C-633/22 – Real Madrid Club de Fútbol

C-633/22 – Real Madrid Club de Fútbol

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:127

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 8. Februar 2024(1)

Rechtssache C633/22

Real Madrid Club de Fútbol,

AE

gegen

EE,

Société Éditrice du Monde SA

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen – Versagungsgründe – Verstoß gegen die öffentliche Ordnung (ordre public) des Vollstreckungsstaats – Verurteilung einer Zeitung und eines ihrer Journalisten wegen Schädigung des Rufs eines Sportvereins“

I.      Einleitung

1.        Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001(2), die auch als Brüssel‑I-Verordnung bekannt ist und der Tradition folgt, die die Mitgliedstaaten seit dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(3) selbst entwickelt haben, sah einheitliche Vorschriften für die Anerkennung und Vollstreckung in den Mitgliedstaaten ergangener Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vor. Nach diesen Vorschriften muss, damit eine in einem Mitgliedstaat (im Folgenden: Ursprungsmitgliedstaat) ergangene Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat (im Folgenden: Vollstreckungsmitgliedstaat) vollstreckt werden kann, dieser die Entscheidung für vollstreckbar erklären.

2.        Die Brüssel‑I-Verordnung ist durch die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012(4) (im Folgenden: Brüssel‑Ia-Verordnung) ersetzt worden, die weiter geht als ihre Vorgängerin und ein System der automatischen Vollstreckung („ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf“) in den Mitgliedstaaten ergangener Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen einführt.

3.        Es bleibt jedoch dabei, dass ein Vollstreckungsmitgliedstaat nach den Bestimmungen dieser beiden Verordnungen unter Verweis auf die traditionelle Lösung des internationalen Privatrechts das Recht hat, die Vollstreckung eines Urteils zu versagen, wenn es seine öffentliche Ordnung bedroht.

4.        Zwar lässt sich argumentieren, dass die Existenz einer Ordre-public-Ausnahme eine notwendige und unvermeidbare Voraussetzung für die Liberalisierung der Anforderungen darstellt, die aufgestellt worden sind, um ausländischen Entscheidungen Vollstreckbarkeit im Hoheitsgebiet eines Vollstreckungsmitgliedstaats zu verleihen: Dieser ist weniger zögerlich, ausländische Entscheidungen zu akzeptieren, wenn er über ein Sicherheitsventil verfügt, das ihm das letzte Wort in Bezug auf die Wirkung der Entscheidungen in seinem Hoheitsgebiet gibt.

5.        Die Besonderheit der vorliegenden Rechtssache liegt darin, dass die Vollstreckbarkeit der in einem Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidungen mit der Begründung versagt worden ist, dass die Vollstreckung dieser Entscheidungen mit der in Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierten Freiheit der Meinungsäußerung kollidiere. Diese Rechtssache gibt dem Gerichtshof nicht nur Gelegenheit, die Modalitäten eines Rückgriffs auf die Ordre-public-Klausel in einem solchen Fall zu klären, sondern auch die Umrisse seiner Zuständigkeit für Vorabentscheidungen zu präzisieren.

II.    Rechtlicher Rahmen

6.        Kapitel III („Anerkennung und Vollstreckung“) der Brüssel‑I-Verordnung umfasst drei Abschnitte, die mit „Anerkennung“ (Art. 33 bis 37), „Vollstreckung“ (Art. 38 bis 52) und „Gemeinsame Vorschriften“ (Art. 53 bis 56) überschrieben sind, sowie eine Definition des Begriffs „Entscheidung“ (Art. 32).

7.        Art. 33 dieser Verordnung, der den ersten Abschnitt von Kapitel III über die Anerkennung von Entscheidungen eröffnet, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ergangen sind, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, sieht in seinem Abs. 1 vor, dass „[d]ie in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen … in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt [werden], ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf“.

8.        Art. 34 Nr. 1 der genannten Verordnung bestimmt, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn „die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde“.

9.        Art. 36 derselben Verordnung lautet: „Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

10.      Art. 38 der Brüssel‑I-Verordnung, der den zweiten Abschnitt von Kapitel III über die Vollstreckung in anderen Mitgliedstaaten ergangener Entscheidungen eröffnet, sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, werden in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten für vollstreckbar erklärt worden sind.“

11.      Art. 41 dieser Verordnung bestimmt: „Sobald die in Artikel 53 vorgesehenen Förmlichkeiten erfüllt sind, wird die Entscheidung unverzüglich für vollstreckbar erklärt, ohne dass eine Prüfung nach den Artikeln 34 und 35 erfolgt. Der Schuldner erhält in diesem Abschnitt des Verfahrens keine Gelegenheit, eine Erklärung abzugeben.“

12.      In Art. 43 Abs. 1 der genannten Verordnung heißt es: „Gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung kann jede Partei einen Rechtsbehelf einlegen.“

13.      Art. 45 derselben Verordnung lautet:

„(1)      Die Vollstreckbarerklärung darf von dem mit einem Rechtsbehelf nach Artikel 43 oder Artikel 44 befassten Gericht nur aus einem der in den Artikeln 34 und 35 aufgeführten Gründe versagt oder aufgehoben werden. Das Gericht erlässt seine Entscheidung unverzüglich.

(2)      Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

14.      Art. 48 der Brüssel‑I-Verordnung sieht vor:

„(1)      Ist durch die ausländische Entscheidung über mehrere mit der Klage geltend gemachte Ansprüche erkannt [worden] und kann die Vollstreckbarerklärung nicht für alle Ansprüche erteilt werden, so erteilt das Gericht oder die sonst befugte Stelle sie für einen oder mehrere dieser Ansprüche.

(2)      Der Antragsteller kann beantragen, dass die Vollstreckbarerklärung nur für einen Teil des Gegenstands der Verurteilung erteilt wird.“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

15.      Die Zeitung Le Monde veröffentlichte am 7. Dezember 2006 einen Artikel, in dem der Verfasser EE, ein bei dieser Zeitung angestellter Journalist, behauptete, dass die Fußballvereine Real Madrid und FC Barcelona die Dienste von Dr. X. Fuentes, dem Drahtzieher eines Dopingrings im Radsport, in Anspruch genommen hätten. Ein Auszug aus dem Artikel erschien auf der ersten Seite, zusammen mit einer Zeichnung mit dem Untertitel „Doping: erst der Radsport, jetzt der Fußball“, die einen Radfahrer in den Farben der spanischen Flagge zeigt, umgeben von kleinen Fußballspielern und Spritzen. Zahlreiche Medien, vor allem in Spanien, berichteten über diese Veröffentlichung.

16.      Am 23. Dezember 2006 veröffentlichte die Zeitung Le Monde kommentarlos das Dementischreiben, das ihr von Real Madrid übermittelt worden war.

17.      Dieser Verein und ein Mitglied seines medizinischen Teams, die Kläger des Ausgangsverfahrens, reichten vor dem Juzgado de Primera Instancia no 19 de Madrid (Gericht erster Instanz Nr. 19 Madrid, Spanien) eine auf die Verletzung ihrer Ehre gestützte Haftungsklage gegen die Herausgeberin der Zeitung Le Monde und den Journalisten/Verfasser des betreffenden Artikels, die Beklagten des Ausgangsverfahrens, ein.

18.      Mit Urteil vom 27. Februar 2009 verurteilte dieses Gericht die Beklagten des Ausgangsverfahrens zur Zahlung von 300 000 Euro an Real Madrid und von 30 000 Euro an das Mitglied des medizinischen Teams des Vereins und ordnete die Veröffentlichung seines Urteils in der Zeitung Le Monde an. Dagegen legten die Beklagten des Ausgangsverfahrens Berufung bei der Audiencia Provincial de Madrid (Provinzgericht Madrid, Spanien) ein, die das Urteil im Wesentlichen bestätigte. Das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) wies das gegen die letztgenannte Entscheidung eingelegte Rechtsmittel mit Urteil vom 24. Februar 2014 zurück.

19.      Der Juzgado de Primera Instancia no 19 de Madrid (Gericht erster Instanz Nr. 19 Madrid) ordnete mit Beschluss vom 11. Juli 2014 gesamtschuldnerisch(5) die Vollstreckung der Entscheidung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) und die Zahlung von 390 000 Euro als Hauptforderung, Zinsen und Kosten an Real Madrid sowie mit Beschluss vom 9. Oktober 2014 die Vollstreckung dieser Entscheidung und die Zahlung von 33 000 Euro als Hauptforderung, Zinsen und Kosten an das Mitglied des medizinischen Teams des Vereins an.

20.      Am 15. Februar 2018 erließ der Leiter der Gerichtskanzlei des Tribunal de grande instance de Paris (Großinstanzgericht Paris, Frankreich) zwei Erklärungen, mit denen die Vollstreckbarkeit dieser Beschlüsse feststellt wurde.

21.      Mit Urteilen vom 15. September 2020 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) die Erklärungen auf. Da sie die Beschlüsse vom 11. Juli und vom 9. Oktober 2014 als offensichtlich gegen den französischen internationalen Ordre public verstoßend betrachtete, entschied sie, dass diese in Frankreich nicht vollstreckt werden dürften.

22.      Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) stellte insoweit in einem ersten Schritt fest, dass die spanischen Gerichte die fraglichen Verurteilungen aufgrund von Art. 9 Abs. 3 der Ley Orgánica 1/1982, de protección civil del derecho al honor, a la intimidad personal y familiar y a la propia imagen (Ley Orgánica 1/1982 über den zivilrechtlichen Schutz des Rechts auf Ehre, des Rechts auf persönliche und familiäre Intimsphäre und des Rechts am eigenen Bild) vom 5. Mai 1982 (BOE vom 14. Mai 1982, S. 11196) ausgesprochen hätten, obwohl Real Madrid keinen Vermögensschaden geltend gemacht habe. Außerdem habe die Audiencia Provincial de Madrid (Provinzgericht Madrid) in ihrem vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) bestätigten Urteil die Auffassung vertreten, dass der Schaden in wirtschaftlicher Hinsicht schwer zu quantifizieren sei, da er allgemein an den immateriellen Schaden anknüpfe.

23.      In einem zweiten Schritt wies die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) darauf hin, dass vor den spanischen Gerichten lediglich die mediale Resonanz des fraglichen Artikels erörtert worden sei, der von spanischen Medien aber dementiert worden sei, so dass der durch die Resonanz entstandene Schaden durch das Dementi der lokalen Presseorgane mit überwiegend spanischer Leserschaft begrenzt worden sei.

24.      In einem dritten Schritt führte das betreffende Gericht erstens aus, dass sich die Verurteilungen zur Zahlung einer Hauptforderung von 300 000 Euro und von 90 000 Euro Zinsen auf eine natürliche Person und die Herausgeberin einer Zeitung bezögen, deren Bilanz zeige, dass ein solcher Betrag 50 % des Nettoverlusts und 6 % der zum 31. Dezember 2017 verfügbaren Mittel ausmache, zweitens, dass die Verurteilungen des Journalisten zur Zahlung einer Hauptforderung von 30 000 Euro und von 3 000 Euro Zinsen noch hinzukämen, und drittens, dass es nur äußerst selten vorkomme, dass der Schadensersatz wegen Verletzungen der Ehre oder des Ansehens 30 000 Euro übersteige, da das französische Recht für Verleumdungen von Privatpersonen eine Höchststrafe von 12 000 Euro vorsehe.

25.      Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) kam zu dem Schluss, dass die fraglichen Verurteilungen eine abschreckende Wirkung in Bezug auf die Beteiligung der Beklagten des Ausgangsverfahrens an der öffentlichen Erörterung für die Allgemeinheit interessanter Themen entfalteten, was die Medien an der Erfüllung ihrer Informations- und Kontrollaufgabe hindern könnte, so dass die Anerkennung oder die Vollstreckung der Entscheidungen, in denen diese Verurteilungen ausgesprochen worden seien, in nicht hinnehmbarer Weise gegen den französischen internationalen Ordre public verstoße, da sie die Freiheit der Meinungsäußerung beeinträchtige.

26.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten gegen die Urteile der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) – dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache – ein. Sie machten erstens geltend, dass eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Schadensersatzes nur vorgenommen werden dürfe, wenn ihm strafender und nicht ausgleichender Charakter zukomme, zweitens, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris), indem sie die vom ursprünglichen Gericht vorgenommene Würdigung des Schadens durch ihre eigene ersetzt habe, die spanischen Entscheidungen entgegen Art. 34 Nr. 1 und Art. 36 der Brüssel‑I-Verordnung nachgeprüft habe, und drittens, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) die Schwere des von den spanischen Gerichten festgestellten Verschuldens außer Acht gelassen habe und die wirtschaftliche Situation der verurteilten Personen für die Beurteilung der Unverhältnismäßigkeit der Verurteilungen irrelevant sei, die jedenfalls nicht anhand der nationalen Rechtsvorschriften beurteilt werden dürfe.

27.      Die Beklagten des Ausgangsverfahrens trugen im Wesentlichen vor, die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) habe es, ohne Nachprüfung der spanischen Entscheidungen in der Sache, aufgrund der Unverhältnismäßigkeit der mit ihnen ausgesprochenen Verurteilungen, die offensichtlich die Freiheit der Meinungsäußerung und damit den internationalen Ordre public verletzten, zu Recht abgelehnt, sie für vollstreckbar zu erklären.

28.      In der Begründung, die es zur Formulierung der Vorlagefragen veranlasst hat, bezieht sich das vorlegende Gericht zum einen auf die aus dem Urteil Krombach(6) hervorgegangene Rechtsprechung des Gerichtshofs. Es weist auf die Passage dieses Urteils hin, in der seiner Ansicht nach durch einen Verweis auf das Urteil Johnston(7) ein Zusammenhang zwischen den Grundrechten, deren Beachtung der Gerichtshof gewährleistet, und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)(8) hergestellt wird.

29.      Zum anderen stellt das vorlegende Gericht fest, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK, was das Schutzniveau angehe, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) im Bereich der politischen Auseinandersetzung und dem der Fragen von allgemeinem Interesse wenig Raum für Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung lasse. In den zweiten Bereich falle eine Veröffentlichung zu Fragen betreffend den Sport(9). Außerdem stelle die abschreckende Wirkung einer Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz einen Parameter für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zur Wiedergutmachung verleumderischer Äußerungen dar. Im Übrigen müsse im Bereich der Freiheit der Meinungsäußerung von Journalisten darauf geachtet werden, dass von Presseunternehmen zu leistende Schadensersatzzahlungen deren wirtschaftliche Grundlagen nicht gefährden könnten(10).

IV.    Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

30.      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) mit Beschluss vom 28. September 2022, der am 11. Oktober 2022 beim Gerichtshof eingegangen ist, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 34 und 36 der Brüssel‑I‑Verordnung und Art. 11 der Charta dahin auszulegen, dass eine Verurteilung wegen einer Schädigung des Rufs eines Sportvereins durch eine in einer Zeitung veröffentlichte Information eine offensichtliche Beeinträchtigung der Freiheit der Meinungsäußerung und damit einen Grund für die Ablehnung der Anerkennung und Vollstreckung darstellen kann?

2.      Falls dies zu bejahen ist, sind diese Bestimmungen dann dahin auszulegen, dass die Unverhältnismäßigkeit der Verurteilung vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur dann festgestellt werden kann, wenn der Schadensersatz vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats oder vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats als Strafschadensersatz eingestuft wurde, nicht aber dann, wenn er zur Wiedergutmachung eines immateriellen Schadens dient?

3.      Sind die fraglichen Bestimmungen dahin auszulegen, dass sich das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats lediglich auf die abschreckende Wirkung im Hinblick auf die Mittel der verurteilten Person stützen darf, oder kann es auch weitere Gesichtspunkte wie die Schwere des Verschuldens oder das Ausmaß des Schadens heranziehen?

4.      Kann die abschreckende Wirkung im Hinblick auf die Mittel der Zeitung für sich genommen wegen eines offensichtlichen Verstoßes gegen den tragenden Grundsatz der Pressefreiheit einen Grund für die Ablehnung der Anerkennung oder Vollstreckung darstellen?

5.      Ist unter der abschreckenden Wirkung eine Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts der Zeitung zu verstehen, oder kann sie in einem bloßen Einschüchterungseffekt bestehen?

6.      Ist die abschreckende Wirkung bei einem Unternehmen, das eine Zeitung herausgibt, und einem Journalisten – einer natürlichen Person – in gleicher Weise zu beurteilen?

7.      Ist die allgemeine wirtschaftliche Lage der Printmedien ein relevanter Umstand bei der Beurteilung, ob die Verurteilung über das Schicksal der betreffenden Zeitung hinaus einen Einschüchterungseffekt für sämtliche Medien haben kann?

31.      Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die französische, die spanische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die französische, die spanische und die maltesische Regierung sowie die Kommission waren in der mündlichen Verhandlung vom 17. Oktober 2023 vertreten.

V.      Würdigung

A.      Neuformulierung der Vorlagefragen

32.      Vor ihrer Prüfung halte ich es für sinnvoll, einige einleitende Bemerkungen zu den vorliegenden Fragen zu machen, soweit sie sich auf die Art. 34 und 36 der Brüssel‑I-Verordnung beziehen, die im ersten Abschnitt („Anerkennung“) von Kapitel III dieser Verordnung enthalten sind.

33.      Im vorliegenden Fall entscheidet das vorlegende Gericht über eine Kassationsbeschwerde, die sich gegen die Urteile richtet, mit denen die französischen Gerichte Erklärungen aufgehoben haben, in denen die Vollstreckbarkeit der spanischen Entscheidungen in Frankreich festgestellt worden war. Folglich sind die einschlägigen Bestimmungen der Brüssel‑I-Verordnung eher die Bestimmungen über die Vollstreckung von Entscheidungen, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ergangen sind, in dem die Vollstreckung beantragt wird, die im zweiten Abschnitt („Vollstreckung“) dieses Kapitels und insbesondere in Art. 45 der Verordnung enthalten sind.

34.      Dies vorausgeschickt, heißt es zum einen in Bezug auf Art. 34 der Brüssel‑I-Verordnung in deren Art. 45 Abs. 1, dass die Gründe für die Versagung der Anerkennung, einschließlich des Grundes im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats (Art. 34 Nr. 1), auch Gründe für die Versagung der Vollstreckung sind. Zum anderen ist Art. 45 Abs. 2 der Brüssel‑I-Verordnung inhaltlich nahezu identisch mit Art. 36 dieser Verordnung und bestätigt, dass das Verbot einer Nachprüfung in der Sache auch im Rahmen einer Anfechtung der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung gilt, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ergangen ist, in dem die Vollstreckung beantragt wird.

35.      Der Verweis auf die Art. 34 und 36 der Brüssel‑I-Verordnung ist daher so zu verstehen, dass er sich auf Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 2 dieser Verordnung bezieht. Dem vorlegenden Gericht scheint bewusst zu sein, dass die Bestimmungen über die Vollstreckung von Entscheidungen auch im Ausgangsverfahren relevant sind. Denn obwohl in den Vorlagefragen nur die Art. 34 und 36 der Verordnung erwähnt werden, geht aus ihnen hervor, dass sich dieses Gericht fragt, ob im vorliegenden Fall ein Grund für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung vorliegt.

36.      Sodann lässt die Formulierung der ersten Frage vermuten, dass das vorlegende Gericht nur die Verfahrenskonstellation im Auge hat, in der eine „Zeitung“ wegen Schädigung des Rufs eines Sportvereins verurteilt worden ist. Dieses Gericht ist jedoch mit Kassationsbeschwerden gegen Urteile in zwei verschiedenen Verfahren befasst, die der Sportverein und das Mitglied seines medizinischen Teams zum einen gegen die Herausgeberin der Zeitung, in der der beanstandete Artikel erschienen ist, und zum anderen gegen ihren Journalisten, der diesen Artikel verfasst hat, eingeleitet haben. Darüber hinaus möchte es mit seiner sechsten Vorlagefrage wissen, ob es die Voraussetzungen für einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel nach Maßgabe der individuellen Merkmale eines Beklagten unterschiedlich beurteilen muss.

37.      Ich schlage schließlich vor, alle Vorlagefragen zusammen zu prüfen. Während die erste Frage nämlich recht allgemein gehalten ist, betreffen andere Fragen detaillierte Aspekte der Prüfung, die das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit einer im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung befasst ist, vorzunehmen hat. Gleichwohl drehen sich die Fragen um dasselbe rechtliche Problem und beziehen sich auf die verschiedenen Aspekte, die das mit den Kassationsbeschwerden befasste vorlegende Gericht kontrollieren muss. Außerdem könnte es zu einem Irrtum hinsichtlich der Modalitäten eines Rückgriffs auf die Ordre-public-Klausel verleiten, wenn die erste Vorlagefrage beantwortet würde, ohne die Antwort mit Erwägungen zu diesen detaillierten Aspekten zu versehen.

38.      Daher sind die Vorlagefragen so zu verstehen, dass das vorlegende Gericht mit ihnen im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 2 der Brüssel‑I-Verordnung sowie Art. 11 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt wird, die sich auf eine Verurteilung eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, und eines Journalisten wegen Schädigung des Rufs eines Sportvereins und eines Mitglieds seines medizinischen Teams durch eine in dieser Zeitung veröffentlichte Information bezieht, eine Vollstreckbarerklärung der Entscheidung mit der Begründung versagen oder aufheben kann, dass diese zu einer offensichtlichen Verletzung der in Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung führen würde.

39.      Um die Frage sinnvoll beantworten zu können, werde ich zunächst einige allgemeine Erwägungen zur Ordre-public-Klausel anstellen (Abschnitt B) und anschließend Art. 11 der Charta im Hinblick auf die Zweifel des vorlegenden Gerichts (Abschnitt C) und die Beurteilungskriterien für eine offensichtliche Verletzung der in dieser Bestimmung garantierten Freiheit (Abschnitt D) analysieren. Schließlich werde ich mich mit der aus der Rechtsprechung des EGMR hervorgegangenen Vermutung eines gleichwertigen Schutzes befassen (Abschnitt E).

B.      Allgemeine Erwägungen zur Ordre-public-Klausel

40.      Da das Brüsseler Übereinkommen, worauf ich bereits hingewiesen habe, durch die Brüssel‑I-Verordnung ersetzt worden ist, behält die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof Gültigkeit für die entsprechenden Bestimmungen der Verordnung. Dies ist der Fall bei Art. 34 Nr. 1 der Verordnung, der Art. 27 Abs. 1 des Übereinkommens ersetzt hat. Auch wenn das Übereinkommen im Gegensatz zur Verordnung nicht ausdrücklich vorsah, dass die Anerkennung oder die Vollstreckung einer Entscheidung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, „offensichtlich“ widersprechen muss, um der Entscheidung die Anerkennung versagen zu können, hat der Gerichtshof das Brüsseler Übereinkommen stets in diesem Sinne ausgelegt.

1.      Der Begriff „öffentliche Ordnung“

a)      Die klassische Formel für die Ordre-public-Klausel

41.      Der Begriff „öffentliche Ordnung“ ist Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Durch diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof auch dafür gesorgt, die Umrisse seiner eigenen Zuständigkeit für Vorabentscheidungen und derjenigen der Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats zu präzisieren.

42.      Aus der aus dem Urteil Krombach(11)hervorgegangenen Rechtsprechung ergibt sich, dass, wenngleich die Mitgliedstaaten aufgrund des Vorbehalts in Art. 34 Nr. 1 der Brüssel‑I-Verordnung selbst festlegen können, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, die Abgrenzung des Begriffs „öffentliche Ordnung“ doch zur Auslegung dieser Verordnung gehört.

43.      Auch wenn es nach einer klassischen Formel der Rechtsprechung demnach nicht Sache des Gerichtshofs ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vollstreckungsmitgliedstaats auf den Begriff „öffentliche Ordnung“ stützen darf(12).

44.      Der Gerichtshof hat insoweit zum Begriff „öffentliche Ordnung“ in Art. 34 der Brüssel‑I-Verordnung entschieden, dass diese Bestimmung insofern eng auszulegen ist, als sie ein Hindernis für die Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele dieser Verordnung, nämlich des freien Verkehrs gerichtlicher Entscheidungen, bildet(13). Er hat klargestellt, dass die Ordre-public-Klausel deshalb nur in Ausnahmefällen Anwendung finden kann(14).

45.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verordnung es dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats mit dem Verbot der Nachprüfung verbietet, auf die Ordre-public-Klausel nur deshalb zurückzugreifen, weil die anwendbaren Rechtsvorschriften voneinander abweichen, und nachzuprüfen, ob das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats den Fall rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat(15).

46.      Demzufolge würde die Ordre-public-Klausel nur insoweit zum Tragen kommen, als die Vollstreckung der betreffenden Entscheidung im Vollstreckungsstaat eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung dieses Staates als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts zur Folge hätte(16).

47.      Diese klassische Formel ist um zwei Elemente zu ergänzen, die die Auslegung des Begriffs „öffentliche Ordnung“ weiter einschränken.

b)      Die Grundrechte

48.      Das erste Element betrifft die Grundrechte.

49.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, das Recht der Union durchführt, indem es die Brüssel‑I-Verordnung anwendet, die Anforderungen erfüllen muss, die sich aus Art. 47 der Charta ergeben(17). Darüber hinaus sind die Bestimmungen dieser Verordnung im Licht der Grundrechte auszulegen, die zu den allgemeinen Grundsätzen gehören und nun in der Charta verankert sind(18).

50.      Bisher wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich der Schwerpunkt auf die Verteidigungsrechte und die Verfahrensgarantien gelegt(19). Art. 47 der Charta erschöpft sich jedoch keineswegs im Schutz solcher Rechte.

51.      Denn nach der Rechtsprechung des EGMR gilt Art. 6 Abs. 1 EMRK, dem Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht, für die Vollstreckung rechtskräftiger ausländischer Gerichtsentscheidungen(20), und die Weigerung, eine solche Entscheidung für vollstreckbar zu erklären, kann einen Eingriff in das Recht eines Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren darstellen(21).

52.      Wie im Schrifttum(22) bemerkt worden ist, sind Urteile – gleichviel, ob deklaratorisch oder konstitutiv – Vehikel für materielle Rechte. Diese Rolle erfüllen sie auch in einem grenzüberschreitenden Kontext, wenn im Vollstreckungsmitgliedstaat die Anerkennung oder die Vollstreckung eines Urteils aus einem anderen Mitgliedstaat beantragt wird. Diese Erwägung aufgreifend hat der EGMR in seiner Rechtsprechung dafür Sorge getragen, solche auf die Bestimmungen der EMRK gestützten materiellen Rechte auch dann zu schützen, wenn es sich um Situationen handelte, die nicht auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Staates beschränkt waren(23).

53.      Wie einige Autoren(24) geltend machen, hat der EGMR durch seine Rechtsprechung darüber hinaus aus Art. 6 Abs. 1 EMRK das Bestehen eines Verfahrensrechts auf Anerkennung und Vollstreckung eines im Ausland ergangenen Urteils abgeleitet, wobei dieses Recht auf den Begriff „faires Verfahren“ im Sinne dieser Bestimmung gestützt wird.

54.      Insoweit ist zu bemerken, dass sich das Schrifttum nicht einstimmig für eine solche spezifische Lesart der Rechtsprechung des EGMR ausgesprochen hat.

55.      Es wird nämlich u. a. zum einen über die Konturen eines solchen „Rechts“ und seinen Platz im konventionellen System(25) und zum anderen über die Notwendigkeit diskutiert, dieses „Recht“ mit den Grundrechten des Beklagten abzuwägen(26). Ein weiterer Kritikpunkt scheint sich auf die Unmöglichkeit zu beziehen, ein „Recht“ auf Anerkennung und Vollstreckung der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK durch den EGMR abzuleiten(27). Der letztgenannte Kritikpunkt überzeugt mich jedoch nicht. Zu bemerken ist, dass die Brüssel‑I-Verordnung, indem sie den Grundsatz aufstellt, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung vollstreckt wird, nachdem sie für vollstreckbar erklärt worden ist, und die erschöpfenden Gründe für die Versagung der Vollstreckung aufführt, das Bestehen eines entsprechenden Anspruchs anerkennt(28).

56.      Bei der Auslegung der in Art. 47 Abs. 2 der Charta garantierten Rechte muss der Gerichtshof die entsprechenden in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen(29). Nach meinem Dafürhalten müsste der Gerichtshof mithin dem Beschwerdeführer den gleichen Schutz zubilligen wie den, der sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt, wenn er im Einklang mit der Brüssel‑I-Verordnung die Anerkennung oder Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung beantragt.

57.      Gleiches müsste gelten, wenn der Anspruch, auf den sich der Beschwerdeführer vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats berufen hat, inhaltlich nicht auf Unionsrecht gründete. Zwar ist die Charta, obwohl diese Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats ihre Zuständigkeit auf die Brüssel‑I-Verordnung stützen, vor ihnen hinsichtlich der materiellen Prüfung nicht anwendbar(30). Vor den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats finden die Verordnung, soweit sie den in Nr. 55 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Grundsatz aufstellt und die Gründe für die Versagung der Vollstreckung, einschließlich des Grundes im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung, erschöpfend aufführt(31), und damit die Charta hingegen Anwendung(32).

58.      Ein solcher autonomer Charakter des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten „Rechts“ auf Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung in Zivil- und Handelssachen entspricht der Lösung, die der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelt hat(33).

59.      Dieses so definierte „Recht“ ist jedoch nicht absolut(34). Es kann eingeschränkt werden, sofern die Einschränkung den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta entspricht. Eine Einschränkung des genannten Rechts wegen eines offensichtlichen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung ist insoweit unstreitig als gesetzlich vorgesehen anzusehen, da sie sich aus Art. 34 Nr. 1 der Brüssel‑I-Verordnung ergibt. Eine solche Einschränkung achtet den Wesensgehalt dieses Rechts. Sie stellt es als solches nämlich nicht in Frage, denn sie führt dazu, dass die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung unter ganz bestimmten durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geregelten Voraussetzungen ausgeschlossen ist(35). Gleichwohl muss die Einschränkung auch erforderlich sein und einer der von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

c)      Das gegenseitige Vertrauen

1)      Das gegenseitige Vertrauen nach der Rechtsprechung

60.      Das zweite Element, um das die aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgegangene klassische Formel ergänzt werden muss, betrifft das gegenseitige Vertrauen. Dieses Element hängt nämlich mit der Tatsache zusammen, dass die Versagung der Anerkennung oder Vollstreckung einer in einem Mitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten in die Justiz innerhalb der Union zuwiderläuft, auf das sich die in der Brüssel‑I-Verordnung festgelegte Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung stützt. Dieses Vertrauen ist nicht nur das Ergebnis der legislativen Entscheidung der Organe der Union. Es findet seine Grundlage im Primärrecht(36).

61.      Der Umstand, dass in dieser klassischen Formel nicht auf das gegenseitige Vertrauen verwiesen wird, erklärt sich dadurch, dass zum Zeitpunkt seiner Verankerung im Urteil Krombach weder im Unionsrecht noch vom Gerichtshof bereits offen anerkannt worden war, welche Rolle es in Bezug auf den zivil- und handelsrechtlichen Teil des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts spielt.

62.      Was noch wichtiger ist: Dieses Vertrauen, das die Mitgliedstaaten ihren Rechtsordnungen und ihren Gerichten wechselseitig entgegenbringen, erlaubt es, davon auszugehen, dass im Fall einer falschen Anwendung des nationalen Rechts oder des Unionsrechts das in jedem Mitgliedstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem, ergänzt durch das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren, den Rechtsbürgern eine ausreichende Garantie bietet(37).

63.      Nach Auffassung des Gerichtshofs beruht die Brüssel‑I-Verordnung nämlich auf dem grundlegenden Gedanken, dass die Rechtsbürger grundsätzlich verpflichtet sind, sich aller Rechtsbehelfe zu bedienen, die nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats eröffnet sind. Die Rechtsbürger haben – sofern keine besonderen Umstände vorliegen, die das Einlegen der Rechtsbehelfe im Ursprungsmitgliedstaat zu sehr erschweren oder unmöglich machen – in diesem Mitgliedstaat von allen gegebenen Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, um im Vorhinein zu verhindern, dass es zu einem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kommt(38).

2)      Das gegenseitige Vertrauen und die materielle Dimension der öffentlichen Ordnung

64.      Die Erwägungen in den Nrn. 62 und 63 der vorliegenden Schlussanträge hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit behaupteten Verletzungen von Verfahrensgarantien angestellt, deren Auswirkungen geeignet waren, gegen die öffentliche Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats zu verstoßen. In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof hingegen aufgefordert, sich in einer Situation mit der Auslegung des Unionsrechts zu befassen, in der der behauptete Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats auf die Verletzung materieller Rechte zurückzuführen sein soll.

65.      Unter dem Gesichtspunkt des gegenseitigen Vertrauens und der in jedem Mitgliedstaat eingerichteten Rechtsbehelfssysteme bereitet eine solche Situation zusätzliche Probleme.

66.      Es trifft nämlich zu, dass, wie der Gerichtshof in seinen Rechtsprechungserwägungen offenbar betonen möchte, das Vertrauen, das sich die Mitgliedstaaten wechselseitig entgegenbringen, nicht nur Angelegenheiten betrifft, die unter das Unionsrecht fallen („Fall einer falschen Anwendung … des Unionsrechts“), sondern auch solche, die nicht darunterfallen („Fall einer falschen Anwendung des nationalen Rechts“).

67.      Wenn der Anspruch, den ein Kläger vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats geltend gemacht hat, inhaltlich nicht auf Unionsrecht gestützt ist, kann es jedoch zweifelhaft sein, ob es möglich ist, dem Gerichtshof im Rahmen dieses Verfahrens eine Frage zu einer Bestimmung der Charta, die ein materielles Recht oder eine materielle Freiheit festschreibt, zur Vorabentscheidung vorzulegen.

68.      Da der Anspruch der Kläger des Ausgangsverfahrens im vorliegenden Fall inhaltlich nicht auf Unionsrecht gestützt zu sein schien(39), konnten sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats nicht auf Art. 11 der Charta berufen, um geltend zu machen, dass dieser Anspruch mit ihrer in dieser Bestimmung garantierten Freiheit der Meinungsäußerung kollidiere(40). Zum einen hätten sie sich jedoch auf Art. 10 EMRK und die nationalen Verfassungsbestimmungen, in denen diese Freiheit verankert ist, berufen können (und haben das, wie in der mündlichen Verhandlung klargestellt worden ist, auch getan) und außerdem den EGMR mit einer gegen den Ursprungsmitgliedstaat gerichteten Beschwerde befassen können. Zum anderen darf bei der Auslegung des von den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats angewandten Unionsrechts die Notwendigkeit, einen Schutz zu gewährleisten, der dem von der EMRK gebotenen Schutz zumindest gleichwertig ist, nicht außer Acht gelassen werden(41).

69.      Unter diesem Blickwinkel bilden die Charta und die EMRK in Zivil- und Handelssachen ein sich ergänzendes Normenwerk zum Schutz der Grundwerte der Union und der Mitgliedstaaten. In Anbetracht der Tatsache, dass das Unionsrecht nicht auf jede Situation anwendbar ist, trägt im Übrigen gerade diese Komplementarität zum gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bei.

70.      Auch erkennt der EGMR an, dass die jeweiligen Rollen der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der durch die EMRK garantierten Rechte unterschiedlich sind, ohne dass dies zu einer Fehlfunktion des Mechanismus zur Kontrolle der Wahrung dieser Rechte führt(42). Zwar dürfen die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn vor ihnen eine ernsthafte und substantiierte Rüge erhoben wird, in deren Rahmen behauptet wird, ein durch die EMRK garantiertes Recht werde offenkundig unzureichend geschützt, und das Unionsrecht keine Abhilfe für diesen Mangel bietet, nach Auffassung des EGMR nicht allein deshalb auf eine Prüfung dieser Rüge verzichten, weil sie Unionsrecht anwenden(43). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Ordre-public-Klausel stellt nämlich tatsächlich ein im Unionsrecht vorgesehenes Instrument dar, das es den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats ermöglicht, jede offensichtliche Unzulänglichkeit eines solchen Schutzes zu beheben.

2.      Inhalt der öffentlichen Ordnung und Rolle des Gerichtshofs in Vorabentscheidungssachen

a)      Darstellung des Problems

71.      In herkömmlichen Fallkonstellationen, in denen sich die Frage stellt, ob die Anerkennung oder Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung mit einem Grundsatz oder sogar einem nationalen Konzept des Vollstreckungsmitgliedstaats kollidiert, können sich die Gerichte dieses Mitgliedstaats nicht auf die Ordre-public-Klausel berufen, ohne zuvor ein grundlegendes Prinzip ihrer eigenen Rechtsordnung zu ermitteln, gegen das diese Anerkennung oder Vollstreckung verstieße(44). Mit anderen Worten haben sie einen solchen Bestandteil ihrer Rechtsordnung als grundlegend zu identifizieren und einzustufen. Dies ist eine direkte Folge der Tatsache, dass es, wie die klassische Formel der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt, Sache der Mitgliedstaaten ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung ihrer Rechtsordnungen „nach ihren innerstaatlichen Anschauungen“ zu definieren.

72.      Der Gerichtshof wiederum kann das vorlegende Gericht im Rahmen seiner Aufgabe, den Begriff „öffentliche Ordnung“ auszulegen, und ohne die Grenzen seiner eigenen Zuständigkeit für Vorabentscheidungen zu überschreiten, darüber aufklären, ob die Spannung zwischen den Folgen, die durch die Anerkennung oder Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung hervorgerufen werden, und dem Grundsatz, der gegen die Anerkennung oder Vollstreckung ins Feld geführt wird, eine offensichtliche Verletzung dieses Grundsatzes darstellt.

73.      Im vorliegenden Fall fällt der Bestandteil der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats, dessen Verletzung einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel rechtfertigen könnte, unter das in Art. 11 der Charta garantierte materielle Recht. Auch wenn die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) die Tatsache hervorgehoben hat, dass die Vollstreckung der spanischen Entscheidungen in nicht hinnehmbarer Weise gegen den französischen internationalen Ordre public verstieße, bezieht sie sich nämlich nur auf die durch die Charta garantierte Freiheit der Meinungsäußerung.

74.      Der Gerichtshof hat insoweit in einer Reihe von Rechtssachen darüber hinaus Gelegenheit gehabt, sich zu einem Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel zu äußern, wenn diese mit der Begründung in Anspruch genommen wurde, dass die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats bei der Anwendung des Unionsrechts einen Fehler begangen hätten und die Auswirkungen dieses Fehlers mit der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats kollidierten.

75.      Eine Auslegung der Rechtsprechung zur Ordre-public-Klausel lässt den Schluss zu, dass die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen ihren Ursprung in der Mehrzahl dieser Rechtssachen in einem solchen Verfahrensfehler hatten und das Verteidigungsrecht im weitesten Sinne des Wortes betrafen. Im Wesentlichen ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass eine offensichtliche und unverhältnismäßige Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta genannten Rechts des Beklagten auf ein faires Verfahren einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel rechtfertigt(45). Daher besteht Einigkeit darüber, dass eine Verletzung der Grundrechte in bestimmten Fällen einen Rückgriff auf diese Klausel rechtfertigen kann.

76.      Die Tatsache, dass die Ordre-public-Klausel in der materiellen Dimension weniger erfolgreich gewesen ist als in ihrer verfahrensrechtlichen Dimension, ist wahrscheinlich auf die Rolle zurückzuführen, die das Verbot einer Nachprüfung in der Sache spielt, das die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats daran hindert, sich inhaltlich erneut mit einer bereits entschiedenen Rechtssache auseinanderzusetzen(46). Deshalb ist Vorsicht geboten, wenn die Rechtsprechung zur öffentlichen Ordnung in ihrer verfahrensrechtlichen Dimension auf die öffentliche Ordnung in ihrer materiellen Dimension angewandt wird. Es stellt sich somit die Frage, welche Auswirkungen eine solche Fallkonstellation auf die Anwendung der Ordre-public-Klausel durch die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats und die Rolle des Gerichtshofs in Vorabentscheidungssachen hat. Um diese Frage beantworten zu können, muss die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs genau untersucht werden.

b)      Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs

1)      Urteil Renault

77.      In der Rechtssache, in der das Urteil Renault(47) ergangen ist, stellte sich u. a. die Frage, ob ein Fehler, den das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats möglicherweise bei der Anwendung der Grundprinzipien des freien Warenverkehrs und des freien Wettbewerbs begangen hat, die Voraussetzungen für den Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel ändern könnte. Der Gerichtshof hat das verneint und die Auffassung vertreten, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, den Schutz der durch die nationale Rechtsordnung und der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte in gleicher Weise wirksam zu gewährleisten(48). Die Feststellung, dass diese Voraussetzungen dieselben sind, wenn es um eine Verletzung des nationalen Rechts und des Unionsrechts geht, bedeutet jedoch nicht, dass dies auch für die Rolle des Gerichtshofs in Vorabentscheidungssachen gilt.

78.      Aus dem Urteil Renault lässt sich insoweit nicht ableiten, ob das vorlegende Gericht davon ausgegangen ist, dass der mögliche Fehler bei der Anwendung des Primärrechts einen offensichtlichen Verstoß gegen das Grundprinzip der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats darstelle.

79.      Den Schlussanträgen von Generalanwalt Alber in jener Rechtssache lässt sich entnehmen, dass das vorlegende Gericht zu dieser Frage nicht Stellung genommen hat. Es hat lediglich festgestellt, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs Unsicherheiten hinsichtlich der wirklichen Bedeutung der von den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats angeblich missachteten Grundsätze aufwerfe und diese Grundsätze als Grundsätze der öffentlichen Ordnung anzusehen seien(49).

80.      Dagegen hat der Gerichtshof im Urteil Renault entschieden, dass „ein möglicher Rechtsfehler von der Art des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keinen offensichtlichen Verstoß gegen eine grundlegende Rechtsvorschrift in der Rechtsordnung des Vollstreckungs[mitglied]staats darstellt“(50). Diese Passage deutet darauf hin, dass, wenn mit der Begründung auf die Ordre-public-Klausel zurückgegriffen wird, dass die Anerkennung oder Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung mit einem Bestandteil der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats kollidiere, der aufgrund der Zugehörigkeit dieses Mitgliedstaats zur Union unter diese Rechtsordnung falle, sowohl die Frage, ob es sich um ein Grundprinzip der genannten Ordnung handelt, als auch gegebenenfalls die Frage, ob die Anerkennung oder Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung offensichtlich mit diesem Grundprinzip kollidiert, vom Gerichtshof im Rahmen seiner Aufgabe, das Unionsrecht auszulegen, geklärt werden können oder sogar geklärt werden müssen. Die vorstehende Erwägung wird durch die jüngere Rechtsprechung bestätigt.

2)      Urteil Diageo Brands

81.      In der Rechtssache, in der das Urteil Diageo Brands(51) ergangen ist, setzte eine der Vorlagefragen voraus, dass ein Fehler bei der Anwendung der Bestimmungen des Sekundärrechts über die Erschöpfung des Rechts aus der Marke zum Erlass einer Entscheidung führen würde, die „offensichtlich gegen das Unionsrecht [verstößt]“. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil unter Verweis auf die durch diese Bestimmungen bewirkte Mindestharmonisierung im Wesentlichen festgestellt, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein solcher Fehler bei der Umsetzung der Bestimmungen gegen einen fundamentalen Grundsatz der Unionsrechtsordnung verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Unionsrechtsordnung stünde(52). Wie im Urteil Renault hat der Gerichtshof somit einen Bestandteil der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats herausgearbeitet, um feststellen zu können, ob dieser Bestandteil ein Grundprinzip dieser Rechtsordnung darstellte, und anschließend den angeblichen Verstoß unter dem Gesichtspunkt seiner Offensichtlichkeit geprüft.

3)      Urteil Charles Taylor Adjusting

82.      In der Rechtssache, in der das Urteil Charles Taylor Adjusting(53) ergangen ist, stellte sich die Frage, ob ein Gericht eines Vollstreckungsmitgliedstaats einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, die sich als „Quasi-Prozessführungsverbot“ einstufen lässt, die Anerkennung und Vollstreckung versagen kann, weil diese Entscheidung gegen die öffentliche Ordnung des erstgenannten Mitgliedstaats verstößt.

83.      Der Gerichtshof hat in einem ersten Schritt die Auffassung vertreten, dass die Anerkennung und Vollstreckung der in jener Rechtssache in Rede stehenden Entscheidungen u. a. gegen den sich aus seiner Rechtsprechung zu den Vorschriften des internationalen Privatrechts der Union ergebenden allgemeinen Grundsatz verstießen, wonach jedes angerufene Gericht selbst bestimmt, ob es für die Entscheidung über den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit zuständig ist(54).

84.      In einem zweiten Schritt hat der Gerichtshof festgestellt, dass es vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht mit der öffentlichen Ordnung des Rechts des Staates, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, unvereinbar sein kann, die in Rede stehenden Entscheidungen anzuerkennen und zu vollstrecken, soweit sie geeignet sind, in einem auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden europäischen Rechtsraum diesen fundamentalen Grundsatz zu verletzen(55).

85.      Daher hat der Gerichtshof wie in den Urteilen Renault und Diageo Brands einen Bestandteil der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats als ein Grundprinzip dieses Staates eingestuft und anschließend die Ansicht vertreten, dass die Anerkennung und Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung in nicht hinnehmbarer Weise mit diesem Prinzip in Konflikt geraten kann.

86.      Sicherlich kann man sich fragen, welche Rolle die Klarstellung des Gerichtshofs „vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht“ im Urteil Charles Taylor Adjusting spielt. Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich den in jener Rechtssache vorgelegten Schlussanträgen zuwenden, auf die der Gerichtshof in seinem Urteil Bezug genommen hat.

87.      Generalanwalt Richard de la Tour hat in Nr. 53 seiner Schlussanträge(56) nämlich ausgeführt, dass er die Auffassung des vorlegenden Gerichts insoweit teile, als dieses im Einklang mit dem Urteil Gambazzi(57) festgestellt habe, dass es seine Sache sei, eine Gesamtwürdigung des Verfahrens und sämtlicher Umstände vorzunehmen, und dass die Anerkennung und die Vollstreckung der fraglichen Entscheidungen mit der öffentlichen Ordnung am Ort des Gerichtsstands offensichtlich unvereinbar seien.

88.      In der Rechtssache, in der das Urteil Gambazzi(58) ergangen ist, stellte sich die Frage, ob das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats im Hinblick auf die Ordre‑public‑Klausel den Umstand berücksichtigen darf, dass der Beklagte vom Verfahren im Urteilsstaat mit der Begründung ausgeschlossen worden ist, dass er die Verpflichtungen aus einem im Rahmen desselben Verfahrens ergangenen Beschluss nicht erfüllt habe. Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein solcher Ausschluss den Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel rechtfertigen kann, wenn das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats beim Abschluss einer Gesamtwürdigung des Verfahrens und in Anbetracht sämtlicher Umstände zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Ausschlussmaßnahme eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör dargestellt hat(59).

89.      Nach meinem Dafürhalten ergab sich die Formulierung der Antwort des Gerichtshofs zum einen aus der Notwendigkeit, mehrere tatsächliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, um die Verhältnismäßigkeit dieser Beeinträchtigung des Anspruchs des Beklagten bestimmen zu können („[falls diese] offensichtlich[] und unverhältnismäßig[] [war]“), und zum anderen aus der grundlegenden Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in Vorabentscheidungssachen. Meines Erachtens deutet der Verweis des Gerichtshofs im Urteil Charles Taylor Adjusting(60) auf die „Überprüfung durch das vorlegende Gericht“ auf dieselbe Unterscheidung hin. Daher stellt dieser Verweis die in Nr. 85 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Erwägungen nicht in Frage.

90.      Demzufolge hat der Gerichtshof lediglich das Unionsrecht auszulegen, ohne es anzuwenden. Im Rahmen seiner Aufgabe, das Unionsrecht auszulegen, ist er verpflichtet, erstens festzustellen, ob ein Bestandteil dieses Rechts ein Grundprinzip der Unionsrechtsordnung darstellt. Zweitens ist es Sache des Gerichtshofs, zu klären, ob die unionsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel in Anbetracht der von einem vorlegenden Gericht angeführten tatsächlichen Gesichtspunkte erfüllt sind. Die vorstehenden Erwägungen werden durch das insoweit sehr symbolträchtige Urteil Eco Swiss(61) untermauert.

4)      Urteil Eco Swiss

91.      In der Rechtssache, in der das Urteil Eco Swiss ergangen ist, bezog sich eine der Fragen darauf, ob ein nationales Gericht, das mit einer Klage auf Aufhebung eines Schiedsspruchs befasst ist, dieser Klage stattgeben muss, wenn es der Auffassung ist, dass der Schiedsspruch tatsächlich Art. 101 AEUV widerspreche, während es ihr nach seinem nationalen Verfahrensrecht nur stattgeben darf, wenn ein solcher Schiedsspruch der öffentlichen Ordnung widerspricht.

92.      Obwohl die Frage unter dem Gesichtspunkt der Ordre-public-Klausel gestellt worden ist, war diese in keinem Unionsrechtsakt enthalten, den der Gerichtshof auslegen konnte. Im Ausgangsverfahren ging es nämlich darum, ob ein Schiedsspruch, der auf Antrag von Gesellschaften mit Sitz außerhalb der Union ergangen war, im Mitgliedstaat des vorlegenden Gerichts aufgehoben werden durfte. Unabhängig von der grenzüberschreitenden Dimension der Rechtssache fiel die Vollstreckung von Schiedssprüchen nicht unter das Brüsseler Übereinkommen.

93.      In seinem Urteil hat der Gerichtshof in einem ersten Schritt Art. 101 AEUV als „grundlegende Bestimmung [eingestuft], die für die Erfüllung der Aufgaben der [Union] und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässlich ist“(62). In einem zweiten Schritt hat er die Auffassung vertreten, dass ein staatliches Gericht, soweit es nach seinen nationalen Verfahrensregeln einem Antrag auf Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen Verletzung nationaler Bestimmungen, die zur öffentlichen Ordnung gehören, stattgeben muss, verpflichtet ist, einem solchen Antrag auch dann stattzugeben, wenn er auf die Verletzung des Verbots aus dieser primärrechtlichen Bestimmung gestützt ist(63).

94.      In seinem Urteil hat sich der Gerichtshof somit nicht zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Ordre-public-Klausel (der Frage, ob gegebenenfalls ein „offensichtlicher Verstoß“ vorliegt) geäußert. Diese Voraussetzungen fielen nämlich nicht unter das Unionsrecht(64). Dagegen hat der Gerichtshof – wie in allen Urteilen, die ich bisher angeführt habe – festgestellt, ob der Bestandteil der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats, dessen Verletzung in Frage stand, ein Grundprinzip dieser Ordnung darstellte.

95.      Dies führt mich zu einer grundlegenderen Frage: Gibt es mithin eine öffentliche Ordnung der Union, deren Grundprinzipien vom Gerichtshof ermittelt werden können?

c)      Die öffentliche Ordnung der Union

96.      In der mündlichen Verhandlung ist u. a. die Frage erörtert worden, ob der Verweis des Gerichtshofs auf eine „in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltende Rechtsnorm“ und ein „dort als grundlegend anerkanntes Recht“(65) auf den Willen des Gerichtshofs hindeutet, eine Unterscheidung zwischen der nationalen öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Ordnung der Union einzuführen. Ohne die Existenz der Letzteren leugnen zu wollen, bin ich nicht davon überzeugt, dass mit diesem Verweis tatsächlich zwischen beiden öffentlichen Ordnungen unterschieden werden soll.

97.      Als Erstes wollte der Gerichtshof durch den Verweis meiner Meinung nach nämlich eher aufzeigen, dass auf die Ordre-public-Klausel zurückgegriffen werden kann, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung offensichtlich gegen ein wesentliches oder grundlegendes Prinzip oder gar einen Bestandteil der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats verstößt, unabhängig davon, in welcher spezifischen Form dieses bzw. dieser im nationalen Recht zum Ausdruck kommt(66).

98.      Als Zweites hat der Gerichtshof im Urteil Meroni entschieden, dass die Ordre-public-Klausel nur insoweit eingreift, als eine Verletzung der Verfahrensgarantien bedeuten würde, dass die Anerkennung einer solchen Entscheidung die offensichtliche Verletzung einer in der Unionsrechtsordnung und somit in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats wesentlichen Rechtsnorm zur Folge haben würde(67). Folglich kann auch eine „in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltende Rechtsnorm“ unter das Unionsrecht fallen.

99.      Als Drittes hat der Gerichtshof im Urteil Diageo Brands bestätigt, dass er mit dem Verweis auf „Rechtsnormen“ und „Rechte“ nicht zwischen zwei unterschiedlichen Quellen der öffentlichen Ordnung – nationalen und solchen der Union – unterscheiden wollte. Der Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung nur aufgrund einer offensichtlichen Verletzung einer in der Unionsrechtsordnung und somit in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines in diesen Rechtsordnungen als grundlegend anerkannten Rechts versagt werden kann(68).

100. Allerdings habe ich mich in der Vergangenheit für die Anerkennung einer „öffentlichen Ordnung der Union“ ausgesprochen(69), die selbst Teil der nationalen öffentlichen Ordnung ist. Obwohl der Gerichtshof diesen Begriff nicht in seine Rechtsprechung übernommen hat, ist er der Ansicht gewesen, dass eine in der Unionsrechtsordnung wesentliche Rechtsnorm auch eine in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats wesentliche Rechtsnorm darstellt, deren offensichtliche Verletzung einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel rechtfertigen kann(70).

101. Wie Art. 2 EUV bestätigt, gibt es einen gemeinsamen Kern von Werten, die von den Mitgliedstaaten, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, geteilt, geachtet und geschützt werden(71). Insoweit gibt es kaum ein repräsentativeres Beispiel für Werte, die von den Mitgliedstaaten geteilt werden, als die in der Charta widergespiegelten Werte.

102. Aus der Sicht des Vollstreckungsmitgliedstaats gibt es nur eine einzige öffentliche Ordnung. Ein solcher gemeinsamer Kern ist nämlich Teil der Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten. Außerdem sind die Voraussetzungen für einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel, worauf ich bereits hingewiesen habe(72), dieselben, wenn der Rückgriff erfolgt, weil das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats gegen das nationale Recht und das Unionsrecht verstoßen hat. Allerdings hängt das Beharren des Gerichtshofs auf der Identität dieser Voraussetzungen nach meinem Dafürhalten zum einen mit dem Willen zusammen, das Unionsrecht nicht gegenüber dem nationalen Recht zu privilegieren. Ein solcher Ansatz entspricht im Übrigen dem in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten wesentlichen Grundsatz der Unionsrechtsordnung, wonach die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Zum anderen bedeutet, wie die von mir dargelegte einschlägige Rechtsprechung veranschaulicht, die Tatsache, dass die Voraussetzungen für einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel dieselben sind, wenn es um nationales Recht und Unionsrecht geht, nicht, dass dies auch für die jeweiligen Rollen des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats und des Gerichtshofs in Vorabentscheidungssachen gilt.

103. Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die Vorlagefragen zu prüfen. Genauer gesagt ist es Sache des Gerichtshofs, das Unionsrecht auszulegen, um in einem ersten Schritt zu prüfen, ob in Art. 11 der Charta ein grundlegendes Prinzip der Unionsrechtsordnung zum Ausdruck kommt (Abschnitt C), und in Anbetracht des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens in einem zweiten Schritt zu klären, anhand welcher Beurteilungskriterien festgestellt werden kann, ob die Vollstreckung einer Verurteilung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu einer offensichtlichen Verletzung dieses Prinzips führen würde (Abschnitt D).

C.      Art. 11 der Charta

1.      Die Pressefreiheit nach Art. 11 der Charta

104. Mit seinen Vorabentscheidungsfragen stellt das vorlegende Gericht auf Art. 11 der Charta ab. Diese Bestimmung enthält jedoch zwei Absätze: Der erste betrifft allgemein die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit, während sich der zweite speziell auf die Freiheit und die Pluralität der Medien bezieht.

105. Wie der Gerichtshof bereits klargestellt hat, nimmt ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit in Bezug auf Medienorganisationen die besondere Form eines Eingriffs in die durch Art. 11 Abs. 2 der Charta speziell geschützte Medienfreiheit an(73). In diesem Zusammenhang geht aus den Erläuterungen zur Charta(74) hervor, dass diese Bestimmung „die Auswirkungen von Absatz 1 hinsichtlich der Freiheit der Medien [erläutert]“. Daraus leite ich ab, dass, wenn ein Eingriff in die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung die Tätigkeit der Medien betrifft, Art. 11 Abs. 2 und nicht Art. 11 Abs. 1 der Charta Anwendung findet.

106. In der Ausgangsrechtssache hat ein nationales Gericht mit der Begründung auf die Ordre-public-Klausel zurückgegriffen, dass die Vollstreckung der spanischen Entscheidungen die Pressefreiheit verletze. Die Vorlagefragen beziehen sich somit speziell auf Art. 11 Abs. 2 der Charta.

107. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob die in dieser Bestimmung garantierte Pressefreiheit in der Unionsrechtsordnung ein Grundprinzip darstellt, dessen Verletzung einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel rechtfertigen kann.

2.      Die Pressefreiheit als Grundprinzip der Unionsrechtsordnung

108. Aus der Rechtsprechung lässt sich ableiten, dass die Tatsache, dass die durch die Charta garantierte Pressefreiheit den gleichen rechtlichen Stellenwert wie die Verträge hat, nicht automatisch bedeutet, dass sie ein Grundprinzip der Unionsrechtsordnung darstellt(75).

109. Abgesehen davon schützt die in Art. 11 Abs. 2 der Charta verankerte Pressefreiheit zum einen die wesentliche Rolle der Medien in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat, die darin besteht, Informationen und Ideen zu Fragen von allgemeinem Interesse zu verbreiten, zu der das Recht der Öffentlichkeit hinzukommt, diese Informationen und Ideen ohne andere als die unbedingt notwendigen Einschränkungen zu empfangen(76).

110. Zum anderen sind gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV die Grundrechte, „wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind“, als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Teil dieses Rechts. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu fragen, ob Art. 11 Abs. 2 der Charta in der EMRK seine Entsprechung findet. Wenn ja, wäre die Medienfreiheit nicht nur ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, sondern würde die Rechtsprechung des EGMR auch nützliche Erkenntnisse über die Auslegung dieser Bestimmung der Charta liefern.

111. Insoweit ist zu bemerken, dass Art. 10 EMRK im Gegensatz zu Art. 11 der Charta weder auf die Freiheit noch auf die Pluralität der Medien Bezug nimmt. Zum einen bezieht sich die erstgenannte Bestimmung nach der Rechtsprechung des EGMR jedoch unstreitig auch auf die Pressefreiheit und sogar auf die journalistische Freiheit(77). Zum anderen weist der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung darauf hin, dass die in Art. 11 Abs. 1 und 2 der Charta sowie in Art. 10 EMRK verankerte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit die gleiche Bedeutung und Tragweite hat(78).

112. In den Erläuterungen zu Art. 11 der Charta heißt es zwar, dass sich dessen Abs. 2 „insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich des Fernsehens, insbesondere [das Urteil Collectieve Antennevoorziening Gouda(79)], und auf das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten“ stützt. Mit diesen Verweisen scheint allerdings eher auf die Pluralität der Medien abgestellt zu werden, die zwar untrennbar mit deren Freiheit verbunden ist, in der Ausgangsrechtssache offenbar aber nicht unmittelbar in Frage steht. Die Pluralität der Medien wird jedenfalls auch gemäß Art. 10 EMRK geschützt(80).

113. Daher bildet die Pressefreiheit unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat sowie der Tatsache, dass sie ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, meines Erachtens unbestreitbar einen wesentlichen Grundsatz der Unionsrechtsordnung, dessen offensichtliche Verletzung einen Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung darstellen kann.

D.      Kriterien für die Prüfung einer offensichtlichen Verletzung der Pressefreiheit

1.      Rolle der Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats

a)      Einleitende Bemerkung

114. Art. 10 Abs. 2 EMRK sieht vor, dass die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung Einschränkungen unterworfen werden kann, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft u. a. „zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig sind. Der EGMR erkennt an, dass er bei der Prüfung der Frage, ob ein Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft zum „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig ist, gehalten sein kann, zu kontrollieren, ob die nationalen Behörden beim Schutz zweier durch die EMRK garantierter Werte, die in bestimmten Fällen in Konflikt zueinander stehen können, ein ausgewogenes Gleichgewicht hergestellt haben(81).

115. Zur Suche nach einem solchen Gleichgewicht ist zu sagen, dass die spanischen Entscheidungen, deren Vollstreckung angefochten wird, sowohl den Ruf des Fußballvereins als auch den des Mitglieds seines medizinischen Teams zu schützen suchen.

116. Der Ruf dieses Mitglieds des medizinischen Teams fällt unter Art. 8 EMRK, dem Art. 7 der Charta entspricht. Einschlägige Kriterien für die Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Achtung des Privatlebens sind u. a. der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, die Bekanntheit der betroffenen Person und das Thema der Berichterstattung, ihr früheres Verhalten, die Methode zur Beschaffung der Information und deren Wahrheitsgehalt, der Inhalt, die Form und die Folgen der Veröffentlichung sowie die Schwere der auferlegten Sanktion(82).

117. Was den Ruf des Fußballvereins angeht, so hat der EGMR die Frage offengelassen, ob der Ruf einer juristischen Person unter Art. 8 EMRK fällt(83). Gleichwohl fällt der Ruf einer juristischen Person unstreitig unter die Begriffe „guter Ruf“ oder „Rechte anderer“ im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK, wobei der Schutz des guten Rufs einer juristischen Person jedoch nicht das gleiche Gewicht hat wie der Schutz des guten Rufs oder der Rechte einer Einzelperson(84).

118. Daher muss die Suche nach einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen allen widerstreitenden Rechten und Interessen zum einen für den Fußballverein und das Mitglied seines medizinischen Teams getrennt durchgeführt werden. Dieser Umstand scheint sich in den spanischen Verurteilungen widerzuspiegeln, die auf zwei unterschiedliche Beträge für die beiden Kläger des Ausgangsverfahrens lauten. Abgesehen davon nimmt der EGMR die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Eingriffe zum anderen sowohl in Bezug auf eine juristische Person als auch in Bezug auf eine Einzelperson anhand derselben Kriterien vor(85).

119. Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, die Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte nach diesen Kriterien vorzunehmen und auf dieser Grundlage festzustellen, ob die Vollstreckung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden spanischen Entscheidungen zu einer offensichtlichen Verletzung der Pressefreiheit führen würde. Bevor mit der Analyse der genannten Kriterien fortgefahren wird, sollte man sich allerdings den Kontext der vorliegenden Rechtssache in Erinnerung rufen.

b)      Das Verbot einer Nachprüfung in der Sache im Hinblick auf das gegenseitige Vertrauen

120. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich nicht auf die Frage, wie die Pressefreiheit und der gute Ruf anderer erstmals und auf der Grundlage von Beweismitteln, die dem mit einer Haftungsklage befassten Gericht zur Verfügung stehen, gegeneinander abzuwägen sind. Die Suche nach einem solchen Gleichgewicht ist bereits von den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats unternommen worden. Außerdem haben die Beklagten des Ausgangsverfahrens, wie in der mündlichen Verhandlung klargestellt worden ist, versucht, das Ergebnis dieser Suche durch das Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien) und den EGMR überprüfen zu lassen, die die Beschwerden jedoch nicht für zulässig erachtet haben.

121. Im vorliegenden Fall stammt das Vorabentscheidungsersuchen von einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt worden ist. Dies zu ignorieren, würde darauf hinauslaufen, das auf gegenseitigem Vertrauen basierende Anerkennungs- und Vollstreckungssystem der Brüssel‑I-Verordnung und die jeweiligen Rollen der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats zu missachten.

122. Die Rolle des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats wird nämlich durch die in Art. 45 Abs. 2 der Brüssel‑I-Verordnung vorgesehene Beschränkung begrenzt, wonach „[d]ie [in einem anderen Mitgliedstaat ergangene] Entscheidung … keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden [darf]“. Zwar gestattet es die Ordre-public-Klausel diesem Gericht, die Vollstreckbarerklärung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung zu versagen. Diese Klausel und die sich daraus ergebende Ausnahme haben jedoch einen sehr engen Anwendungsbereich, der durch die Rolle des genannten Gerichts bestimmt wird.

123. Der Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel beruht insoweit nicht auf einer negativen Beurteilung des Verfahrens vor dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats oder der von diesem erlassenen Entscheidung. Er ergibt sich vielmehr aus der Feststellung, dass die Auswirkungen der Vollstreckung dieser Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat einem Grundprinzip der öffentlichen Ordnung dieses Staates offensichtlich widersprächen.

124. Deshalb ist dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats gemäß Art. 45 Abs. 2 der Brüssel‑I-Verordnung untersagt, nachzuprüfen, ob das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats den Fall rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat(86). Das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats darf diese Beurteilungen auch nicht durch bereits vorhandene Elemente ergänzen, die vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nicht berücksichtigt worden sind(87).

125. In diesem Sinne hat der Gerichtshof in einem Urteil zur Verordnung (EG) Nr. 2201/2003(88) die Auffassung vertreten, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats bei der Festlegung des endgültigen Betrags, der aufgrund eines vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats verhängten Zwangsgelds zu zahlen ist, nicht eingreifen darf(89). Eine solche Festlegung beinhaltet nämlich die Beurteilung der Gründe für die Verstöße des Schuldners, und nur das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats ist als das in der Sache zuständige Gericht befugt, Beurteilungen dieser Art vorzunehmen.

126. In Bezug auf die Brüssel‑I-Verordnung darf das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats erst recht nicht die rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilungen in Frage stellen, die das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats bei der Neuberechnung eines Betrags vorgenommen hat, der aufgrund der von diesem Staat ausgesprochenen Verurteilung zu entrichten ist. Ebenso wenig darf es die Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte bekräftigen, da das Ergebnis dieser Abwägung für den Ausgang des Verfahrens maßgeblich ist.

127. Wie der Gerichtshof im Urteil Gambazzi(90) entschieden hat, dürfen die Prüfungen durch das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur auf die Feststellung abzielen, ob eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des fraglichen Rechts vorliegt, ohne eine Kontrolle der Beurteilungen des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats zur Begründetheit zu umfassen.

128. Vor diesem Hintergrund reicht es aus Sicht der EMRK(91) unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Rollen des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats und des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des durch die Brüssel‑I-Verordnung geschaffenen, auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Anerkennungs- und Vollstreckungssystems aus, wenn das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats auf die Ordre-public-Klausel zurückgreift, um offensichtliche Mängel beim Schutz der durch die EMRK garantierten Rechte zu beheben.

129. Wird durch eine Verurteilung infolge einer Haftungsklage gegen einen Grundsatz materieller Natur verstoßen, müssen sich die Prüfungen durch das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats daher vor allem auf die offensichtlichen und unverhältnismäßigen Auswirkungen beziehen, die die Sanktion, die mit der Entscheidung verhängt worden ist, deren Vollstreckung beantragt wird, auf die Pressefreiheit hat. Bei der Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung greifen Sanktionen nämlich am intensivsten in die Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats ein. Dies ist im Übrigen auch der Blickwinkel, den das vorlegende Gericht in seinen Vorlagefragen einnimmt, die vor allem auf die finanzielle Dimension der spanischen Entscheidungen abstellen.

130. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Art. 11 nicht die einzige Bestimmung der Charta ist, die hier zum Tragen kommt.

c)      Abwägung der betroffenen Grundrechte

131. Im vorliegenden Fall könnte die Erteilung der Vollstreckbarerklärung aus Sicht der Beklagten des Ausgangsverfahrens einerseits einen Eingriff in die Ausübung der in Art. 11 der Charta garantierten Pressefreiheit darstellen. Andererseits liefe die Weigerung, die fraglichen spanischen Entscheidungen zu vollstrecken, aus Sicht der Kläger des Ausgangsverfahrens darauf hinaus, ihr in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankertes Recht auf Vollstreckung dieser Entscheidungen einzuschränken(92).

132. Gleichwohl ist weder die Freiheit der Meinungsäußerung noch das Recht auf Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung absolut.

133. Wenn mehrere Grundrechte in Rede stehen, ist eine Abwägung dieser Grundrechte anhand der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Anforderungen vorzunehmen(93).

134. Vorliegend stellt sich die Frage, ob es für die Einschränkung der Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung durch die Beklagten des Ausgangsverfahrens eine Rechtsgrundlage gibt, nicht. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verurteilungen sind nämlich nach spanischem Recht und unter der Geltung der Brüssel‑I-Verordnung ausgesprochen worden und müssen in Frankreich grundsätzlich vollstreckt werden. Gleiches gilt für die Einschränkung des Rechts der Kläger des Ausgangsverfahrens, die sich aus der Ordre-public-Klausel ergibt und in dieser Verordnung vorgesehen ist(94).

135. In einem solchen Fall ist bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darauf zu achten, dass die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte verbundenen Erfordernisse miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht(95).

136. Die Suche nach einem solchen Gleichgewicht ist Teil des in der EMRK vorgesehenen Mechanismus zum Schutz der Freiheit der Meinungsäußerung. Somit überrascht es nicht, dass der Gerichtshof bei einer solchen Abwägung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung einerseits und anderen Grundrechten und ‑freiheiten andererseits auf die vom EGMR herangezogenen Beurteilungskriterien verweist(96).

137. Meines Wissens hat sich der EGMR noch nicht zu den Grundsätzen geäußert, die für Rechtssachen gelten, in denen das in Art. 10 EMRK garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung gegen das in Art. 6 EMRK garantierte Recht auf Vollstreckung einer im Ausland ergangenen gerichtlichen Entscheidung abzuwägen ist. Daher ist es Sache des Gerichtshofs, in Anbetracht des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens solche Grundsätze für Art. 11 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 2 der Charta zu verankern.

2.      Zum kompensatorischen Schadensersatz

138. Die Problematik, die in der zweiten Vorabentscheidungsfrage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist, angesprochen wird, betrifft die Frage, ob das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats das Vorliegen einer offensichtlichen Verletzung der Pressefreiheit aufgrund der Unverhältnismäßigkeit der Verurteilung feststellen kann, wenn sich diese auf Schadensersatz bezieht, der zur Wiedergutmachung eines immateriellen Schadens zugesprochen worden ist. Bevor ich auf diese Problematik eingehe, halte ich einige zusätzliche Klarstellungen hinsichtlich ihrer Tragweite für sinnvoll.

a)      Einleitende Bemerkungen

139. Als Erstes scheint die Problematik, die in der zweiten Frage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist, angesprochen wird, auf den Kassationsgrund zurückzuführen sein, mit dem die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend machen, eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Schadensersatzes könne nur dann stattfinden, wenn dieser strafenden und nicht ausgleichenden Charakter habe. Außerdem merken die Kläger des Ausgangsverfahrens und die spanische Regierung an, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Schadensersatz von den spanischen Gerichten nicht als „strafend“ eingestuft worden sei, sondern den erlittenen immateriellen Schaden ausgleichen solle. Die Formulierung der zweiten Vorabentscheidungsfrage deutet darauf hin, dass das vorlegende Gericht von der gleichen Prämisse ausgeht.

140. Als Zweites bezieht sich dieser Kassationsgrund auf eines der Argumente der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris), wonach die Kläger des Ausgangsverfahrens keinen Vermögensschaden geltend gemacht hätten und ein immaterieller Schaden schwer zu quantifizieren sei. Ich möchte insoweit darauf hinweisen, dass es zwar nicht möglich ist, den immateriellen Schaden und den Vermögensschaden auf die gleiche Weise zu berechnen, dies jedoch nicht bedeutet, dass die Verurteilung im Zusammenhang mit einem immateriellen Schaden nicht kompensatorisch ist(97).

141. Als Drittes scheint die Problematik, die in der zweiten Frage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist, angesprochen wird, auf der Prämisse zu beruhen, dass die Einstufung des Schadensersatzes sowohl vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats als auch vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgenommen werden kann („wenn der Schadensersatz vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats oder vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats als Strafschadensersatz eingestuft wurde“). In Anbetracht der in den Nrn. 124 bis 126 der vorliegenden Schlussanträge angestellten Erwägungen hindert das Verbot einer Nachprüfung in der Sache das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats jedoch daran, eine solche Einstufung des Schadensersatzes vorzunehmen. Dieses Gericht darf seine eigene Einstufung nämlich nicht an die Stelle der Einstufung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats setzen. Ebenso ist es ihm verwehrt, die rechtlichen und tatsächlichen Beurteilungen zu prüfen und zu dem Schluss zu gelangen, dass die Höhe des zugesprochenen Schadensersatzes nicht dem erlittenen Schaden entspricht und ein erheblicher Teil dieses Betrags somit keinen ausgleichenden, sondern strafenden Charakter hat.

b)      Beurteilung

142. Was nunmehr die Prüfung der mit der zweiten Vorlagefrage aufgeworfenen Problematik in der Sache angeht, so werde ich mit der Analyse des von den Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung erörterten Arguments zu den aktuellen Tendenzen im internationalen Privatrecht beginnen. Anschließend werde ich die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR näher betrachten.

1)      Aktuelle Tendenzen im internationalen Privatrecht

143. Im internationalen Privatrecht sind mehrere Versuche – manchmal mit, manchmal ohne Erfolg(98) – im Hinblick darauf unternommen worden, eine Ordre-public-Klausel festzulegen, die sich speziell auf die Gewährung oder Vollstreckung von Strafschadensersatz bezieht. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung ausgeschlossen wäre, wenn eine Verurteilung nicht auf kompensatorischen Schadensersatz lautet.

144. Einige Verfahrensbeteiligte haben in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung insoweit auf das Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(99) (im Folgenden: Übereinkommen von 2019) verwiesen, dem die Union beigetreten ist. Konkret machen diese Verfahrensbeteiligten geltend, das Übereinkommen sehe zwar ein Verbot der Nachprüfung in der Sache vor, bestimme in seinem Art. 10 Abs. 1 aber, dass „[d]ie Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung … versagt werden [kann], sofern und soweit mit ihr Schadenersatz, einschließlich exemplarischen Schadenersatzes oder Strafschadenersatzes, zugesprochen wird, der eine Partei nicht für einen tatsächlich erlittenen Schaden oder Nachteil entschädigt“.

145. Die Relevanz des Übereinkommens von 2019 für die vorliegende Rechtssache ist in der mündlichen Verhandlung erörtert worden.

146. Einerseits sind nämlich „üble Nachrede und Verleumdung“ sowie das „Recht auf Privatsphäre“(100) vom Anwendungsbereich des Übereinkommens von 2019 ausgeschlossen, weil sie, wie im erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen ausgeführt wird, für zahlreiche Staaten sensible Bereiche darstellen, die die Freiheit der Meinungsäußerung berühren und daher verfassungsrechtliche Auswirkungen haben können(101).

147. Andererseits hat das Institut für Internationales Recht im Jahr 2019 jedoch seine Entschließung über die Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch die Nutzung des Internets veröffentlicht, nach deren Art. 9 Art. 10 des Übereinkommens von 2019 auch im Fall einer solchen Verletzung anwendbar sein sollte(102). Diese Entschließung ist zwar nicht verbindlich. Gleichwohl ist sie unter der Schirmherrschaft des besagten Instituts, dessen Autorität hinsichtlich der Identifizierung aktueller Tendenzen im internationalen Privat- und öffentlichen Recht nicht außer Acht gelassen werden kann, ausgearbeitet worden(103). Die Entschließung zeigt mithin, dass die Relevanz der von der Haager Konferenz erarbeiteten Lösungen über den Rahmen des Übereinkommens von 2019 hinausgeht.

148. Abgesehen davon ist die Unterscheidung zwischen kompensatorischem und Strafschadensersatz trotz des Wortlauts von Art. 10 des Übereinkommens von 2019 im Rahmen dieses Übereinkommens nicht entscheidend. Nach dem erläuternden Bericht zum Übereinkommen von 2019 könnte die Vollstreckung aufgrund dieser Bestimmung nämlich nur dann versagt werden, wenn sich aus der Entscheidung eindeutig ergibt, dass die Verurteilung über den tatsächlich erlittenen Schaden oder Nachteil hinauszugehen scheint. Insoweit könnte neben Strafschadensersatz „in Ausnahmefällen auch Schadensersatz, der vom Ursprungsgericht als kompensatorisch eingestuft worden ist, unter die genannte Bestimmung fallen“(104).  Nach der Lehre ist es unter der Geltung dieses Übereinkommens somit zulässig, die Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung zu versagen, sofern sie sich auf Strafschadensersatz oder einen anderweitig überhöhten Schadensersatz bezieht(105).

149. Daraus schließe ich, dass den aktuellen Tendenzen im internationalen Privatrecht zufolge in absoluten Ausnahmefällen selbst dann auf die Ordre-public-Klausel zurückgegriffen werden kann, wenn die Verurteilung auf kompensatorischen Schadensersatz lautet. In Ermangelung eines klaren Hinweises auf den Ansatz, den der Unionsgesetzgeber in der Brüssel‑I-Verordnung gewählt hat, ist es angebracht, sich der einschlägigen Rechtsprechung zu dieser Verordnung und zur Freiheit der Meinungsäußerung zuzuwenden.

2)      Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs

150. Das Urteil flyLAL-Lithuanian Airlines(106) könnte den Eindruck erwecken, dass die Höhe einer Verurteilung zum Ersatz eines Vermögensschadens und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen als solche keine Gründe für die Versagung der Vollstreckbarerklärung darstellen. Der Gerichtshof hat nämlich die Auffassung vertreten, dass die Ordre-public-Klausel nicht auf den Schutz rein wirtschaftlicher Interessen abzielt, so dass die bloße Berufung auf schwerwiegende wirtschaftliche Folgen keinen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats darstellt, in dem die Vollstreckung geltend gemacht wird.

151. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil jedoch zum einen auch hervorgehoben, dass die Entscheidungen, deren Vollstreckung in Rede stand, einstweilige und sichernde Maßnahmen darstellten, die nicht in der Zahlung eines Betrags, sondern nur in der Überwachung des Vermögens der Beklagten des Ausgangsverfahrens bestanden(107). Zum anderen geht aus dem genannten Urteil nicht hervor, dass schwerwiegende wirtschaftliche Folgen im Vollstreckungsmitgliedstaat, die sich nicht auf eine bloße Berufung auf wirtschaftliche Interessen reduzieren lassen, keinen Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung darstellen können.

152. Daher verstehe ich das Urteil flyLAL-Lithuanian Airlines so, dass ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung bei einer Verurteilung, die auf kompensatorischen Schadensersatz lautet, nur in absoluten Ausnahmefällen und nur dann möglich ist, wenn weitere Argumente aus der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats geltend gemacht werden, um sich der Vollstreckung dieser Verurteilung zu widersetzen(108).

3)      Einschlägige Rechtsprechung des EGMR

153. In seiner Rechtsprechung zur Freiheit der Meinungsäußerung hat der EGMR darauf hingewiesen, dass die Art und die Schwere der verhängten Strafen Gesichtspunkte darstellen, die bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in das in Art. 10 EMRK garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung zu berücksichtigen sind(109). Bei einer Auslegung dieser Rechtsprechung könnte man den Eindruck gewinnen, dass eine Verurteilung als solche wichtiger ist als eine verhängte Strafe, die nur geringfügigen Charakter hat.

154. Als Erstes muss jedoch festgestellt werden, dass die Rechtsprechung des EGMR zwei unterschiedliche Teile umfasst, nämlich einen Teil betreffend strafrechtliche Sanktionen und einen Teil betreffend Verurteilungen wegen einer Verleumdung, die eine zivilrechtliche Verfehlung darstellt. Die nationalen Behörden müssen bei der Strafverfolgung nämlich Zurückhaltung üben und der Schwere der strafrechtlichen Sanktionen größte Beachtung schenken(110).

155. Als Zweites hat der EGMR zwar im Fall einer zivilrechtlichen Verurteilung, die auf einen „symbolischen Franc“ lautete, einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK festgestellt. Gleichwohl stellte die Erwägung, dass eine Verurteilung wichtiger sei als eine geringfügige Strafe, nicht den Ausgangspunkt der Argumentation dar, sondern ein letztes Argument, um zu betonen, dass die Geringfügigkeit einer solchen Verurteilung für sich genommen nicht ausreichen könne, um einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung zu rechtfertigen(111), ohne notwendigerweise eine wirklich abschreckende Wirkung auf die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung zu erzeugen(112).

156. Was noch wichtiger ist: Als Drittes vertritt der EGMR die Auffassung, dass Personen, die durch verleumderische Äußerungen geschädigt worden sind, grundsätzlich die Möglichkeit behalten müssen, eine Haftungsklage zu erheben, die einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Verletzungen der Persönlichkeitsrechte darstellt(113). Nach Ansicht dieses Gerichtshofs kann ein außergewöhnlicher und besonders hoher Schadensersatzbetrag wegen Verleumdung unter bestimmten Umständen im Hinblick auf Art. 10 EMRK problematisch sein(114). Insbesondere muss, um ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den auf dem Spiel stehenden Rechten zu gewährleisten, der wegen Verleumdung zugesprochene Schadensersatzbetrag in einem „angemessenen Verhältnis“ zur Rufschädigung stehen(115). Insoweit verbietet die EMRK, wie im Schrifttum angemerkt wird, nicht alle Formen von Geldstrafen oder überkompensatorischen Strafen. Sie verbietet hingegen unverhältnismäßige Strafen in dem in der Rechtsprechung des EGMR gewählten besonderen Sinne dieses Begriffs(116), d. h. solche, die aufgrund ihrer Merkmale, die im Verhältnis zum Sachverhalt des konkreten Falls gewichtet werden, zu einer Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung führen, die in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig ist.

157. Daher enthält die Rechtsprechung des EGMR zum einen keinen Hinweis darauf, dass der Strafcharakter des Schadensersatzes eine Vorbedingung für die Feststellung einer möglichen Verletzung der in Art. 10 EMRK verankerten Freiheiten wäre. Zum anderen stellt sie bestimmte Kriterien für die Beurteilung der Unverhältnismäßigkeit einer kompensatorischen Sanktion auf, anhand derer sich feststellen lässt, dass diese zu einer Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung führt, die in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig ist. Diese Beurteilungskriterien werde ich weiter unten analysieren.

158. Was die Problematik angeht, die mit der zweiten Vorabentscheidungsfrage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist, aufgeworfen wird, so bin ich unter Berücksichtigung sowohl der aktuellen Tendenzen im internationalen Privatrecht als auch der einschlägigen Rechtsprechung jedenfalls der Ansicht, dass, wenn eine Verurteilung auf kompensatorischen Schadensersatz lautet, ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung in absoluten Ausnahmefällen und nur im Zusammenhang mit weiteren Argumenten, die aus der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats hergeleitet werden, möglich ist.

3.      Zur Abschreckungswirkung

159. Die Problematik, die in der dritten bis siebten Vorabentscheidungsfrage zusammengenommen in der Formulierung des vorlegenden Gerichts angesprochen wird, bezieht sich auf zwei Aspekte.

160. So möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob die abschreckende Wirkung einer Verurteilung, die sich auf einen für die Wiedergutmachung eines immateriellen Schadens zugesprochenen Schadensersatz bezieht, als solche ausreicht, um einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel im Sinne von Art. 34 Nr. 1 der Brüssel‑I-Verordnung, ausgelegt im Licht von Art. 11 der Charta, zu rechtfertigen, und zum anderen, welche Gesichtspunkte bei der Prüfung des Vorliegens einer solchen abschreckenden Wirkung zu berücksichtigen sind.

a)      Abschreckungswirkung als Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung

1)      Begriff der Abschreckungswirkung

161. Einleitend möchte ich anmerken, dass das vorlegende Gericht zwar auf den Begriff der Abschreckungswirkung verweist, diesen jedoch nicht definiert.

162. Insoweit scheint dieser Verweis zum einen seinen Ursprung in den Urteilen der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) zu haben, die in einem Wortlaut, der an die Rechtsprechung des EGMR erinnert, die Auffassung vertreten hat, dass die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden Verurteilungen eine abschreckende Wirkung in Bezug auf die Beteiligung der Beklagten des Ausgangsverfahrens an der öffentlichen Erörterung für die Allgemeinheit interessanter Themen entfalteten, was die Medien an der Erfüllung ihrer Informations- und Kontrollaufgabe hindern könnte. Zum anderen stellt das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen auf die Rechtsprechung des EGMR ab, indem es feststellt, dass „die abschreckende Wirkung einer Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz einen Parameter für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer … Maßnahme zur Wiedergutmachung verleumderischer Äußerungen dar[stellt]“.

163. In seiner Rechtsprechung zur Freiheit der Meinungsäußerung bezieht sich der EGMR austauschbar auf die „abschreckende Wirkung“ und den „chilling effect“(117).

164. Im Schrifttum ist verschiedentlich festgestellt worden, dass der EGMR zwar noch keine substanzielle Definition des Begriffs der abschreckenden Wirkung gegeben habe, sich jedoch auf diesen Begriff stütze, um eine strenge Prüfung nationaler Maßnahmen zu rechtfertigen, die seiner Ansicht nach am ehesten negative – über Einzelfälle, in denen sie angewendet werden, hinausgehende – Auswirkungen haben, so dass natürliche und juristische Personen aus Angst davor, diesen Maßnahmen unterworfen zu werden, von der Ausübung ihrer Rechte abgehalten werden(118).

165. Vor diesem Hintergrund ist im Schrifttum darauf hingewiesen worden, dass der Begriff der abschreckenden Wirkung in der Rechtsprechung zur Freiheit der Meinungsäußerung nicht einheitlich verwendet werde, insbesondere weil er auf die Auswirkungen eines Eingriffs in diese Freiheit abzuzielen scheine, die über die Situation der vom Eingriff direkt betroffenen Person hinausgingen(119).

166. In einer Strömung dieser Rechtsprechung, die sich auf zivilrechtliche Sanktionen bezieht, verwendet der EGMR den Begriff der abschreckenden Wirkung offenbar nämlich im Zusammenhang mit der journalistischen Freiheit im betreffenden Staat. In der Tat spricht dieser Gerichtshof von einem Ergebnis des nationalen Verfahrens, das den betroffenen Personen eine übermäßige und unverhältnismäßige Belastung auferlegt, „die geeignet ist, einen ‚chilling effect‘ auf die Pressefreiheit im Hoheitsgebiet des beklagten Staates zu haben“(120), von einer Gesamthöhe der Verurteilung als „einem wichtigen Faktor für einen möglichen ‚chilling effect‘ des Verfahrens auf den Beschwerdeführer und andere Journalisten“(121) oder aber von einer „[Verurteilung, die] unweigerlich die Gefahr birgt, dass Journalisten davon abgehalten werden, zur öffentlichen Diskussion das Leben der Allgemeinheit betreffender Fragen beizutragen“(122).

2)      Relevanz für die vorliegende Rechtssache

167. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache, die sich um die Problematik der Versagung der Vollstreckbarerklärung dreht, weil die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung offensichtlich gegen die öffentliche Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats verstieße, halte ich für relevant, wie der EGMR die abschreckenden oder sogar unannehmbaren Wirkungen unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Pressefreiheit im Zusammenhang mit der Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse definiert.

168. Als Erstes bergen solche unannehmbaren Wirkungen nämlich die Gefahr, dass Journalisten davon abgehalten werden, zur öffentlichen Diskussion von Fragen beizutragen, die das Leben der Allgemeinheit betreffen. Die Debatte über Dopingfragen im Fußball berührt das Allgemeininteresse(123), und der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse stellt einen entscheidenden Gesichtspunkt dar, der bei der Abwägung widerstreitender Grundrechte zu berücksichtigen ist(124).

169. Auch muss, wenn es um einen Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel geht, als Zweites zum einen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und dem in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Recht auf Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung gefunden werden. Die Suche nach einem ausgewogenen Gleichgewicht darf grundsätzlich aber nicht dazu führen, dass die Vollstreckung einer Entscheidung wegen der Auswirkungen, die sie auf den Beklagten hätte, abgelehnt wird. Das Wesen einer Verurteilung besteht darin, dass ihre Folgen für den Beklagten spürbar sind.

170. Zum anderen ist ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung, wie ich in Nr. 152 der vorliegenden Schlussanträge festgestellt habe, bei einer Verurteilung, die auf kompensatorischen Schadensersatz lautet, nur in absoluten Ausnahmefällen und nur im Zusammenhang mit weiteren Argumenten möglich, die aus einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats hergeleitet werden. Dies ist der Fall bei einem Argument, mit dem geltend gemacht wird, die Erteilung der Vollstreckbarerklärung sei geeignet, abschreckend auf die Pressefreiheit im betreffenden Mitgliedstaat zu wirken. Die so definierte Abschreckungswirkung berührt sowohl die journalistische Freiheit in diesem Mitgliedstaat als auch die Informationsfreiheit der allgemeinen Öffentlichkeit. In einem solchen Fall schützt die Versagung der Vollstreckbarerklärung nicht nur den Beklagten vor der gegen ihn verhängten Sanktion, sondern auch das Interesse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats.

171. Daher führt die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung, die eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung der Pressefreiheit im Vollstreckungsmitgliedstaat haben kann, zu einer offensichtlichen und unverhältnismäßigen Verletzung des Grundprinzips des letztgenannten Mitgliedstaats und stellt somit einen Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung dar. Es gilt nun, die Kriterien zu bestimmen, anhand derer festgestellt werden kann, dass eine Verurteilung eine solche Wirkung hervorruft.

b)      Kriterien zur Beurteilung der Abschreckungswirkung

1)      Abschreckungswirkung aus Sicht des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats

172. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Umstände, die in der dritten bis siebten Vorabentscheidungsfrage, wie sie von diesem Gericht formuliert worden sind, beschrieben werden, bei der Feststellung berücksichtigt werden können, ob ein offensichtlicher Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats vorliegt. Insoweit könnte man versucht sein, sich an der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren, der bei der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 10 EMRK offenbar jedem der vom vorlegenden Gericht erwähnten Umstände Gewicht beimisst.

173. Gleichwohl geht es, wie aus Nr. 129 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, vor dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht um die Frage, ob der Schadensersatz verhältnismäßig ist, sondern vielmehr darum, ob die Vollstreckung einer Entscheidung, mit der Schadensersatz zugesprochen wird, eine abschreckende Wirkung haben könnte, die aufgrund der verhängten Sanktion zu einer offensichtlichen und unverhältnismäßigen Verletzung der Pressefreiheit in diesem Mitgliedstaat führt. Daher können die Prüfungen durch das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur darauf abzielen, die Gefahr einer solchen abschreckenden Wirkung zu ermitteln, ohne eine Kontrolle der vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats vorgenommenen Beurteilungen in der Sache zu beinhalten. Ausgehend von diesen Überlegungen besteht die Rolle des Gerichtshofs auch nicht darin, sich an die Stelle des EGMR zu setzen und eine Verletzung der Pressefreiheit festzustellen, die dem letztgenannten Mitgliedstaat zuzuschreiben ist.

174. Außerdem sind die Beklagten des Ausgangsverfahrens neben der Zahlung von Schadensersatz, Zinsen und Kosten auch dazu verurteilt worden, die im Ursprungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung zu veröffentlichen. Gleichwohl beziehen sich die Vorabentscheidungsfragen nur auf die Verurteilung in ihrer finanziellen Dimension. Ein Rückgriff auf die Ordre-public-Klausel ist nämlich nur dann möglich, wenn die Bestandteile der Entscheidung, deren Vollstreckung im Vollstreckungsmitgliedstaat beantragt wird, gegen die Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats verstoßen. Demgegenüber muss bei der Prüfung eines Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung unter dem Gesichtspunkt seiner abschreckenden Wirkung dem EGMR zufolge die Art der übrigen gegen die betreffende Person verhängten Sanktionen und Maßnahmen berücksichtigt werden(125).

2)      Relevante Kriterien im vorliegenden Fall

175. Mit seinen Vorabentscheidungsfragen 3 bis 7 möchte das vorlegende Gericht feststellen lassen, ob die Mittel der betroffenen Person, die Schwere des Verschuldens, das Ausmaß des Schadens und der Umfang der Abschreckungswirkung, die sich nach der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, und der Printmedien im Allgemeinen richtet, bei der Feststellung des Vorliegens einer Abschreckungswirkung zu berücksichtigen sind. Außerdem fragt es sich, ob das Vorliegen einer abschreckenden Wirkung bei einem Unternehmen, das eine Zeitung herausgibt, und einem Journalisten in gleicher Weise zu beurteilen ist.

176. Was den Umfang der Abschreckungswirkung angeht (vierte Vorabentscheidungsfrage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist), so rechtfertigt, wenn man die Notwendigkeit berücksichtigt, die in Rede stehenden Grundrechte gegeneinander abzuwägen(126), nur die Gefahr einer Abschreckungswirkung, die über die Situation der unmittelbar betroffenen Person hinausgeht, die Versagung der Vollstreckbarerklärung, da sie eine offensichtliche und unverhältnismäßige Verletzung der Pressefreiheit im Vollstreckungsmitgliedstaat darstellt. Nur in einem solchen Fall muss das Gericht dieses Mitgliedstaats auf die Ordre-public-Klausel zurückgreifen, um einen offensichtlichen Mangel beim Schutz dieser Freiheit zu beheben(127).

177. Was die Mittel der betroffenen Person im Hinblick auf ihre natürliche oder juristische Natur betrifft (erster Teil der dritten Frage sowie fünfte und sechste Frage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden sind), so muss das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats berücksichtigen, dass der Gesamtbetrag, den die betroffene Person zu zahlen hat, einen wichtigen Faktor für die potenzielle Abschreckungswirkung auf diese Person und andere Journalisten darstellt(128).

178. Zwar scheint der EGMR die Tatsache, dass die Herausgeberin und der Journalist – wie im vorliegenden Fall – gesamtschuldnerisch zur Zahlung einer Strafe verpflichtet sind, als mildernden Umstand zu berücksichtigen(129). Die abschreckende Wirkung wird jedoch bei einem Unternehmen, das eine Zeitung herausgibt, und einem Journalisten, der den beanstandeten Artikel verfasst hat, nicht in gleicher Weise beurteilt.

179. Zum einen bezieht sich der EGMR bei einer natürlichen Person nämlich auf das Gehalt der betreffenden Person oder auf Referenzwerte wie beispielsweise den Mindest-(130) oder Durchschnittslohn(131) im jeweiligen beklagten Staat. Grundsätzlich ist der Gesamtbetrag, den die betreffende Person zu zahlen hat, als offensichtlich überhöht anzusehen, wenn sich diese Person jahrelang abmühen müsste, um ihn vollständig zu begleichen, oder wenn der Betrag mehreren Dutzend Standardmindestlöhnen im Vollstreckungsmitgliedstaat entspricht. Zum anderen trägt der EGMR bei einer juristischen Person dafür Sorge, dass die Höhe des Presseunternehmen auferlegten Schadensersatzes nicht geeignet ist, deren wirtschaftliche Grundlagen zu gefährden(132), und daher als offensichtlich unangemessen anzusehen ist.

180. Außerdem darf das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats die wirtschaftliche Lage der Printmedien in diesem Mitgliedstaat im Allgemeinen (siebte Frage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist) selbst dann, wenn dort möglicherweise eine abschreckende Wirkung auf Journalisten und Presseunternehmen besteht, nicht berücksichtigen, um die Vollstreckbarerklärung einer gerichtlichen Entscheidung zu versagen. Im Hinblick auf Journalisten und Presseunternehmen kommt es vor allem darauf an, sich bewusst zu sein, dass auch sie einer Verurteilung unterliegen können, die gemessen an den Umständen des Einzelfalls offensichtlich unangemessen ist.

181. Schließlich müssen sich die Prüfungen durch das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats unter Berücksichtigung der Rolle dieses Gerichts in dem durch die Brüssel‑I-Verordnung geschaffenen Anerkennungs- und Vollstreckungssystem(133) vor allem auf die offensichtlichen und unverhältnismäßigen Auswirkungen beziehen, die die Sanktion, die mit der Entscheidung verhängt worden ist, deren Vollstreckung beantragt wird, auf die Pressefreiheit hat. Das besagte Gericht darf somit nicht nachprüfen, ob das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats den Fall in Bezug auf die Schwere des Verschuldens und das Ausmaß des Schadens rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat (zweiter Teil der dritten Frage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden ist).

182. Dagegen darf das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, um sicherzustellen, dass das Ergebnis einer Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte nicht durch einen offenkundig unzureichenden Grundrechtsschutz gekennzeichnet ist(134), sowohl die Schwere des Verschuldens als auch das Ausmaß des Schadens berücksichtigen, um festzustellen, ob der Gesamtbetrag einer Verurteilung, obwohl er auf den ersten Blick offensichtlich überhöht scheint, angemessenen ist, um den Auswirkungen der verleumderischen Äußerungen entgegenzuwirken(135).

E.      Vermutung eines gleichwertigen Schutzes

183. Nach der berühmten Vermutung eines „gleichwertigen Schutzes“, die aus der Rechtsprechung des EGMR hervorgegangen und auf die Mitgliedstaaten anwendbar ist(136), muss die Maßnahme eines Mitgliedstaats, die in Erfüllung der Verpflichtungen aus seiner Zugehörigkeit zur Union getroffen wird, als im Hinblick auf die EMRK gerechtfertigt gelten, sofern feststeht, dass die Union den Grundrechten einen Schutz gewährt, der dem durch die EMRK gewährleisteten Schutz zumindest gleichwertig ist(137). Zwar werden die Anwendbarkeit dieser Vermutung und die daraus zu ziehenden Konsequenzen nur vom EGMR beurteilt. In einem Geist der Koordinierung zwischen der Charta und der EMRK und um dem Gerichtshof auch in Bezug auf die Auswirkungen seines bevorstehenden Urteils eine umfassende Antwort zu geben, möchte ich besagter Vermutung jedoch einige zusätzliche Anmerkungen widmen.

184. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass die Anwendung der Vermutung eines gleichwertigen Schutzes zwei Voraussetzungen unterliegt: dem Fehlen eines Handlungsspielraums der nationalen Behörden und der Entfaltung des gesamten Potenzials des im Unionsrecht vorgesehenen Kontrollmechanismus(138), einschließlich des Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof, vor dem Grundrechtsfragen erörtert werden können. Da der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst worden und es allein Sache des EGMR ist, zu prüfen, ob die zweite Voraussetzung erfüllt ist, werde ich mich auf die erste Voraussetzung konzentrieren.

185. Die Frage, ob die Vermutung eines gleichwertigen Schutzes gilt, wird vom EGMR insoweit unter Berücksichtigung der „im vorliegenden Fall angewandten präzisen Bestimmung“(139) und aller sich daraus ergebenden Folgen für den betreffenden Mitgliedstaat im Einklang mit der vom Gerichtshof bereitgestellten Auslegung geprüft(140). Das bedeutet, dass sämtliche relevanten Elemente des Rechtsrahmens der Union, aus denen sich die Verpflichtungen eines betroffenen Mitgliedstaats gegenüber der Union und den übrigen Mitgliedstaaten ergeben, berücksichtigt werden.

186. Im vorliegenden Fall ist somit zu fragen, ob das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, das mit einem Rechtsbehelf nach den Art. 43 und 44 der Brüssel‑I-Verordnung befasst ist, unter der Geltung dieser Verordnung die Ermessensbefugnis behält, zu entscheiden, ob es von der Ordre-public-Klausel Gebrauch macht oder nicht, wenn die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung offensichtlich gegen ein durch die Charta garantiertes Grundrecht verstößt.

187. Nach meiner Kenntnis hat sich der EGMR noch nicht zu einer solchen Fallkonstellation geäußert(141). Ein Teil des Schrifttums ist der Ansicht, dass die Ordre-public-Klausel einen Ermessensspielraum voraussetze, was die Anwendung der Vermutung eines gleichwertigen Schutzes ausschließe(142). Meines Erachtens ist das jedoch nicht der Fall, wenn sich der behauptete Verstoß auf ein Grundprinzip der Unionsrechtsordnung bezieht.

188. Denn Art. 45 Abs. 1 der Brüssel‑I-Verordnung sieht zwar vor, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats die Vollstreckbarerklärung nur aus einem der in den Art. 34 und 35 dieser Verordnung aufgeführten Gründe versagen darf. Was den Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung betrifft, so verweist die erstgenannte Bestimmung jedoch auf Art. 34 Nr. 1 der Verordnung, in dem kategorisch festgelegt ist, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde.

189. Im Übrigen bestimmt der Vollstreckungsmitgliedstaat, wie aus Nr. 102 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, nicht einseitig den Inhalt der öffentlichen Ordnung der Union. Auch ist die Einstufung eines Verstoßes gegen diese Ordnung als offensichtlich das Ergebnis einer zutreffenden Auslegung des Unionsrechts und unterliegt daher der Kontrolle durch den Gerichtshof. Was noch wichtiger ist: Die Achtung der Grundrechte ist keine Frage des guten Willens oder der Höflichkeit seitens des Vollstreckungsmitgliedstaats. Wird das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats mit einer Rüge konfrontiert, die es für begründet hält und wonach die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung, die in den Anwendungsbereich der Brüssel‑I-Verordnung fällt, zu einer offensichtlichen Verletzung der öffentlichen Ordnung der Union, konkret eines Grundrechts, führe, ist es verpflichtet, diese Entscheidung nicht für vollstreckbar zu erklären. Daher muss es eine Vollstreckbarerklärung der Entscheidung in einem solchen Fall versagen oder aufheben.

190. Der Vollständigkeit halber füge ich hinzu, dass die Tatsache, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichtet ist, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Vollstreckbarerklärung erfüllt sind, nicht bedeutet, dass es ein Ermessen im Sinne der Rechtsprechung zur EMRK ausübt. Der EGMR vertritt nämlich die Auffassung, dass die Vermutung eines gleichwertigen Schutzes gelte, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Entscheidung „innerhalb ganz bestimmter Grenzen und bei Erfüllung bestimmter Vorbedingungen“ versagen könne(143)

F.      Schlussbemerkungen

191. Nach alledem schlage ich vor, auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 2 der Brüssel‑I-Verordnung sowie Art. 11 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt wird, die sich auf eine Verurteilung eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, und eines Journalisten wegen Schädigung des Rufs eines Sportvereins und eines Mitglieds seines medizinischen Teams durch eine in dieser Zeitung veröffentlichte Information bezieht, eine Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung versagen oder aufheben muss, wenn deren Vollstreckung zu einer offensichtlichen Verletzung der in Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung führen würde(144). Eine solche Verletzung ist zu bejahen, wenn die Vollstreckung der Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat eine potenziell abschreckende Wirkung in Bezug auf die Beteiligung sowohl der von der Verurteilung betroffenen Personen als auch anderer Presseunternehmen und Journalisten an der Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse hat(145). Eine potenziell abschreckende Wirkung liegt vor, wenn der Gesamtbetrag, dessen Zahlung gefordert wird, in Anbetracht der Art und der wirtschaftlichen Lage der betroffenen Person offensichtlich überhöht ist. Im Fall eines Journalisten liegt eine potenziell abschreckende Wirkung insbesondere dann vor, wenn dieser Betrag mehreren Dutzend Standardmindestlöhnen im Vollstreckungsmitgliedstaat entspricht. Im Fall eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, ist die potenziell abschreckende Wirkung so zu verstehen, dass das finanzielle Gleichgewicht der Zeitung offensichtlich gefährdet ist(146). Das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats darf die Schwere des Verschuldens und das Ausmaß des Schadens nur berücksichtigen, um festzustellen, ob der Gesamtbetrag einer Verurteilung, obwohl er auf den ersten Blick offensichtlich überhöht scheint, angemessenen ist, um den Auswirkungen der verleumderischen Äußerungen entgegenzuwirken(147).

192. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn es mit einer Rüge konfrontiert ist, in deren Rahmen behauptet wird, dass die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung, mit der ein Unternehmen, das eine Zeitung herausgibt, und ein Journalist, der den beanstandeten Artikel verfasst hat, gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines erheblichen Betrags als Wiedergutmachung für denselben immateriellen Schaden verurteilt werden, die Pressefreiheit im Vollstreckungsmitgliedstaat verletze, die Vollstreckbarerklärung in Bezug auf die Verurteilung auch nur einer dieser Personen versagen darf. Denn nach Art. 48 der Brüssel‑I-Verordnung gilt: Ist durch die ausländische Entscheidung über mehrere mit der Klage geltend gemachte Ansprüche erkannt und kann die Vollstreckbarerklärung nicht für alle Ansprüche erteilt werden, so erteilt das Gericht oder die sonst befugte Stelle sie für einen oder mehrere dieser Ansprüche.

VI.    Ergebnis

193. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) wie folgt zu beantworten:

Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

ein Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt wird, die sich auf eine Verurteilung eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, und eines Journalisten wegen Schädigung des Rufs eines Sportvereins und eines Mitglieds seines medizinischen Teams durch eine in dieser Zeitung veröffentlichte Information bezieht, eine Vollstreckbarerklärung der Entscheidung versagen oder aufheben muss, wenn deren Vollstreckung zu einer offensichtlichen Verletzung der in Art. 11 der Charta der Grundrechte garantierten Freiheit der Meinungsäußerung führen würde.

Eine solche Verletzung ist zu bejahen, wenn die Vollstreckung der Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat eine potenziell abschreckende Wirkung in Bezug auf die Beteiligung sowohl der von der Verurteilung betroffenen Personen als auch anderer Presseunternehmen und Journalisten an der Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse hat. Eine potenziell abschreckende Wirkung liegt vor, wenn der Gesamtbetrag, dessen Zahlung gefordert wird, in Anbetracht der Art und der wirtschaftlichen Lage der betroffenen Person offensichtlich überhöht ist. Im Fall eines Journalisten liegt eine potenziell abschreckende Wirkung insbesondere dann vor, wenn dieser Betrag mehreren Dutzend Standardmindestlöhnen im Vollstreckungsmitgliedstaat entspricht. Im Fall eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, ist die potenziell abschreckende Wirkung so zu verstehen, dass das finanzielle Gleichgewicht dieser Zeitung offensichtlich gefährdet ist. Das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats darf die Schwere des Verschuldens und das Ausmaß des Schadens nur berücksichtigen, um festzustellen, ob der Gesamtbetrag einer Verurteilung, obwohl er auf den ersten Blick offensichtlich überhöht scheint, angemessenen ist, um den Auswirkungen der verleumderischen Äußerungen entgegenzuwirken.





















































































































































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