C-603/22 – M.S. u.a. (Droits procéduraux d’une personne mineure)

C-603/22 – M.S. u.a. (Droits procéduraux d’une personne mineure)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2024:157

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 22. Februar 2024(1)

Rechtssache C603/22

M. S.,

J. W.,

M. P.,

Beteiligte:

Prokurator Rejonowy w Słupsku,

D. G., als Prozesspfleger von M. B. und B. B.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy w Słupsku [Rayongericht Słupsk, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/800 – Verfahrensgarantien für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind – Art. 4 der Richtlinie 2016/800 – Auskunftsrecht – Art. 6 der Richtlinie 2016/800 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Zulässigkeit von Beweisen“

I.      Einleitung

1.        In der Europäischen Union sind Strafverfahren in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten. Um das gegenseitige Vertrauen zu stärken, hat die Europäische Union jedoch eine Reihe von Richtlinien zur Mindestharmonisierung erlassen, mit denen bestimmte Rechte in solchen Verfahren geschützt werden(2).

2.        Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, einige dieser Rechte in ihrer Anwendung auf Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, zu klären.

3.        Die Fragen sind dem Gerichtshof vom Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk, Polen) in einer bei ihm anhängigen Strafsache gegen drei Personen, M. S., J. W. und M. P., vorgelegt worden, die zum Zeitpunkt der Einleitung der strafrechtlichen Ermittlungen alle minderjährig waren, aber (zumindest in einem Fall) im Verlauf des Verfahrens 18 Jahre alt wurden.

4.        Das vorlegende Gericht ersucht um die Auslegung mehrerer Bestimmungen der Richtlinie (EU) 2016/800 (über die Rechte von Kindern in Strafverfahren)(3) in Verbindung mit den Richtlinien 2013/48/EU (über den Zugang zu einem Rechtsbeistand)(4), 2012/13/EU (über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung)(5) und (EU) 2016/343 (über die Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung)(6).

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

5.        Der Prokurator Rejonowy w Słupsku (Rayonstaatsanwalt, Słupsk, Polen) erhob beim vorlegenden Gericht Anklage gegen M. S. wegen wiederholten Hausfriedensbruchs auf dem Gelände einer Ferienanlage im Zeitraum von Dezember 2021 bis Januar 2022. Anklagen wegen der gleichen Straftat wurden auch gegen J. W. und M. P. erhoben, aber lediglich wegen einmaliger Begehung. Alle drei Angeklagten waren zum Zeitpunkt der Tatbegehung 17 Jahre alt.

6.        Die Polizei informierte M. S. weder über sein Recht auf Anwesenheit eines Rechtsbeistands während der Vernehmung noch über sein Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte. Ferner gestattete die Polizei der Mutter von M. S. nicht, während seiner Vernehmung anwesend zu sein, und verweigerte ihr die Auskunft über den Fortgang des Ermittlungsverfahrens.

7.        M. S. legte im Verlauf der polizeilichen Vernehmung, die nicht in Form einer audiovisuellen Aufzeichnung festgehalten wurde, eine Reihe von Sachverhaltsumständen offen, mit denen er sich selbst belastete, und gab eine detaillierte Schilderung der Ereignisse, zu denen es in der Ferienanlage gekommen war. Die Staatsanwaltschaft änderte nachfolgend den gegen M. S. erhobenen Vorwurf von einem einmaligen in einen mehrfachen Hausfriedensbruch auf dem Gelände der Ferienanlage.

8.        Am Ende der Vernehmung händigte die Polizei M. S. ein Schriftstück mit einer Zusammenfassung seiner allgemeinen Rechte und Pflichten in Strafverfahren aus. M. S. unterzeichnete dieses Schriftstück, dessen Inhalt er jedoch aufgrund seines Umfangs und seiner Komplexität nicht las.

9.        Bei J. W. und M. P. wurde in ähnlicher Weise vorgegangen. Anders als im Fall von M. S. wurde ihren Eltern gestattet, ihre Kinder bei der Vernehmung zu begleiten. Ansonsten ähnelte das Vorgehen in diesen beiden Fällen dem Vorgehen gegen M. S. sehr, abgesehen davon, dass bei ihnen der Vorwurf des einmaligen Hausfriedensbruchs auf dem Gelände der Ferienanlage nicht geändert wurde.

10.      Während des Ermittlungsverfahrens wurde keine individuelle Begutachtung der Beschuldigten vorgenommen.

11.      Die Anklageschriften wurden am 31. Mai 2022 von der Staatsanwaltschaft unterzeichnet und dem vorlegenden Gericht übermittelt. Da die Angeklagten keine Rechtsbeistände hatten, bestellte das vorlegende Gericht für jeden von ihnen einen Pflichtverteidiger.

12.      Die Verteidiger der Angeklagten widersprachen jeweils der Verwertung ihrer im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen, weil der Beweis rechtswidrig, und zwar im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands, dessen Beteiligung zwingend vorgeschrieben sei, erlangt worden sei. Das so erlangte Beweismaterial könne nicht als Grundlage für die Sachverhaltsfeststellung dienen.

13.      Das vorlegende Gericht gab diesen Einwänden in allen Fällen statt und lehnte die Anträge der Staatsanwaltschaft auf Verwertung der im Ermittlungsverfahren ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands gemachten Aussagen der Angeklagten als unzulässig ab.

14.      M. P. wurde im August 2022, während des Verfahrens, 18 Jahre alt. Sein Verteidiger beantragte, ihn weiterhin zu vertreten, und das vorlegende Gericht gab diesem Antrag statt. Es liegen keine konkreten Informationen darüber vor, ob J. W. und M. S. im Verlauf des Verfahrens vor der Einreichung das Vorabentscheidungsersuchens 18 Jahre alt geworden sind.

15.      Das vorlegende Gericht, das als Einzelrichter entscheidet, hat dem Gerichtshof nicht nur Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 2016/800 in Bezug darauf vorgelegt, wie das Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde, sondern auch Fragen nach der richterlichen Unabhängigkeit in Bezug auf zeitlich vor dem Ausgangsverfahren liegende Ereignisse.

16.      Wie in der Vorlageentscheidung erläutert wird, wurde von derselben Richterin in einer anderen Rechtssache mit Beschluss vom 29. November 2021 dem Antrag einer Partei auf Ausschluss eines anderen Richters wegen mangelnden Vertrauens in ein Gericht, dessen Besetzung mit dem Unionsrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht vereinbar ist, stattgegeben. Der Beschluss erging, weil der andere Richter in einem Verfahren unter Mitwirkung der nach 2018 errichteten Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) ernannt worden war.

17.      Daraufhin informierte der Prokurator Rejonowy w Słupsku (Rayonstaatsanwalt von Słupsk) die Prokurator Regionalna w Gdańsku (Regionalstaatsanwältin von Gdańsk [Danzig], Polen) über den Beschluss der Richterin des vorlegenden Gerichts. Diese unterrichtete ihrerseits den vom Justizminister ernannten Zastępca Rzecznika Dyscyplinarnego Sędziów Sądów Powszechnych (Stellvertretender Disziplinarbeauftragter der Richter der ordentlichen Gerichte, Polen), der den Justizminister informierte. Diese Kette von Mitteilungen führte dazu, dass die Richterin des vorlegenden Gerichts für die Zeit vom 9. Februar bis zum 8. März 2022, also vor dem gerichtlichen Verfahren gegen M. S., J. W. und M. P., vorübergehend vom Dienst suspendiert wurde.

18.      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 Buchst. a und 7 sowie Art. 18 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 25, 26 und 27 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass die handelnden Behörden ab dem Zeitpunkt, zu dem gegen einen Verdächtigen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Tatvorwurf erhoben wird, sicherstellen müssen, dass das Kind das Recht auf Unterstützung durch einen Pflichtverteidiger hat, wenn es keinen Wahlverteidiger hat (weil das Kind oder der Träger der elterlichen Verantwortung nicht von sich aus für einen solchen Beistand gesorgt hat), und dass an Handlungen im Ermittlungsverfahren wie der Vernehmung des Minderjährigen als Beschuldigter ein Verteidiger beteiligt ist, sowie dahin, dass sie einer Handlung in Form der Vernehmung eines Minderjährigen ohne Beteiligung eines Verteidigers entgegenstehen?

2.      Ist Art. 6 Abs. 6 und 8 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 16, 30, 31 und 32 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass es in Sachen, die mit einer Freiheitsstrafe bedrohte Straftaten betreffen, in keinem Fall zulässig ist, von der unverzüglichen Unterstützung durch einen Verteidiger abzuweichen, und dass eine vorübergehende Abweichung von der Anwendung des Rechts auf Unterstützung durch einen Verteidiger im Sinne von Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie nur im vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens und nur unter den in Art. 6 Abs. 8 Buchst. a und b genau aufgeführten Umständen möglich ist, die in der grundsätzlich anfechtbaren Entscheidung über die Vernehmung in Abwesenheit eines Rechtsbeistands ausdrücklich anzugeben sind?

3.      Für den Fall, dass zumindest eine der Fragen 1 und 2 bejaht wird: Sind die genannten Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 daher dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen wie den folgenden entgegenstehen:

a)      Art. 301 Satz 2 der Strafprozessordnung (Kodeks postępowania karnego), wonach der Beschuldigte nur auf seinen Antrag hin unter Beteiligung eines bestellten Verteidigers vernommen wird und das Nichterscheinen des Verteidigers zur Vernehmung des Beschuldigten kein Hinderungsgrund für die Vernehmung ist;

b)      Art. 79 § 3 der Strafprozessordnung, wonach bei einer Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung), die Teilnahme des Verteidigers nur in der Hauptverhandlung und in den Sitzungen vorgeschrieben ist, in denen die Anwesenheit des Angeklagten vorgeschrieben ist, d. h. im Gerichtsverfahren?

4.      Sind die in den Fragen 1 und 2 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts, wie die in Frage 3 genannten, außer Acht zu lassen und folglich – wegen des Ablaufs der Umsetzungsfrist – die nationale Norm durch die oben genannten unmittelbar wirksamen Bestimmungen der Richtlinie zu ersetzen?

5.      Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 und 7 und Art. 18 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie den Erwägungsgründen 11, 25 und 26 der Richtlinie 2016/800 und mit Art. 13 und dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren, die bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens aber das 18. Lebensjahr vollendet haben, Prozesskostenhilfe gewähren muss, die bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verpflichtend ist?

6.      Für den Fall, dass Frage 5 bejaht wird: Sind daher die oben genannten Bestimmungen der Richtlinie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung wie Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung entgegenstehen, wonach der Angeklagte in einem Strafverfahren nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs einen Verteidiger haben muss?

7.      Sind die in Frage 5 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts wie die in Frage 6 genannten außer Acht zu lassen und Bestimmungen des nationalen Rechts wie Art. 79 § 2 der Strafprozessordnung in einer richtlinienkonformen (unionsrechtsfreundlichen) Auslegung anzuwenden, d. h., die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen Beschuldigten, der bei Erhebung der Tatvorwürfe gegen ihn noch nicht 18 Jahre alt war, im Verlauf des Verfahrens aber das 18. Lebensjahr vollendet hat und gegen den das Strafverfahren noch anhängig ist, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens aufrechtzuerhalten, wenn dies in Anbetracht von Umständen, die die Verteidigung erschweren, notwendig ist, oder – wegen Ablaufs der Umsetzungsfrist – die nationale Norm durch die oben genannten unmittelbar wirksamen Bestimmungen der Richtlinie zu ersetzen?

8.      Sind Art. 4 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18, 19 und 22 der Richtlinie 2016/800 und Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden (Staatsanwaltschaft, Polizei) spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung eines Verdächtigen durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde sowohl den Verdächtigen als auch gleichzeitig den Träger der elterlichen Verantwortung unverzüglich über die Rechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, und über die Verfahrensschritte informieren müssen, insbesondere über die Verpflichtung zur Bestellung eines Verteidigers für einen minderjährigen Beschuldigten und die Folgen der Nichtbestellung eines Wahlverteidigers für einen minderjährigen Beschuldigten (Bestellung eines Pflichtverteidigers), und müssen diese Informationen bei Kindern, die Beschuldigte sind, in einer einfachen und verständlichen Sprache mitgeteilt werden, die dem Alter des Minderjährigen angemessen ist?

9.      Ist Art. 7 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 und mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die ein Strafverfahren durchführen, an dem ein Kind als Beschuldigter bzw. Angeklagter beteiligt ist, verpflichtet sind, das Kind als Beschuldigten in einer verständlichen und seinem Alter angemessenen Weise über das Recht, die Aussage zu verweigern, und das Recht, sich nicht selbst zu belasten, zu belehren?

10.      Sind Art. 4 Abs. 1 bis 3 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 18, 19 und 22 der Richtlinie 2016/800 und Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 19 und 26 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass die in diesen Bestimmungen festgelegten Anforderungen nicht erfüllt sind, wenn einem minderjährigen Beschuldigten unmittelbar vor seiner Vernehmung eine allgemeine Belehrung ausgehändigt wird, ohne dass die spezifischen Rechte aus der Richtlinie 2016/800 berücksichtigt werden, und diese Belehrung nur dem Beschuldigten, der ohne Verteidiger handelt, und nicht dem Träger der elterlichen Verantwortung ausgehändigt wird und sie in einer dem Alter des Verdächtigen nicht angemessenen Sprache formuliert ist?

11.      Sind die Art. 18 und 19 in Verbindung mit dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/800 und Art. 12 Abs. 2 in Verbindung mit dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 und mit Art. 7 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 2 und dem 44. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass sie – in Bezug auf Aussagen eines Beschuldigten bei einer polizeilichen Vernehmung, die ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und ohne angemessene Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte durchgeführt wird, ohne dass der Träger der elterlichen Verantwortung über die Rechte und allgemeinen Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet wird, worauf das Kind nach Art. 4 der Richtlinie 2016/800 Anspruch hat – das nationale Gericht, das mit einem unter die genannten Richtlinien fallenden Strafverfahren befasst ist, und jede staatliche Behörde dazu verpflichten (oder berechtigen), sicherzustellen, dass der Beschuldigte bzw. Angeklagte in die Lage versetzt wird, in der er sich ohne die fraglichen Verstöße befinden würde, und somit dazu, einen solchen Beweis nicht zuzulassen, insbesondere wenn die bei einer solchen Vernehmung erlangten belastenden Informationen zur Verurteilung der betreffenden Person verwendet werden sollen?

12.      Sind daher die in Frage 11 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung dahin auszulegen, dass sie das nationale Gericht, das mit einem unter die genannten Richtlinien fallenden Strafverfahren befasst ist, und jede staatliche Behörde verpflichten, mit diesen Richtlinien unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts außer Acht zu lassen, wie Art. 168a der Strafprozessordnung, wonach ein Beweis nicht allein deshalb für unzulässig erklärt werden kann, weil er unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften oder durch eine verbotene Handlung im Sinne von Art. 1 § 1 des Strafgesetzbuchs (Kodeks karny) erlangt wurde, es sei denn, der Beweis wurde im Zusammenhang mit der Ausübung der Dienstpflichten durch einen Beamten infolge von Totschlag, vorsätzlicher Körperverletzung oder Freiheitsberaubung erlangt?

13.      Sind Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass der Staatsanwalt als Organ, das an der Ausübung der Rechtspflege beteiligt ist, über die Rechtsstaatlichkeit wacht und zugleich Herr des Ermittlungsverfahrens ist, verpflichtet ist, im Ermittlungsverfahren einen effektiven Rechtsschutz im Anwendungsbereich der genannten Richtlinie zu gewährleisten, und dass er bei der effektiven Anwendung des Unionsrechts seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu garantieren hat?

14.      Für den Fall, dass eine der Fragen 1 bis 12 bejaht wird, und insbesondere für den Fall der Bejahung von Frage 13: Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes) in Verbindung mit Art. 2 EUV, insbesondere im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), und der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und in Art. 47 der Charta der Grundrechte verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) dahin auszulegen, dass diese Grundsätze wegen der Möglichkeit, mittelbaren Druck auf die Richter auszuüben, und der Möglichkeit, dass der Generalstaatsanwalt den nachgeordneten Staatsanwälten in diesem Bereich verbindliche Weisungen erteilt, einer nationalen Gesetzgebung entgegenstehen, die eine Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von einem Exekutivorgan wie dem Justizminister erkennen lässt, sowie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Unabhängigkeit der Gerichte und die Unabhängigkeit des Staatsanwalts bei der Anwendung des Unionsrechts einschränkt, insbesondere:

a)      Art. 130 § 1 des Gesetzes vom 27. Juli 2001 über die Verfassung der ordentlichen Gerichte (Ustawa z dnia 27 lipca 2001 r. – Prawo o ustroju sądów powszechnych), wonach der Justizminister – in Verbindung mit der Verpflichtung des Staatsanwalts, Fälle zu melden, in denen ein Richter unter Anwendung des Unionsrechts entscheidet – eine sofortige Unterbrechung der Amtsausübung des Richters von höchstens einem Monat bis zum Erlass einer Entscheidung des Disziplinargerichts anordnen kann, wenn der Justizminister aufgrund der Art der vom Richter begangenen und in der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts bestehenden Handlung der Auffassung ist, dass die Autorität des Gerichts oder wesentliche dienstliche Interessen dies erfordern;

b)      Art. 1 § 2, Art. 3 § 1 Nrn. 1 und 3, Art. 7 §§ 1 bis 6 und § 8 sowie Art. 13 §§ 1 und 2 des Gesetzes vom 28. Januar 2016 über die Staatsanwaltschaft (Ustawa z dnia 28 stycznia 2016 r. – Prawo o prokuraturze), aus denen in der Zusammenschau hervorgeht, dass der Justizminister, der zugleich der Generalstaatsanwalt und die oberste Anklagebehörde ist, Weisungen erteilen kann, die für nachgeordnete Staatsanwälte auch insoweit verbindlich sind, als sie die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts einschränken oder behindern?

19.      Der Prokurator Rejonowy w Słupsku (Rayonstaatsanwalt von Słupsk), die tschechische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

20.      In der Sitzung vom 15. November 2023 haben die polnische Regierung und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

III. Einschlägige Rechtsvorschriften

21.      Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2016/800 legt ihren Anwendungsbereich wie folgt fest:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind. Die Richtlinie gilt bis zur endgültigen Klärung der Frage, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person eine Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich einer Verurteilung und einer Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

(3)      Mit Ausnahme des Artikels 5[(7)], des Artikels 8 Absatz 3 Buchstabe b[(8)] und des Artikels 15[(9)] – soweit diese Vorschriften sich auf einen Träger der elterlichen Verantwortung beziehen – gelten diese Richtlinie oder bestimmte Vorschriften dieser Richtlinie für Personen nach [den Absätzen] 1 und 2 des vorliegenden Artikels, sofern diese Personen bei Verfahrensbeginn Kinder waren, im Verlauf des Verfahrens jedoch das 18. Lebensjahr vollendet haben, und die Anwendung dieser Richtlinie oder bestimmter Vorschriften dieser Richtlinie unter den Umständen des Einzelfalles, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Person, angemessen ist Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht anzuwenden, wenn die betroffene Person das 21. Lebensjahr vollendet hat.“(10)

22.      Art. 4 der Richtlinie 2016/800 regelt das Auskunftsrecht:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder im Einklang mit der Richtlinie 2012/13/EU umgehend über ihre Rechte und über allgemeine Aspekte der Durchführung des Verfahrens unterrichtet werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind.

Die Mitgliedstaaten stellen außerdem sicher, dass Kinder über die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte unterrichtet werden. Dies erfolgt wie folgt:

a)      umgehend, wenn Kinder davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigt[e] Personen sind, in Bezug auf:

i)      das Recht auf Unterrichtung des Trägers der elterlichen Verantwortung gemäß Artikel 5,

ii)      das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Artikel 6,

iii)      das Recht auf Schutz der Privatsphäre gemäß Artikel 14,

iv)      das Recht, vom Träger der elterlichen Verantwortung in anderen Phasen des Verfahrens als den Gerichtsverhandlungen begleitet zu werden, gemäß Artikel 15 Absatz 4,

v)      das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Artikel 18;

b)      in der frühestmöglichen geeigneten Phase des Verfahrens, in Bezug auf:

i)      das Recht auf eine individuelle Begutachtung gemäß Artikel 7,

ii)      das Recht auf eine medizinische Untersuchung, einschließlich des Rechts auf medizinische Unterstützung, gemäß Artikel 8,

iii)      das Recht auf die Begrenzung des Freiheitsentzugs und auf die Anwendung alternativer Maßnahmen, einschließlich des Rechts auf regelmäßige Überprüfung der Haft, gemäß [den Artikeln] 10 und 11,

iv)      das Recht auf Begleitung durch den Träger der elterlichen Verantwortung bei Gerichtsverhandlungen gemäß Artikel 15 Absatz 1,

v)      das Recht, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, gemäß Artikel 16,

vi)      das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 19;

c)      bei Freiheitsentzug in Bezug auf das Recht auf besondere Behandlung während des Freiheitsentzugs gemäß Artikel 12.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in Absatz 1 vorgesehenen Informationen mündlich, schriftlich oder in beiden Formen in einfacher und verständlicher Sprache erteilt werden und die Tatsache, dass die Informationen erteilt wurden, im Einklang mit dem im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren für Aufzeichnungen festgehalten wird.

(3)      Wird Kindern eine schriftliche Erklärung der Rechte gemäß der Richtlinie 2012/13/EU ausgehändigt, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Erklärung einen Hinweis auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte enthält.“

23.      Art. 6 der Richtlinie 2016/800 regelt das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand:

„(1)      Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Person[en] in einem Strafverfahren sind, haben das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU. Dieses Recht wird durch keine Bestimmung der vorliegenden Richtlinie, insbesondere nicht durch diesen Artikel, beeinträchtigt.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder gemäß diesem Artikel durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden, damit sie die Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen können.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder unverzüglich von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie Verdächtige oder beschuldigte Person[en] sind. In jedem Fall werden Kinder ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte von einem Rechtsbeistand unterstützt:

a)      vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)      ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 4 Buchstabe c;

c)      unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)      wenn sie vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurden, rechtzeitig bevor sie vor diesem Gericht erscheinen.

(4)      Zur Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gehört Folgendes:

a)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden.

b)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand unterstützt werden, wenn sie befragt werden, und dass der Rechtsbeistand effektiv an der Befragung teilnehmen kann. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung oder den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. Ist ein Rechtsbeistand während der Befragung anwesend, wird die Tatsache, dass diese Teilnahme stattgefunden hat, unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem nationalen Recht festgehalten.

c)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kinder von einem Rechtsbeistand zumindest in den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen unterstützt werden, falls diese im nationalen Recht vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)      Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)      Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)      Tatortrekonstruktionen.

(5)      Die Mitgliedstaaten beachten die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Kindern und ihrem Rechtsbeistand bei der Wahrnehmung des in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand. Eine solche Kommunikation umfasst auch Treffen, Schriftverkehr, Telefongespräche und sonstige nach nationalem Recht zulässige Kommunikationsformen.

(6)      Die Mitgliedstaaten können – sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist und das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung ist – von den Verpflichtungen gemäß Absatz 3 abweichen, wenn die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig ist, wobei der Schwere der mutmaßlichen Straftat, der Komplexität des Falles und der Maßnahmen, die in Bezug auf eine solche Straftat ergriffen werden können, Rechnung zu tragen [ist].

Die Mitgliedstaaten stellen in jedem Fall sicher, dass Kinder durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden,

a)      wenn sie – in jeder Phase des Verfahrens im Anwendungsbereich dieser Richtlinie – einem zuständigen Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt werden und

b)      wenn sie sich in Haft befinden.

Ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt wird, wenn das Kind nicht derart durch einen Rechtsbeistand unterstützt worden ist, dass es die Verteidigungsrechte effektiv wahrnehmen konnte, und in jedem Fall während der Hauptverhandlungen.

(7)      Hat das Kind gemäß diesem Artikel Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu erhalten, ist aber kein Rechtsbeistand anwesend, müssen die zuständigen Behörden die Befragung des Kindes oder andere in Absatz 4 Buchstabe c genannte Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen für eine angemessene Zeit verschieben, um das Eintreffen des Rechtsbeistands zu ermöglichen oder, wenn das Kind keinen Rechtsbeistand benannt hat, um einen Rechtsbeistand für das Kind zu bestellen.

(8)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

a)      wenn dies zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person dringend erforderlich ist;

b)      wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden bei der Anwendung dieses Absatzes das Kindeswohl berücksichtigen.

Eine Entscheidung, die Befragung ohne Rechtsbeistand gemäß diesem Absatz fortzusetzen, kann nur auf Einzelfallbasis entweder von einer Justizbehörde oder – unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann – von einer anderen zuständigen Behörde getroffen werden.“

24.      Art. 18 der Richtlinie 2016/800 regelt das Recht auf Prozesskostenhilfe:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die nationalen Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe die wirksame Ausübung des Rechts auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand gemäß Artikel 6 gewährleisten.“

25.      Schließlich regelt Art. 19 der Richtlinie 2016/800 die Rechtsbehelfe:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, und Kindern, die gesuchte Personen sind, bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.“

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkungen

26.      Die Europäische Union hat kein einheitliches Strafprozessrecht. Vielmehr ist das Strafverfahren nach wie vor ein Bereich, der von den Mitgliedstaaten geregelt wird, was zwangsläufig zu unterschiedlichen Regelungen führt.

27.      Auch wenn die Strafverfahren sich unterscheiden, kann der Einzelne in der Europäischen Union jedoch davon ausgehen, dass die Grundrechtsgarantien dieselben sind(11).

28.      Der Hauptgrund hierfür ist die EMRK, der alle Mitgliedstaaten als Vertragsparteien angehören. Durch seine Auslegung der in der EMRK verankerten Rechte – insbesondere des durch Art. 6 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren – hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die strafprozessualen Rechte auf dem europäischen Kontinent harmonisiert.

29.      Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) stellen die durch die EMRK geschützten Rechte das Mindestmaß des Schutzes dar, das dem Einzelnen in den vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfassten Fällen gewährt werden muss.

30.      Der Unionsgesetzgeber vertrat gleichwohl den Standpunkt, dass allein dadurch, dass jeder Mitgliedstaat der EMRK angehört, nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten geschaffen wird(12). Dieses Vertrauen ist jedoch eine notwendige Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung in Strafsachen und daher eine Basis für die Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts, die auf der Grundlage des AEUV aufgebaut wird(13).

31.      Zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber daher eine Reihe von Richtlinien zur Mindestharmonisierung von Regelungen zum Strafverfahren in den Mitgliedstaaten erlassen(14).

32.      Unter diesen Richtlinien nimmt die Richtlinie 2016/800 eine Sonderstellung ein. Kinder verdienen als schutzbedürftige Personen(15) zusätzliche Fürsorge und erhöhten Schutz(16). Dies ergibt sich u. a. aus Art. 24 der Charta, wonach alle öffentlichen Stellen und privaten Einrichtungen sicherstellen müssen, dass das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung ist(17).

33.      Daher sollte die Richtlinie 2016/800 als lex specialis verstanden werden(18), wonach Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, im Vergleich zu anderen Mindestharmonisierungsrichtlinien zur Regelung von Rechten im Strafverfahren mindestens der gleiche, wenn nicht ein stärkerer Schutz gewährt wird.

34.      Anders als diese anderen Richtlinien, die spezifische Verfahrensrechte regeln, konzentriert sich die Richtlinie 2016/800 stattdessen auf eine Kategorie von Verdächtigen oder beschuldigten Personen und erstreckt sich auf mehrere Rechte.

35.      Der Gerichtshof hat sich mit der Richtlinie 2016/800 bisher nur im Urteil Piotrowski(19) befasst, in dem er ihren Art. 17 im Kontext eines Europäischen Haftbefehls gegen eine minderjährige gesuchte Person ausgelegt hat. Diese Bestimmung ist hier nicht einschlägig; das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist somit für den Gerichtshof die erste Gelegenheit, eine Reihe von Verfahrensrechten von Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind, auszulegen.

B.      Umstellung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen und Aufbau der Schlussanträge

36.      Die meisten der vom vorlegenden Gericht vorgelegten Fragen betreffen die Auslegung der durch die Mindestharmonisierungsrichtlinien, vor allem durch die Richtlinie 2016/800, garantierten Rechte von Kindern im Strafverfahren.

37.      Bevor ich diese Fragen in der Sache prüfe, werde ich in Abschnitt C auf die hauptsächlich von der polnischen Regierung vorgebrachten Einwände gegen die Zulässigkeit eingehen.

38.      Insoweit stehen ein Teil der 13. Frage und die gesamte 14. Frage nicht im Zusammenhang mit der Auslegung der Richtlinien über die Garantien im Strafverfahren, sondern haben allgemeineren Charakter. Das vorlegende Gericht ersucht um die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 der Charta und des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit. Wie ich erläutern werde, sind diese Fragen im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens unzulässig, so dass ich nicht inhaltlich auf sie eingehen werde.

39.      Anschließend werde ich mich der Prüfung in der Sache zuwenden und in Abschnitt D eine Auslegung des Anwendungsbereichs des Rechts von Kindern auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vorschlagen, um die das vorlegende Gericht mit der ersten und der zweiten Frage ersucht. Dazu gehört auch die Prüfung der nach der Richtlinie 2016/800 zulässigen Einschränkungen dieses Rechts.

40.      In Abschnitt E werde ich sodann erläutern, ob das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand fortbesteht, wenn ein Kind im Verlauf des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet hat, und ob die einschlägige Bestimmung den Mitgliedstaaten eine Wahl in Bezug darauf lässt, wie sie umzusetzen ist. Damit wird auf die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts eingegangen.

41.      In Abschnitt F werde ich die achte, die neunte und die zehnte Frage beantworten, die den Umfang des Rechts der Kinder und ihrer Eltern betreffen, über ihre Verfahrensrechte informiert zu werden. Dazu gehört die Beantwortung der Frage, ob diese Verpflichtung auch für die am vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens beteiligten Strafverfolgungsbehörden besteht.

42.      In Abschnitt G werde ich ferner erläutern, inwieweit das Unionsrecht sich auf die Regelungen über die (Un‑)Zulässigkeit von Beweisen auswirkt, die unter Verletzung eines oder mehrerer der Kindern durch die einschlägigen Richtlinien gewährten Rechte erhoben wurden, und damit die elfte Frage beantworten.

43.      Schließlich werde ich in Abschnitt H kurz die sich aus der unmittelbaren Wirkung und dem Vorrang des Unionsrechts für die nationalen Gerichte ergebenden Folgen zusammenfassend darstellen. In Beantwortung eines Teils der Bedenken, die das vorlegende Gericht in der 13. Frage geäußert hat, werde ich erläutern, dass die unmittelbare Wirkung ein Konzept ist, das sich nicht nur an die Gerichte, sondern an alle Einrichtungen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Staatsanwaltschaften, richtet.

44.      Es wird dem Leser nicht entgangen sein, dass die dritte, die sechste und die zwölfte Frage des vorlegenden Gerichts in dieser Gliederung nicht auftauchen. In diesen Fragen werden bestimmte Vorschriften des polnischen Rechts angeführt, wobei der Gerichtshof klären soll, ob das Unionsrecht ihrer Anwendung entgegensteht. Wie allgemein bekannt, ist der Gerichtshof nach Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV nur für die Auslegung des Unionsrechts zuständig, während die nationalen Gerichte die ausschließliche Zuständigkeit für die Auslegung des nationalen Rechts haben(20).

45.      Nach dieser strikten Arbeitsteilung zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist der Gerichtshof nicht befugt, über die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu entscheiden(21). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, nach Eingang der Antwort des Gerichtshofs die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, die sich für das anwendbare nationale Recht ergeben(22). Das vorlegende Gericht wird insoweit in der Lage sein, auf der Grundlage der auf die übrigen Fragen gegebenen Antworten über das in diesen drei Fragen angeführte nationale Recht zu entscheiden.

C.      Zulässigkeit

46.      Die polnische Regierung hat Einwände gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens erhoben, mit der Begründung, etwaige Verstöße gegen die Richtlinie 2016/800 seien bereits dadurch behoben worden, dass das vorlegende Gericht die im vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands erhobenen Beweise ausgeschlossen und für die minderjährigen Angeklagten einen Rechtsbeistand bestellt sowie diese Bestellung, als einer der Angeklagten 18 Jahre alt geworden sei, verlängert habe. Mit anderen Worten sei das Vorabentscheidungsersuchen nicht erforderlich, um dem vorlegenden Gericht eine Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu ermöglichen.

47.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs „spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen, die ein nationales Gericht … in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen vorlegt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat“(23). Hält der Gerichtshof die Beantwortung der gestellten Fragen jedoch nicht für erforderlich, um dem vorlegenden Gericht den Erlass eines Urteils in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen, verneint er seine Zuständigkeit(24).

48.      Dies kann der Fall sein, wenn das vorlegende Gericht über die Punkte, um deren Auslegung es den Gerichtshof ersucht, bereits entschieden hat. In diesem Fall ist die Antwort, die der Gerichtshof geben wird, möglicherweise nicht mehr erforderlich. Hat das vorlegende Gericht in der bei ihm anhängigen Rechtssache jedoch noch die Möglichkeit, seine Entscheidung in dem betreffenden Punkt zu ändern, bevor es endgültig über die Rechtssache entscheidet, könnte davon ausgegangen werden, dass die Beantwortung der Vorlagefragen für das konkrete Verfahren von Nutzen ist(25).

49.      Zwar hat das vorlegende Gericht offenbar bereits beschlossen, die ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands erhobenen Beweise auszuschließen, und hat die Vertretung durch einen Rechtsbeistand für einen der Angeklagten, der 18 Jahre alt geworden ist, verlängert, doch ist dem Gerichtshof kein Beweis dafür vorgelegt worden, dass das vorlegende Gericht seine Entscheidung nicht ändern kann, bevor es die Sache abschließt.

50.      Daher halte ich die Auslegung des Anwendungsbereichs der betreffenden Verfahrensrechte für sachdienlich, um dem vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren eine Entscheidung zu ermöglichen.

51.      Allerdings stellen sich meines Erachtens Fragen der Zulässigkeit eines Teils der 13. Frage und der gesamten 14. Frage.

52.      Die 13. Frage kann in zwei Teile unterteilt werden. Mit dem einen Teil wird danach gefragt, ob die unmittelbare Wirkung der Kindern zustehenden Rechte (auf einen Rechtsbeistand und auf Auskunft) auch für den Staatsanwalt verbindlich ist, der somit verpflichtet wäre, diese Rechte zu gewähren und etwaige entgegenstehende nationale Regeln unangewendet zu lassen. Die Antwort auf diese Frage wird dem vorlegenden Gericht die Entscheidung darüber ermöglichen, ob der Staatsanwalt gegen die Rechte von Kindern im vorgerichtlichen Stadium des Strafverfahrens verstoßen hat; sie ist daher zulässig.

53.      Mit ihrem anderen Teil wird jedoch allgemeiner nach dem Erfordernis der Unabhängigkeit eines Staatsanwalts gefragt. Dies dürfte meines Erachtens für das beim vorlegenden Gericht anhängige Strafverfahren nicht von unmittelbarer Relevanz sein. Der Staatsanwalt ist ungeachtet der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Exekutive verpflichtet, die Kindern nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte im Strafverfahren zu gewährleisten.

54.      Schließlich möchte das vorlegende Gericht mit der 14. Frage wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV, die Rechtsstaatlichkeit, der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und Art. 47 der Charta nationalen Vorschriften entgegenstehen, wonach der Justizminister die sofortige Suspendierung eines Richters anordnen kann. Die Bedenken des vorlegenden Gerichts ergeben sich aus der persönlichen Erfahrung der Richterin, die in einer früheren Rechtssache vorübergehend suspendiert wurde. In der vorliegenden Rechtssache besteht wegen des Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof, mit dem die Gültigkeit des innerstaatlichen Rechts in Frage gestellt wird, die Befürchtung, dass erneut eine Suspendierung angeordnet werden könnte.

55.      Der Gerichtshof hat in zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Polen bereits erklärt, dass nationale Rechtsvorschriften, die Richter unter Androhung disziplinarischer Sanktionen daran hindern, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, unionsrechtlich inakzeptabel sind(26).

56.      Auch wenn solche Bedrohungen der Unabhängigkeit von Richtern inakzeptabel sind, erscheint dies in der vorliegenden Rechtssache lediglich hypothetisch. Die vorangegangene Suspendierung der Richterin des vorlegenden Gerichts steht in keinem Zusammenhang mit der vorliegenden Rechtssache, in deren Rahmen die Fragen dem Gerichtshof vorgelegt wurden.

57.      Wie der Gerichtshof im Urteil Miasto Łowicz und Prokurator Generalny(27) erläutert hat, ist die Beantwortung der vorgelegten Frage daher für die Entscheidung über den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit nicht erforderlich; sie ist somit unzulässig(28).

58.      Die vorliegende Fallgestaltung unterscheidet sich daher von derjenigen der Rechtssache YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters), in der der Gerichtshof festgestellt hat, dass Fragen, die darauf gerichtet sind, über verfahrensrechtliche Schwierigkeiten, wie etwa solche der Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts für eine bestimmte Rechtssache, in limine litis zu entscheiden, in einem Vorabentscheidungsverfahren beantwortet werden können(29). Dort hatte das vorlegende Gericht Zweifel an seiner Zuständigkeit für die Rechtssache, die nur deshalb an dieses Gericht verwiesen worden war, weil der Richter, bei dem sie ursprünglich anhängig war, wegen der Vorlage an den Gerichtshof suspendiert worden war.

59.      Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, die 13. Frage für teilweise unzulässig und die 14. Frage für insgesamt unzulässig zu erklären. Dagegen steht einer Beantwortung der übrigen Fragen durch den Gerichtshof nichts entgegen.

D.      Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand (erste und zweite Frage)

60.      Die erste und die zweite Frage des vorlegenden Gerichts betreffen den Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Art. 6 der Richtlinie 2016/800. Konkret möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Behörden im vorgerichtlichen Teil des Strafverfahrens sicherstellen müssen, dass ein Kind von einem Rechtsbeistand unterstützt wird (1), und ob es Ausnahmen von diesem Recht gibt (2).

1.      Anwendungsbereich

61.      Wenn gegen einen Verdächtigen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Tatvorwurf erhoben wird, löst dies automatisch eine Verpflichtung der Behörden aus, sicherzustellen, dass das Kind Unterstützung durch einen Rechtsbeistand erhält, dass der Rechtsbeistand am vorgerichtlichen Verfahren teilnimmt und dass das Kind in Abwesenheit des Rechtsbeistands nicht vernommen werden darf?

62.      Wie in Abschnitt A erläutert, stellt nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die EMRK das Mindestmaß des Schutzes dar. Daraus folgt, dass bei jeder Auslegung der Richtlinie 2016/800 ein Schutz zumindest auf dem Niveau der EMRK gewährt werden muss. Umgekehrt kann der von der Europäischen Union gewährte Schutz größer sein als derjenige der EMRK. Die EMRK stellt somit einen nützlichen Ausgangspunkt dafür dar, den Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand für Kinder in Strafverfahren zu bestimmen.

63.      Bekanntlich ist nach der Rechtsprechung des EGMR das Recht auf einen Rechtsbeistand ein wesentliches Merkmal eines fairen Verfahrens(30). Der Zugang zu einem Rechtsbeistand muss effektiv und praktikabel in dem Sinne sein, dass der Verlauf des Strafverfahrens beeinflusst werden kann(31).

64.      Im Urteil Salduz/Türkei(32) hat der EGMR festgestellt, dass das Recht auf ein faires Verfahren es erfordert, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand ab der ersten Vernehmung durch die Polizei gewährt wird, sofern nicht zwingende Gründe vorliegen, die ausnahmsweise die Verweigerung dieses Zugangs rechtfertigen; das Recht auf ein faires Verfahren wird jedoch in irreversibler Weise verletzt, wenn im vorgerichtlichen Verfahren kein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bestand, selbstbelastende Aussagen gemacht wurden und diese dann als Grundlage für die Verurteilung dienten.

65.      Diese Feststellungen sowie die umfangreiche Rechtsprechung des EGMR zu den Verteidigungsrechten wurden in die Richtlinie 2013/48 einbezogen(33).

66.      Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 ist der Anwendungsbereich des Rechts von Kindern auf einen Rechtsbeistand identisch mit demjenigen für alle anderen Verdächtigen oder beschuldigten Personen nach der Richtlinie 2013/48.

67.      Art. 6 der Richtlinie 2016/800 verlangt meines Erachtens Folgendes: Kinder müssen unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand haben; dies bedeutet in der Regel, dass sie ihn nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. a vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden erhalten müssen.

68.      Daraus folgt, dass die am vorgerichtlichen Stadium eines Strafverfahrens beteiligten Behörden, wie etwa Staatsanwaltschaft und Polizei, ein Kind ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands nicht als Verdächtigen oder als beschuldigte Person vernehmen dürfen.

69.      Art. 6 in Verbindung mit Art. 18 der Richtlinie 2016/800 dürfte ferner zu entnehmen sein, dass die Behörden, falls ein Kind keinen Rechtsbeistand hat, verpflichtet sind, vor Beginn der Vernehmung einen Pflichtverteidiger zu bestellen(34).

70.      Anders als Art. 9 der Richtlinie 2013/48 enthält die Richtlinie 2016/800 keine Bestimmung, wonach Kinder auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichten können. Daraus schließe ich, dass aus dem Recht auf Prozesskostenhilfe für Erwachsene eine rechtliche Verpflichtung wird, Kindern im Strafverfahren eine rechtliche Vertretung zu gewähren.

71.      Im Ergebnis ist der Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, offenbar sehr weit: Die Behörden sind verpflichtet, sicherzustellen, dass Kinder von einem Rechtsbeistand vertreten werden, bevor sie erstmals vernommen werden, erforderlichenfalls durch Bestellung eines Pflichtverteidigers.

2.      Ausnahmen

72.      Allerdings sind in mehreren weiteren Absätzen von Art. 6 der Richtlinie 2016/800, insbesondere in den Abs. 6 und 8, mögliche Ausnahmen vom Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Stadium vorgesehen. Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine dieser Ausnahmen eine polizeiliche Vernehmung minderjähriger Verdächtiger ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands im vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens zulässt.

73.      Wie bereits erwähnt, wird nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach der Richtlinie 2013/48 durch keine Bestimmung der erstgenannten Richtlinie beeinträchtigt. Daraus folgt, dass keine der nach den übrigen Absätzen von Art. 6 der Richtlinie 2016/800 zugelassenen Ausnahmen dahin ausgelegt werden kann, dass sie die Rechte von Minderjährigen im Verhältnis zu den allgemeinen Rechten aus der Richtlinie 2016/800 schmälert. Ich werde mich somit zunächst den möglichen Ausnahmen nach dieser Richtlinie zuwenden.

74.      Der Gerichtshof hat die Richtlinie 2013/48 im Urteil VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) ausgelegt und dort festgestellt, dass die Einschränkungen des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Art. 3 Abs. 5 und 6 abschließend geregelt sind. Daraus folgt, dass dieses Recht in keinem anderen Fall eingeschränkt werden darf(35).

75.      Außerdem muss nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 eine Entscheidung, mit der vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand abgewichen wird, ordnungsgemäß begründet werden und im Einzelfall entweder von einer Justizbehörde oder – unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann – von einer anderen zuständigen Behörde getroffen werden.

76.      Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie 2013/48, der im Urteil VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) als eine der beiden möglichen Ausnahmen vom Recht auf einen Rechtsbeistand genannt wird, entspricht Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie 2016/800. Diese Vorschrift lässt ausnahmsweise eine vorübergehende Abweichung vom Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu, wenn dies zur Abwehr schwerwiegender Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person dringend erforderlich ist oder wenn sofortiges Handeln zwingend geboten ist, um eine Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.

77.      Wie von der Kommission vorgetragen, betrifft Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie 2016/800 jedoch eine andere als die im Ausgangsverfahren vorliegende Fallgestaltung und ist daher nicht anwendbar. Es bestand nämlich weder ein dringendes Erfordernis, schwerwiegende, nachteilige Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person abzuwehren, noch ist dem Sachverhalt der Rechtssache zu entnehmen, dass zur Abwendung einer Gefährdung eines Strafverfahrens ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten war.

78.      Die andere Ausnahme vom Recht auf einen Rechtsbeistand nach Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2013/48 lautet: „Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung des Absatzes 2 Buchstabe c abweichen, wenn es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder [der] beschuldigten Personen nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten.“ Der 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 enthält folgende Klarstellung: „Bei einer vorübergehenden Abweichung aus diesem Grund sollten die zuständigen Behörden weder eine Befragung der betreffenden Person durchführen noch die in dieser Richtlinie vorgesehenen Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen vornehmen.“

79.      Die Richtlinie 2016/800 sieht keine entsprechende Ausnahmeregelung vor. In dem Gesetzgebungsverfahren, in dem sie erlassen wurde, nahm der Rat den Antrag des Parlaments an, die Ausnahme wegen „geografischer Entfernung“ nicht in diese Richtlinie zu übernehmen(36). Jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass ihre Anwendung aufgrund der Umstände der vorliegenden Rechtssache erforderlich wäre.

80.      Zu prüfen bleibt Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800.

81.      Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800 führt eine andere mögliche Ausnahme vom Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand ein, die in ihrem Wortlaut keiner der nach der Richtlinie 2013/48 zulässigen Ausnahmen entspricht. Unabhängig davon, wie wir diese Bestimmung auslegen, darf die Ausnahme nach der Vorgabe in Art. 6 Abs. 1 nicht so verstanden werden, dass das Recht auf einen Rechtsbeistand gegenüber dem Anwendungsbereich desselben Rechts aus der Richtlinie 2013/48 geschmälert wird, wenn es um Minderjährige geht. Es ist daher schwer vertretbar, zusätzliche Ausnahmen vom Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zuzulassen, wenn es um Kinder geht.

82.      Art. 6 erwies sich in dem Gesetzgebungsverfahren, das zum Erlass der Richtlinie 2016/800 führte, als der „kontroverseste Artikel der gesamten Richtlinie“(37). Der ursprüngliche Vorschlag sah eine zwingende Vertretung durch einen Rechtsbeistand vor. Einige Mitgliedstaaten beharrten im Gesetzgebungsverfahren jedoch darauf, dass die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand für ein Kind bei geringfügigen und weniger schwerwiegenden Zuwiderhandlungen nicht erforderlich sei(38). Nach den Angaben im Ratsdokument zur Vorbereitung des achten Trilogs in diesem Gesetzgebungsverfahren war das Parlament jedoch „nicht erfreut [not amused]“ über diesen Antrag, die Verpflichtung, ein Kind in Anwesenheit eines Rechtsbeistands zu vernehmen, weiter zu schmälern(39).

83.      Der endgültige Wortlaut von Art. 6 ist somit eine abgeschwächte Version, wonach eine Verhältnismäßigkeitsprüfung dazu führen kann, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Verfahren eingeschränkt wird(40).

84.      Seinem Wortlaut nach fügt Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800 offenbar eine weitere Einschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand hinzu, die sich auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit stützt(41).

85.      Dies gilt trotz der beiden Sicherheitsanforderungen, die in dieser Bestimmung verbleiben: Die Einschränkung muss mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar sein, und das Kindeswohl muss eine vorrangige Erwägung sein.

86.      Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 6 Unterabs. 1 der Richtlinie 2016/800 legt daher nahe, dass die Mitgliedstaaten im vorgerichtlichen Stadium von der Verpflichtung, dass ein Kind durch einen Rechtsbeistand unterstützt werden muss, abweichen können. Ist der Rechtsbeistand nicht anwesend, darf nach Art. 6 Abs. 6 Unterabs. 3 keine Freiheitsstrafe verhängt werden.

87.      Wir können daraus schließen, dass der zwingend vorgeschriebene Zugang zu einem Rechtsbeistand ohne jede Ausnahme nur in Haftfällen oder in Fällen, in denen das Strafverfahren zu einer Freiheitsentziehung führt, gilt(42).

88.      In der vorliegenden Rechtssache hätte die Anwendung dieser Bestimmung das Verbot der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen den Angeklagten zur Folge. Aber auch diese Bedingung wird dadurch eingeschränkt, dass der fehlende Zugang zu einem Rechtsbeistand nur dadurch geheilt werden kann, dass das Kind dergestalt durch einen Rechtsbeistand unterstützt wird, dass es seine Verteidigungsrechte effektiv wahrnehmen kann, und in jedem Fall während der Hauptverhandlungen.

89.      Ausgehend vom Wortlaut von Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800 führt meines Erachtens nichts an der Schlussfolgerung vorbei, dass er den Ausschluss des Rechts auf einen Rechtsbeistand zulässt, während dies nach der Richtlinie 2013/48 nicht zulässig wäre. Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800 steht daher im Widerspruch zu ihrem Art. 6 Abs. 1.

90.      Meines Erachtens ist nur ein Weg ersichtlich, um Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800 mit Art. 6 Abs. 1 und letztlich mit der Richtlinie 2013/48 in Einklang zu bringen.

91.      Entspricht die Vernehmung eines Kindes ohne Rechtsbeistand dem Kindeswohl, liefe eine solche Möglichkeit, von der zwingenden Anwesenheit eines Rechtsbeistands abzuweichen, nicht dem Erfordernis zuwider, dass die Rechte von Kindern zumindest in gleichem Maße geschützt werden wie diejenigen anderer Verdächtiger oder Beschuldigter. Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2016/800 könnte daher dahin ausgelegt werden, dass er nur auf einen Fall anwendbar ist, in dem die Vernehmung eines Kindes ohne Rechtsbeistand seinem Wohl besser entspricht als eine Vernehmung in Anwesenheit eines Rechtsbeistands. Dass ein solcher Fall eintritt, erscheint mir schwer vorstellbar. Gleichwohl würde diese Auslegung die Vereinbarkeit von Art. 6 Abs. 6 mit der übrigen Systematik der Richtlinie 2016/800 ermöglichen.

92.      Im Ergebnis enthält Art. 6 der Richtlinie 2016/800 meines Erachtens ein unmittelbar wirksames Recht eines Kindes auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, erforderlichenfalls durch einen Pflichtverteidiger, ab dem Zeitpunkt der vorgerichtlichen Vernehmung. Die für eine solche Vernehmung zuständige Behörde kann sich nur im vorgerichtlichen Stadium und nach einer Einzelfallprüfung – unter Berücksichtigung der in Art. 6 Abs. 6 Unterabs. 1 aufgeführten Umstände – dafür entscheiden, die Vernehmung ohne Rechtsbeistand durchzuführen; aber nur, sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht und die Rechte des Kindes nach den Art. 47 und 48 der Charta gewahrt sind. Der Verzicht auf einen Rechtsbeistand muss ordnungsgemäß begründet werden und die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 erfüllen.

E.      Vollendung des 18. Lebensjahrs im Verlauf des Verfahrens (fünfte Frage)

93.      Nach Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie 2016/800 bezeichnet der Ausdruck „Kind“ „eine Person im Alter von unter 18 Jahren“(43).

94.      In der vorliegenden Rechtssache hat zumindest einer der Angeklagten, M. P., im Verlauf des Verfahrens das 18. Lebensjahr vollendet. Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob die nach der Richtlinie 2016/800 für Kinder geltenden Rechte bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens fortbestehen, auch wenn der Angeklagte kein Kind im Sinne der Richtlinie mehr ist.

95.      Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 geht hervor, dass im ursprünglichen Vorschlag der Kommission eine automatische Anwendung der Richtlinie auf alle Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die im Verlauf des Verfahrens das 18. Lebensjahr vollenden, vorgesehen war. Dieser Vorschlag stieß jedoch im Gesetzgebungsverfahren auf Widerstand(44).

96.      Der Kompromiss, der jetzt den endgültigen Wortlaut von Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 bildet, sieht keine automatische Verlängerung von Rechten Minderjähriger vor. Vielmehr räumt er der am Verfahren beteiligten Behörde das Recht ein, zu entscheiden, ob eine solche Verlängerung der Rechte – und welcher Rechte – unter den Umständen des Einzelfalls angemessen ist.

97.      Könnten die Mitgliedstaaten diese Bestimmung in der Weise umsetzen, dass sie sich dafür entscheiden, die Möglichkeit ihrer verlängerten Anwendung, nachdem der Verdächtige oder die beschuldigte Person das 18. Lebensjahr vollendet, auszuschließen?

98.      Ich denke nicht.

99.      Ich stimme in diesem Punkt mit der Kommission überein. Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 verpflichtet die Mitgliedstaaten „ausdrücklich und unbedingt“, in ihren Rechtsvorschriften die Möglichkeit vorzusehen, dass die zuständige nationale Behörde die verlängerte Anwendung der Richtlinie oder einiger ihrer Bestimmungen unter den Umständen des Einzelfalls für angemessen erachtet.

100. Die Kommission bringt daher vor, dass diese Bestimmung die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfülle. Ich pflichte ihr bei. Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 verleiht der zuständigen Behörde das Recht, zu prüfen, ob eine weitere rechtliche Vertretung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die im Verlauf des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollenden, notwendig ist.

101.  Diese Behörde ist verpflichtet, zu prüfen, ob die Verlängerung der Behandlung als Kind unter den Umständen des jeweiligen Einzelfalls notwendig ist. Bei der Umsetzung der Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten das Recht des Verdächtigen oder der beschuldigten Person, seinen bzw. ihren Fall von der zuständigen Behörde im Einzelfall prüfen zu lassen, nicht beschneiden.

102. Daher ist auf die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 unmittelbare Wirkung hat. Er räumt einem Kind, das im Verlauf des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet hat, das Recht ein, dass das Erfordernis seiner weiteren Behandlung als Kind von der zuständigen Behörde im Einzelfall geprüft wird. Dies schließt die Prüfung des Fortbestands des für Kinder geltenden Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ein. Die Mitgliedstaaten dürfen dieses Recht nicht ausschließen.

F.      Auskunftsrecht im Strafverfahren (achte, neunte und zehnte Frage)

103. Mit diesen drei Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 der Richtlinie 2016/800 die zuständigen Behörden dazu verpflichtet, spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung eines Verdächtigen, wenn es sich um ein Kind handelt, das Kind und zugleich den Träger der elterlichen Verantwortung unverzüglich über die Rechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, und die Verfahrensschritte zu informieren.

104. Ferner möchte es wissen, ob die zuständigen Behörden verpflichtet sind, das betreffende Kind in verständlicher und seinem Alter angemessener Weise über das Recht, die Aussage zu verweigern, und das Recht, sich nicht selbst zu belasten zu müssen, zu belehren.

105. Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, wie diese Informationen einem Kind mitzuteilen sind: Schließt Art. 4 der Richtlinie 2016/800 es aus, dass unmittelbar vor der Vernehmung eine allgemeine Belehrung ausgehändigt wird, ohne die spezifischen Rechte aus dieser Richtlinie zu berücksichtigen, dass die Belehrung nur dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, und nicht dem Träger der elterlichen Verantwortung ausgehändigt wird, und dass sie in einer dem Alter des Verdächtigen nicht angemessenen Sprache formuliert ist?

106. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2016/800 verweist als Maßstab für das Auskunftsrecht im Strafverfahren ausdrücklich auf das Schutzniveau nach der Richtlinie 2012/13.

107. Demnach ist der Hinweis sinnvoll, dass nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 „[d]ie Mitgliedstaaten [gewährleisten], dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden“.

108. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2016/800 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass einem Träger der elterlichen Verantwortung möglichst rasch die Informationen mitgeteilt werden, auf deren Erhalt das Kind gemäß Artikel 4 ein Recht hat.“

109. In verschiedenen anderen Vorschriften wird betont, dass sowohl Kinder angemessen über ihre Rechte zu informieren sind als auch ihre Eltern oder Personen, die Träger der elterlichen Verantwortung sind.

110. So sollten beispielsweise nach den Leitlinien des Ministerkomitees des Europarates für eine kindgerechte Justiz Kinder und ihre Eltern „[a]b dem ersten Kontakt mit der Justiz oder anderen zuständigen Behörden (wie der Polizei, Einwanderungs- und Schulbehörden, Sozialeinrichtungen oder Gesundheitsfürsorgeeinrichtungen) und während des gesamten Verfahrens … unverzüglich und angemessen informiert werden“, u. a. über ihre Rechte sowie über die Instrumente, die ihnen zur Verfügung stehen, um gegen mögliche Verletzungen ihrer Rechte Beschwerde einzulegen(45).

111. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte betont in ihrer Bewertung der Umsetzung der Richtlinie 2016/800, dass die Mitgliedstaaten bei Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit speziell in den frühen Phasen des Strafverfahrens besonders darauf achten sollten, dass sie angemessen und unverzüglich informiert werden(46).

112. Der EGMR hat im Urteil Panovits/Zypern festgestellt, dass „das Fehlen einer hinreichenden Information über das Recht des Beschwerdeführers, vor seiner Befragung durch die Polizei einen Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen, insbesondere angesichts dessen, dass er zu diesem Zeitpunkt minderjährig war und während der Befragung nicht von seinem Vormund unterstützt wurde, eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers darstellte“(47).

113. Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2016/800 sind die zuständigen Behörden eindeutig dazu verpflichtet, die Kinder im Ausgangsverfahren über ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, ihr Recht auf Unterrichtung des Trägers der elterlichen Verantwortung sowie die übrigen in dieser Bestimmung aufgeführten notwendigen Informationen zu unterrichten(48).

114. Nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2016/800 müssen die Informationen in einfacher und verständlicher Sprache erteilt und aufgezeichnet werden.

115. Im Ergebnis gewähren die Art. 4 und 5 der Richtlinie 2016/800 Minderjährigen das Recht, dass sie und die Träger der elterlichen Verantwortung über die Verfahrensrechte im Strafverfahren informiert werden. Diese Bestimmungen sind hinreichend genau und unbedingt, so dass Minderjährige sich vor den nationalen Gerichten auf sie berufen können. Klar ist auch, dass die Verpflichtung, Kinder und die Träger der elterlichen Verantwortung über ihre Verfahrensrechte zu informieren, die für die Durchführung des betreffenden Teils des Strafverfahrens zuständige Behörde trifft. In der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens obliegt diese Verpflichtung zur Unterrichtung des betreffenden Kindes der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Dieses Recht gewährleistet, dass die Verteidigungsrechte der Kinder während des gesamten Strafverfahrens gewahrt werden.

G.      Folgen möglicher Verstöße gegen Rechte von Kindern im Strafverfahren: Unzulässigkeit von Beweisen?

116. Das Strafverfahren ist ein Bereich, in dem sich die Zuständigkeit der Europäischen Union auf eine Mindestharmonisierung beschränkt (Art. 82 Abs. 2 AEUV). Die Europäische Union ist zwar nach Art. 82 Abs. 2 Buchst. a AEUV befugt, Mindestvorschriften für die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis festzulegen, doch ist dies bisher nicht geschehen.

117. Alle Richtlinien, die Rechte im Strafverfahren harmonisieren, verpflichten die Mitgliedstaaten ausdrücklich, Personen bei Verletzung ihrer nach diesen Richtlinien bestehenden Rechte wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen(49). Die Richtlinien konkretisieren die geeigneten Rechtsbehelfe jedoch nicht näher, sondern überlassen die Auswahl den Mitgliedstaaten und verlangen nur, dass der gewählte Rechtsbehelf wirksam ist(50).

118. Mit seinen Fragen zur Zulässigkeit von Beweisen, die möglicherweise unter Verstoß gegen die einschlägigen Richtlinien erhoben wurden, reiht das vorlegende Gericht sich in eine stetig wachsende Zahl von Rechtssachen ein, in denen nationale Gerichte Fragen dazu stellen(51).

119. Wie ich bereits in anderen Schlussanträgen(52) hervorgehoben habe, ist die Zulässigkeit von Beweisen in nationalen Strafverfahren derzeit nirgends unionsrechtlich geregelt. Dies ist einstweilen Sache des nationalen Rechts.

120. Soweit jedoch das Unionsrecht gilt, dürfen die einschlägigen nationalen Bestimmungen nicht gegen die Art. 47 und 48 der Charta verstoßen(53); ferner muss nach Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl des Kindes unzweifelhaft stets eine vorrangige Erwägung sein.

121. Der EGMR verfolgt einen ähnlichen Ansatz und führt hierzu aus, dass die EMRK die Zulässigkeit von Beweisen nicht regele(54), sondern die nationalen Gerichte zu prüfen hätten, ob die Fairness des Verfahrens insgesamt beeinträchtigt worden sei(55).

122. Der Gerichtshof hat die Fairness des Verfahrens insgesamt vor Kurzem unter direkter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR als maßgeblichen Standard übernommen(56).

123. In der mündlichen Verhandlung ist die Kommission nach dem Stand des Unionsrechts in Bezug auf die Zulässigkeit von Beweisen und dazu befragt worden, wie die nationalen Gerichte mit diesem Aspekt umgehen sollten, wenn sie mit einem Verstoß gegen eine der Mindestharmonisierungsrichtlinien konfrontiert sind. Die Kommission bestätigte in ihrer Antwort, dass das Unionsrecht in der Tat keine Vorgaben mache, soweit es um Regeln für die Zulässigkeit von Beweisen gehe; unionsrechtlich erforderlich sei jedoch, dass die nationalen Gerichte nicht daran gehindert würden, in Ausübung ihrer freien Beurteilung eine solche Feststellung zu treffen.

124. Ich stimme mit dieser Ansicht überein. Die Achtung der in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Grundrechte erfordert nämlich, dass den nationalen Richtern in der gerichtlichen Phase die notwendige Flexibilität eingeräumt wird, um die Fairness des Verfahrens insgesamt zu beurteilen. Wenn ihrer Auffassung nach ein Beweis ausgeschlossen werden sollte, weil er unter Verstoß gegen Verfahrensrechte erlangt wurde und dies eine Verletzung der Verteidigungsrechte darstellt, sollte es ihnen freistehen, ihn auszuschließen.

125. Mit anderen Worten regelt das Unionsrecht nicht die Zulässigkeit von Beweisen, steht aber nationalem Recht entgegen, durch das die Befugnisse des erkennenden Gerichts eingeschränkt werden, die Beweise frei zu würdigen und daraus alle für notwendig erachteten Schlussfolgerungen zu ziehen(57).

126. Wird das Strafverfahren gegen Kinder geführt, ist das erkennende Gericht nach Art. 24 Abs. 2 der Charta verpflichtet, dem Kindeswohl besondere Aufmerksamkeit zu widmen und es gegen andere Interessen an der Strafverfolgung abzuwägen.

127. Im Ergebnis ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die volle Wirksamkeit der in den angeführten Richtlinien verankerten Rechte in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu gewährleisten. Dies kann dadurch erreicht werden, dass unter Verstoß gegen diese Rechtsakte erhobene Beweise ausgeschlossen werden, wenn das vorlegende Gericht meint, andernfalls würden Rechte aus den Art. 24 Abs. 2, 47 und 48 der Charta verletzt.

H.      Unmittelbare Wirkung und Vorrang des Unionsrechts (vierte, siebte und elfte Frage)

128. Das vorlegende Gericht spricht in vielen seiner Fragen und mit besonderem Nachdruck in der vierten, der siebten und der elften Frage auch die Konsequenzen an, die aus der unmittelbaren Wirkung der einschlägigen Bestimmungen der in Rede stehenden Richtlinien zu ziehen seien. In Anbetracht vielfacher früherer Erläuterungen durch den Gerichtshof in seiner Rechtsprechung werde ich mich darauf beschränken, nur die wichtigsten Konsequenzen für die vorliegende Rechtssache zu wiederholen.

129. Nach dem Grundsatz der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts können Einzelpersonen ihre auf ihm beruhenden Rechte geltend machen, indem sie sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf die Bestimmungen des Unionsrechts berufen(58).

130. Kollidieren diese Rechte mit dem nationalen Recht, ermächtigt das Unionsrecht die nationalen Gerichte, solche entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen. Diese Ermächtigung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Unionsverfassungsgrundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts(59).

131. Ein weiterer, dem nationalen Gericht zur Verfügung stehender Weg besteht darin, das nationale Recht in einer Weise auszulegen, die für den Inhaber eines von der Union verliehenen Rechts zu demselben Ergebnis führen würde, wie wenn das Unionsrecht unmittelbar angewendet worden wäre. Dieser Weg ermöglicht es den nationalen Gerichten, einen Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Recht zu vermeiden(60).

132. Die Minderjährigen, über deren strafrechtliche Verantwortlichkeit das vorlegende Gericht entscheidet, können sich auf die in den angeführten Richtlinien gewährten Rechte berufen. Dazu gehören das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, das Recht auf Unterrichtung über ihre Verfahrensrechte und die Prüfung der Notwendigkeit der fortbestehenden Anwendung der Richtlinie 2016/800 nach Vollendung des 18. Lebensjahrs, um deren Auslegung durch den Gerichtshof das vorlegende Gericht ersucht hat. Dazu gehören auch weitere Rechte nach diesen Richtlinien sowie die Rechte auf ein faires Verfahren und eine wirksame Verteidigung, die sich aus der Charta ergeben.

133. Das vorlegende Gericht muss bestrebt sein, jedes mögliche Hindernis für die Anerkennung dieser Rechte zu beseitigen, indem es die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts unionsrechtskonform auslegt. Erweist sich eine solche Auslegung als unmöglich, muss das vorlegende Gericht die entgegenstehenden nationalen Vorschriften unangewendet lassen und den Schutz der auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gewährleisten.

134. Schließlich müssen nicht nur die nationalen Gerichte, sondern auch nationale Verwaltungsbehörden(61) und alle anderen staatlichen Stellen den Bestimmungen des Unionsrechts volle Wirksamkeit verschaffen(62). Die unmittelbare Wirkung, die unionsrechtskonforme Auslegung und der Vorrang des Unionsrechts sind somit für alle staatlichen Stellen verbindlich, und sie sind zugleich verpflichtet, auf dem Unionsrecht beruhende Rechte anzuerkennen.

135. Daraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei die Rechte von Kindern und ihre eigenen, daraus resultierenden Verpflichtungen im vorgerichtlichen Stadium des Strafverfahrens unmittelbar auf der Grundlage der einschlägigen Richtlinien anerkennen müssen. Sie müssen das nationale Recht im Einklang mit den nach diesen Richtlinien erforderlichen Ergebnissen auslegen. Alternativ sind sie verpflichtet, die Vorschriften des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, um den nach diesen Richtlinien ebenfalls erforderlichen Schutz von Kindern zu ermöglichen. Tun sie dies nicht, muss das Gericht, bei dem das Strafverfahren anhängig ist, feststellen, dass die staatlichen Stellen gegen ihre auf dem Unionsrecht beruhenden Verpflichtungen verstoßen haben.

V.      Ergebnis

136. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk, Polen) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Die 13. Frage, soweit sie die Unabhängigkeit des Staatsanwalts betrifft, und die 14. Frage sind unzulässig.

2.      Die erste und die zweite Frage des vorlegenden Gerichts sind dahin zu beantworten, dass Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ein unmittelbar wirksames Recht eines Kindes auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, wenn nötig durch einen Pflichtverteidiger, ab dem Zeitpunkt der vorgerichtlichen Vernehmung enthält. Die für die Vernehmung zuständige Behörde kann die Vernehmung nur im vorgerichtlichen Stadium und nach einer Einzelfallprüfung – unter Berücksichtigung der in Art. 6 Abs. 6 Unterabs. 1 der Richtlinie aufgeführten Umstände – ohne Rechtsbeistand durchführen; dies ist jedoch nur zulässig, wenn es dem Wohl des Kindes entspricht und dessen Rechte aus den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewahrt sind. Die Entscheidung, keinen Rechtsbeistand hinzuzuziehen, muss ordnungsgemäß begründet werden und die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs erfüllen.

3.      Auf die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts ist zu antworten, dass Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/800 unmittelbare Wirkung hat. Er räumt einem Kind, das im Verlauf des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet hat, das Recht ein, dass das Erfordernis seiner weiteren Behandlung als Kind von der zuständigen Behörde im Einzelfall geprüft wird. Dies schließt die Prüfung ein, ob das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand fortbesteht. Die Mitgliedstaaten dürfen dieses Recht nicht ausschließen.

4.      Die achte, die neunte und die zehnte Frage des vorlegenden Gerichts sind dahin zu beantworten, dass die Art. 4 und 5 der Richtlinie 2016/800 Minderjährigen das Recht gewähren, dass sie und die Träger der elterlichen Verantwortung über die Verfahrensrechte im Strafverfahren informiert werden. Diese Bestimmungen sind hinreichend genau und unbedingt, so dass Minderjährige sich vor den nationalen Gerichten auf sie berufen können. Klar ist auch, dass die Verpflichtung, Kinder und die Träger der elterlichen Verantwortung über ihre Verfahrensrechte zu informieren, die für den betreffenden Teil des Strafverfahrens zuständige Behörde trifft. In der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens obliegt diese Verpflichtung der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Das Recht auf Unterrichtung gewährleistet, dass die Verteidigungsrechte der Kinder während des gesamten Strafverfahrens gewahrt werden.

5.      Auf die elfte Frage des vorlegenden Gerichts ist zu antworten, dass das Unionsrecht die Zulässigkeit von Beweisen nicht regelt, aber nationalen Vorschriften entgegensteht, mit denen die Befugnisse der erkennenden Gerichte eingeschränkt werden, die Beweise frei zu würdigen und daraus alle Schlussfolgerungen zu ziehen, die sie für notwendig erachten. Wird das Strafverfahren gegen Kinder geführt, ist das erkennende Gericht nach Art. 24 Abs. 2 der Charta verpflichtet, dem Kindeswohl besondere Aufmerksamkeit zu widmen und es gegen andere Interessen an der Strafverfolgung abzuwägen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die volle Wirksamkeit der in den angeführten Richtlinien verankerten Rechte in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu gewährleisten. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die unter Verstoß gegen diese Rechtsakte erhobenen Beweise ausgeschlossen werden, wenn nach Auffassung des vorlegenden Gerichts andernfalls Rechte aus den Art. 24 Abs. 2, 47 und 48 der Charta verletzt würden.

6.      Die vierte Frage, die siebte Frage und der erste Teil der 13. Frage sind dahin zu beantworten, dass das vorlegende Gericht die Rechte von Kindern, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, unmittelbar auf der Grundlage der einschlägigen Unionsrichtlinien anerkennen muss. Das vorlegende Gericht muss jedes mögliche Hindernis für die Anerkennung der durch diese Richtlinien gewährten Rechte beseitigen, indem es das nationale Recht im Einklang mit ihnen auslegt. Ist dies nicht möglich, muss das vorlegende Gericht die entgegenstehenden Vorschriften des nationalen Rechts aufgrund der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lassen.

Die unmittelbare Wirkung, die unionsrechtskonforme Auslegung und der Vorrang des Unionsrechts sind für alle staatlichen Stellen verbindlich, und sie sind zugleich verpflichtet, auf dem Unionsrecht beruhende Rechte anzuerkennen. Daraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei die Rechte von Kindern und ihre eigenen, daraus resultierenden Verpflichtungen im vorgerichtlichen Stadium des Strafverfahrens unmittelbar auf der Grundlage der einschlägigen Richtlinien anerkennen müssen. Tun sie dies nicht, muss das Gericht, bei dem das Strafverfahren anhängig ist, feststellen, dass die staatlichen Stellen gegen ihre auf dem Unionsrecht beruhenden Verpflichtungen verstoßen haben.
































































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