Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 22. Februar 2024(1 )
Rechtssache C ‑66/23
Elliniki Ornithologiki Etaireia (Hellenische Ornithologische Gesellschaft) u. a.
gegen
Ypourgos Esoterikon (Innenminister, Griechenland) u. a.
(Vorabentscheidungsersuchen des Symvoulio tis Epikrateias [Staatsrat, Griechenland])
„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2009/147/EG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Besondere Schutzgebiete (BSG) – Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen – Erfasste Arten – Erhaltungsziele – Prioritäten“
I. Einleitung
1. Nach der Vogelschutzrichtlinie(2 ) richten die Mitgliedstaaten besondere Schutzgebiete für Vögel (im Folgenden: BSG) ein. Doch welche Vogelarten müssen darin geschützt werden? Diese Frage ist im vorliegenden Verfahren zu beantworten.
2. Bei den Vogelarten, die durch die Ausweisung von BSG geschützt werden sollen, handelt es sich um die in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Arten, die besonders schutzbedürftig sind, sowie um alle regelmäßig auftretenden Zugvogelarten. Als BSG sollen diejenigen Gebiete ausgewiesen werden, die aus wissenschaftlicher Sicht für den Schutz der jeweiligen Art am besten geeignet sind.
3. Für jedes Gebiet müssen Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen festgelegt werden. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen soll klären, ob diese Maßnahmen auf den Schutz derjenigen Vogelarten beschränkt werden dürfen, die für die Ausweisung des Gebiets maßgeblich waren, für deren Schutz das Gebiet also am besten geeignet ist, oder ob darin auch die anderen Vögel des Anhangs I und die Zugvogelarten einbezogen werden müssen, die in diesem Gebiet ebenfalls vorkommen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Vogelschutzrichtlinie
4. Die heute geltende Vogelschutzrichtlinie ist eine kodifizierte Fassung der ursprünglichen Vogelschutzrichtlinie.(3 ) Für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens sind die beiden Fassungen – soweit ersichtlich – identisch.
5. Art. 4 der Vogelschutzrichtlinie sieht die Ausweisung besonderer Schutzgebiete für Vögel vor:
„(1) Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang sind zu berücksichtigen:
a) vom Aussterben bedrohte Arten;
b) gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten;
c) Arten, die wegen ihres geringen Bestands oder ihrer beschränkten örtlichen Verbreitung als selten gelten;
d) andere Arten, die aufgrund des spezifischen Charakters ihres Lebensraums einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
Bei den Bewertungen werden Tendenzen und Schwankungen der Bestände der Vogelarten berücksichtigt.
Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs‑, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. Zu diesem Zweck messen die Mitgliedstaaten dem Schutz der Feuchtgebiete und ganz besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete besondere Bedeutung bei.
(3) …
(4) Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, [in den] in den Abs. 1 und 2 genannten Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten bemühen sich ferner, auch außerhalb dieser Schutzgebiete die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.“
2. Habitatrichtlinie
6. Die Habitatrichtlinie(4 ) erweitert den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Naturschutzes auf andere Tier- und Pflanzenarten sowie auf bestimmte Lebensraumtypen und integriert die ältere Vogelschutzrichtlinie teilweise.
7. Art. 3 Abs. 1 der Habitatrichtlinie beschreibt das Netzwerk europäischer Schutzgebiete:
„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhang[s] II umfassen, und muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.
Das Netz ‚Natura 2000‘ umfasst auch die von den Mitgliedstaaten aufgrund der [Vogelschutzrichtlinie] ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete.“
8. Art. 4 Abs. 4 der Habitatrichtlinie regelt die Ausweisung von Schutzgebieten nach dieser Richtlinie:
„Ist ein Gebiet aufgrund des in Abs. 2 genannten Verfahrens als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung bezeichnet worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet so schnell wie möglich – spätestens aber binnen sechs Jahren – als besonderes Schutzgebiet aus und legt dabei die Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit dieser Gebiete für die Wahrung oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes eines natürlichen Lebensraumtyps des Anhangs I oder einer Art des Anhangs II und für die Kohärenz des Netzes Natura 2000 sowie danach fest, inwieweit diese Gebiete von Schädigung oder Zerstörung bedroht sind.“
9. Schutzbestimmungen für diese Gebiete sind in Art. 6 der Habitatrichtlinie niedergelegt:
„(1) Für die besonderen Schutzgebiete legen die Mitgliedstaaten die nötigen Erhaltungsmaßnahmen fest, die gegebenenfalls geeignete, eigens für die Gebiete aufgestellte oder in andere Entwicklungspläne integrierte Bewirtschaftungspläne und geeignete Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art umfassen, die den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten vorkommen.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.
(3) Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Abs. 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.
(4) Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.
Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.“
10. Art. 7 der Habitatrichtlinie ersetzt eine Schutzbestimmung der Vogelschutzrichtlinie durch bestimmte Regelungen der Habitatrichtlinie:
„Was die nach Art. 4 Abs. 1 der [Vogelschutzrichtlinie] zu [BSG] erklärten oder nach Art. 4 Abs. 2 derselben Richtlinie als solche anerkannten Gebiete anbelangt, so treten die Verpflichtungen nach Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der vorliegenden Richtlinie ab dem Datum für die Anwendung der vorliegenden Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet von einem Mitgliedstaat entsprechend der [Vogelschutzrichtlinie] zum [BSG] erklärt oder als solches anerkannt wird, an die Stelle der Pflichten, die sich aus Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der [Vogelschutzrichtlinie] ergeben.“
B. Griechisches Recht
11. Im Ausgangsrechtsstreit wird die Gemeinsame Ministerialverordnung Nr. 8353/276/Ε103(5 ) angefochten, die die Gemeinsame Ministerialverordnung Nr. 37338/1807/2010(6 ) ändert.
12. Die Gemeinsame Ministerialverordnung Nr. 8353/276/Ε103 umfasst besondere Erhaltungsmaßnahmen, Bestimmungen, Verbote, Verfahren und Eingriffe, die auf alle BSG anwendbar sind. Sie fungiert als Leitlinie für die Ausübung von Tätigkeiten innerhalb der BSG und enthält „Vorsorgemaßnahmen“ in Erwartung der Einführung eines umfassenden Schutzrahmens für jedes einzelne BSG, der bislang noch aussteht. Denn in Griechenland wurden bisher keine geeigneten Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen für jedes einzelne BSG festgelegt, wie dies die geltende innerstaatliche Rechtsordnung zum Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Rechtsakts erforderte und auch heute weiterhin verlangt.
13. Die Maßnahmen der Gemeinsamen Ministerialverordnung Nr. 8353/276/Ε103 sind auf die „die Ausweisung rechtfertigenden Arten“ beschränkt. Es handelt sich um die Vogelarten, für die die BSG infolge einer Beurteilung nach besonderen wissenschaftlichen – nämlich ornithologischen – Kriterien ausgewiesen werden.
14. Die Maßnahmen der Gemeinsamen Ministerialverordnung Nr. 8353/276/Ε103 wurden nach Beratung mit den Organen der Europäischen Union aufgrund einer besonderen wissenschaftlichen Studie erlassen. Letztere teilte die Vogelarten – je nach ihrem ökologischen Bedarf – für die Ausweisung der BSG in Gruppen ein und ermittelte – je nach Art oder Gruppenart – ihre Bedrohungen und allgemeine Grundsätze für ihren Schutz. Zudem bewertete die Studie diejenigen Maßnahmen, die zur Regulierung der Ausübung bestimmter Tätigkeiten vorgeschlagen wurden, die Bedrohungen für die die Ausweisung rechtfertigenden Arten darstellen, sowie die geeigneten Bewirtschaftungsmaßnahmen im Allgemeinen.
15. Die Gemeinsame Ministerialverordnung Nr. 8353/276/Ε103 beinhaltet nicht nur Maßnahmen zur Durchführung von Projekten und Tätigkeiten innerhalb eines BSG im Rahmen des Verfahrens der UVP-Richtlinie(7 ) und der Habitatrichtlinie, sondern auch Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Tätigkeiten, für die keine vorherige Umweltgenehmigung und Prüfung nach den genannten Rechtsvorschriften erforderlich ist (z. B. Jagd, Flurbereinigung, Forstwirtschaft, Nutzung von Giftködern, Fischerei, wissenschaftliche Forschung usw.).
16. Die genannten Maßnahmen in ihrer Gesamtheit greifen somit weder Verfahren zum Erlass weiterer Schutz- und Bewirtschaftungsmaßnahmen für die BSG durch die zuständigen Behörden im Einzelfall vor, noch – gegebenenfalls – der Verpflichtung zur Umweltverträglichkeitsprüfung von Projekten und Tätigkeiten gemäß der UVP-Richtlinie und der Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie, falls diese erforderlich sind.
III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen
17. Im Ausgangsverfahren wenden sich verschiedene Verbände sowie eine große Zahl von Einzelpersonen gegen die Schutzregelung der Gemeinsamen Ministerialverordnung Nr. 8353/276/Ε103. Sie tragen u. a. vor, dass sie die Vogelschutzrichtlinie fehlerhaft in die griechische Rechtsordnung umgesetzt hat, da sie Schutzmaßnahmen vorsieht, die gleichermaßen für alle BSG gelten, aber nicht sämtliche der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten sowie die Zugvögel mit regelmäßigem Aufenthalt schützen, die dort vorkommen.
18. Konkret würden nach den Bestimmungen des angefochtenen Rechtsakts lediglich die Arten eines BSG geschützt, die deren Ausweisung rechtfertigen, und dies nur insoweit als sie die numerischen Kriterien erfüllten, die die ältere Gemeinsame Ministerialverordnung Nr. 37338/1807/2010 festlege. Dagegen sehe Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie vor, dass der Schutz aufgrund des Umstands gewährt werde, dass eine Art in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführt sei. Daher wird nach Ansicht der Kläger des Ausgangsverfahrens auch der Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der Vogelschutzrichtlinie beeinträchtigt.
19. Der Rechtsstreit ist vor dem Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland) anhängig, der daher die folgenden Fragen an den Gerichtshof richtet:
1) Ist Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass er nationalen Vorschriften wie den in den Entscheidungsgründen angegebenen entgegensteht, die vorsehen, dass die besonderen Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen für die Arten und Lebensräume wildlebender Vögel in den BSG lediglich auf die „die Ausweisung rechtfertigenden Arten“ Anwendung finden, also lediglich auf die in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten wildlebenden Vogelarten sowie auf die Zugvögel mit regelmäßigem Aufenthalt in jedem einzelnen BSG, wobei diese Maßnahmen in Verbindung mit den Kriterien für die Ausweisung der BSG, die sich aus der nationalen Rechtsordnung ergeben, als Indikatoren für die Ausweisung eines Gebiets als BSG herangezogen werden?
2) Hat auf die Antwort auf die vorangegangene Frage die Tatsache Einfluss, dass die genannten besonderen Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen für die Arten und Lebensräume wildlebender Vögel in den BSG im Wesentlichen grundlegende präventive Schutzmaßnahmen („Vorsorgemaßnahmen“) der BSG darstellen, also für alle BSG horizontal angewendet werden, und dass bis heute in den griechischen Rechtsvorschriften keine Pläne zur Bewirtschaftung jedes einzelnen BSG erlassen worden sind, die die erforderlichen Ziele und Maßnahmen festlegen, um eine zufriedenstellende Erhaltung jedes einzelnen BSG und der Arten, die in ihm leben, zu erreichen oder sicherzustellen?
3) Hat auf die Antwort auf die beiden vorangegangenen Fragen die Tatsache Einfluss, dass aufgrund der Verpflichtung zur Umweltverträglichkeitsprüfung von Projekten und Tätigkeiten gemäß der UVP-Richtlinie und der „Prüfung“ gemäß Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitatrichtlinie die in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Arten oder die Zugvögel mit regelmäßigem Aufenthalt in jedem einzelnen BSG sämtlich im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung jeder konkreten Planung eines öffentlichen oder privaten Projekts erfasst werden?
20. Zwei Kläger der Ausgangsverfahren, der Syllogos Diktyo Oikologikon Organoseon Aigaiou (Netzwerkverband der Umweltorganisationen der Ägäis, im Folgenden: Netzwerkverband) und der Perivallontikos Syllogos Rethymnou (Umweltverband von Rethymno, im Folgenden: Umweltverband), die Hellenische Republik, das Königreich der Niederlande, Polen sowie die Europäische Kommission haben sich schriftlich geäußert. An der von der Tschechischen Republik beantragten mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2024 haben diese sowie die übrigen genannten Beteiligten mit Ausnahme Polens teilgenommen.
IV. Rechtliche Würdigung
21. Mit dem Vorabentscheidungsersuchen soll geklärt werden, ob ein Mitgliedstaat Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen für die Arten und Lebensräume wildlebender Vögel in BSG auf diejenigen Arten beschränken darf, deren Vorkommen für die Ausweisung des jeweiligen Gebiets entscheidend war. Die Kläger des Ausgangsverfahrens verlangen nämlich, diesen Schutz auch auf andere schutzwürdige Vogelarten zu erstrecken, die in den BSG vorkommen.
22. Die erste Frage zielt darauf ab, wie die Mitgliedstaaten diese Maßnahmen nach den einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen festlegen sollen. Die zweite Frage bezieht sich auf die besondere Situation in Griechenland, das solche Maßnahmen bislang nicht individuell für jedes BSG, sondern nur gemeinsam für alle BSG festgelegt hat. Mit der dritten Frage soll geklärt werden, ob es ausreicht, dass die anderen schutzwürdigen Vogelarten in Umweltprüfungen im Zusammenhang mit Plänen und Projekten berücksichtigt werden.
A. Frage 1 – die Festlegung von Schutz ‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen in BSG nach der Vogelschutzrichtlinie
23. Die erste Frage betrifft den Kern des Vorabentscheidungsersuchens: Müssen Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen nach der Vogelschutzrichtlinie in einem BSG nur für die Vogelarten festgelegt werden, für die das Gebiet ausgewiesen wurde, oder auch für andere schutzwürdige Arten, die dort vorkommen? Diese Frage erklärt sich vor dem Hintergrund der Regelung über die Identifizierung von BSG (dazu unter 1) und ist anhand der Regelungen über Schutzmaßnahmen in den BSG zu beantworten (dazu unter 2).
1. Die Identifizierung von BSG
24. Art. 4 der Vogelschutzrichtlinie sieht eine Regelung vor, die gerade die in Anhang I aufgezählten Arten und die Zugvogelarten unter verstärkten Schutz stellt. Dies ist durch die Tatsache gerechtfertigt, dass es sich (bei den Arten des Anhangs I) um die am meisten bedrohten Arten bzw. (bei den Zugvogelarten) um Arten handelt, die ein gemeinsames Erbe der Europäischen Union darstellen.(8 )
25. Nach Art. 4 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie erklären die Mitgliedstaaten insbesondere die für die Erhaltung der Arten des Anhangs I zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu BSG. Sie treffen gemäß Art. 4 Abs. 2 entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs‑, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. Diese Gebiete sind anhand von ornithologischen Kriterien zu identifizieren.(9 )
26. Jedes BSG wird daher durch bestimmte Vogelarten des Anhangs I charakterisiert, für deren Erhaltung das Gebiet am besten geeignet ist, und/oder durch bestimmte Zugvogelarten, für deren Erhaltung es ein am besten geeignetes Vermehrungs‑, Mauser- oder Überwinterungsgebiet oder ein solcher Rastplatz in einem Wanderungsgebiet ist. Die streitgegenständliche griechische Regelung legt für diese Arten und ihre Lebensräume bestimmte Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen fest.
27. Gleichwohl ist es möglich, dass in einem BSG auch andere schutzwürdige Arten , also andere Arten des Anhangs I der Vogelschutzrichtlinie oder andere Zugvogelarten vorkommen, für deren Erhaltung das BSG zwar geeignet, aber nicht am besten geeignet ist. Solche Vorkommen waren für die Ausweisung des BSG nicht ausschlaggebend, doch die Kläger des Ausgangsverfahrens und die Kommission vertreten die Auffassung, dass die Schutz-, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen auch auf diese anderen schutzwürdigen Arten und ihre Lebensräume erstreckt werden müssen.
28. Dem hält insbesondere die Tschechische Republik entgegen, dass diese anderen schutzwürdigen Arten bereits in den besonders für sie ausgewiesenen BSG ausreichend geschützt würden. Die übrigen beteiligten Mitgliedstaaten neigen dieser Auffassung zu, schließen allerdings den Schutz anderer schutzwürdiger Arten in anderen BSG auch nicht vollständig aus.
2. Die Regelungen über Schutzmaßnahmen in BSG
29. Inwieweit diese beiden Auffassungen zutreffen, ergibt sich aus den Regelungen über Schutzmaßnahmen in BSG. Diese waren ursprünglich allein in Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie niedergelegt. Während Art. 4 Abs. 1 und 2 weiterhin gelten, wurde Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie allerdings durch Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitatrichtlinie ersetzt.
30. Eine Gesamtschau der Regelungen der beiden Richtlinien führt zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Schutzmaßnahmen und Erhaltungszielen für BSG die dort vorkommenden anderen schutzwürdigen Arten ebenfalls berücksichtigen müssen, dabei allerdings Prioritäten festlegen müssen.
31. Um dies zu zeigen, werde ich zunächst die ursprünglich geltenden Regelungen untersuchen, die teilweise weiterhin anwendbar sind (dazu unter a), und anschließend die später durch die Habitatrichtlinie für BSG eingeführten Regeln (dazu unter b). Diese späteren Regeln scheinen zwar auf den ersten Blick gegen eine Verpflichtung zum Schutz anderer schutzwürdiger Arten zu sprechen, doch im Licht weiterer Regeln der Habitatrichtlinie für die nach dieser Richtlinie geschaffenen Schutzgebiete wird deutlich, dass auch die Habitatrichtlinie grundsätzlich eine Berücksichtigung von anderen schutzwürdigen Arten verlangt. Allerdings verpflichtet die Habitatrichtlinie die Mitgliedstaaten, bei den Schutzmaßnahmen Prioritäten festzulegen (dazu unter c). Dieser Gedanke kommt in den weiterhin anwendbaren Bestimmungen der Vogelschutzrichtlinie zwar nicht so deutlich zum Ausdruck, muss allerdings im Wege der Auslegung dort auch angewandt werden (dazu unter d). Abschließend zeige ich, dass dieses Schutzsystem den Zielen der Vogelschutzrichtlinie entspricht (dazu unter e).
a) Die Regelungen der Vogelschutzrichtlinie
32. Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie ist neben bestimmten Regelungen der Habitatrichtlinie weiterhin auf BSG anwendbar.
33. Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 sind auf die in Anhang I aufgeführten Arten besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen. Die Arten des Anhangs I sind die am meisten bedrohten Arten.(10 ) Sie umfassen nach den Kriterien von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis d vom Aussterben bedrohte Arten, gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten, seltene Arten und andere Arten, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Die besonderen Schutzmaßnahmen für diese Arten schließen nach Art. 4 Abs. 1 Satz 4 insbesondere die Ausweisung von BSG ein.
34. Art. 4 Abs. 2 der Vogelschutzrichtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs‑, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten treffen.
35. Daraus hat der Gerichtshof eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, die BSG mit einem rechtlichen Schutzstatus auszustatten, der geeignet ist, die Anforderungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie sicherzustellen.(11 ) Dabei darf sich der Schutz von BSG nicht auf die Abwehr schädlicher Einflüsse des Menschen beschränken, sondern muss je nach Sachlage auch positive Maßnahmen zur Erhaltung oder Verbesserung des Gebietszustands einschließen.(12 )
36. Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie und die auf dieser Grundlage ergangene Rechtsprechung unterscheiden bei diesen Schutzanforderungen nicht danach, ob das betreffende BSG für die geschützten Vogelarten ausgewiesen wurde oder ob geschützte Arten darin als andere schutzwürdige Arten vorkommen.
37. Auch Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie, der auf ausgewiesene BSG mittlerweile nicht mehr anwendbar ist, trifft keine solche Unterscheidung. Danach müssen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen treffen, um in den BSG die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel zu vermeiden, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken.
38. Die ursprünglich geltenden Schutzregelungen erfassten somit nach ihrem Wortlaut auch die anderen schutzwürdigen Arten, die in den BSG vorkommen.
b) Die anwendbaren Bestimmungen der Habitatrichtlinie
39. Nach Art. 7 der Habitatrichtlinie sind allerdings mittlerweile die Verpflichtungen von Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie an die Stelle jener getreten, die sich zuvor aus Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie ergaben.
40. Während die Vogelschutzrichtlinie als erste unionsrechtliche Regelung zum Naturschutz noch auf den Schutz von Vögeln beschränkt ist, wurde sie im Jahr 1992 durch die Habitatrichtlinie ergänzt, die auch die Ausweisung von Schutzgebieten für andere Tier- und Pflanzenarten sowie für bestimmte Lebensraumtypen vorsieht. Diese Schutzgebiete und die BSG nach der Vogelschutzrichtlinie bilden nach Art. 3 der Habitatrichtlinie ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung „Natura 2000“. Die jeweiligen Schutzregelungen verfolgen zwar vergleichbare Ziele, unterscheiden sich jedoch in bestimmten Punkten.
41. Art. 6 Abs. 3 und 4 der Habitatrichtlinie betrifft die Zulassung von Plänen und Projekten, die Natura-2000-Gebiete beeinträchtigen könnten. Diese Regelungen sind für Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen in BSG, die unabhängig von Plänen und Projekten festgelegt werden, nicht unmittelbar von Interesse.
42. Wichtiger ist das Verschlechterungsverbot in Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie. Denn danach muss der rechtliche Schutzstatus der Natura-2000-Gebiete auch gewährleisten, dass dort die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie erhebliche Störungen von Arten vermieden werden. Diese Bestimmung gilt aber ausdrücklich nur für die Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind .
43. Man könnte diese Formulierung so wie Polen und die Tschechische Republik dahin gehend verstehen, dass der Schutz nach Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie nur diejenigen Vogelarten erfasst, die für die Ausweisung eines BSG maßgeblich waren.(13 ) Diese Auslegung entspräche der Einschätzung, dass der Schutz nach Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie weniger weit reicht als der Schutz, den Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie ursprünglich gewährte.(14 )
44. Tatsächlich ist nach Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie aber nicht nur die Beeinträchtigung von Arten (und Lebensraumtypen) zu verhindern, die für die Ausweisung eines Natura-2000-Gebiets maßgeblich waren, sondern vor allem eine Beeinträchtigung von dessen Erhaltungszielen . Diese Ziele sind ausdrücklich Gegenstand des Schutzes nach Art. 6 Abs. 3 (und 4) der Habitatrichtlinie,(15 ) der das gleiche Schutzniveau gewährleisten soll wie Art. 6 Abs. 2.(16 ) Daher muss auch das Schutzniveau von Art. 6 Abs. 2 an den Erhaltungszielen des betreffenden Natura-2000-Gebiets gemessen werden. Bei der Festlegung von Erhaltungszielen sind aber auch die anderen schutzwürdigen Arten zu berücksichtigen, die in einem BSG vorkommen.
c) Festlegung von Erhaltungszielen nach der Habitatrichtlinie
45. Erhaltungsziele können zwar vorläufig aus bestimmten Informationen über ein Gebiet abgeleitet werden, etwa aus dem Standarddatenbogen,(17 ) dessen Format die Kommission festgelegt hat;(18 ) sie bedürfen jedoch grundsätzlich einer gesonderten Festlegung.
46. In der Habitatrichtlinie ist die Verpflichtung zur Festlegung von Erhaltungszielen zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, doch sie wird insbesondere von Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 vorausgesetzt.(19 )
47. Nach Art. 4 Abs. 4 der Habitatrichtlinie legen die Mitgliedstaaten bei der Ausweisung von Schutzgebieten Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit dieser Gebiete für die Wahrung oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands eines natürlichen Lebensraumtyps des Anhangs I oder einer Art des Anhangs II und für die Kohärenz des Netzes Natura 2000 sowie danach fest, inwieweit diese Gebiete von Schädigung oder Zerstörung bedroht sind. Die Festlegung dieser Prioritäten setzt aber voraus, dass die Erhaltungsziele festgelegt wurden.(20 ) Durch die Festlegung von Prioritäten entscheiden die zuständigen Stellen nämlich, welchen Stellenwert sie den einzelnen Erhaltungszielen zumessen. Wenn Erhaltungsziele erst später festgelegt würden, könnten zuvor festgelegte Prioritäten sie aber zwangsläufig noch nicht berücksichtigen.
48. Daneben sieht Art. 6 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten die nötigen Erhaltungsmaßnahmen festlegen, die den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten vorkommen .(21 )
49. Auch die Bestimmung der ökologischen Erfordernisse setzt (zwingend(22 )) voraus, dass die Erhaltungsziele bereits festgelegt sind.(23 ) Diese Erfordernisse sind zwar wissenschaftlicher Natur, aber beziehen sich auf bestimmte Naturgüter, die durch die Erhaltungsziele definiert werden.
50. Wie die Niederlande anerkennen, sind die Erhaltungsmaßnahmen nach Art. 6 Abs. 1 der Habitatrichtlinie im Unterschied zum Schutz nach Art. 6 Abs. 2 ausdrücklich nicht auf die Arten und Lebensräume beschränkt, für die das jeweilige Schutzgebiet ausgewiesen wurde, sondern sie sind auf alle Arten und Lebensraumtypen der Anhänge auszurichten, die dort vorkommen.(24 ) Das impliziert, dass die Erhaltungsziele grundsätzlich auch die Arten und Lebensraumtypen einschließen, die in den Gebieten zwar vorkommen, aber für deren Ausweisung nicht maßgeblich waren.
51. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen allen vorkommenden Arten und Lebensraumtypen gleichermaßen zugutekommen müssen. Vielmehr müssen die Mitgliedstaaten – wie bereits ausgeführt – nach Art. 4 Abs. 4 der Habitatrichtlinie Prioritäten festlegen.(25 )
52. Diese Prioritäten werden sich naturgemäß vorrangig auf die Arten und Lebensräume beziehen, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind. Wenn aber weitere seltene oder empfindliche Arten und Lebensräume in dem Gebiet vorkommen, kann ihr Schutz dort den Schutz in den Gebieten ergänzen, die speziell für sie ausgewiesen wurden. Inwieweit der Beitrag einer solchen Ergänzung zu den übergreifenden Zielen der Habitatrichtlinie Maßnahmen rechtfertigt, ist bei der Festlegung der Prioritäten zu berücksichtigen.
53. Somit ist auch Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie nicht zwingend auf den Schutz von Arten und Lebensraumtypen beschränkt, die für die Ausweisung eines Schutzgebiets nach der Habitatrichtlinie maßgeblich waren, sondern muss auch andere dort vorkommende Arten und Lebensraumtypen einschließen, soweit diese Gegenstand der festgelegten Erhaltungsziele sind.
d) Festlegung von Erhaltungszielen nach der Vogelschutzrichtlinie
54. Die bisherigen Überlegungen zur Festlegung von Erhaltungszielen für Schutzgebiete nach der Habitatrichtlinie können nicht direkt auf BSG nach der Vogelschutzrichtlinie übertragen werden, denn Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 der Habitatrichtlinie sind auf BSG nicht anwendbar. Für BSG gilt vielmehr – wie gesagt(26 ) – weiterhin Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie. Diese Schutzverpflichtungen sind zwar weniger spezifisch formuliert, zielen aber praktisch darauf ab, in BSG einen Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gleichwertigen Schutz zu gewährleisten.(27 ) Daher muss auch der Schutzstatus der BSG Erhaltungsziele einschließen.(28 )
55. Auch die Festlegung von Prioritäten ist bereits in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie angelegt, da die Maßnahmen unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Schutzes der Arten zu treffen sind. Diese Erfordernisse hängen von der konkreten Lage im betreffenden BSG ab.(29 )
56. Das bedeutet in praktischer Hinsicht, dass die zuständigen Stellen feststellen müssen, welche schutzwürdigen Vogelarten in einem BSG vorkommen, welchen Beitrag diese Vorkommen zu den Zielen der Vogelschutzrichtlinie leisten sowie welchen Risiken und Gefahren sie ausgesetzt sind. Auf dieser Grundlage sind die Erhaltungsziele und die für die Erreichung dieser Ziele notwendigen Erhaltungsmaßnahmen für die BSG zu entwickeln. In diesem Rahmen können die zuständigen Stellen bestimmten Erhaltungszielen Vorrang vor anderen Erhaltungszielen einräumen und die verfügbaren Mittel in diesem Sinne konzentrieren. Zugleich können sie eine Verschwendung solcher Mittel für Schutzmaßnahmen geringer Wirksamkeit vermeiden, was insbesondere die Tschechische Republik sicherstellen will.
57. Der Umstand, dass ein BSG für den Schutz bestimmter Vogelarten am besten geeignet ist, muss in diesen Prioritäten in der Regel zum Ausdruck kommen, denn für deren Erhaltung wurde das Gebiet ausgewiesen.(30 )
58. Aber auch die Vorkommen der anderen schutzwürdigen Arten in den BSG dürfen nicht pauschal vernachlässigt werden. Vielmehr bedarf ein Verzicht auf oder eine Beschränkung von Erhaltungszielen und Erhaltungsmaßnahmen im Hinblick auf andere schutzwürdige Arten, die in einem BSG vorkommen, einer sorgfältigen Würdigung der Bedeutung dieser Vorkommen für die Erhaltung dieser Arten, die auch in der Begründung der jeweiligen Prioritäten zum Ausdruck kommen muss.
59. Einen ersten Anhaltspunkt wird insoweit die Einstufung des betreffenden Vorkommens im Standarddatenbogen des Gebiets liefern: Er sieht eine Bewertung der jeweiligen Population im Gebiet im Vergleich zur nationalen Population vor.(31 ) Wie die Kommission darlegt, zeigt eine Bewertung mit A, B oder C, dass der Population eine gewisse Bedeutung zukommt und sie daher grundsätzlich Schutz verdient. Wenn die Population einer Art lediglich mit D bewertet wird, ist sie nicht signifikant und bedarf daher – jedenfalls bei zutreffender Bewertung – in der Regel keiner Schutzmaßnahmen.
60. Bei besser bewerteten Populationen (A, B oder C) ist, wie die Niederlande anerkennen, besonderes Augenmerk auf andere schutzwürdige Arten des Anhangs I der Vogelschutzrichtlinie zu legen, denn bei ihnen handelt es sich um die am meisten bedrohten Arten.(32 ) Es erscheint daher grundsätzlich zweifelhaft, ob es zulässig ist, sie von Schutzmaßnahmen in BSG auszuschließen, für deren Ausweisung sie zwar nicht maßgeblich sind, in denen sie aber dennoch vorkommen.
61. Außerdem betont der Netzwerkverband zu Recht, dass bestimmte Arten nicht konzentriert in bestimmten Gebieten vorkommen, sondern ihrer Natur nach isoliert leben. In Bezug auf solche Arten sind die Unterschiede zwischen den BSG, die für ihre Erhaltung am besten geeignet sind, und anderen BSG, in denen sie auch vorkommen, gering. So legt der Netzwerkverband dar, dass die jeweiligen Vorkommen des Habichtsadlers (Hieraaetus fasciatus ) in den zehn BSG, die Griechenland für diese Art ausgewiesen hat, genauso groß oder sogar kleiner sind wie in den 81 anderen BSG, in denen sie nur als andere schutzwürdige Art vorkommen. Und auch beim Schreiadler (Aquila pomarina ) kommt dem Netzwerkverband zufolge der überwiegende Teil der Gesamtpopulation in BSG vor, die nicht speziell für diese Art ausgewiesen wurden. Daher lässt sich kaum behaupten, dass diese Arten in den für ihren Schutz am besten geeigneten Gebieten bereits ausreichend geschützt werden. Vielmehr bedürfte es gewichtiger Gründe, um sie in allen anderen Gebieten, wo sie als andere schutzwürdige Arten vorkommen, von den Schutzmaßnahmen auszuschließen.
62. Dies gilt erst recht, soweit der Netzwerkverband Vogelarten des Anhangs I oder regelmäßig auftretende Zugvogelarten nennt, die zwar in BSG vorkommen, für die aber überhaupt keine oder weniger BSG als erforderlich ausgewiesen wurden.(33 ) Ob Griechenland seiner Verpflichtung zur Ausweisung von BSG für diese Arten ausreichend nachgekommen ist, muss zwar vorliegend nicht entschieden werden. Ohne eigene BSG oder bei zu wenigen eigenen BSG erscheint es jedoch geboten, sie zumindest als andere schutzwürdige Arten in den BSG zu schützen, in denen sie vorkommen. Denn andernfalls würden diese Arten in Griechenland überhaupt nicht oder unzureichend geschützt.
63. Die Niederlande legen allerdings dar, dass insbesondere bestimmte Zugvogelarten, etwa der Zilpzalp (Phylloscopus collybita ), das Rotkehlchen (Erithacus rubecula ), die Amsel (Turdus merula ) oder die Dohle (Corvus monedula ), zwar auch in BSG regelmäßig vorkommen mögen, aber nicht gefährdet, sondern unabhängig von BSG weit verbreitet sind. Für solche Arten dürfte es tatsächlich in der Regel ausreichen, Schutzmaßnahmen auf BSG zu beschränken, die speziell für sie ausgewiesen wurden, weil sie dort etwa während bestimmter Perioden ihres Lebens- oder Wanderungszyklus besonders konzentriert vorkommen.
64. Und schließlich können bei dieser Festlegung von Erhaltungszielen und Prioritäten auch Konflikte zwischen einander widersprechenden Zielen angemessen entschieden werden.(34 )
65. Daher ist es folgerichtig, im Rahmen der Maßnahmen nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie grundsätzlich alle in einem BSG vorkommenden schutzwürdigen Vogelarten und ihre Lebensräume zu berücksichtigen, bei ihrem Schutz allerdings auch Prioritäten festzulegen.
e) Die Ziele der Schutzregelung
66. Diese Auslegung entspricht den Zielen von Art. 4 der Vogelschutzrichtlinie.
67. Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie sollen die Schutzmaßnahmen das Überleben und die Vermehrung der Vogelarten des Anhangs I in ihrem Verbreitungsgebiet sicherstellen. Dieses Verbreitungsgebiet ist nicht auf die BSG beschränkt, die für den Schutz der einzelnen Arten am besten geeignet sind, sondern erstreckt sich insbesondere auch auf andere BSG, in denen diese Arten vorkommen.
68. Die gleiche Zielsetzung muss für die übrigen Zugvogelarten gelten, da die Mitgliedstaaten für diese Arten nach Art. 4 Abs. 2 der Vogelschutzrichtlinie entsprechende Maßnahmen treffen sollen.
69. Dementsprechend bemühen sich die Mitgliedstaaten nach dem weiterhin anwendbaren Art. 4 Abs. 4 Satz 2 der Vogelschutzrichtlinie, auch außerhalb der BSG die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden. Dieser Aufgabe und dem übergeordneten Ziel von Art. 4 würden sie jedenfalls dann nicht gerecht, wenn sie innerhalb von BSG ohne besondere Gründe die Verschlechterung von Lebensräumen der anderen schutzwürdigen Arten zulassen würden, für die das BSG nicht ausgewiesen wurde.
70. Im Übrigen würden Schutzmaßnahmen, die die ökologischen Bedürfnisse der anderen schutzwürdigen Arten in den BSG ignorieren, nicht den Mindestanforderungen der Grundsätze der Vorsorge und Vorbeugung(35 ) genügen. Mögliche Risiken und bekannte Gefahren für diese Arten würden nämlich pauschal und ohne weitere Abwägung hingenommen. Diese Grundsätze gehören aber zum Fundament der Politik eines hohen Schutzniveaus, die die Union gemäß Art. 191 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV im Bereich der Umwelt verfolgt. Daher sind sie insbesondere bei der Auslegung der Habitatrichtlinie und der Vogelschutzrichtlinie zu berücksichtigen.(36 )
3. Zwischenergebnis
71. Somit verpflichtet Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie die Mitgliedstaaten, für jedes BSG individuelle Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen in Bezug auf alle vorkommenden Vogelarten des Anhangs I und die regelmäßig vorkommenden Zugvogelarten sowie ihre Lebensräume festzulegen. Dabei müssen die Mitgliedstaaten Prioritäten festlegen und können in diesem Rahmen die Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen auf bestimmte Arten und deren Lebensräume konzentrieren.
B. Frage 2 – die horizontale Festlegung von Schutz ‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen für alle BSG
72. Die zweite Frage soll klären, welche Bedeutung der Tatsache zukommt, dass die griechischen Schutzmaßnahmen, gleichermaßen für alle BSG gelten.
73. Diese Situation ist in der Vogelschutzrichtlinie nicht vorgesehen. Vielmehr zeigen die vorstehenden Überlegungen, dass die Schutzmaßnahmen grundsätzlich auf die ökologischen Erfordernisse in den einzelnen BSG ausgerichtet sein müssen. Die griechischen Maßnahmen sind dagegen nur insoweit individualisiert, als sie den Vogelarten zugutekommen sollen, die für die Ausweisung des jeweiligen BSG maßgeblich sind. Ansonsten finden die spezifische Situation in den BSG und insbesondere die Bedürfnisse der anderen schutzwürdigen Arten keine Berücksichtigung.
74. Aus den vorstehenden Überlegungen folgt jedoch ebenfalls, dass grundsätzlich sowohl die Vogelarten, für die ein BSG ausgewiesen wurde, als auch die anderen schutzwürdigen Vogelarten, die darin vorkommen, Schutz verdienen. Lediglich bei der Festlegung von Erhaltungszielen und der Festlegung von Erhaltungsmaßnahmen für die jeweiligen Gebiete ist es möglich, Prioritäten festzulegen und bestimmten Arten sowie ihren Lebensräumen Vorrang einzuräumen. Nur diese Vorgehensweise entspricht im Übrigen den Grundsätzen der Vorsorge und der Vorbeugung.
75. Solange ein Mitgliedstaat noch keine Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen für ein bestimmtes BSG festgelegt hat, hat er jedoch auch noch keine Prioritäten festgelegt. Diese Prioritäten kann er auch nicht für das gesamte Staatsgebiet entwickeln, denn dabei würde er die konkrete Lage in den einzelnen BSG nicht ausreichend berücksichtigen. Dass die streitgegenständlichen griechischen Regelungen die ökologischen Bedürfnisse der anderen schutzwürdigen Arten in den BSG ignorieren, illustriert dies sehr deutlich.
76. Daher müssen gleichermaßen auf alle BSG eines Mitgliedstaats anwendbare Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen, die per se keine ausreichende Priorisierung enthalten können, nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie sowohl zugunsten der Vogelarten angewandt werden, für die das jeweilige BSG ausgewiesen wurde, als auch zugunsten der anderen darin vorkommenden Vogelarten des Anhangs I der Vogelschutzrichtlinie und der anderen dort regelmäßig vorkommenden Zugvogelarten.
C. Frage 3 – Umweltprüfungen
77. Mit der dritten Frage möchte der Staatsrat erfahren, ob eine Verpflichtung, sowohl die Vogelarten, für die das BSG ausgewiesen wurde, als auch die anderen dort vorkommenden schutzwürdigen Vogelarten in den Umweltprüfungen von Projekten nach der UVP-Richtlinie oder von Plänen und Projekten nach der Habitatrichtlinie zu berücksichtigen, etwas an der Verpflichtung zum Schutz beider Vogelgruppen durch Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen ändert.
78. Die Antwort auf diese Frage folgt aus dem jeweiligen Gegenstand der jeweiligen Regelungen: Während die Umweltprüfungen bei Plänen und Projekten durchzuführen sind, betreffen die streitgegenständlichen Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen nach dem Vorabentscheidungsersuchen vor allem Aktivitäten, die keiner Umweltprüfung bedürfen. Die beiden Maßnahmen ergänzen sich somit, können aber Lücken in der jeweils anderen Maßnahme nicht schließen.
79. Die Verpflichtung zur Durchführung von Umweltprüfungen von Projekten nach der UVP-Richtlinie und der Habitatrichtlinie ist somit ohne Bedeutung für die Reichweite der Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie.
V. Ergebnis
80. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu beantworten:
1) Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/147/EG über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verpflichtet die Mitgliedstaaten, für jedes besondere Schutzgebiet individuelle Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen in Bezug auf alle vorkommenden Vogelarten des Anhangs I und die regelmäßig vorkommenden Zugvogelarten sowie ihre Lebensräume festzulegen. Dabei müssen die Mitgliedstaaten Prioritäten festlegen und können in diesem Rahmen die Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen auf bestimmte Arten und deren Lebensräume konzentrieren.
2) Gleichermaßen auf alle besonderen Schutzgebiete eines Mitgliedstaats anwendbare Schutz‑, Erhaltungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen, die per se keine Priorisierung enthalten können, müssen nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/147 sowohl zugunsten der Vogelarten angewandt werden, für die das jeweilige besondere Schutzgebiet ausgewiesen wurde, als auch zugunsten der anderen im Gebiet vorkommenden Vogelarten des Anhangs I der Richtlinie und der anderen dort regelmäßig vorkommenden Zugvogelarten.
3) Die Verpflichtung zur Durchführung von Umweltprüfungen von Projekten nach der Richtlinie 2011/92/EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten und der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist ohne Bedeutung für die Reichweite der Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/147.