C-539/19 – Telefónica Germany

C-539/19 – Telefónica Germany

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:634

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

3. September 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Europäischen Union – Verordnung (EU) Nr. 531/2012 – Art. 6a – Art. 6e Abs. 3 – Pflicht des Roaminganbieters zur automatischen Anwendung des regulierten Roamingtarifs – Anwendung auf Verbraucher, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 einen spezifischen Roamingtarif gewählt hatten“

In der Rechtssache C‑539/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht München I (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 2019, in dem Verfahren

Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V.

gegen

Telefónica Germany GmbH & Co. OHG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J. Malenovský und N. Wahl (Berichterstatter),

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, vertreten durch Rechtsanwalt H. Plassmeier,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und L. Nicolae als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union (ABl. 2012, L 172, S. 10) in der durch die Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 (ABl. 2015, L 310, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 531/2012).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, einer Anbieterin von Telekommunikationsdiensten, die u. a. unter dem Namen „O2“ tätig ist, und dem Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (Deutschland) (im Folgenden: Bundesverband) über dessen Unterlassungsklage gegen die Verfahrensweise von O2 in Bezug auf die Modalitäten der Umstellung auf den neuen auf Unionsebene regulierten Roamingtarif nach Abschaffung der Endkunden-Roamingaufschläge in der Union mit Wirkung vom 15. Juni 2017.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 531/2012

3        In Art. 2 Abs. 2 Buchst. r der Verordnung Nr. 531/2012 wird der „inländische Endkundenpreis“ wie folgt definiert:

„‚inländischer Endkundenpreis‘ ist das inländische Endkundenentgelt pro Einheit, das der Roaminganbieter für Anrufe und versendete SMS-Nachrichten (die in verschiedenen öffentlichen Kommunikationsnetzen im selben Mitgliedstaat abgehen und ankommen) und für die von einem Kunden genutzten Daten berechnet. Falls es kein spezifisches inländisches Endkundenentgelt pro Einheit gibt, ist davon auszugehen, dass für den inländischen Endkundenpreis derselbe Mechanismus zur Berechnung des Entgelts angewandt wird wie wenn der Kunde den Inlandstarif für Anrufe und versendete SMS-Nachrichten (die in verschiedenen öffentlichen Kommunikationsnetzen im selben Mitgliedstaat abgehen und ankommen) sowie genutzte Daten in seinem Mitgliedstaat nutzen würde“.

4        Art. 6a („Abschaffung von Endkunden-Roamingaufschlägen“) dieser Verordnung bestimmt:

„Roaminganbieter dürfen ihren Roamingkunden ab dem 15. Juni 2017, … vorbehaltlich der Artikel 6b und 6c, für die Abwicklung abgehender oder ankommender regulierter Roaminganrufe, für die Abwicklung versendeter regulierter SMS-Roamingnachrichten oder für die Nutzung regulierter Datenroamingdienste, einschließlich MMS-Nachrichten, im Vergleich mit dem inländischen Endkundenpreis in einem Mitgliedstaat weder zusätzliche Entgelte noch allgemeine Entgelte für die Nutzung von Endgeräten oder von Dienstleistungen im Ausland berechnen.“

5        In Art. 6b („Angemessene Nutzung“) der Verordnung heißt es:

„(1)      Roaminganbieter können … eine Regelung der angemessenen Nutzung (‚Fair Use Policy‘) für die Inanspruchnahme regulierter Roamingdienste auf Endkundenebene, die zu dem geltenden inländischen Endkundenpreis bereitgestellt werden, anwenden, um eine zweckwidrige oder missbräuchliche Nutzung regulierter Roamingdienste auf Endkundenebene durch Roamingkunden zu vermeiden, wie etwa die Nutzung solcher Dienste durch Roamingkunden in einem Mitgliedstaat, der nicht der ihres jeweiligen Anbieters ist, für andere Zwecke als vorübergehende Reisen.

Eine Regelung zur angemessenen Nutzung ermöglicht den Kunden eines Roaminganbieters die Nutzung von regulierten Endkunden-Roamingdiensten zu dem anwendbaren inländischen Endkundenpreis in einem Umfang, der ihren Tarifen entspricht.

(2)      Artikel 6e gilt für regulierte Roamingdienste auf Endkundenebene, die über die Beschränkungen im Rahmen einer Regelung zur angemessene Nutzung hinausgehen.“

6        Art. 6c („Tragfähigkeit der Abschaffung der Endkunden-Roamingaufschläge“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 531/2012 sieht vor:

„Wenn ein Roaminganbieter bei Vorliegen bestimmter und außergewöhnlicher Umstände seine gesamten tatsächlichen und veranschlagten Kosten der Bereitstellung regulierter Roamingdienste gemäß den Artikeln 6a und 6b nicht aus seinen gesamten tatsächlichen und veranschlagten Einnahmen aus der Bereitstellung dieser Dienste decken kann, so darf er eine Genehmigung zur Erhebung eines Aufschlags beantragen, um die Tragfähigkeit seines inländischen Entgeltmodells sicherzustellen. Dieser Aufschlag darf nur in dem Umfang angewandt werden, der erforderlich ist, um die Kosten der Erbringung regulierter Endkunden-Roamingdienste unter Beachtung der für Großkundenentgelte zulässigen Höchstbeträge zu decken.“

7        Art. 6e („Bereitstellung regulierter Roamingdienste auf Endkundenebene“) dieser Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1)      Erhebt ein Roaminganbieter einen Aufschlag für die Nutzung regulierter Roamingdienste auf Endkundenebene, die über die Grenzen der angemessenen Nutzung hinausgeht, so muss dieser Aufschlag unbeschadet des Unterabsatzes 2 folgende Anforderungen (ohne MwSt.) erfüllen:

(3)      Die Roaminganbieter können einen anderen als den nach den Artikeln 6a, 6b und 6c und Absatz 1 des vorliegenden Artikels festgelegten Roamingtarif anbieten, und Roamingkunden können sich bewusst für einen solchen Tarif entscheiden, aufgrund dessen ihnen für regulierte Roamingdienste ein anderer Tarif zugutekommt, als ihnen ohne eine solche Wahl eingeräumt worden wäre. Der Roaminganbieter muss diese Roamingkunden auf die Art der Roamingvorteile, die sie dadurch verlieren würden, nochmals hinweisen.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 wenden die Roaminganbieter auf alle bestehenden und neuen Roamingkunden einen nach den Artikeln 6a und 6b und Absatz 1 des vorliegenden Artikels bestimmten Tarif automatisch an.

Alle Roamingkunden können jederzeit zu einem Tarif nach den Artikeln 6a, 6b und 6c und Absatz 1 dieses Artikels oder von diesem Tarif zu einem anderen Tarif wechseln. Wenn sich ein Roamingkunde bewusst dafür entscheidet, von dem nach den Artikeln 6a, 6b und 6c oder Absatz 1 des vorliegenden Artikels festgelegten Tarif zu einem anderen Tarif zu wechseln oder dorthin zurückzuwechseln, so erfolgt der Tarifwechsel binnen eines Arbeitstags ab dem Eingang des entsprechenden Antrags entgeltfrei und darf keine Bedingungen oder Einschränkungen nach sich ziehen, die sich auf andere Elemente des Vertrags als das Roaming beziehen. Die Roaminganbieter können den Tarifwechsel aufschieben, bis der zuvor geltende Roamingtarif während eines festgelegten Mindestzeitraums von höchstens zwei Monaten wirksam gewesen ist.“

8        Art. 6f („Übergangsweise anwendbare Endkunden-Roamingaufschläge“) der Verordnung lautet:

„(1)      Die Roaminganbieter können ab dem 30. April 2016 bis zum 14. Juni 2017 zusätzlich zu dem inländischen Endkundenpreis für die Bereitstellung regulierter Endkunden-Roamingdienste einen Aufschlag berechnen.

(2)      Während des in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraums findet Artikel 6e sinngemäß Anwendung.“

9        Art. 14 („Transparenz der Endkundenentgelte für Roaminganrufe und SMS-Roamingnachrichten“) der Verordnung Nr. 531/2012 sieht in Abs. 3 vor:

„Die Roaminganbieter geben allen Kunden bei Vertragsabschluss vollständige Informationen über die jeweils geltenden Roamingentgelte. Außerdem informieren sie ihre Roamingkunden ohne unnötige Verzögerung über die aktualisierten Roamingentgelte, sobald diese geändert werden.

Danach übermitteln die Roaminganbieter allen Kunden, die einen anderen Tarif gewählt haben, in angemessenen Abständen einen Erinnerungshinweis.“

 Verordnung 2015/2120

10      Die Erwägungsgründe 21 und 25 der Verordnung 2015/2120 lauten:

„(21)      In der [Verordnung Nr. 531/2012 in ihrer ursprünglichen Fassung] ist als politisches Ziel festgelegt, dass der Unterschied zwischen Roaming- und Inlandstarifen gegen Null gehen sollte. Allerdings lässt sich das letztendliche Ziel der Beseitigung der Unterschiede zwischen Inlands- und Roamingentgelten aufgrund des beobachteten Niveaus der Großkundenentgelte nicht in nachhaltiger Weise erreichen. Daher sieht die vorliegende Verordnung vor, dass die Roamingaufschläge für Endkunden bis zum 15. Juni 2017 abgeschafft werden, vorausgesetzt, die derzeit beobachteten Fragen auf den Großkunden-Roamingmärkten sind geklärt worden. In diesem Zusammenhang sollte die [Europäische] Kommission eine Überprüfung des Großkunden-Roamingmarkts vornehmen und anhand des Ergebnisses dieser Überprüfung einen Gesetzgebungsvorschlag vorlegen.

(25)      Um zu gewährleisten, dass der Übergang von der Verordnung [Nr. 531/2012 in ihrer ursprünglichen Fassung] zur Abschaffung der Roamingaufschläge reibungslos erfolgt, sollte in der vorliegenden Verordnung eine Übergangszeit vorgesehen werden, während der Roaminganbieter einen Aufschlag auf die Inlandspreise für die bereitgestellten regulierten Endkunden-Roamingdienste erheben können sollten. Mit dieser Übergangsregelung sollte die grundlegende Änderung des Ansatzes bereits in der Weise vorbereitet werden, dass unionsweites Roaming als fester Bestandteil in die Inlandstarife aufgenommen wird, die auf den verschiedenen Inlandsmärkten angeboten werden. Somit sollten bei der Übergangsregelung die jeweiligen Inlands-Endkundenpreise als Ausgangspunkt dienen, auf die gegebenenfalls ein Aufschlag erhoben werden kann, der nicht höher als der in der Zeit unmittelbar vor dem Übergang geltende zulässige Höchstbetrag für das Großkunden-Roamingentgelt sein darf. Eine solche Übergangsregelung sollte ferner eine erhebliche Preissenkung für Endkunden ab dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung sicherstellen und sollte bei Hinzufügung des Aufschlags auf den inländischen Endkundenpreis auf keinen Fall zu einem höheren Endkunden-Roamingpreis als dem in der Zeit unmittelbar vor dem Übergangszeitraum geltenden zulässigen Höchstbetrag für das regulierte Endkunden-Roamingentgelt führen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11      Telefónica Germany ist eine Anbieterin von Telekommunikationsdiensten, die unter dem Namen „O2“ u. a. Mobilfunkdienste anbietet.

12      Nach Erlass der Verordnung 2015/2120 veröffentlichte O2 auf ihrer Website www.o2online.de Informationen über die Modalitäten der Umstellung auf den neuen auf Unionsebene regulierten Roamingtarif, der grundsätzlich dem Dienst „Roam like at home“ (Roaming zu Inlandspreisen) (im Folgenden: RLAH) entspricht. Im Einzelnen ist unter der Rubrik „Allgemeine Informationen“ dieser Website Folgendes ausgeführt:

„Alle O2 Kunden können ab dem 22.05.2017 den Wechsel in den regulierten EU-Roaming-Tarif per SMS vornehmen. Hierfür schickst du bitte eine SMS mit dem Kennwort ,JA‘ an die 65544. Du wirst dann automatisch auf den regulierten Tarif umgestellt. Nach erfolgreicher Umstellung erhältst du eine Bestätigungs-SMS.“

13      Unter der Überschrift „Wie bekommt man den regulierten EU- Roaming-Tarif?“ heißt es auf der Website:

„Grundsätzlich kannst du jederzeit ganz einfach per O2 App in den regulierten EU-Roaming-Tarif wechseln. Alle O2 Kunden können ab dem 22.05.2017 den Wechsel in den regulierten EU-Roaming-Tarif zusätzlich per SMS vornehmen. Hierfür schickst du bitte eine SMS mit dem Kennwort ,JA‘ an die 65544. Du wirst dann automatisch auf den regulierten Tarif umgestellt. Nach erfolgreicher Umstellung erhältst du eine Bestätigungs-SMS.

Sofern du dich bereits heute im regulierten EU-Roaming-Tarif (auch ,Roaming Basic‘ bzw. ,Weltzonenpack‘ und ,Mobiles Internet Ausland‘ genannt) befindest, wirst du bis zum 15.06.2017 umgestellt, ohne dass du hierfür etwas veranlassen musst. Dein jetziger regulierter Roaming-Tarif wird dann automatisch in den neuen regulierten EU Roaming-Tarif überführt, so dass für dich ab dem 15.06.2017 die Inlandskonditionen deines Tarifes (für Gespräche, SMS und Daten) auch im EU-Ausland gelten.“

14      Nach Ansicht des Bundesverbands wurde laut den auf der Website von O2 angegebenen Modalitäten der Umstellung auf den neuen regulierten Roamingtarif von den Kunden von O2, die sich vor dem 15. Juni 2017 in einem anderen Tarif als dem regulierten Roamingtarif (im Folgenden: anderer Tarif oder alternativer Tarif) befanden, im Wesentlichen verlangt, O2 gegenüber eine gesonderte Erklärung per SMS und/oder über die O2‑App abzugeben, um die Vorteile des neuen regulierten Roamingtarifs, insbesondere des RLAH, zu erhalten. Da der Bundesverband der Auffassung war, dass diese Praxis u. a. gegen Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 verstoße, erhob er beim vorlegenden Gericht, dem Landgericht München I (Deutschland), Klage auf Unterlassung dieser Praxis.

15      Im Rahmen dieser Klage macht der Bundesverband geltend, dass der RLAH nach diesen Bestimmungen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung, dem 15. Juni 2017, automatisch auf alle Verbraucher habe angewandt werden müssen. O2 sei daher verpflichtet, alle ihre Kunden automatisch auf den RLAH umzustellen, unabhängig davon, ob sie zuvor den alternativen Tarif gewählt hätten oder nicht. Folglich könne O2 von ihren Kunden, die sich in dem anderen Tarif befunden hätten, nicht verlangen, dass sie, um in den Genuss des RLAH zu kommen, ihren Willen zum Tarifwechsel bekundeten.

16      Telefónica Germany trägt ihrerseits vor, dass im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 531/2012 zwei Arten von Roamingtarifen zu unterscheiden seien, nämlich der regulierte Tarif und der sogenannte „alternative“ Tarif. Der regulierte Tarif sei ein Standardtarif, bei dem grundsätzlich keine Aufschläge auf den inländischen Endkundentarif erhoben werden dürften, während der alternative Tarif vom inländischen Endkundentarif abweichende Bedingungen vorsehen dürfe. Die Verordnung verlange für Kunden, die sich bereits vor dem 15. Juni 2017 im regulierten Tarif befunden hätten, eine automatische Anwendung des RLAH. Die Pflicht zur automatischen Umstellung auf den RLAH gelte nach Art. 6e Abs. 3 der Verordnung jedoch nicht für Kunden, die sich zum 15. Juni 2017 im alternativen Tarif befunden hätten.

17      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Frage, ob ab dem 15. Juni 2017 der neue regulierte Roamingtarif automatisch auf alle Kunden anzuwenden gewesen sei, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich, zumal O2 selbst nach dem Stichtag des 15. Juni 2017 nicht sämtlichen Kunden, die sich im alternativen Tarif befunden hätten, den neuen regulierten Tarif gewährt habe.

18      Unter diesen Umständen hat das Landgericht München I das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 so auszulegen, dass Mobilfunkanbieter zum 15. Juni 2017 alle Kunden automatisch auf den regulierten Tarif nach Art. 6a der Verordnung Nr. 531/2012 umstellen müssen, unabhängig davon, ob diese Kunden bis dahin einen regulierten Tarif oder einen speziellen, sogenannten alternativen Roaming-Tarif besaßen?

 Zur Vorlagefrage

19      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 dahin auszulegen sind, dass der neue regulierte Roamingtarif nach Art. 6a dieser Verordnung mit Wirkung vom 15. Juni 2017 nicht nur für Kunden automatisch gilt, die bereits über einen regulierten Roamingtarif verfügten, sondern auch für Kunden, die bis zu diesem Zeitpunkt einen anderen Tarif gewählt hatten.

20      Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 3. Oktober 2019, Wasserleitungsverband Nördliches Burgenland u. a., C‑197/18, EU:C:2019:824, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Erstens ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut von Art. 6a der Verordnung Nr. 531/2012 die Umstellung auf den RLAH mit Wirkung vom 15. Juni 2017 allgemein für die „Roamingkunden … in einem Mitgliedstaat“ erfolgen sollte, ohne dass diese Bestimmung Ausnahmen oder Vorbehalte in Bezug auf diese „Roamingkunden“ und erst recht keine Vorbehalte in Bezug auf die Frage enthält, ob die Kunden bisher einen anderen Tarif besaßen. Die einzigen in Art. 6a der Verordnung Nr. 531/2012 angeführten Vorbehalte ergeben sich nämlich aus Art. 6b („Angemessene Nutzung“) und Art. 6c („Tragfähigkeit der Abschaffung der Endkunden-Roamingaufschläge“) dieser Verordnung, die den Rahmen festlegen, in dem die Roaminganbieter eine Regelung für die angemessene Nutzung des RLAH anwenden können bzw. ausnahmsweise einen Roamingaufschlag erheben können.

22      Ferner wird der Automatismus bei der Umstellung aller Kunden auf den regulierten Roamingtarif durch den Wortlaut von Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 bestätigt.

23      Zum einen ermöglicht nämlich der erste Unterabsatz dieser Bestimmung den Roaminganbietern, einen „anderen als den nach den Artikeln 6a, 6b und 6c … festgelegten Roamingtarif [anzubieten]“, und den Roamingkunden, „sich bewusst für einen solchen Tarif [zu] entscheiden, aufgrund dessen ihnen … ein anderer Tarif zugutekommt, als ihnen ohne eine solche Wahl eingeräumt worden wäre“. Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 führt somit eine Ausnahmeregelung („Opt-out“) ein, wonach – im Wesentlichen – ein Kunde, wenn er auf den RLAH verzichten möchte, dies ausdrücklich zu erklären hat. Diese Auslegung wird außerdem durch den letzten Satz des ersten Unterabsatzes dieser Bestimmung bestätigt, nach dem „[d]er Roaminganbieter … diese Roamingkunden auf die Art der Roamingvorteile, die sie … verlieren würden, [wenn sie einen anderen als den nach den Art. 6a, 6b und 6c dieser Verordnung festgelegten Roamingtarif wählen sollten,] nochmals hinweisen [muss]“. Auch legt der Wortlaut dieser Bestimmung keinen zeitlichen Rahmen für deren Anwendung fest, was den Schluss zulässt, dass ein solches „Opt-out“ auch vor dem Stichtag des 15. Juni 2017 erfolgen konnte. Für ein solches „Opt-out“ vor diesem Zeitpunkt und die Beibehaltung eines anderen Tarifs nach diesem Zeitpunkt mussten die Roaminganbieter die betreffenden Kunden vor diesem Zeitpunkt kontaktieren, um sie zu fragen, ob sie ihren anderen Tarif beibehalten wollten, und sie „auf die Art der Roamingvorteile, die sie dadurch verlieren würden, nochmals hinweisen“. Gemäß dieser Regel erhielt der Kunde, wenn er die Frage verneinte oder nicht antwortete, automatisch den RLAH-Tarif.

24      Zum anderen bestätigt Art. 6e Abs. 3 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 531/2012, dass die „Roaminganbieter auf alle bestehenden und neuen Roamingkunden [den regulierten Roamingtarif] automatisch [anwenden]“. Diese automatische Anwendung betrifft daher eindeutig „alle Kunden“, ohne dass nach dem Kundenprofil oder dem bisher für sie geltenden Tarif unterschieden würde. In diesem Sinne dient der einleitende Satzteil dieses zweiten Unterabsatzes („[u]nbeschadet des Unterabsatzes 1“) der Hervorhebung, dass der andere Tarif auch nach dem Inkrafttreten des RLAH-Tarifs weiterhin angeboten werden kann, sofern die Voraussetzungen von Art. 6e Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 531/2012 erfüllt sind und insbesondere der Kunde „sich bewusst [dafür entschieden]“ hat.

25      Zweitens ist zum Zusammenhang, in dem Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 stehen, festzustellen, dass diese Bestimmungen durch die Verordnung 2015/2120 eingeführt worden sind, um die Endkunden-Roamingaufschläge in der Union zu beseitigen.

26      Wie sich nämlich aus dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/2120 ergibt, hat der Unionsgesetzgeber festgestellt, dass sich die Beseitigung der Unterschiede zwischen Inlands- und Roamingentgelten, die, wie dem dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 531/2012 in ihrer ursprünglichen Fassung zu entnehmen ist, das letztendliche Ziel dieser Verordnung war, aufgrund des beobachteten Niveaus der Großkundenentgelte nicht in nachhaltiger Weise erreichen ließ, weshalb entschieden wurde, die Endkunden-Roamingaufschläge bis zum 15. Juni 2017 zu beseitigen.

27      Dass diese Umstellung auf den RLAH automatisch erfolgt, geht auch aus dem 25. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/2120 hervor, der eine „Übergangszeit …, während der Roaminganbieter einen Aufschlag auf die Inlandspreise … erheben können sollten“, vorsieht, ohne jedoch auf den anderen Tarif Bezug zu nehmen oder auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Anwendung des RLAH von einer entsprechenden Erklärung der Kunden gegenüber den Anbietern abhängig zu machen.

28      Hierbei ist zu beachten, dass die Verordnung Nr. 531/2012 in ihrer ursprünglichen Fassung zwar darauf abzielte, auf Unionsebene das Endkunden-Roaminghöchstentgelt über einen regulierten Tarif, den sogenannten „Eurotarif“, festzulegen, und vorsah, dass dieser ab dem 1. Juli 2012 automatisch für alle bestehenden Roamingkunden mit Ausnahme derjenigen galt, die bereits bewusst einen anderen Roamingtarif gewählt hatten als denjenigen, der ihnen ohne diese Wahl eingeräumt worden wäre. Dies belegen die Erwägungsgründe 48 und 77 der Verordnung Nr. 531/2012 in ihrer ursprünglichen Fassung sowie Art. 8 Abs. 2 und 3 dieser Verordnung für den „Sprach-Eurotarif“, Art. 10 Abs. 2 und 4 der Verordnung für den „SMS-Eurotarif“ und Art. 13 Abs. 2 und 3 der Verordnung für den „Daten-Eurotarif“.

29      Alle diese Bestimmungen der ursprünglichen Fassung der Verordnung Nr. 531/2012 über die automatische Anwendung des Eurotarifs wurden jedoch nicht nur aufgehoben, sondern entsprachen auch einer anderen ratio legis, wonach der Kunde einen anderen Tarif erhalten konnte, der niedriger als der Eurotarif war. So bezieht sich u. a. Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 in ihrer ursprünglichen Fassung auf einen „Tarif …, der nachweislich niedriger als der Daten-Eurotarif ist“.

30      Dagegen ist im Fall des RLAH ein Preisunterschied zwischen dem anderen Roamingtarif in der Union und dem regulierten Roamingtarif grundsätzlich ausgeschlossen.

31      Ohne auszuschließen, dass die automatische Umstellung auf den RLAH in bestimmten Fällen aufgrund einer etwaigen Neuanpassung des Roamingvertrags zum Entzug bestimmter Vorteile im Zusammenhang mit den individuellen Bedürfnissen eines Kunden führen könnte, ist daher der Wille des Unionsgesetzgebers, der automatischen Einführung des RLAH für alle Kunden den Vorzug zu geben, eindeutig.

32      Drittens wird diese Auslegung durch das mit der Verordnung Nr. 531/2012 verfolgte Ziel bestätigt, das, wie sich aus ihrem Art. 1 Abs. 2 und dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/2120 ergibt, darin besteht, „einen Binnenmarkt für Mobilfunkdienste zu schaffen, auf dem schließlich nicht mehr zwischen Inlands- und Roamingtarifen unterschieden wird“. Während also die automatische Umstellung auf den RLAH für alle Roamingkunden mit diesem Ziel voll und ganz im Einklang steht, könnte das Erfordernis einer Aktivierung des RLAH mittels einer ausdrücklichen Willensbekundung („Opt‑in“) in Fällen, in denen der andere Tarif weiterhin über dem nationalen Tarif liegt, diesem Ziel zuwiderlaufen.

33      Insoweit ist zu betonen, dass die „Opt‑in“- und „Opt‑out“-Regelungen für die Kunden zu vergleichbaren Unannehmlichkeiten führen, da sie beide die Kunden dazu anhalten, ihren Willen gegenüber dem Roaminganbieter zu bekunden. Der Unionsgesetzgeber war jedoch der Ansicht, dass die Regelung der automatischen Umstellung auf den RLAH die Regelung ist, die es – u. a. deshalb, weil bei einer Ausnahmeregelung („Opt‑out“) das Schweigen als Zustimmung zum RLAH gilt – mit größerer Wirksamkeit ermöglicht, das mit der Verordnung Nr. 531/2012 verfolgte Ziel der Schaffung des Binnenmarkts für Mobilfunkdienste, ohne zwischen Inlands- und Roamingtarifen zu unterscheiden, zu erreichen.

34      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung Nr. 531/2012 dahin auszulegen sind, dass die Roaminganbieter ab dem 15. Juni 2017 verpflichtet waren, den u. a. in Art. 6a dieser Verordnung vorgesehenen regulierten Roamingtarif automatisch auf alle ihre Kunden anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob die Kunden zuvor einen regulierten Roamingtarif oder einen anderen Tarif gewählt hatten, es sei denn, dass sie vor dem Stichtag des 15. Juni 2017 gemäß dem dafür in Art. 6e Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung vorgesehenen Verfahren ausdrücklich erklärt haben, dass sie einen solchen anderen Tarif nutzen möchten.

 Kosten

35      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 6a und Art. 6e Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union in der durch die Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Roaminganbieter ab dem 15. Juni 2017 verpflichtet waren, den u. a. in Art. 6a dieser Verordnung vorgesehenen regulierten Roamingtarif automatisch auf alle ihre Kunden anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob die Kunden zuvor einen regulierten Roamingtarif oder einen anderen Tarif als den regulierten Roamingtarif gewählt hatten, es sei denn, dass sie vor dem Stichtag des 15. Juni 2017 gemäß dem dafür in Art. 6e Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung vorgesehenen Verfahren ausdrücklich erklärt haben, dass sie einen solchen anderen Tarif nutzen möchten.

Rossi

Malenovský

Wahl

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. September 2020.

Der Kanzler

 

Die Präsidentin der Achten Kammer

A. Calot Escobar

 

L. S. Rossi



Leave a Comment

Schreibe einen Kommentar