C-545/21 – ANAS

C-545/21 – ANAS

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2022:998

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 15. Dezember 2022(1)

Rechtssache C545/21

ANAS SpA

gegen

Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio [Verwaltungsgericht Latium, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Strukturfonds – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 – Art. 2 Nr. 7 – Begriff ‚Unregelmäßigkeit‘ – Verhaltensweisen, die vermutlich geeignet sind, einen Wirtschaftsbeteiligten in einem öffentlichen Vergabeverfahren zu begünstigen – Art. 98 Abs. 1 und 2 – Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten – Öffentliche Bauaufträge – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d – Fakultative Ausschlussgründe – Schwere Verfehlung im beruflichen Bereich“

 Einleitung

1.        Das vorliegende Ersuchen um Vorabentscheidung ist vom Tribunale amministrativo per il Lazio (Verwaltungsgericht Latium, Italien) im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft Azienda Nazionale Autonoma Strade SpA (im Folgenden: ANAS) und dem Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, Italien) vorgelegt worden; dieser Rechtsstreit betrifft einen Bescheid dieses Ministeriums, mit dem an ANAS im Rahmen eines vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) mitfinanzierten Projekts zur Durchführung von Bauarbeiten gezahlte Beträge wegen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe eines Auftrags zurückgefordert wurden.

2.        Bei den vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen geht es im Wesentlichen zunächst um die Auslegung des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006(2) im Zusammenhang mit vollendeter Bestechung/Vorteilsnahme bzw. versuchter Bestechung/Vorteilsnahme, die einen Vergabeausschuss im Rahmen der Durchführung von durch den Haushalt der Union finanzierten Arbeiten betraf, sodann um die Umsetzung von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG(3) betreffend Klauseln zum Ausschluss eines Bieters vom Vergabeverfahren und schließlich um die Kriterien für die Berechnung der Höhe der bei einer „Unregelmäßigkeit“ anzuwendenden finanziellen Berichtigung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 1083/2006

3.        Art. 1  („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmt:

„Diese Verordnung enthält die allgemeinen Bestimmungen für den [EFRE], den Europäischen Sozialfonds (ESF) (nachstehend ‚die Strukturfonds‘ genannt) und den Kohäsionsfonds, unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die in den Verordnungen (EG) Nr. 1080/2006(4), (EG) Nr. 1081/2006(5) und (EG) Nr. 1084/2006(6) enthalten sind.

Diese Verordnung beschreibt die Ziele, zu deren Erreichung die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds (nachstehend ‚die Fonds‘ genannt) beitragen sollen, die Kriterien, nach denen die Mitgliedstaaten und Regionen für eine Förderung aus diesen Fonds in Betracht kommen, die verfügbaren Finanzmittel und die Kriterien für ihre Aufteilung.

Diese Verordnung steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen die Kohäsionspolitik durchgeführt wird, einschließlich der Methode zur Erstellung der strategischen Kohäsionsleitlinien der Gemeinschaft, des nationalen strategischen Rahmenplans und des Verfahrens zur Überprüfung auf Gemeinschaftsebene.

Zu diesem Zweck legt diese Verordnung auf der Grundlage von zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Zuständigkeiten die Grundsätze und Regeln für die Partnerschaft, die Programmplanung, die Bewertung, die Verwaltung einschließlich der finanziellen Abwicklung, die Begleitung und die Kontrolle fest.“

4.        Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.      ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.“

5.        Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 lautet:

„Die aus den Fonds finanzierten Vorhaben müssen den Bestimmungen des Vertrags und den aufgrund des Vertrags erlassenen Rechtsakten entsprechen.“

6.        Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sind zuständig für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und treffen hierzu insbesondere folgende Maßnahmen:

b)      Sie treffen vorbeugende Maßnahmen gegen Unregelmäßigkeiten, decken sie auf und korrigieren sie und ziehen rechtsgrundlos gezahlte Beträge, gegebenenfalls mit Verzugszinsen, wieder ein. Sie unterrichten die Kommission darüber und halten sie über den Stand von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auf dem Laufenden.“

7.        Art. 98 der Verordnung Nr. 1083/2006 sieht vor:

„(1)      Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen.

(2)      Der Mitgliedstaat nimmt die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Die vom Mitgliedstaat vorgenommenen Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den dem Fonds entstandenen finanziellen Verlust.

…“

 Richtlinie 2004/18

8.        Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 bestimmt:

„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

d)      [der] im Rahmen [seiner] beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde“.

 Italienisches Recht

9.        Art. 38 Abs. 1 Buchst. c und f des Decreto legislativo n. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 163, Gesetzbuch über öffentliche Bau‑, Dienstleistungs- und Lieferaufträge zur Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006(7) bestimmt:

„Von der Teilnahme an Vergabeverfahren für Konzessionen und öffentliche Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge, von der Vergabe von Subaufträgen und vom Abschluss der entsprechenden Verträge ausgeschlossen sind Personen,

c)      gegen die wegen schwerer Straftaten zum Schaden des Staates oder der Gemeinschaft, die die berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellen, ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist, ein unwiderruflich gewordener Strafbefehl erlassen wurde oder ein Strafzumessungsurteil auf Antrag im Sinne von Art. 444 der Strafprozessordnung ergangen ist; ein Grund für den Ausschluss ist auf jeden Fall die rechtskräftige Verurteilung wegen einer oder mehrerer Straftaten der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, der Bestechung/Vorteilsnahme, des Betrugs oder der Geldwäsche, wie sie in den in Art. 45 Abs. 1 der Richtlinie 2004/18 angeführten Rechtsakten der Gemeinschaft definiert sind;

f)      die sich nach der begründeten Beurteilung des öffentlichen Auftraggebers bei der Erbringung der Leistungen, die der öffentliche Auftraggeber, der die Ausschreibung vorgenommen hat, an sie vergeben hat, grobe Fahrlässigkeit oder Bösgläubigkeit haben zuschulden kommen lassen oder die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit einen schwerwiegenden Irrtum begangen haben, der vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde.“

 Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.      Im Rahmen des nationalen operationellen Programms „Netze und Mobilität“ 2007–2013, das von der Europäischen Kommission genehmigt wurde, erhielt ANAS eine Finanzierung für die Durchführung eines Projekts zur Modernisierung einer Straße.

11.      Im Jahr 2012 vergab ANAS im Anschluss an eine Ausschreibung im nicht öffentlichen Verfahren auf der Grundlage des Kriteriums des wirtschaftlich günstigsten Angebots als öffentlicher Auftraggeber einen öffentlichen Auftrag für die Durchführung dieser Arbeiten an einen vorübergehenden Zusammenschluss der Unternehmen Aleandri SpA und CCC Società Cooperativa; die Arbeiten wurden zwischenzeitlich abgeschlossen.

12.      Aufgrund einer im Jahr 2020 durchgeführten strafrechtlichen Untersuchung wegen Vorteilsnahme gegen drei Beamte von ANAS, darunter zwei Mitglieder des Vergabeausschusses, bzw. wegen Bestechung gegen Aleandri und ihren gesetzlichen Vertreter(8) ordnete das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr die Rückforderung der im Rahmen der Finanzierung des genannten Projekts bereits an ANAS gezahlten Beträge an und erklärte, dass der noch nicht ausgezahlte Restbetrag nicht zu zahlen sei, da es bei der Vergabe des fraglichen Auftrags zu einer „Unregelmäßigkeit“ betrügerischer Art im Sinne von Art. 2 Abs. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 sowie der Art. 4 und 5 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95(9) gekommen sei.

13.      Mit ihrer Klage vor dem vorlegenden Gericht beantragt ANAS die Nichtigerklärung dieser Entscheidung und macht dabei geltend, dass sie nicht verurteilt worden sei(10), dass es keinerlei Beweis gebe, dass Aleandri den fraglichen Auftrag auf rechtswidrige Art und Weise erhalten habe und dass ein rechtswidriges Verhalten der Mitglieder des Vergabeausschusses für die Angebote ihr nicht zuzurechnen sei. Außerdem seien die betreffenden Bauarbeiten durchgeführt worden, so dass es keinen Zusammenhang zwischen der vermuteten Unregelmäßigkeit oder dem vermuteten Betrug und den aus dem allgemeinen Haushalt der Union finanzierten Ausgaben gebe.

14.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die betreffenden Bauarbeiten als für eine Finanzierung aus dem allgemeinen Haushalt der Union in Betracht kommend bewertet worden seien, dass sie ordnungsgemäß fertiggestellt worden seien und dass nicht bekannt sei, ob das Vergabeverfahren durch das Verhalten, das Gegenstand der oben genannten strafrechtlichen Untersuchung gewesen sei, beeinträchtigt worden sei. Somit habe es im Wesentlichen Zweifel hinsichtlich des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der Verordnung Nr. 1083/2006 und hinsichtlich der Modalitäten der Berechnung der finanziellen Berichtigung, die als Folge einer solchen Unregelmäßigkeit vorzunehmen sei, sowie hinsichtlich der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 in Bezug auf den fakultativen Ausschluss eines Bieters, der eine schwere berufliche Verfehlung begangen habe, von der Teilnahme an einem öffentlichen Auftrag.

15.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo per il Lazio (Verwaltungsgericht Latium) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006, Art. 27 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1828/2006(11), Art. 1 des Übereinkommens, das gestützt auf Art. K3 des Vertrags über die Europäische Union ausgearbeiteten Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995(12), Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie (EU) 2017/1371(13) dahin auszulegen, dass Verhaltensweisen, die abstrakt geeignet sind, einen Wirtschaftsteilnehmer in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu bevorzugen, stets unter den Begriff „Unregelmäßigkeit“ oder „Betrug“ fallen und sie daher die Rechtsgrundlage für die Rückforderung des Zuschusses darstellen, auch wenn nicht vollständig bewiesen ist, dass diese Verhaltensweisen tatsächlich verwirklicht wurden, oder nicht vollständig bewiesen ist, dass sie für die Auswahl des Empfängers maßgeblich waren?

2.      Steht Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 einer Vorschrift wie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 entgegen, der es nicht gestattet, von der Ausschreibung den Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, der versucht hat, auf den Entscheidungsprozess des öffentlichen Auftraggebers Einfluss zu nehmen, insbesondere wenn der Versuch in der Bestechung einiger Mitglieder des Vergabeausschusses bestanden hat?

3.      Falls eine der vorherigen Fragen bejaht wird oder beide bejaht werden: Sind die oben genannten Vorschriften dahin auszulegen, dass sie immer die Rückforderung des Zuschusses durch den Mitgliedstaat und die finanzielle Berichtigung durch die Kommission zu 100 % verlangen, obwohl diese Zuschüsse jedenfalls für den Zweck, für den sie bestimmt waren, und für ein Werk verwendet wurden, das für eine europäische Finanzierung in Betracht kam und tatsächlich realisiert wurde?

4.      Falls die dritte Frage verneint wird, d. h. dahin beantwortet wird, dass keine Rückforderung des Zuschusses bzw. keine finanzielle Berichtigung zu 100 % verlangt wird: Gestatten die in der ersten Frage genannten Vorschriften und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Rückforderung des Zuschusses und die finanzielle Berichtigung unter Berücksichtigung des dem Gesamthaushalt der Europäischen Union tatsächlich entstandenen finanziellen Schadens anzuordnen? Insbesondere: Können in einer Situation wie der im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden die „finanziellen Auswirkungen“ im Sinne von Art. 99 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1083/2006(14) durch Anwendung der Kriterien, die in der Tabelle in Abschnitt 2 des Beschlusses C(2013) 9527 der Kommission vom 19. Dezember 2013(15) (Leitlinien für die Festsetzung von Finanzkorrekturen, die die Kommission bei Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge auf von der EU im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung finanzierte Ausgaben anwendet, im Folgenden: Leitlinien von 2013) genannt werden, pauschal festgelegt werden?

16.      Schriftliche Erklärungen haben ANAS, die italienische Regierung und die Kommission eingereicht. Der Gerichtshof hat entschieden, gemäß Art. 76 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

 Würdigung

 Zur ersten Vorlagefrage

17.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006, Art. 27 Buchst. c der Verordnung Nr. 1828/2006, Art. 1 des SFI‑Übereinkommens, Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2017/1371 dahin auszulegen sind, dass Verhaltensweisen, die geeignet sind, einen Wirtschaftsteilnehmer in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu begünstigen, unter den Begriff „Unregelmäßigkeit“ oder „Betrug“ fallen und daher eine rechtliche Grundlage darstellen, die die Rückforderung des Zuschusses rechtfertigt, auch wenn diese Verhaltensweisen oder ihre Auswirkung auf das Auswahlverfahren nicht vollständig bewiesen sind.

18.      Auch wenn das vorlegende Gericht die Begriffe „Unregelmäßigkeit“ und „Betrug“ anspricht, weise ich vorab mit der Kommission darauf hin, dass sich die Würdigung auf die Frage konzentrieren sollte, ob die in Rede stehenden Verhaltensweisen unter den Begriff „Unregelmäßigkeit“ fallen, der den engeren Begriff „Betrug“ mitumfasst(16). Im Übrigen ist die erste Vorlagefrage nicht nur im Licht von Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 und Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95, die das vorlegende Gericht anführt, zu beurteilen, sondern auch und vor allem im Licht von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006, der den Begriff „Unregelmäßigkeit“ betrifft(17).

19.      Dies vorausgeschickt, weise ich darauf hin, dass die Verordnung Nr. 1083/2006 gemäß ihrem Art. 1 u. a. die Regeln für die Verwaltung, die Begleitung und die Kontrolle der von den Fonds finanziell unterstützten Maßnahmen auf der Grundlage der zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Verantwortung festlegt(18). Außerdem sind u. a. gemäß Art. 70 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung die Mitgliedstaaten zuständig für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und treffen insbesondere vorbeugende Maßnahmen gegen „Unregelmäßigkeiten“, decken sie auf und korrigieren sie und ziehen rechtsgrundlos gezahlte Beträge wieder ein.

20.      Hierbei betrifft gemäß Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung der Begriff „Unregelmäßigkeit“ insbesondere im Rahmen des EFRE jeden Verstoß gegen eine unionsrechtliche Bestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt oder bewirken würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste(19). Im Einzelnen hat der Gerichtshof ausgeführt, dass für das Vorliegen einer solchen Unregelmäßigkeit drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Es muss erstens ein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegen, zweitens muss dieser Verstoß auf einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers beruhen und drittens muss dem Unionshaushalt ein tatsächlicher oder potenzieller Schaden entstanden sein(20).

21.      Was als Erstes das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht betrifft, so ergibt sich aus Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006, dass die Union zur Finanzierung von Maßnahmen aus ihren Fonds nur insoweit berufen ist, als die betreffenden Maßnahmen in vollständigem Einklang mit dem Unionsrecht einschließlich der für die Vergabe öffentlicher Aufträge geltenden Vorschriften durchgeführt werden(21). Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 nicht nur Verstöße gegen eine Vorschrift des Unionsrechts als solches betrifft, sondern auch Verstöße gegen Vorschriften des nationalen Rechts, die für die von den Strukturfonds geförderten Vorhaben gelten und auf diese Weise dazu beitragen, die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts im Bereich der Verwaltung von Vorhaben, die von diesen Fonds gefördert werden, sicherzustellen(22).

22.      Hierzu erinnere ich erstens hinsichtlich der Feststellung der verletzten Vorschriften daran, dass gemäß Art. 2 der Richtlinie 2004/18 und den entsprechenden nationalen Vorschriften die öffentlichen Auftraggeber alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nicht diskriminierend behandeln und in transparenter Weise vorgehen müssen. Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu öffentlichen Aufträgen folgt auch, dass der Auftraggeber zur Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter verpflichtet ist(23).

23.      Ebenso wie die Kommission bin ich der Meinung, dass ein Verhalten, wie das, das einigen Beamten der ANAS vorgeworfen wird, nämlich dass sie von dem Unternehmen, das den Zuschlag erhalten habe, Zahlungen, die die Vergabe des Auftrags an dieses begünstigen sollten, angenommen hätten, zumindest einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung im Verfahren der Vergabe des Auftrags darstellt(24), unabhängig davon, ob es das fragliche Vergabeverfahren tatsächlich beeinträchtigt hat(25).

24.      Außerdem kann nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 der öffentliche Auftraggeber jeden Wirtschaftsteilnehmer, der im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, von der Teilnahme am Vergabeverfahren ausschließen. Ich bin der Meinung, dass das Vorliegen eines solchen Ausschlussgrundes, der fakultativ ist, der aber im italienischen Recht in Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 vorgesehen ist, den Tatbestand eines Verstoßes im Sinne der in Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung auch erfüllen würde(26).

25.      Zweitens hat das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich des Beweisniveaus, das erforderlich ist, um das Vorliegen eines Verstoßes und somit einer Unregelmäßigkeit nachzuweisen, und betont, dass im vorliegenden Fall der Nachweis des beanstandeten Verhaltens nicht vollständig erbracht wurde.

26.      Insoweit genügt die Feststellung, dass es in Ermangelung einer entsprechenden unionsrechtlichen Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, die Verfahrensmodalitäten für Klagen festzulegen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, einschließlich des für den Nachweis einer Unregelmäßigkeit erforderlichen Beweisniveaus, sofern diese Modalitäten den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz wahren(27).

27.      Dieser Ansatz, der bereits in Bezug auf die Grundsätze der Gleichheit und der Transparenz vorherrscht, auf die in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge hingewiesen worden ist, wird in Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 ausdrücklich anerkannt, dem zufolge, sofern diese Bestimmung im vorliegenden Fall einschlägig sein sollte(28), der öffentliche Auftraggeber jeden Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme am Vergabeverfahren ausschließen kann, der im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die vom öffentlichen Auftraggeber „nachweislich“ festgestellt wurde(29).

28.      Im vorliegenden Fall beschränke ich mich auf die Bemerkung, dass, wie die Kommission zu Recht hervorhebt, der Ausschluss wegen einer schweren Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit auf eine eigenständige Feststellung des öffentlichen Auftraggebers, dass ein solches unprofessionelles Verhalten vorliegt, gestützt werden muss, indem jeglicher Beweis, gegebenenfalls Feststellungen aus einem Strafverfahren, herangezogen wird, jedoch ohne Automatismus. Der Gerichtshof hat hierzu festgestellt, dass eine Gerichtsentscheidung, selbst wenn sie noch nicht rechtskräftig sei, je nach ihrem Gegenstand für den öffentlichen Auftraggeber ein geeigneter Nachweis zur Feststellung einer schweren Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit sein könne, da seine Entscheidung jedenfalls gerichtlich überprüfbar sei(30). Die gleichen Erwägungen gelten meines Erachtens für die Grundsätze der Gleichheit und der Transparenz, die in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge genannt worden sind.

29.      Als Zweites wird der Umstand, dass ein solcher Verstoß gegen das Unionsrecht oder das geltende nationale Recht auf ein Handeln oder Unterlassen eines Wirtschaftsteilnehmers zurückzuführen sein muss, im vorliegenden Fall nicht in Frage gestellt.

30.      Es sei jedenfalls darauf hingewiesen, dass ANAS sehr wohl ein „Wirtschaftsteilnehmer“(31) ist und dass der Begriff „Handlung oder Unterlassung“ kein subjektives Element erfordert. Denn der Gerichtshof hat festgestellt, dass dies, wenn die Definition des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 keine näheren Angaben dazu enthält, ob das Verhalten des betreffenden Begünstigten vorsätzlich oder fahrlässig sein müsse, nicht als zwingendes Tatbestandsmerkmal für die Feststellung einer Unregelmäßigkeit im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden könne(32).

31.      Was als Drittes einen Schaden betrifft, der dem Haushalt der Union wegen eines solchen Unterlassens entstanden ist, so folgt aus Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006, dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht oder das anwendbare nationale Recht, das auf Vorhaben anwendbar ist, die von den Fonds unterstützt werden, eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Vorschrift darstellt, wenn er bewirkt oder bewirkt haben würde, dass dem Gesamthaushaltsplan eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.

32.      Das vorlegende Gericht betont, dass im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen sei, dass dem Haushalt der Union ein Schaden entstanden sei.

33.      Der Gerichtshof hat diese Bestimmung jedoch dahin ausgelegt, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der genannten Vorschrift darstellt, soweit die Möglichkeit, dass dieser Verstoß Auswirkungen auf den Haushalt des betreffenden Fonds gehabt hat, nicht ausgeschlossen werden kann; dabei ist der Nachweis einer konkreten finanziellen Auswirkung nicht erforderlich(33).

34.      Im vorliegenden Fall bin ich der Ansicht, dass ein Verhalten wie das vom vorlegenden Gericht angeführte, das zumindest zu einem Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz führt, geeignet ist, das in Rede stehende Vergabeverfahren rechtswidrig zu beeinträchtigen, indem es das Unternehmen, das den Zuschlag erhalten hat, begünstigt. Ohne dass es erforderlich wäre, nachzuweisen, dass ein konkreter finanzieller Verlust eingetreten ist, lässt sich nicht ausschließen, dass der Zuschlag ohne dieses Verhalten an einen anderen erfolgreichen Bieter oder zu für den Unionshaushalt günstigeren Bedingungen erteilt worden wäre, was gemäß der in der vorstehenden Nummer zitierten Rechtsprechung die dritte Voraussetzung einbezieht, die in Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge genannt worden ist.

35.      Somit schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 7 und Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen sind, dass ein Verhalten, das sich nach der Beurteilung der zuständigen Behörden als geeignet erweist, einen Wirtschaftsteilnehmer in einem Vergabeverfahren zu begünstigen, unter den Begriff „Unregelmäßigkeit“ fällt und in der Regel die Einziehung des rechtsgrundlos erlangten Vorteils zur Folge hat, soweit die Möglichkeit, dass dieses Verhalten Auswirkungen auf den Haushalt des betreffenden Fonds gehabt hat, nicht ausgeschlossen werden kann.

 Zur zweiten Vorlagefrage

36.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 einer Bestimmung wie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 entgegensteht, die es nicht zulässt, einen Wirtschaftsteilnehmer vom Vergabeverfahren auszuschließen, der versucht hat, den Entscheidungsprozess des öffentlichen Auftraggebers zu beeinflussen, insbesondere wenn dieser Versuch darin bestand, die Mitglieder des Vergabeausschusses zu bestechen.

37.      Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 betrifft die Gründe für den Ausschluss eines Bieters vom Vergabeverfahren und bestimmt, dass ein Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme am Vergabeverfahren ausgeschlossen werden kann, wenn er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde.

38.      Bei der Umsetzung dieser Bestimmung in italienisches Recht schließt Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 u. a. Personen von der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe von Konzessionen und öffentlichen Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen aus, die bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit einen schwerwiegenden Irrtum begangen haben, der vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde.

39.      Das vorlegende Gericht legt diese Bestimmung dahin aus, dass sie es nicht erlaubt, einen Wirtschaftsteilnehmer vom Vergabeverfahren auszuschließen, der versucht hat, den Entscheidungsprozess des öffentlichen Auftraggebers zu beeinflussen, insbesondere durch Bestechungsversuche, während die italienische Regierung und die Kommission dagegen offenbar der Ansicht sind, dass die genannte Bestimmung es gemäß der italienischen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis erlaubt, den Versuch, den Entscheidungsprozess des öffentlichen Auftraggebers zu beeinflussen, in den Begriff des „schwerwiegenden Irrtums“ mit einzubeziehen(34).

40.      In diesem Zusammenhang erinnere ich zum einen daran, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs dem nationalen Gesetzgeber einen Spielraum hinsichtlich der Modalitäten der Umsetzung von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 lässt(35).

41.      Zum anderen ist der Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 – ebenso wie der von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 – meines Erachtens sehr weit gefasst und drückt den Begriff „nachweislich festgestelltes schweres Fehlverhalten im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ durch den entsprechenden Begriff „nachweislich festgestellter schwerwiegender Irrtum im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit“ aus(36). Hinzu kommt die von der Kommission festgestellte Tatsache, dass sich die fragliche nationale Vorschrift aufgrund ihrer weiten Formulierung unschwer im Einklang mit der Bestimmung, die sie umsetzt, auslegen lässt(37).

42.      Ohne in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts für die Auslegung des nationalen Rechts eingreifen zu wollen, scheint mir daher der Wortlaut der Umsetzungsvorschrift mit der umgesetzten Bestimmung in Einklang zu stehen(38).

43.      Darüber hinaus ist die Erheblichkeit der vom nationalen Gericht gestellten Frage nicht offensichtlich, da aus den dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen der Rechtssache nicht klar hervorgeht, dass die im vorliegenden Fall von den zuständigen Behörden festgestellte „Unregelmäßigkeit“ mit einem Verstoß gegen Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 in seiner Umsetzung durch Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 einhergeht und den öffentlichen Auftraggeber hätte veranlassen müssen, den Bieter, der später den Zuschlag für diesen Auftrag erhalten hat, vom Vergabeverfahren auszuschließen(39). Wie die Kommission betont, ist es im vorliegenden Fall schwierig, im Verhalten von ANAS eine Unregelmäßigkeit zu erkennen, weil sie den fraglichen Bieter nicht wegen eines schweren Fehlverhaltens im Rahmen der beruflichen Tätigkeit, das erst geraume Zeit nach der Zuschlagserteilung aufgedeckt wurde, vom Vergabeverfahren ausgeschlossen hat.

44.      Ich weise jedoch darauf hin, dass nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt hat und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat(40), und dass es im vorliegenden Fall nicht offensichtlich ist, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.

45.      Im Ergebnis schlage ich vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er grundsätzlich und unter Berücksichtigung der Verpflichtung, das nationale Recht im Einklang mit den Zielen dieser Bestimmung auszulegen, einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Personen von der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe von Konzessionen und öffentlichen Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen ausschließt, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit einen schwerwiegenden Irrtum begangen haben, der vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt worden ist.

 Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage

46.      Mit seiner dritten und seiner vierten Vorlagefrage, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Fall einer „Unregelmäßigkeit“ die in der ersten und der zweiten Frage angesprochenen Bestimmungen dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaat stets verpflichten, eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 100 % anzuwenden, und, falls dies verneint wird, nach welchen Kriterien dieser Berichtigungssatz unter Berücksichtigung dieser Vorschriften und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen ist.

47.      Insbesondere bezweifelt das Gericht, dass die Anwendung einer finanziellen Berichtigung von 100 % mit den genannten Vorschriften und dem genannten Grundsatz vereinbar ist, da die fraglichen Beiträge für Arbeiten verwendet wurden, die für eine Finanzierung der Europäischen Union in Betracht kommen und durchgeführt wurden. Es fragt sich, ob diese finanzielle Berichtigung nicht vielmehr unter Berücksichtigung des dem Gesamthaushalt der Union entstandenen wirtschaftlichen Schadens festgelegt werden sollte und ob die finanziellen Auswirkungen der festgestellten Mängel(41) pauschal unter Anwendung der Kriterien, die in den Leitlinien von 2013 in der Tabelle unter Titel 2 genannt sind, ermittelt werden können(42).

48.      Nach Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 obliegt es, wenn eine Unregelmäßigkeit festgestellt wird, den Mitgliedstaaten, die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen. Dabei wird der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen und die Höhe der anzuwendenden Berichtigung unter Berücksichtigung von drei Kriterien festgelegt, nämlich die Art der festgestellten Unregelmäßigkeit, ihr Schweregrad und der dem Fonds daraus entstandene finanzielle Verlust. Handelt es sich außerdem, wie im Ausgangsverfahren, um eine punktuelle und nicht um eine systembedingte Unregelmäßigkeit, impliziert dieses Erfordernis notwendigerweise eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller im Hinblick auf eines dieser drei Kriterien relevanten Umstände des jeweiligen Falles(43).

49.      Was erstens die Frage betrifft, ob jede Unregelmäßigkeit die Verpflichtung zur Anwendung einer finanziellen Berichtigung von 100 % auslöst, bin ich der Ansicht, dass eine solche Auslegung eindeutig gegen die in der vorstehenden Nummer genannten Grundsätze und die Rechtsprechung verstoßen würde, wonach die Mitgliedstaaten bei der Verhängung einer finanziellen Berichtigung als Folge einer Unregelmäßigkeit alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen müssen, einschließlich der Auswirkungen der Unregelmäßigkeit auf die Verwendung der Beiträge und die Durchführung der für eine Finanzierung in Frage kommenden Arbeiten(44).

50.      Diese Schlussfolgerung beinhaltet jedoch meines Erachtens nicht die Verpflichtung, die finanzielle Berichtigung unter allen Umständen auf den finanziellen Verlust zu beschränken, der dem betreffenden Fonds entstanden ist. Es gibt nämlich Situationen, in denen das Risiko, im Fall der Feststellung von Unregelmäßigkeiten einen begrenzten Verlust in Höhe des Teils zu erleiden, auf den sich die Unregelmäßigkeit bezieht, keine abschreckende Wirkung hätte. In solchen Situationen könnte die vollständige Einziehung der Finanzierung verhältnismäßig sein, unabhängig davon, ob ein entsprechender Verlust seitens des betreffenden Fonds nachgewiesen wurde(45), und ohne dass die Tatsache, dass das geförderte Vorhaben schließlich durchgeführt wurde, in dieser Hinsicht entscheidend wäre(46).

51.      Im vorliegenden Fall bin ich der Ansicht, dass Handlungen der Bestechung oder Vorteilsnahme oder entsprechende Versuche, an denen Mitglieder des Vergabeausschusses beteiligt waren, geeignet sind, einen besonders schwerwiegenden und tadelnswerten Verstoß darzustellen(47), unabhängig davon, ob ihre wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Haushalt der Union nachgewiesen werden, so dass ein solches Verhalten grundsätzlich geeignet ist, eine Berichtigung des Zuschusses um 100 % auszulösen, wobei es Sache der zuständigen nationalen Verwaltung ist, dies unter der Kontrolle des vorlegenden Gerichts im Licht der Umstände des Einzelfalls und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen und zu begründen.

52.      Was zweitens die Berechnung der Höhe der finanziellen Berichtigung betrifft, erinnere ich daran, dass die vom vorlegenden Gericht genannten Leitlinien von 2013, soweit sie die Festlegung der finanziellen Berichtigungen betreffen, die die Kommission bei Verstößen gegen die Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe auf die von der Union im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung finanzierten Ausgaben anwendet, auch Hinweise geben können, wenn die Mitgliedstaaten Unregelmäßigkeiten selbst korrigieren, auch wenn die Leitlinien für sie nicht verbindlich sind(48). Insbesondere im Abschnitt 1.3 der Leitlinien werden im ersten Absatz eine Reihe von Korrektursätzen (5 %, 10 %, 25 % und 100 %) genannt, die auf die Ausgaben im Rahmen eines Auftrags entsprechend der Schwere der Unregelmäßigkeit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angewendet werden, wenn sich die finanziellen Auswirkungen für den betreffenden Auftrag nicht genau beziffern lassen. Im zweiten Absatz dieses Abschnitts wird klargestellt, dass die Schwere einer Unregelmäßigkeit und die finanziellen Auswirkungen auf den Haushalt der Union unter Berücksichtigung des Ausmaßes des Wettbewerbs, der Transparenz und der Gleichbehandlung bewertet werden, wobei die Unregelmäßigkeit als schwerwiegend gilt, wenn der betreffende Verstoß abschreckende Wirkung auf potenzielle Bieter hat oder zur Vergabe des Auftrags an einen anderen Bieter als denjenigen führt, der den Auftrag hätte erhalten sollen. In diesem Abschnitt heißt es weiter, dass keine Korrekturen vorgenommen werden, wenn die Unregelmäßigkeit lediglich formaler Art ist und keine tatsächlichen oder potenziellen finanziellen Auswirkungen hat (dritter Absatz), während in besonders schweren Fällen eine Finanzkorrektur von 100 % vorgenommen werden kann, wenn die Unregelmäßigkeit einen oder mehrere Bieter oder Bewerber begünstigt oder wenn ein zuständiges Gericht oder eine Verwaltungsbehörde einen Betrug im Zusammenhang mit der Unregelmäßigkeit nachgewiesen hat (sechster Absatz).

53.      Diese Leitlinien geben dem vorlegenden Gericht somit bei der Berechnung der Höhe der finanziellen Berichtigung relevante Kriterien an die Hand, um diese unter Berücksichtigung des dem Gesamthaushalt der Union entstandenen finanziellen Verlusts im Sinne von Art. 98 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006(49) zu bestimmen.

54.      Im Ergebnis schlage ich vor, auf die dritte und die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 98 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass das Vorliegen einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung die zuständigen nationalen Behörden zwar systematisch verpflichtet, eine finanzielle Berichtigung vorzunehmen, dass aber die Höhe der anwendbaren Berichtigung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festzulegen ist, indem alle konkreten Umstände, die relevant sind, nämlich Art und Schweregrad der festgestellten Unregelmäßigkeit sowie der daraus dem betreffenden Fonds entstandene finanzielle Verlust, berücksichtigt werden, ohne diese Behörden jedoch zu verpflichten, die finanzielle Berichtigung unter allen Umständen auf den diesem Fonds entstandenen finanziellen Verlust zu beschränken, so dass ein besonders schwerwiegender und tadelnswerter Verstoß grundsätzlich geeignet ist, eine Berichtigung des Beitrags um 100 % auszulösen, unabhängig davon, ob eine wirtschaftliche Auswirkung auf den Haushalt der Union nachgewiesen wird.

 Ergebnis

55.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Fragen des Tribunale amministrativo per il Lazio (Verwaltungsgericht Latium, Italien) wie folgt zu antworten:

1.      Art. 2 Nr. 7 und Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999

sind dahin auszulegen, dass

ein Verhalten, das sich nach der Beurteilung der zuständigen Behörden als geeignet erweist, einen Wirtschaftsteilnehmer im Lauf eines Vergabeverfahrens zu begünstigen, unter den Begriff „Unregelmäßigkeit“ fällt und in der Regel die Einziehung des rechtsgrundlos erlangten Vorteils zur Folge hat, soweit die Möglichkeit, dass dieses Verhalten Auswirkungen auf den Haushalt des betreffenden Fonds gehabt hat, nicht ausgeschlossen werden kann.

2.      Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge

ist |dahin auszulegen, dass

er grundsätzlich und unter Berücksichtigung der Verpflichtung, das nationale Recht im Einklang mit den Zielen dieser Bestimmung auszulegen, einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Personen von der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe von Konzessionen und öffentlichen Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen ausschließt, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit einen schwerwiegenden Irrtum begangen haben, der vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde.

3.      Art. 98 der Verordnung Nr. 1083/2006

ist dahin auszulegen, dass

das Vorliegen einer „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung die zuständigen nationalen Behörden zwar systematisch verpflichtet, eine finanzielle Berichtigung vorzunehmen, dass aber die Höhe der anwendbaren Berichtigung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festzulegen ist, indem alle konkreten Umstände, die relevant sind, nämlich Art und Schweregrad der festgestellten Unregelmäßigkeit sowie der daraus dem betreffenden Fonds entstandene finanzielle Verlust berücksichtigt werden, ohne diese Behörden jedoch zu verpflichten, die finanzielle Berichtigung unter allen Umständen auf den diesem Fonds entstandenen finanziellen Verlust zu beschränken, so dass ein besonders schwerwiegender und tadelnswerter Verstoß grundsätzlich geeignet ist, eine Berichtigung des Zuschusses um 100 % auszulösen, unabhängig davon, ob eine wirtschaftliche Auswirkung auf den Haushalt der Union nachgewiesen wird.



















































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