen Programmaufzeichnungen hinzuzufügen, und wies sodann das von Booky.fi gegen diesen Bescheid eingelegte Rechtsmittel mit Bescheid vom 9. Oktober 2018 zurück.
21 Booky.fi erhob gegen die Entscheidung des KAVI Klage beim Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland), das diese Klage mit Urteil vom 9. Dezember 2019 abwies. Da nach Auffassung dieses Gerichts bei einem Online-Shop die öffentliche Bereitstellung eines audiovisuellen Programms im Sinne von § 5 Abs. 1 des Gesetzes über audiovisuelle Programme zu dem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die Aufzeichnung eines solchen Programms zum Verkauf stehe oder die Möglichkeit bestehe, es auf sonstige Weise zu bestellen, müsse die Aufzeichnung die in diesem Gesetz vorgesehene Altersangabe enthalten oder damit versehen sein.
22 Zur Stützung ihres Rechtsmittels, das sie gegen dieses Urteil beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland), dem in der vorliegenden Rechtssache vorlegenden Gericht, einlegte, macht Booky geltend, es stelle eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 34 AEUV dar, wenn verlangt werde, dass die audiovisuellen Programme, die sie in ihrem Online-Shop vertreibe, nach Maßgabe der in Finnland geltenden Altersgrenzen einer Einstufung und Kennzeichnung unterlägen, obwohl sie bereits in einem anderen Mitgliedstaat einer solchen Einstufung unterzogen und mit einer Angabe der Altersfreigabe entsprechend der Regelung dieses Mitgliedstaats versehen worden seien.
23 Die Bestimmungen des Gesetzes über audiovisuelle Programme gingen über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels des Schutzes des Kindes erforderlich sei, wenn die Bereitstellung audiovisueller Programme ausschließlich für volljährige Käufer vorgesehen sei. Außerdem verstoße die Verpflichtung, alle in einem Online-Shop angebotenen Aufzeichnungen audiovisueller Programme nach der finnischen Regelung einzustufen, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, und es sei für den freien Warenverkehr weniger einschränkend, wenn nur die tatsächlich nach Finnland eingeführten Aufzeichnungen dieser Verpflichtung unterlägen. Booky.fi weist insoweit darauf hin, dass sie die Aufzeichnungen audiovisueller Programme, die sie auf ihrer Verkaufsseite anbiete, bei internationalen Großhändlern nur nach Maßgabe der Aufträge bestelle, die sie erhalten habe.
24 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts fällt die Bereitstellung von Aufzeichnungen audiovisueller Programme über einen Online-Shop unter den Begriff der Bereitstellung audiovisueller Programme im Sinne von § 5 Abs. 1 des Gesetzes über audiovisuelle Programme, so dass eine Angabe über die Altersgrenze entsprechend der Einstufung nach diesem Gesetz in den Informationen über die Aufzeichnung enthalten sein müsse, sobald diese zum Verkauf angeboten werde, und zwar unabhängig davon, ob das Programm, das sie enthalte, von der zuständigen Stelle eines anderen Mitgliedstaats bereits eingestuft worden sei.
25 Der Vertrieb von Aufzeichnungen audiovisueller Programme mit Angaben über eine Altersgrenze, die der Einstufung eines anderen Mitgliedstaats entspreche, erlaube es dem Käufer nämlich nicht, zum Zeitpunkt des Verkaufs über die Inhalte des audiovisuellen Programms und die Kennzeichnung nach Maßgabe der in Finnland geltenden Altersgrenzen informiert zu werden, was ein Erreichen des im Gesetz über audiovisuelle Programme vorgesehenen Schutzniveaus für Kinder nicht ermögliche.
26 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob die in diesem Gesetz vorgesehene Pflicht zur Einstufung und Kennzeichnung von Programmen nach dem Alter unter Umständen wie denen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit diesem Gesetz verfolgten Ziels des Schutzes des Kindes erforderlich ist.
27 Insbesondere unterschieden sich die Umstände dieses Rechtsstreits von denen der Rechtssache, in der das Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien (C‑244/06, EU:C:2008:85), ergangen sei, da im vorliegenden Fall von der im Gesetz über audiovisuelle Programme vorgesehenen Verpflichtung zur Angabe der Altersgrenze nicht abgewichen werden könne, selbst wenn feststehe, dass der Käufer der Aufzeichnung des audiovisuellen Programms volljährig sei.
28 Die Bestimmungen dieses Gesetzes unterschieden sich auch von den deutschen Rechtsvorschriften, um die es in der Rechtssache gegangen sei, in der das Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien (C‑244/06, EU:C:2008:85), ergangen sei, da diese Rechtsvorschriften sowohl für im Inland ansässige Verkäufer audiovisueller Aufzeichnungen als auch für die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Verkäufer gegolten habe, während dies beim Gesetz über audiovisuelle Programme nicht der Fall sei.
29 Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht Art. 34 AEUV unter Berücksichtigung von Art. 36 AEUV einer Auslegung von § 5 Abs. 1 des Gesetzes über audiovisuelle Programme entgegen, die eine Einstufung von Aufzeichnungen audiovisueller Programme nach diesem Gesetz und die Erteilung der auf dieser Einstufung beruhenden Angaben über die Altersfreigabe in Verbindung mit den Produktangaben schon für den Zeitpunkt verlangt, in dem diese Aufzeichnungen in einem Online-Shop zum Verkauf stehen, obwohl diese Aufzeichnungen in einem anderen Mitgliedstaat eingestuft und gekennzeichnet, aber noch nicht nach Finnland geliefert worden sind?
Ist für die Beurteilung dieser Frage von Bedeutung, dass das Gesetz über audiovisuelle Programme keine Vorschrift über Ausnahmen von der Einstufung und Kennzeichnung aus dem Grund enthält, dass über die Volljährigkeit des Käufers der audiovisuellen Aufzeichnung Gewissheit erlangt wurde und dass das vorstehend bezeichnete Erfordernis erneuter Einstufung und Kennzeichnung beim Bereitstellen einer solchen Aufzeichnung in einem Online-Shop nur dann Anwendung findet, wenn das Programm von Unternehmen oder Betreibern bereitgestellt wird, die in Finnland registriert sind oder über eine Niederlassung verfügen oder wenn dieses Programm von einer Person bereitgestellt wird, die finnischer Staatsangehöriger ist oder in Finnland ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat bzw. wenn die Entscheidung über das Bereitstellen des Programms in Finnland getroffen wurde?
2. Wenn die Verhältnismäßigkeit des vorstehend genannten Erfordernisses erneuter Einstufung und Kennzeichnung voraussetzt, dass von dem Erfordernis aus dem Grund eine Ausnahme gemacht werden kann, dass über die Volljährigkeit des Käufers einer Aufzeichnung des audiovisuellen Programms Gewissheit erlangt wurde: Ist bei einem an Volljährige erfolgenden Verkauf zu verlangen, dass bei Bestellung und Verkauf dieser Aufzeichnung über die Volljährigkeit des Käufers absolute Gewissheit besteht, oder reicht es aus, dass der Verkäufer des Bildprogrammträgers bestrebt ist, sich der Volljährigkeit des Käufers zu vergewissern?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
30 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 34 und 36 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die mit dem Ziel des Schutzes Minderjähriger vor audiovisuellen Inhalten, die ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können, verlangt, dass die auf einem physischen Träger gespeicherten und über einen Online-Shop vertriebenen audiovisuellen Programme vorab Gegenstand eines Kontrollverfahrens und einer Einstufung im Hinblick auf Altersgrenzen und einer entsprechenden Kennzeichnung nach dem Recht dieses Mitgliedstaats sind, auch dann, wenn diese Programme bereits Gegenstand eines Verfahrens und einer entsprechenden Einstufung und Kennzeichnung nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats waren.
31 Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof außerdem wissen, ob im Rahmen dieser Beurteilung zum einen der Umstand relevant ist, dass die betreffende nationale Regelung keine Ausnahme von diesem Erfordernis vorsieht, wenn festgestellt werden kann, dass der Käufer einer von dieser Regelung erfassten Aufzeichnung volljährig ist, und zum anderen der Umstand, dass diese Regelung nur für Programme gilt, die von Unternehmen oder Betreibern, die in dem betreffenden Mitgliedstaat registriert sind oder über eine Niederlassung verfügen, oder von einer Person bereitgestellt werden, die Staatsbürger dieses Mitgliedstaats ist oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder wenn die Entscheidung, diese Programme bereitzustellen, in diesem Mitgliedstaat getroffen wurde.
32 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der freie Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ein elementarer Grundsatz des AEU-Vertrags ist, der in dem in Art. 34 AEUV niedergelegten Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung seinen Ausdruck gefunden hat (Urteil vom 18. Juni 2019, Österreich/Deutschland, C‑591/17, EU:C:2019:504, Rn. 119 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Das in Art. 34 AEUV aufgestellte Verbot von Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen erfasst nach ständiger Rechtsprechung jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (Urteil vom 18. Juni 2019, Österreich/Deutschland, C‑591/17, EU:C:2019:504‚ Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Zudem fällt eine Maßnahme, auch wenn sie weder bezweckt noch bewirkt, Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln, ebenfalls unter den Begriff der „Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen“ im Sinne von Art. 34 AEUV, wenn sie den Zugang von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten zum Markt eines Mitgliedstaats behindert (Urteil vom 18. Juni 2019, Österreich/Deutschland, C‑591/17, EU:C:2019:504‚ Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall hat eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach audiovisuelle Programme nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sie über einen Online-Shop vertrieben werden, vorab Kontrollverfahren sowie der Einstufung und Kennzeichnung nach Maßgabe der für den Minderjährigenschutz festgelegten Altersgrenzen unterzogen werden müssen, zur Folge, dass die Einfuhr von Aufzeichnungen audiovisueller Programme aus einem anderen Mitgliedstaat strenger und kostspieliger wird.
36 Daher ist eine solche Maßnahme geeignet, den Zugang von Aufzeichnungen audiovisueller Programme aus anderen Mitgliedstaaten zum Markt des betreffenden Mitgliedstaats zu behindern, und stellt folglich nach der in den Rn. 32 bis 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne von Art. 34 AEUV dar, die grundsätzlich mit den sich aus diesem Artikel ergebenden Verpflichtungen unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C‑244/06, EU:C:2008:85, Rn. 34 und 35).
37 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine nationale Regelung, die eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen darstellt, dennoch durch einen der in Art. 36 AEUV genannten Gründe des Allgemeininteresses oder durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. In beiden Fällen muss die nationale Maßnahme geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was dazu erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 12. November 2015, Visnapuu, C‑198/14, EU:C:2015:751, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Maßnahme, wie es in § 1 des Gesetzes über audiovisuelle Programme heißt, Minderjährige vor audiovisuellen Programmen schützen soll, deren Inhalt ihre Entwicklung beeinträchtigen kann.
39 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz des Kindes in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, deren Art. 24 Abs. 1 bestimmt, dass Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Er wird auch durch mehrere internationale Rechtsinstrumente anerkannt, zu denen u. a. das Übereinkommen über die Rechte des Kindes gehört, das von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde und dessen Art. 17 Buchst. e bestimmt, dass die Vertragsstaaten des Übereinkommens die Erarbeitung geeigneter Richtlinien zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material fördern, die sein Wohlergehen beeinträchtigen.
40 Was insbesondere audiovisuelle Programme angeht, hat der Unionsgesetzgeber im 59. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/13 auf die Notwendigkeit hingewiesen, Minderjährige vor Inhalten zu schützen, die für sie schädlich sein könnten, wobei er im 104. Erwägungsgrund dieser Richtlinie darauf hingewiesen hat, dass es sich um ein Ziel allgemeinen Interesses handelt, das ein hohes Schutzniveau verdient.
41 Folglich stellt der Schutz Minderjähriger vor audiovisuellen Programmen, die ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können, ein zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses dar, das grundsätzlich eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C‑244/06, EU:C:2008:85, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 40).
42 Wie sich aus Rn. 37 des vorliegenden Urteils ergibt, ist noch zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung geeignet ist, die Erreichung dieses legitimen Ziels zu gewährleisten, und ob sie nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist.
43 Insoweit ist es letztlich Sache des nationalen Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, zu bestimmen, ob und inwieweit eine solche Regelung diesen Anforderungen entspricht (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ein nationales Gericht muss dafür mit Hilfe statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel objektiv prüfen, ob die von den Behörden des betreffenden Mitgliedstaats vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2016, Deutsche Parkinson Vereinigung, C‑148/15, EU:C:2016:776, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht zweckdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Was erstens die Eignung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung zur Erreichung der geltend gemachten Ziele betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis, dass die in einem Mitgliedstaat vertriebenen audiovisuellen Programme dort vorab eingestuft und/oder mit einer für ihre Betrachtung empfohlenen Mindestaltersangabe versehen sind, insofern, als es den Verbrauchern ermöglicht, über die Art des Inhalts dieser Programme informiert zu werden und damit die für das Alter der Kinder, für die sie verantwortlich sind, geeigneten Programme zu ermitteln, geeignet ist, Minderjährige vor Programmen zu schützen, deren Inhalt ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C‑244/06, EU:C:2008:85, Rn. 47).
46 Allerdings kann die Regelung, die eine solche Maßnahme vorsieht, nur dann als geeignet angesehen werden, dieses Ziel zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2019, Kommission/Deutschland, C‑377/17, EU:C:2019:562, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung mehrere Ausnahmen von der Verpflichtung zur Einstufung und Kennzeichnung audiovisueller Programme in Finnland vorsieht.
48 Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, beruhen diese in den §§ 9 und 10 des Gesetzes über audiovisuelle Programme vorgesehenen Ausnahmen auf dem Inhalt des betreffenden Programms oder dem Kontext, in dem es bereitgestellt wird. Außerdem kann nach § 11 dieses Gesetzes unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden.
49 Allerdings haben solche Ausnahmen, soweit sie eng definiert sind und/oder audiovisuelle Programme betreffen, deren Inhalt a priori für die Entwicklung Minderjähriger nicht schädlich sein kann, eine begrenzte Tragweite. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist somit nicht ersichtlich, dass sie der Verwirklichung des mit diesem Gesetz verfolgten Ziels entgegenstehen könnten.
50 Zum anderen ergibt sich aus § 2 des Gesetzes über audiovisuelle Programme, dass eine Aufzeichnung eines audiovisuellen Programms nur dann unter dieses Gesetz fällt, wenn sie in Finnland von einem Unternehmen oder Betreiber, der in diesem Mitgliedstaat registriert ist oder dort über eine Niederlassung verfügt, oder von einem finnischen Staatsangehörigen oder einer Person mit gewöhnlichem Aufenthalt in Finnland vertrieben wird oder wenn die Entscheidung über den Vertrieb dieser Aufzeichnung in Finnland getroffen wurde.
51 Soweit eine solche Bestimmung dazu führt, dass ein Teil der Aufzeichnungen, die in Finnland von einem anderen Mitgliedstaat aus vertrieben werden können, so dass Programmaufzeichnungen ohne Kennzeichnung in Bezug auf das für ihre Betrachtung erforderliche Mindestalter vertrieben werden können, vom Anwendungsbereich des Gesetzes über audiovisuelle Programme ausgenommen wird, zeigt sie sich als geeignet, die Wirksamkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung zum Nachteil der Verwirklichung des Ziels des Schutzes Minderjähriger zu beschränken.
52 Die finnische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass es in Finnland nicht möglich gewesen sei, eine rechtliche Regelung einzuführen, wonach Aufnahmen audiovisueller Programme, die von einem anderen Mitgliedstaat aus im Fernabsatz verkauft würden, der im Gesetz über audiovisuelle Programme vorgesehenen Einstufungspflicht unterworfen werden könnten. Jedenfalls sei es praktisch unmöglich gewesen, die Einhaltung einer solchen Verpflichtung wirksam zu überwachen.
53 Im Übrigen nähmen die meisten finnischen Verbraucher ihre Einkäufe in Online-Shops mit Sitz in Finnland vor, so dass die Verwirklichung des mit dem Gesetz über audiovisuelle Programme verfolgten Ziels nicht grundsätzlich dadurch gefährdet werde, dass sich dessen Bestimmungen nicht auf alle ausländischen Anbieter von Aufzeichnungen audiovisueller Programme erstreckten.
54 Wie sich aus der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage u. a. der von den Behörden des betreffenden Mitgliedstaats vorgelegten Nachweise objektiv zu prüfen, ob insbesondere im Hinblick auf den Anwendungsbereich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung die Pflicht zur Einstufung und Kennzeichnung von in Finnland vertriebenen audiovisuellen Programmen tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das Ziel zu erreichen, Minderjährige vor Aufzeichnungen zu schützen, deren Inhalt ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen kann.
55 Dabei sind insbesondere die ratio legis , die der Begrenzung des Anwendungsbereichs der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung zugrunde liegt, und die Folgen zu berücksichtigen, die diese Begrenzung konkret für die Erreichung des verfolgten Ziels hat.
56 Zweitens ist in Bezug auf die Beurteilung der Erforderlichkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahme hervorzuheben, dass es mangels einer unionsweiten Harmonisierung der Vorschriften über die Einstufung und die Kennzeichnung audiovisueller Programme Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz Minderjähriger vor audiovisuellen Inhalten, die deren Wohlergehen und Entwicklung beeinträchtigen können, gewährleisten wollen.
57 Somit entsprechen die Maßnahmen eines Mitgliedstaats zum Schutz Minderjähriger vor solchen Inhalten nicht notwendigerweise einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung in Bezug auf das Niveau und die Modalitäten dieses Schutzes. Da diese Auffassung je nach Erwägungen insbesondere moralischer oder kultureller Art von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein kann, ist den Mitgliedstaaten in diesem Bereich ein Ermessen zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Daher kann der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat für andere Modalitäten zum Schutz Minderjähriger vor Inhalten, die ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können, als ein anderer Mitgliedstaat entschieden hat, als solcher keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der in diesem Bereich erlassenen nationalen Bestimmungen haben, die allein an dem von ihnen verfolgen Ziel und dem Schutzniveau zu messen sind, das der betreffende Mitgliedstaat gewährleisten will (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C‑244/06, EU:C:2008:85, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Daraus folgt insbesondere, dass ein Mitgliedstaat zu Recht davon ausgehen darf, dass sich die Verbraucher in seinem Hoheitsgebiet auf die Angaben über die Altersgrenze und den Inhalt, welche die in diesem Mitgliedstaat geltenden moralischen und kulturellen Auffassungen widerspiegeln, stützen können müssen, damit sie in Kenntnis der Sachlage entscheiden können, ob ein bestimmtes audiovisuelles Programm für das Alter der minderjährigen Personen, für die sie verantwortlich sind, geeignet ist.
60 Demnach kann von einem Mitgliedstaat nicht verlangt werden, auf die Verpflichtung, dass die über einen Online-Shop vertriebenen audiovisuellen Programme in diesem Mitgliedstaat vorab nach Maßgabe der Altersgrenzen zum Schutz von Minderjährigen eingestuft und gekennzeichnet werden, aus dem Grund zu verzichten, dass ein solches Programm bereits in einem anderen Mitgliedstaat zu diesem Zweck eingestuft und gekennzeichnet wurde.
61 Ebenso wenig kann ein Mitgliedstaat verpflichtet sein, eine Ausnahme von der Pflicht zur Einstufung und Kennzeichnung audiovisueller Programme nach Maßgabe der Altersgrenzen vorzusehen, wenn festgestellt werden könnte, dass der Erwerber einer Aufzeichnung volljährig ist. Wenn nämlich die Einstufung und die Kennzeichnung audiovisueller Programme nach Maßgabe der Altersgrenzen vor der Versendung des Trägers, auf dem sie gespeichert sind, aber erst nach dessen Kauf erfolgen, wären die Verbraucher nicht in der Lage, in Kenntnis der Sachlage zu bestimmen, ob ein Programm für das Alter der Minderjährigen, für die sie verantwortlich sind oder die Zugang zu dieser Aufzeichnung haben können, geeignet ist. Es bestünde also ein größeres Risiko, dass ein Minderjähriger Zugang zu einem für sein Alter ungeeigneten Programm hat. In Anbetracht dieser Erwägungen kann von einem Mitgliedstaat auch nicht verlangt werden, dass er nur die Programme, deren Aufzeichnungen tatsächlich in diesen Mitgliedstaat versendet werden, der Pflicht zur Einstufung und Kennzeichnung unterwirft.
62 Außerdem ist festzustellen, dass die Beeinträchtigung des freien Verkehrs von Aufzeichnungen audiovisueller Programme durch eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit dieser Maßnahme verfolgten Ziels erforderlich ist, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
63 Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der finnische Gesetzgeber, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, den Anwendungsbereich der streitigen Maßnahme mit § 2 Abs. 1 des Gesetzes über audiovisuelle Programme beschränkt und mehrere Ausnahmen von der Pflicht zur Einstufung und Kennzeichnung audiovisueller Programme in den §§ 9 bis 11 dieses Gesetzes vorgesehen hat.
64 Im Übrigen enthält die dem Gerichtshof vorliegende Akte keinen Anhaltspunkt dafür, dass das in Anwendung dieses Gesetzes durchgeführte Einstufungsverfahren nicht leicht zugänglich wäre, dass es nicht innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt werden könnte oder dass, wenn es zu einer Ablehnung führt, die entsprechende Entscheidung nicht Gegenstand eines gerichtlichen Rechtsbehelfs sein könnte. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2008, Dynamic Medien, C‑244/06, EU:C:2008:85, Rn. 50 und 51).
65 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage Folgendes zu antworten:
– Die Art. 34 und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die mit dem Ziel des Schutzes Minderjähriger vor audiovisuellen Inhalten, die ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können, verlangt, dass die auf einem physischen Träger gespeicherten und über einen Online-Shop vertriebenen audiovisuellen Programme vorab auch dann Gegenstand eines Kontrollverfahrens und einer Einstufung im Hinblick auf Altersgrenzen und einer entsprechenden Kennzeichnung nach dem Recht dieses Mitgliedstaats sind, wenn diese Programme bereits Gegenstand eines Verfahrens und einer entsprechenden Einstufung und Kennzeichnung nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats waren, sofern diese Regelung geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist.
– Insoweit ist der Umstand, dass ein Teil der Aufzeichnungen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat von einem anderen Mitgliedstaat aus vertrieben werden können, vom Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen ist, nicht entscheidend, sofern eine solche Beschränkung die Erreichung des verfolgten Ziels nicht gefährdet. Ebenso wenig kommt es darauf an, dass die betreffende nationale Regelung keine Ausnahme von diesem Erfordernis vorsieht, wenn nachgewiesen werden kann, dass der Käufer einer Aufzeichnung im Sinne dieser Regelung volljährig ist.
Zur zweiten Frage
66 In Anbetracht der Antwort auf die erste Vorlagefrage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
67 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 34 und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die mit dem Ziel des Schutzes Minderjähriger vor audiovisuellen Inhalten, die ihr Wohlergehen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können, verlangt, dass die auf einem physischen Träger gespeicherten und über einen Online-Shop vertriebenen audiovisuellen Programme vorab auch dann Gegenstand eines Kontrollverfahrens und einer Einstufung im Hinblick auf Altersgrenzen und einer entsprechenden Kennzeichnung nach dem Recht dieses Mitgliedstaats sind, wenn diese Programme bereits Gegenstand eines Verfahrens und einer entsprechenden Einstufung und Kennzeichnung nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats waren, sofern diese Regelung geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist.
Insoweit ist der Umstand, dass ein Teil der Aufzeichnungen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat von einem anderen Mitgliedstaat aus vertrieben werden können, vom Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen ist, nicht entscheidend, sofern eine solche Beschränkung die Erreichung des verfolgten Ziels nicht gefährdet. Ebenso wenig kommt es darauf an, dass die betreffende nationale Regelung keine Ausnahme von diesem Erfordernis vorsieht, wenn nachgewiesen werden kann, dass der Käufer einer Aufzeichnung im Sinne dieser Regelung volljährig ist.
Unterschriften