C-568/19 – Subdelegación del Gobierno en Toledo (Conséquences de l’arrêt Zaizoune)

C-568/19 – Subdelegación del Gobierno en Toledo (Conséquences de l’arrêt Zaizoune)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:807

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

8. Oktober 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 – Illegaler Aufenthalt – Nationale Regelung, nach der je nach den Umständen entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung angeordnet wird – Folgen des Urteils vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260) – Für den Betroffenen günstigere nationale Rechtsvorschriften – Unmittelbare Wirkung der Richtlinien – Grenzen“

In der Rechtssache C‑568/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Obergericht Kastilien-La Mancha, Spanien) mit Entscheidung vom 11. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Juli 2019, in dem Verfahren

MO

gegen

Subdelegación del Gobierno en Toledo

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Richterin C. Toader in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und I. Galindo Martín als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MO und der Subdelegación del Gobierno en Toledo (Unterdelegation der Regierung in der Provinz Toledo, Spanien) über den illegalen Aufenthalt von MO im spanischen Hoheitsgebiet.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

4        Art. 3 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme[,] mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ,Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;

…“

5        Art. 4 („Günstigere Bestimmungen“) der Richtlinie besagt in den Abs. 2 und 3:

„(2)      Von dieser Richtlinie unberührt bleibt jede im gemeinschaftlichen Besitzstand auf dem Gebiet Asyl und Einwanderung festgelegte Bestimmung, die für Drittstaatsangehörige günstiger sein kann.

(3)      Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen.“

6        In Art. 6 („Rückkehrentscheidung“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)      Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

(3)      Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen [werden]. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.

(4)      Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen[s] eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.

(5)      Ist ein Verfahren anhängig, in dem über die Verlängerung des Aufenthaltstitels oder einer anderen Aufenthaltsberechtigung von illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entschieden wird, so prüft dieser Mitgliedstaat unbeschadet des Absatzes 6, ob er vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht, bis das Verfahren abgeschlossen ist.

…“

7        Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt in den Abs. 1 und 4:

„(1)      Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. …

(4)      Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren …“

8        Art. 8 („Abschiebung“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

 Spanisches Recht

9        Art. 53 Abs. 1 Buchst. a der Ley Orgánica 4/2000, sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social (Ley Orgánica 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländern in Spanien und deren soziale Integration) vom 11. Januar 2000 (BOE Nr. 10 vom 12. Januar 2000, S. 1139) in der durch die Ley Orgánica 2/2009 vom 11. Dezember 2009 (BOE Nr. 299 vom 12. Dezember 2009, S. 104986) geänderten Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) definiert als „schweren“ Verstoß den „illegale[n] Aufenthalt in spanischem Hoheitsgebiet, weil keine Aufenthaltsverlängerung oder Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist oder diese seit mehr als drei Monaten abgelaufen ist, ohne dass der Betroffene deren Verlängerung innerhalb der vorgeschriebenen Frist beantragt hat“.

10      Gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Ausländergesetzes werden schwere Verstöße mit einer Geldbuße von 501 Euro bis 10 000 Euro geahndet.

11      In Art. 57 dieses Gesetzes heißt es:

„(1)      Wird die Zuwiderhandlung von einem Ausländer begangen und erfüllt sie den Tatbestand eines sehr schweren oder schweren Verstoßes im Sinne von Art. 53 Abs. 1 Buchst. a, b, c, d oder f dieser Ley Orgánica, so kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anstelle der Geldbuße nach Abschluss des entsprechenden Verwaltungsverfahrens und mit begründeter und die Tatumstände des Verstoßes bewertender Entscheidung die Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet werden.

(3)      Die Sanktion der Ausweisung und die Geldbuße dürfen nicht zusammen verhängt werden.

…“

12      Art. 63 („Eilverfahren“) des Ausländergesetzes sieht in Abs. 7 vor:

„Die Vollstreckung der Ausweisungsverfügung erfolgt in den in diesem Artikel vorgesehenen Fällen unverzüglich.“

13      Art. 63a Abs. 2 dieses Gesetzes bestimmt:

„Im Fall einer Ausweisungsverfügung nach Durchführung eines ordentlichen Verfahrens wird eine Frist für die freiwillige Ausreise des Betroffenen aus dem spanischen Hoheitsgebiet gesetzt. Diese Frist beträgt zwischen sieben und dreißig Tagen und beginnt mit der Zustellung der genannten Verfügung. Die Frist für die freiwillige Ausreise kann unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder oder das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum verlängert werden.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14      Am 14. Januar 2017 beschloss die Comisaría de Talavera de la Reina (Polizeikommissariat Talavera de la Reina, Spanien), gegen MO, einen kolumbianischen Staatsangehörigen, wegen eines ihm vorgeworfenen Verstoßes gegen Art. 53 Abs. 1 Buchst. a des Ausländergesetzes ein als Eilverfahren durchzuführendes Ausweisungsverfahren einzuleiten.

15      Im Rahmen dieses Verfahrens erklärte MO, er sei im Jahr 2009 im Alter von 17 Jahren mit einem Visum und einem zum Zweck der Familienzusammenführung mit seiner Mutter ausgestellten Aufenthaltstitel nach Spanien eingereist. Er legte einen bis zum 24. Dezember 2018 gültigen Reisepass, eine bis 2013 gültige Aufenthaltskarte sowie eine Bescheinigung über die im Jahr 2015 erfolgte Eintragung in das Melderegister der Gemeinde Talavera de la Reina vor. MO gab an, während seines Aufenthalts in Spanien häufig gearbeitet zu haben, und legte mehrere Arbeitsverträge sowie einen Versicherungsverlauf und eine Bankbescheinigung vor. Er erklärte, dass er keine Vorstrafen habe und über einen festen Wohnsitz in Talavera de la Reina verfüge. Zudem legte er weitere Dokumente vor, darunter einen Ausweis der Stadtbibliothek, eine Krankenversicherungskarte sowie Bescheinigungen über absolvierte Kurse und Ausbildungen.

16      Am 3. Februar 2017 erließ der Subdelegado del Gobierno en Toledo (Unterdelegierter der Regierung in der Provinz Toledo, Spanien) (im Folgenden: Vertreter der Regierung) auf der Grundlage von Art. 53 Abs. 1 Buchst. a des Ausländergesetzes eine Ausweisungsverfügung gegen MO, verbunden mit einem Verbot der Rückübernahme in das spanische Hoheitsgebiet für die Dauer von fünf Jahren. Insoweit stützte sich der Vertreter der Regierung darauf, dass nach der Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) die Ausweisung zulässig sei, wenn der illegale Aufenthalt mit einem negativen Element im Verhalten des Betroffenen einhergehe. Im Ausgangsverfahren wurden als negative Elemente gewertet, dass der Betroffene nicht nachgewiesen habe, an einer Grenzübergangsstelle nach Spanien eingereist zu sein, die Dauer seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat nicht angegeben habe und keinerlei Ausweispapiere besitze. Außerdem stellte der Vertreter der Regierung fest, dass MO durch die Ausweisung nicht aus seinem familiären Umfeld gerissen werde, da er keine Verbindungen zu rechtmäßig in Spanien aufhältigen Verwandten in gerader aufsteigender oder gerade absteigender Linie nachgewiesen habe.

17      MO erhob beim Juzgado de lo Contencioso-Administrativo de Toledo (Verwaltungsgericht der Provinz Toledo, Spanien) Klage gegen die Ausweisungsverfügung des Vertreters der Regierung. Das Gericht wies die Klage ab.

18      Gegen die Entscheidung dieses Gerichts legte MO beim Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Obergericht Kastilien-La Mancha, Spanien) ein Rechtsmittel ein.

19      Dieses Gericht führt aus, die in Rn. 16 des vorliegenden Urteils erwähnte Auslegung der nationalen Regelung durch das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) sei vom spanischen Gesetzgeber bei der Änderung dieser Regelung durch die Ley Orgánica 2/2009 übernommen worden.

20      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hat der Vertreter der Regierung zu Unrecht negative Elemente im Verhalten von MO festgestellt. Dieser habe nämlich im Lauf des Verfahrens einen gültigen Reisepass, ein Visum für die Einreise in das spanische Hoheitsgebiet sowie bis zum Jahr 2013 reichende Aufenthaltstitel vorgelegt. Zudem sei er in Spanien sowohl in sozialer als auch in familiärer Hinsicht verwurzelt.

21      Zum Verhalten von MO stellt das vorlegende Gericht fest, dass aus den ihm vorliegenden Akten kein negatives Element ersichtlich sei, das über den bloßen illegalen Aufenthalt des Betroffenen in Spanien hinausginge.

22      Unter diesen Umständen stelle sich hinsichtlich der Beurteilung der Situation von MO die Frage, welche Konsequenzen aus dem Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), zu ziehen seien. In diesem Urteil habe der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sei, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, nach der im Fall eines illegalen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Staates je nach den Umständen entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung angeordnet werde und sich diese beiden Maßnahmen gegenseitig ausschlössen.

23      Im vorliegenden Fall gelte für die Situation von MO dieselbe nationale Regelung wie diejenige, die in der Rechtssache anwendbar gewesen sei, in der dieses Urteil des Gerichtshofs ergangen sei. Ferner könne gemäß einer Auslegung, zu der das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vor der Verkündung dieses Urteils gelangt sei, die Ausweisung eines illegal in Spanien aufhältigen Drittstaatsangehörigen aus dem nationalen Hoheitsgebiet nur bei Vorliegen zusätzlicher erschwerender Umstände angeordnet werden.

24      Nach der Verkündung des Urteils vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), habe das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) u. a. in einem Urteil vom 30. Mai 2019 entschieden, dass die spanischen Verwaltungsbehörden und Gerichte befugt seien, diejenigen Bestimmungen des Ausländergesetzes unangewendet zu lassen, nach denen die Verhängung einer Geldbuße Vorrang habe und eine Ausweisung ausdrücklich mit erschwerenden Umständen begründet werden müsse. Damit habe das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 zum Nachteil des Betroffenen unmittelbar angewandt und dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit verschärft, da die spanischen Gerichte im Anschluss an das Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), verpflichtet gewesen seien, eine solche unmittelbare Anwendung dieser Richtlinie selbst zum Nachteil der Betroffenen vorzunehmen.

25      Es sei aber zweifelhaft, dass im Ausgangsverfahren die Ausweisung von MO unmittelbar auf die Richtlinie 2008/115 gestützt werden könne, obwohl keine erschwerenden Umstände vorlägen, die zum illegalen Aufenthalt des Betroffenen im spanischen Hoheitsgebiet hinzukämen. Insoweit sei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen, in der die Möglichkeit, die Bestimmungen einer Richtlinie unmittelbar auf einen Einzelnen anzuwenden, ausgeschlossen werde, so insbesondere in den Urteilen vom 26. Februar 1986, Marshall (152/84, EU:C:1986:84), und vom 11. Juni 1987, X (14/86, EU:C:1987:275). Ferner sei auf das Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), hinzuweisen, mit dem die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung im Hinblick auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen eingeschränkt worden sei.

26      Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Obergericht Kastilien-La Mancha) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Auslegung des Urteils vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), dahin, dass die spanische Verwaltung und die spanischen Gerichte die Richtlinie 2008/115 zum Nachteil eines Drittstaatsangehörigen unter Auslassung und Nichtanwendung günstigerer interner Strafvorschriften, Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Drittstaatsangehörigen und eventueller Nichtbeachtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unmittelbar anwenden können, mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs über die Grenzen der unmittelbaren Wirkung der Richtlinien vereinbar? Ist die Unvereinbarkeit der spanischen Gesetzesvorschriften mit der Richtlinie nicht auf diesem Wege, sondern durch eine Gesetzesreform oder durch die im Unionsrecht vorgesehenen Mittel zur Verpflichtung des Mitgliedstaats zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinien zu beheben?

 Zur Vorlagefrage

27      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass, wenn eine nationale Regelung für den Fall des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsieht, dass entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung verfügt wird und letztere Maßnahme nur dann erlassen werden kann, wenn in Bezug auf diesen Drittstaatsangehörigen erschwerende Umstände vorliegen, die zu seinem illegalen Aufenthalt hinzukommen, die zuständige nationale Behörde sich unmittelbar auf die Bestimmungen dieser Richtlinie stützen kann, um eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken, selbst wenn keine solchen erschwerenden Umstände vorliegen.

28      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, mit der betreffenden nationalen Regelung, die seit dem Erlass der Ley Orgánica 2/2009, mit der die Ley Orgánica 4/2000 geändert wurde, anwendbar ist, die in Rn. 23 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) bestätigt wurde.

29      Diese nationale Regelung war Gegenstand des Urteils vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260). Wie aus den Rn. 31 und 32 dieses Urteils hervorgeht, sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 zunächst vor, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Stellt sich heraus, dass der Aufenthalt illegal ist, müssen die zuständigen nationalen Behörden nämlich nach diesem Art. 6, unbeschadet der in seinen Abs. 2 bis 5 vorgesehenen Ausnahmen, eine Rückkehrentscheidung erlassen.

30      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die betreffende spanische Regelung, nach der im Fall eines illegalen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen im spanischen Hoheitsgebiet je nach den Umständen entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung angeordnet wird und sich diese beiden Maßnahmen gegenseitig ausschließen, die Anwendung der in der Richtlinie 2008/115 festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren vereiteln und gegebenenfalls die Rückführung verzögern und somit die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 40).

31      Daher hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihr Art. 6 Abs. 1 und ihr Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem Art. 4 Abs. 2 und 3, dahin auszulegen ist, dass sie einer solchen Regelung entgegensteht (Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 41).

32      Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) nach der Verkündung dieses Urteils des Gerichtshofs entschieden, dass die spanischen Verwaltungsbehörden und Gerichte befugt seien, diese mit der Richtlinie 2008/115 unvereinbare nationale Regelung unangewendet zu lassen und sich unmittelbar auf diese Richtlinie zu stützen, um im Fall eines illegalen Aufenthalts im spanischen Hoheitsgebiet die Ausweisung zu verfügen, selbst wenn darüber hinaus keine erschwerenden Umstände vorlägen.

33      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses innerhalb der durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze gesetzten Grenzen so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auslegen müssen, um das darin festgelegte Ergebnis zu erreichen (Urteil vom 19. März 2020, Sánchez Ruiz u. a., C‑103/18 und C‑429/18, EU:C:2020:219, Rn. 121).

34      Im vorliegenden Fall scheint das vorlegende Gericht, dessen Aufgabe es ist, zu ermitteln, ob es die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung unionsrechtskonform auszulegen vermag, diese Möglichkeit auszuschließen. Seiner Ansicht nach stellt sich in dieser Situation die Frage, ob eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie 2008/115 zum Nachteil der betroffenen Person erfolgen kann.

35      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, da sich ein Mitgliedstaat gegenüber einem Einzelnen nicht auf eine Richtlinienbestimmung als solche berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, EU:C:1986:84, Rn. 48, und vom 12. Dezember 2013, Portgás, C‑425/12, EU:C:2013:829, Rn. 22).

36      Soweit die im Ausgangsverfahren auf MO anwendbare nationale Regelung vorsieht, dass die Ausweisung – im Sinne dieser Regelung – eines im spanischen Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen nur dann verfügt werden kann, wenn in Bezug auf diesen Drittstaatsangehörigen erschwerende Umstände vorliegen, die zu seinem illegalen Aufenthalt hinzukommen, und diese Regelung nicht im Einklang mit der Richtlinie 2008/115 ausgelegt werden kann, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat, kann sich der Mitgliedstaat folglich nicht auf diese Richtlinie stützen, um gegenüber MO eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken, selbst wenn keine solchen erschwerenden Umstände vorliegen.

37      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass, wenn eine nationale Regelung für den Fall des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsieht, dass entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung verfügt wird und letztere Maßnahme nur dann erlassen werden kann, wenn in Bezug auf diesen Drittstaatsangehörigen erschwerende Umstände vorliegen, die zu seinem illegalen Aufenthalt hinzukommen, die zuständige nationale Behörde sich nicht unmittelbar auf die Bestimmungen dieser Richtlinie stützen kann, um eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken, selbst wenn keine solchen erschwerenden Umstände vorliegen.

 Kosten

38      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass, wenn eine nationale Regelung für den Fall des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsieht, dass entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung verfügt wird und letztere Maßnahme nur dann erlassen werden kann, wenn in Bezug auf diesen Drittstaatsangehörigen erschwerende Umstände vorliegen, die zu seinem illegalen Aufenthalt hinzukommen, die zuständige nationale Behörde sich nicht unmittelbar auf die Bestimmungen dieser Richtlinie stützen kann, um eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken, selbst wenn keine solchen erschwerenden Umstände vorliegen.

Unterschriften



Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar