C-526/19 – Entoma

C-526/19 – Entoma

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:769

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

1. Oktober 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Lebensmittelsicherheit – Neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten – Verordnung (EG) Nr. 258/97 – Art. 1 Abs. 2 Buchst. e – Begriff „Aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ – Inverkehrbringen – Für den menschlichen Verzehr bestimmte ganze Insekten“

In der Rechtssache C‑526/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 28. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juli 2019, in dem Verfahren

Entoma SAS

gegen

Ministre de l’Économie et des Finances,

Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter J. Malenovský, F. Biltgen und N. Wahl (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Entoma SAS, vertreten durch F. Molinié, avocat,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und C. Mosser als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo und G. Damiani, avvocati dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hödlmayr und C. Valero als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juli 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl. 1997, L 43, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 (ABl. 2009, L 188, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 258/97).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Entoma SAS und dem Ministre de l’Économie et des Finances (Minister für Wirtschaft und Finanzen) sowie dem Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation (Minister für Landwirtschaft und Ernährung) über die Verfügung des Präfekten, mit dem zum einen die Aussetzung des Inverkehrbringens von zum menschlichen Verzehr bestimmten, ganzen Insekten durch Entoma sowie zum anderen die Rücknahme dieser Insekten vom Markt bis zur Erteilung einer Genehmigung für ihr Inverkehrbringen nach einer Prüfung ihrer Unbedenklichkeit für die Gesundheit des Verbrauchers angeordnet wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 258/97

3        In den Erwägungsgründen 1 und 2 der Verordnung Nr. 258/97 heißt es:

„(1)      Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über neuartige Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutaten können den freien Verkehr mit Lebensmitteln behindern [und] zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen führen und dadurch das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes unmittelbar beeinträchtigen;

(2)      Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ist dafür Sorge zu tragen, dass neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten einer einheitlichen Sicherheitsprüfung in einem [Unionsverfahren] unterliegen, bevor sie in der [Europäischen Union] in den Verkehr gebracht werden. …“

4        Art. 1 dieser Verordnung bestimmte:

„(1)      In dieser Verordnung ist das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel und neuartiger Lebensmittelzutaten in der [Union] geregelt.

(2)      Diese Verordnung findet Anwendung auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten in der [Union], die in dieser bisher noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und die unter nachstehende Gruppen von Erzeugnissen fallen:

c)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten mit neuer oder gezielt modifizierter primärer Molekularstruktur;

d)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Mikroorganismen, Pilzen oder Algen bestehen oder aus diesen isoliert worden sind;

e)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Pflanzen bestehen oder aus Pflanzen isoliert worden sind, und aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten, außer Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die mit herkömmlichen Vermehrungs- oder Zuchtmethoden gewonnen wurden und die erfahrungsgemäß als unbedenkliche Lebensmittel gelten können;

f)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, bei deren Herstellung ein nicht übliches Verfahren angewandt worden ist und bei denen dieses Verfahren eine bedeutende Veränderung ihrer Zusammensetzung oder der Struktur der Lebensmittel oder der Lebensmittelzutaten bewirkt hat, was sich auf ihren Nährwert, ihren Stoffwechsel oder auf die Menge unerwünschter Stoffe im Lebensmittel auswirkt.

(3)      Gegebenenfalls kann nach dem Verfahren des Artikels 13 Absatz 2 festgelegt werden, ob ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat unter Absatz 2 dieses Artikels fällt.“

5        Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung sah vor:

„Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die unter diese Verordnung fallen, dürfen

–        keine Gefahr für den Verbraucher darstellen;

–        …“

6        Art. 12 der Verordnung legte fest:

„(1)      Hat ein Mitgliedstaat aufgrund neuer Informationen oder infolge einer Neubewertung bestehender Informationen stichhaltige Gründe zu der Annahme, dass die Verwendung von Lebensmitteln oder Lebensmittelzutaten, die dieser Verordnung genügen, die menschliche Gesundheit oder die Umwelt gefährdet, so kann er den Handel und die Verwendung des betreffenden Lebensmittels oder der Lebensmittelzutat in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend einschränken oder aussetzen. Er unterrichtet hiervon unverzüglich die anderen Mitgliedstaaten und die [Europäische] Kommission unter Angabe der Gründe für seine Entscheidung.

(2)      Die Kommission prüft im Rahmen des Ständigen Lebensmittelausschusses sobald wie möglich die Gründe im Sinne des Absatzes 1. Sie trifft nach dem in Artikel 13 Absatz 2 genannten Regelungsverfahren geeignete Maßnahmen zur Bestätigung, Abänderung oder Aufhebung der nationalen Maßnahme. Der Mitgliedstaat, der die Entscheidung nach Absatz 1 getroffen hat, kann sie bis zum Inkrafttreten dieser Maßnahmen aufrechterhalten.“

 Verordnung (EU) 2015/2283

7        Die Verordnung Nr. 258/97 wurde zum 1. Januar 2018 durch die Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 (ABl. 2015, L 327, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

8        In den Erwägungsgründen 6 und 8 der Verordnung 2015/2283 heißt es:

„(6)      Die bestehende Begriffsbestimmung für neuartige Lebensmittel gemäß der Verordnung [Nr. 258/97] sollte klarer formuliert und durch einen Verweis auf die allgemeine Begriffsbestimmung für Lebensmittel gemäß der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. 2002, L 31, S. 1)] aktualisiert werden.

(8)      Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich grundsätzlich nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung [Nr. 258/97] unterscheiden. Aufgrund der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen seit 1997 ist es jedoch angebracht, die Kategorien der Lebensmittel, die als neuartige Lebensmittel eingestuft werden, zu überprüfen, klarer zu beschreiben und zu aktualisieren. Diese Kategorien sollten ganze Insekten und Teile davon umfassen. …“

9        Art. 1 („Gegenstand und Zweck“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      In dieser Verordnung ist das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel in der Union geregelt.

(2)      Der Zweck dieser Verordnung besteht darin, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sicherzustellen und gleichzeitig ein hohes Niveau beim Schutz der menschlichen Gesundheit und der Verbraucherinteressen herbeizuführen.“

10      Art. 2 („Anwendungsbereich“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Diese Verordnung gilt für das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel in der Union.

…“

11      Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung sieht in Abs. 2 vor:

„[Es] bezeichnet der Ausdruck:

a)      ‚neuartige Lebensmittel‘ alle Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und in mindestens eine der folgenden Kategorien fallen:

v)      Lebensmittel, die aus Tieren oder deren Teilen bestehen oder daraus isoliert oder erzeugt wurden, ausgenommen Tiere, die mithilfe von vor dem 15. Mai 1997 in der Union zur Lebensmittelerzeugung verwendeten herkömmlichen Zuchtverfahren gewonnen wurden, sofern die aus diesen Tieren gewonnenen Lebensmittel eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union haben,

…“

12      Art. 35 („Übergangsmaßnahmen“) der Verordnung 2015/2283 sieht in Abs. 2 vor:

„Nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung [Nr. 258/97] fallende Lebensmittel, die bis zum 1. Januar 2018 rechtmäßig in Verkehr gebracht werden und in den Anwendungsbereich der vorliegenden Verordnung fallen, dürfen im Anschluss an einen Antrag auf Zulassung eines neuartigen Lebensmittels oder eine Meldung über ein traditionelles Lebensmittel aus einem Drittstaat, der bzw. die bis zu dem in den gemäß Artikel 13 bzw. 20 der vorliegenden Verordnung erlassenen Durchführungsbestimmungen genannten Zeitpunkt, jedoch spätestens bis zum 2. Januar 2020 übermittelt wurde, so lange weiterhin in Verkehr gebracht werden, bis eine Entscheidung gemäß den Artikeln 10 bis 12 bzw. den Artikeln 14 bis 19 der vorliegenden Verordnung getroffen worden ist.“

 Französisches Recht

13      Art. L. 218‑5‑4 des Code de la consommation (Verbrauchergesetzbuch) in der zum 27. Januar 2016 geltenden Fassung bestimmte:

„Wenn festgestellt wird, dass ein Erzeugnis ohne die gemäß den auf dieses Erzeugnis anwendbaren Vorschriften erforderliche Zulassung, Registrierung oder Meldung in Verkehr gebracht wurde, kann der Präfekt oder in Paris der Polizeipräfekt die Aussetzung des Inverkehrbringens sowie dessen Rücknahme anordnen, bis es mit den geltenden Vorschriften in Einklang gebracht wurde.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14      Im für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraum vertrieb Entoma Waren, die aus Mehlwürmern, Heuschrecken und Grillen bestehen, die in Form ganzer Insekten zubereitet und zum menschlichen Verzehr bestimmt sind.

15      Mit Verfügung vom 27. Januar 2016 setzte der Préfet de police de Paris (Polizeipräfekt von Paris, Frankreich) das Inverkehrbringen der von Entoma vertriebenen ganzen Insekten u. a. mit der Begründung aus, dass diese nicht über die in der Verordnung Nr. 258/97 vorgesehene Genehmigung für das Inverkehrbringen verfüge, und ordnete die Rücknahme dieser Insekten vom Markt an, bis nach einer Prüfung ihrer vollständigen Unbedenklichkeit für den Verbraucher eine solche Genehmigung erteilt worden sei.

16      Entoma erhob vor dem Tribunal administratif de Paris (Verwaltungsgericht erster Instanz Paris, Frankreich) eine Klage auf Aufhebung dieser Verfügung. Mit Urteil vom 9. November 2017 wies dieses die Klage ab.

17      Mit Urteil vom 22. März 2018 wies die Cour administrative d’appel de Paris (Verwaltungsgericht zweiter Instanz Paris, Frankreich) die von Entoma eingelegte Berufung mit der Begründung zurück, dass diese Verfügung auf der Grundlage von Art. L. 218‑5‑4 des Code de la consommation rechtmäßig erlassen worden sei.

18      Entoma legte anschließend beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein. Zur Stützung ihrer Kassationsbeschwerde machte sie insbesondere geltend, dass die Cour administrative d’appel de Paris rechtsfehlerhaft entschieden habe, dass die von ihr vertriebenen Waren der Verordnung Nr. 258/97 unterlägen, obwohl sie als ganze, zum menschlichen Verzehr bestimmte Insekten als solche vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen gewesen seien. Im Einzelnen wirft sie der Cour d’appel administrative de Paris vor, Art. 1 Abs. 2 Buchst. e dieser Verordnung fehlerhaft ausgelegt zu haben, da sich diese Bestimmung ausdrücklich nur auf „aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ und nicht auf ganze Tiere beziehe. Sie macht unter Berufung auf den achten Erwägungsgrund der Verordnung 2015/2283 geltend, dass die Zuordnung von ganzen Insekten zur Kategorie der „neuartigen Lebensmittel“, die sich aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. v der Verordnung 2015/2283 ergebe, die bisherige, auf einzelne Teile von Tieren begrenzte Definition nicht näher erläutere, sondern deren Tragweite durch einen Zusatz ändere. Daraus folge, dass die von ihr vertriebenen Lebensmittel vor dem 1. Januar 2018 rechtmäßig in Verkehr gebracht worden seien und auf sie daher die in Art. 35 Abs. 2 der Verordnung 2015/2283 vorgesehenen Übergangsmaßnahmen anwendbar seien, die ihren Verbleib auf dem Markt ermöglichten, sofern vor dem 2. Januar 2020 ein Antrag auf Zulassung als „neuartige Lebensmittel“ oder eine Meldung über traditionelle Lebensmittel, für die die in dieser Verordnung festgelegte Regelung gelte, gestellt werde.

19      Der Ministre de l’Économie et des Finances macht geltend, dass es keine gesundheitlichen Gründe für den Ausschluss des Inverkehrbringens von ganzen Insekten vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 258/1997 gebe, da der Verzehr von ganzen Insekten für die Gesundheit des Verbrauchers genauso viele Risiken beinhalte wie der Verzehr von aus Tieren isolierten Lebensmitteln.

20      Der Conseil d’État (Staatsrat) ist der Ansicht, dass angesichts der möglichen unterschiedlichen Auslegungen der Begriffe der Verordnung Nr. 258/97 die Frage, ob Art. 1 Abs. 2 Buchst. e dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass sein Anwendungsbereich Lebensmittel umfasst, die aus ganzen Tieren bestehen, die als solche zum Verzehr bestimmt sind, ernsthafte Schwierigkeiten hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts aufwirft.

21      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97 dahin auszulegen, dass sein Anwendungsbereich Lebensmittel umfasst, die aus ganzen Tieren bestehen, die als solche zum Verzehr bestimmt sind, oder ist er nur auf aus Insekten isolierte Lebensmittelzutaten anwendbar?

 Zur Vorlagefrage

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97 dahin auszulegen ist, dass für den menschlichen Verzehr vorgesehene, ganze Insekten „aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ im Sinne dieser Bestimmung darstellen und folglich in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen.

23      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass diese Frage nur im Hinblick auf die Anwendung der Verordnung Nr. 258/97 relevant ist, die in zeitlicher Hinsicht auf den Rechtsstreit im Ausgangsverfahren anwendbar war. Die Verordnung 2015/2283, durch die die Verordnung Nr. 258/97 zum 1. Januar 2018 aufgehoben und ersetzt wurde, sieht nämlich ausdrücklich vor, dass ganze Tiere einschließlich ganzer Insekten in ihren Anwendungsbereich fallen (achter Erwägungsgrund sowie Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. v der Verordnung 2015/2283).

24      Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist eingangs daran zu erinnern, dass die Verordnung Nr. 258/97 gemäß Art. 1 Abs. 1 das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel und neuartiger Lebensmittelzutaten regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2016, Davitas, C‑448/14, EU:C:2016:839, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      In Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 wird ihr Geltungsbereich u. a. durch die Festlegung dessen abgegrenzt, was unter „neuartigen Lebensmitteln und neuartigen Lebensmittelzutaten“ zu verstehen ist. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten zwei kumulative Voraussetzungen erfüllen müssen, um als „neuartig“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft zu werden. Zum einen müssen die Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Union vor dem 15. Mai 1997, dem Datum des Inkrafttretens dieser Verordnung, „noch nicht in nennenswertem Umfang“ für den menschlichen Verzehr verwendet worden sein und zum anderen müssen sie zu einer der Gruppen gehören, die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c bis f der Verordnung ausdrücklich vorgesehen werden (Urteil vom 9. November 2016, Davitas, C‑448/14, EU:C:2016:839, Rn. 18 bis 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht zur ersten Voraussetzung des Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 zur Einstufung ganzer, für den menschlichen Verzehr vorgesehener Insekten als „neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten“ fragt, und zwar ob sie in der Union vor dem 15. Mai 1997 „noch nicht in nennenswertem Umfang“ für den menschlichen Verzehr verwendet wurden.

27      Das vorlegende Gericht hat hingegen Zweifel im Hinblick auf die Anwendung der zweiten in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 vorgesehenen Voraussetzung. Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob davon ausgegangen werden könne, dass die Voraussetzung aufgrund der Tatsache erfüllt sei, dass ganze Insekten als „neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten“ angesehen werden könnten, da sie zu einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c bis f dieser Verordnung festgelegten Gruppen und insbesondere der in Buchst. e dieser Bestimmung genannten Gruppe, die sich auf „aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ beziehe, gehörten.

28      Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Wendung „aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ in der Verordnung Nr. 258/97 nicht definiert ist.

29      Wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, zu bestimmen (Urteile vom 9. November 2016, Davitas, C‑448/14, EU:C:2016:839, Rn. 26, und vom 26. Oktober 2017, The English Bridge Union, C‑90/16, EU:C:2017:814, Rn. 18).

30      Erstens ist im Hinblick auf den üblichen Sinn des Ausdrucks „aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch festzustellen, dass es zwar unstrittig ist, dass der Begriff „Tiere“ so zu verstehen ist, dass er Insekten einschließt, die Verwendung des Begriffs „Lebensmittelzutaten“ in Verbindung mit dem Ausdruck „aus Tieren isoliert“ aber zu der Feststellung führt, dass im üblichen Sinn dieses Ausdrucks nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nur Lebensmittelzutaten, die aus Teilen von Tieren bestehen, von Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97 erfasst und ganze Tiere (und damit ganze Insekten) ausgeschlossen sind.

31      Was zum einen den Begriff „Lebensmittelzutaten“ betrifft, ist festzustellen, dass der Begriff „Zutat“ in der Verordnung Nr. 258/97 nicht definiert wird. Allerdings bezieht sich dieser Begriff, in welcher der verwendeten Amtssprachen auch immer, im Allgemeinen auf einen Bestandteil eines größeren zusammengesetzten Enderzeugnisses, und zwar im Wesentlichen ein „Lebensmittel“. Daher ist eine Zutat grundsätzlich kein Erzeugnis, das selbst verzehrt wird, sondern vielmehr ein Stoff oder ein Produkt, das anderen Stoffen hinzugefügt wird, um ein Lebensmittel zu bilden.

32      Wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, scheinen ganze Tiere daher nicht als „Zutat“ einzustufen zu sein, da sie ein „Lebensmittel“ und keine „Lebensmittelzutat“ darstellen. Diese Auslegung wird implizit, aber notwendigerweise durch den Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97 bestätigt, der klar zwischen „Lebensmitteln“ und „Lebensmittelzutaten“ unterscheidet, wobei der Begriff „Lebensmittelzutaten“ nur in Bezug auf Tiere verwendet wird.

33      Im Übrigen entspricht diese Auslegung im Wesentlichen auch der Definition des Begriffs „Zutat“ in anderen Rechtsvorschriften der Union über Lebensmittel, wie etwa in Art. 2 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. 2011, L 304, S. 18).

34      Was zum anderen den Ausdruck „aus Tieren isoliert“ betrifft, so bezieht sich dieser, wie der Generalanwalt in den Nrn. 37 und 38 seiner Schlussanträge festgestellt hat, auf das Verfahren der Gewinnung aus dem Tier. Daher kann keine mögliche Auslegung dieses Ausdrucks auf das ganze Tier verweisen, es sei denn, man schüfe eine Tautologie, bei der ganze Tiere „aus“ ganzen Tieren „isoliert“ werden.

35      Außerdem unterscheidet sich dieser Ausdruck in allen Sprachfassungen deutlich von der weiter gefassten Wendung „die aus … bestehen“, die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. d und e der Verordnung Nr. 258/97 verwendet wird, wenn es um Lebensmittelgruppen geht, die als „Pflanzen“, „Mikroorganismen“, „Pilze“ oder „Algen“ einzustufen sind; sie ermöglicht die Einbeziehung von Lebensmitteln, die aus einem einzigen Bestandteil (z. B. einer ganzen „Pflanze“) bestehen. In dieser Hinsicht umfasst der Anwendungsbereich der Verordnung 2015/2283 ganze Tiere, soweit er auf „Lebensmittel, die aus Tieren oder deren Teilen bestehen“ verweist.

36      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Ausdruck „aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten“ eine klare und präzise Bedeutung hat. Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97 bezieht sich nämlich nicht auf „ganze Tiere“ und umfasst daher keine ganzen Insekten.

37      Zweitens ist festzustellen, dass die wörtliche Auslegung dieser Bestimmung sowohl mit dem Kontext, in den sie sich einfügt, als auch den mit der Verordnung Nr. 258/97 verfolgten Zielen im Einklang steht.

38      In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber, wie die Kommission in ihren Erklärungen festgestellt hat, mit der Verwendung des Begriffs „Tiere“ offenbar weder beabsichtigt hat, gezielt Insekten zu erfassen, noch die mit ihrem Verzehr verbundenen Risiken vor Augen hatte. Durch den Erlass der Verordnung Nr. 258/97 hat dieser nämlich offenbar entschieden, nur die Erzeugnisse zu regulieren, von denen er im Jahr 1997 annahm, dass sie in Verkehr gebracht würden. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 45 bis 48 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist die Verwendung von Insekten in der Nahrungsmittelindustrie aber relativ neu, und der Unionsgesetzgeber hat daher im Jahr 2015 beim Erlass der Verordnung 2015/2283, wie sich aus dem achten Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt, gerade im Hinblick auf die „wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen seit 1997“ entschieden, „die Kategorien der Lebensmittel, die als neuartige Lebensmittel eingestuft werden, zu überprüfen, klarer zu beschreiben und zu aktualisieren“ und „ganze Insekten und Teile davon“ ausdrücklich einzubeziehen.

39      Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 258/97 nach ständiger Rechtsprechung eine doppelte Zielsetzung verfolgt, nämlich das Funktionieren des Binnenmarkts für neuartige Lebensmittel sicherzustellen und die öffentliche Gesundheit vor den Risiken zu schützen, die durch diese Lebensmittel entstehen können (Urteil vom 9. November 2016, Davitas, C‑448/14, EU:C:2016:839, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Im Hinblick auf das Ziel, ein hohes Niveau beim Schutz der menschlichen Gesundheit sicherzustellen, kann es zwar, wie die französische und die italienische Regierung in ihren Erklärungen geltend gemacht haben, aus gesundheitlicher Sicht unlogisch erscheinen, aus Insekten isolierte Lebensmittelzutaten dieser Regulierung unterwerfen zu wollen und gleichzeitig ganze Insekten auszuschließen, da ganze Insekten aus ihren gesamten Teilen bestehen und ganze Insekten wie ihre Teile dazu bestimmt sind, vom Verbraucher zu sich genommen zu werden, so dass folglich dieselben Gefahren für die öffentliche Gesundheit bestehen können.

41      Eine solche Argumentation, die auf eines der beiden Ziele der Verordnung Nr. 258/97 gestützt wird, reicht jedoch nicht aus, um eine weite Auslegung des eindeutigen Wortlauts „aus Tieren isoliert“ zu rechtfertigen, wodurch „ganze Tiere“ in den Anwendungsbereich dieser Verordnung einbezogen würden.

42      Zum einen führt, wie aus den Rn. 30 bis 36 des vorliegenden Urteils hervorgeht, der übliche Sinn nach dem gewöhnlichen Wortlaut der Begriffe „aus Tieren isoliert“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97, der im Übrigen in allen Sprachfassungen gleich ist, zur Feststellung, dass aufgrund dieser Begriffe offensichtlich keine ganzen Tiere in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung einbezogen werden. Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann der klare Wortlaut dieser Bestimmung grundsätzlich nicht durch eine teleologische Auslegung dieser Bestimmung in Frage gestellt werden, die zur Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Verordnung führen würde, worüber ausschließlich der Unionsgesetzgeber zu entscheiden hat.

43      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 72 und 73 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ebenfalls festgestellt hat, kann eine solche Auslegung nicht contra legem erfolgen. Eine solche Grenze, die zweifellos dem Gebot der Rechtssicherheit sowie der Vorhersehbarkeit des Rechts entspricht, wurde außerdem im Rahmen der Rechtsprechung des Gerichtshofs über den Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts anerkannt (Urteile vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 100, und vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Zum anderen beeinträchtigt eine Auslegung, die zum Ausschluss ganzer Tiere wie Insekten vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 258/97 führt, für sich genommen jedenfalls nicht das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit. Wie sich aus den vorstehenden Erwägungen ergibt, bedeutet der Umstand, dass ganze Insekten nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, nämlich lediglich, dass die Voraussetzungen für ihr Inverkehrbringen auf Unionsebene nicht harmonisiert sind und folglich keine Meldung oder Zulassung gemäß dieser Verordnung erforderlich ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist es aber, soweit noch Unsicherheiten bestehen, mangels einer Harmonisierung Sache der Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung der Erfordernisse des freien Warenverkehrs innerhalb der Union zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen und ob sie für das Inverkehrbringen der Lebensmittel eine vorherige Zulassung verlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2010, Solgar Vitamin’s France u .a., C‑446/08, EU:C:2010:233, Rn. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Daher hindert die Tatsache, dass ganze Insekten von der durch die Verordnung Nr. 258/97 vorgesehenen Sicherheitsprüfung ausgenommen sind, die Mitgliedstaaten nicht daran, in ihren nationalen Rechtsvorschriften eine solche Prüfung im Hinblick auf eine etwaige Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch ganze Insekten vorzusehen.

45      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 258/97 dahin auszulegen ist, dass Lebensmittel, die aus ganzen Tieren bestehen und als solche zum Verzehr bestimmt sind, einschließlich ganzer Insekten, nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen.

 Kosten

46      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten in der durch die Verordnung (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Lebensmittel, die aus ganzen Tieren bestehen und als solche zum Verzehr bestimmt sind, einschließlich ganzer Insekten, nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen.

Unterschriften



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