C-507/19 – Bundesrepublik Deutschland (Statut de réfugié d’un apatride d’origine palestinienne)

C-507/19 – Bundesrepublik Deutschland (Statut de réfugié d’un apatride d’origine palestinienne)

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:768

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

EVGENI TANCHEV

vom 1. Oktober 2020(1)

Rechtssache C507/19

Bundesrepublik Deutschland

gegen

XT

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Staatenloser Palästinenser – Wegfall des Schutzes oder Beistands des UNRWA – Voraussetzungen für die Zuerkennung der Eigenschaft als ipso facto-Flüchtling“

1.        Mit diesem Vorabentscheidungsersuchen bittet das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) den Gerichtshof um Klärung bestimmter Aspekte des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU(2). Die Rechtssache betrifft die Frage, ob ein palästinensischer Flüchtling nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 entweder „von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen“ oder „ipso facto“ als solcher anzuerkennen ist, bzw. konkreter, welche Bedeutung hierfür möglicherweise einem Aufenthaltswechsel des Antragstellers zwischen zwei verschiedenen „Operationsgebieten“ des UNRWA vor seiner Reise in einen Mitgliedstaat der Union zukommt. Der Kläger hielt sich nämlich zunächst in Syrien auf, begab sich dann für längere Zeit in den Libanon und kehrte anschließend für sehr kurze Zeit nach Syrien zurück, bevor er auf dem Landweg nach Deutschland reiste. Das vorlegende Gericht ersucht um Hinweise dazu, auf welches räumliche Gebiet es bei der Beurteilung des Status des Klägers nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abzustellen hat.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

1.      Genfer Flüchtlingskonvention

2.        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft; es wird ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, in Kraft getreten am 4. Oktober 1967 (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).

3.        In Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention ist u. a. der Begriff „Flüchtling“ im Sinne dieses Rechtsakts definiert; Art. 1 Abschnitt D bestimmt:

„Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge genießen.

Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Person endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens.“

2.      UNRWA

4.        Mit der Resolution 302 (IV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 8. Dezember 1949 über die Hilfe für Palästinaflüchtlinge wurde das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East; im Folgenden: UNRWA) errichtet. Das Mandat des Hilfswerks wurde regelmäßig verlängert; sein gegenwärtiges Mandat endet am 30. Juni 2023(3). Es soll dem Wohlergehen und der menschlichen Entwicklung der Palästinaflüchtlinge dienen.

3.      UNHCR

5.        Das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees; im Folgenden: UNHCR) wurde am 14. Dezember 1950 durch die Resolution 428 (V) der Generalversammlung der Vereinten Nationen errichtet. Der UNHCR ist ein Nebenorgan der Vereinten Nationen im Sinne von Art. 22 der Charta der Vereinten Nationen.

B.      Unionsrecht

6.        Mit der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes wurde die Richtlinie 2004/83/EG(4) im Interesse der Klarheit neu gefasst und aufgehoben, da diese Richtlinie in wesentlichen Punkten geändert wurde. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a blieb jedoch unverändert.

7.        Nach dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 stellen die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. Der Wortlaut des vierten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie ist mit dem Wortlaut des dritten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2004/83 identisch.

8.        Nach dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 besteht das wesentliche Ziel dieser Richtlinie darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird. Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 war im Wortlaut identisch.

9.        Die Erwägungsgründe 22 bis 24 der Richtlinie 2011/95 lauten wie folgt:

„(22) Konsultationen mit dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge können den Mitgliedstaaten wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nach Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention bieten.

(23) Es sollten Normen für die Bestimmung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festgelegt werden, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention zu leiten.

(24) Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.“

10.      Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“

11.      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 lautet wie folgt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

b)      ‚Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde‘ eine Person, der die Flüchtlingseigenschaft gemäß Buchstabe e oder der subsidiäre Schutzstatus gemäß Buchstabe g zuerkannt wurde;

c)      ‚Genfer Flüchtlingskonvention‘ das in Genf abgeschlossene Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung;

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

e)      ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

f)      ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

g)      ‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat;

h)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht;

i)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist;

n)      ‚Herkunftsland‘ das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.“

12.      Art. 5 („Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz“) Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat.“

13.      Art. 11 („Erlöschen“) bestimmt:

„(1)      Ein … Staatenloser ist nicht mehr Flüchtling, wenn er

f)      … nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde, in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

(2)      Bei der Prüfung von Absatz 1 [Buchst. f] haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann.

(3)      Absatz 1 [Buchst. f] finde[t] keine Anwendung auf einen Flüchtling, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder wenn er staatenlos ist, des Landes, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, abzulehnen.“

14.      Art. 12 („Ausschluss“) bestimmt:

„(1)      Ein … Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er

a)      den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie;

…“

15.      In Art. 14 („Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft“) heißt es:

„(1)      … die Mitgliedstaaten [erkennen] einem Staatenlosen die von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, wenn er gemäß Artikel 11 nicht länger Flüchtling ist.

(3)      Die Mitgliedstaaten erkennen … einem Staatenlosen die Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, falls der betreffende Mitgliedstaat nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft feststellt, dass

a)      die Person gemäß Artikel 12 von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist;

…“

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

16.      Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge ist XT (im Folgenden auch: Kläger) eine staatenlose Person palästinensischer Herkunft und wurde 1991 in Damaskus, Syrien, geboren. Er ist beim UNRWA als palästinensischer Flüchtling für das im südlichen Teil von Damaskus belegene Lager Jarmuk registriert.

17.      Von einem unbestimmten Zeitpunkt im Oktober 2013 bis zum 20. November 2015 hielt er sich im Libanon auf, wo er vorübergehende Beschäftigungen aufnahm oder Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Dem Vorabentscheidungsersuchen ist nicht klar zu entnehmen, ob er in diesem Zeitraum konkreten Beistand vom UNRWA erbeten und/oder erhalten hat.

18.      XT verließ sodann den Libanon und ging nach Qudsaya, Syrien, wo er sich kurzzeitig bei Mitgliedern seiner Familie aufhielt. Einige Tage später verließ er Syrien und reiste auf dem Landweg nach Deutschland. Wie lange er sich genau in Syrien aufhielt, geht aus den Akten nicht eindeutig hervor, doch nach der Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) verließ er den Libanon „Ende November“. Demnach hätte er sich vor seiner Ausreise nach Deutschland höchstens zehn Tage in Syrien aufgehalten. Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge hatten Jordanien und der Libanon bereits vor der Ausreise von XT aus Syrien ihre Grenzen für dort aufhältige palästinensische Flüchtlinge geschlossen.

19.      Aufgrund der kriegs- und konfliktbedingten Verhältnisse in Syrien war das UNRWA offenbar in seinen Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, im Operationsgebiet Syrien Schutz und Beistand zu leisten(5), als XT aus diesem Land ausreiste(6). Seiner eigenen Stellungnahme zufolge leistete das Hilfswerk im Operationsgebiet Syrien jedoch weiterhin Beistand, erhielt „seine programmbudget-gestützten Leistungen der Gesundheitsfürsorge, Bildung, beruflichen Fortbildung, Mikrofinanzierung, Jugend- und Sozialarbeit“ trotz der komplexen Herausforderungen aufrecht und passte sie den mit den Verhältnissen eines bewaffneten Konflikts einhergehenden Einschränkungen an(7).

20.      XT reiste im Dezember 2015 nach Deutschland ein und stellte im Februar 2016 einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 29. August 2016 wurde ihm durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, seine Anerkennung als Flüchtling jedoch abgelehnt. Mit Urteil vom 24. November 2016 gab das Verwaltungsgericht (Deutschland) der von ihm erhobenen Klage statt und ordnete an, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

21.      Im Berufungsverfahren wies das Oberverwaltungsgericht (Deutschland) die Berufung der Bundesrepublik Deutschland gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass XT als staatenloser palästinensischer Volkszugehöriger im Sinne der Rechtsvorschriften, die Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 in deutsches Recht umsetzten, Flüchtling sei. Das Oberverwaltungsgericht stellte fest, dass XT Schutz durch das UNRWA gewährt worden sei und dieser Schutz aus Gründen weggefallen sei, die von seinem Willen unabhängig gewesen seien. Er habe sich bei seiner Ausreise aus Syrien in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden; es habe ihm keine Möglichkeit offen gestanden, den Schutz des UNRWA in anderen Teilen seines Mandatsgebiets in Anspruch zu nehmen, da Jordanien und der Libanon ihre Grenzen für in Syrien aufhältige palästinensische Flüchtlinge bereits geschlossen gehabt hätten. Seine Ausreise sei aufgrund von seinem Willen unabhängiger Zwänge erfolgt und nicht als freiwillig anzusehen. Dies indiziere die ihm gegenüber erfolgte Zuerkennung subsidiären Schutzes(8).

22.      Die Bundesrepublik Deutschland legte Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein.

23.      Das letztgenannte Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist für die Beurteilung der Frage, ob im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU einem staatenlosen Palästinenser Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, in räumlicher Hinsicht allein auf das jeweilige Operationsgebiet (Gazastreifen, Jordanien, Libanon, Syrien, Westjordanland), in dem der Staatenlose bei Verlassen des Mandatsgebietes des UNRWA seinen tatsächlichen Aufenthalt hatte (hier: Syrien), oder ist auch auf weitere dem Mandatsgebiet des UNRWA angehörende Operationsgebiete abzustellen?

2.      Soweit nicht allein auf das Operationsgebiet bei Verlassen abzustellen ist: Ist stets und unabhängig von weiteren Voraussetzungen auf alle Operationsgebiete des Mandatsgebietes abzustellen? Wenn nein: Sind weitere Operationsgebiete nur dann zu berücksichtigen, wenn der Staatenlose zu diesem Operationsgebiet einen substanziellen (territorialen) Bezug hatte? Ist für einen solchen Bezug ein – bei Verlassen bestehender oder vormaliger – gewöhnlicher Aufenthalt erforderlich? Sind weitere Umstände für die Prüfung eines substanziellen (territorialen) Bezuges zu berücksichtigen? Wenn ja: Welche? Kommt es darauf an, ob dem Staatenlosen im Zeitpunkt des Verlassens des UNRWA-Mandatsgebietes eine Einreise in das maßgebliche Operationsgebiet möglich und zumutbar ist?

3.      Genießt ein Staatenloser, der das Mandatsgebiet des UNRWA verlässt, weil er sich in dem Operationsgebiet seines tatsächlichen Aufenthalts in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA dort unmöglich ist, ihm Schutz oder Beistand zu gewähren, auch dann im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 ipso facto den Schutz der Richtlinie, wenn er sich zuvor in dieses Operationsgebiet begeben hat, ohne sich in dem Operationsgebiet seines vorherigen Aufenthalts in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden zu haben und ohne nach den Verhältnissen im Zeitpunkt des Übertritts damit rechnen zu können, in dem Operationsgebiet, in welches er sich begibt, durch das UNRWA Schutz oder Beistand zu erfahren und in absehbarer Zeit in das Operationsgebiet seines bisherigen Aufenthalts zurückkehren zu können?

4.      Ist für die Beurteilung der Frage, ob einem Staatenlosen die Eigenschaft als ipso facto-Flüchtling deshalb nicht zuzuerkennen ist, weil die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nach dem Verlassen des Mandatsgebiets des UNRWA weggefallen sind, allein auf das Operationsgebiet des letzten gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen? Wenn nein: Sind zusätzlich spiegelbildlich die Gebiete zu berücksichtigen, auf die nach Nr. 2 für den Zeitpunkt des Verlassens abzustellen ist? Wenn nein: Nach welchen Kriterien sind die Gebiete zu bestimmen, die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen sind? Setzt der Wegfall der Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 die Bereitschaft der (staatlichen oder quasistaatlichen) Stellen im maßgeblichen Operationsgebiet voraus, den Staatenlosen (wieder) aufzunehmen?

5.      Für den Fall, dass im Zusammenhang mit dem Vorliegen oder dem Wegfall der Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 das Operationsgebiet des (letzten) gewöhnlichen Aufenthalts von Bedeutung ist: Welche Kriterien sind für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblich? Ist ein rechtmäßiger, vom Aufenthaltsstaat genehmigter Aufenthalt erforderlich? Wenn nein: Bedarf es zumindest der bewussten Hinnahme des Aufenthalts des betroffenen Staatenlosen durch die verantwortlichen Stellen des Operationsgebiets? Wenn insoweit ja: Muss den verantwortlichen Stellen die Anwesenheit des einzelnen Staatenlosen konkret bekannt sein oder reicht die bewusste Hinnahme des Aufenthalts als Mitglied einer größeren Personengruppe aus? Wenn nein: Reicht allein ein längerer tatsächlicher Aufenthalt aus?

24.      Schriftliche Erklärungen sind von der belgischen und der deutschen Regierung sowie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und von der Europäischen Kommission eingereicht worden. In der Sitzung vom 10. Juni 2020 haben die deutsche und die französische Regierung sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

III. Analyse

A.      Vorbemerkungen

25.      Bevor ich mich der Prüfung der Vorlagefragen zuwende, halte ich einige Vorbemerkungen zu der Richtlinie 2011/95 sowie dem räumlichen Umfang der UNRWA-Einsätze für angebracht.

 1.       Richtlinie 2011/95

26.      Die Richtlinie 2011/95 wurde am 13. Dezember 2011 erlassen. Durch sie wurde die Richtlinie 2004/83 neu gefasst und aufgehoben. Auch wenn an anderen Teilen der Richtlinie Änderungen vorgenommen wurden, ist Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser beiden Richtlinien im Wesentlichen identisch; es wurden lediglich orthografische Änderungen vorgenommen. Die Rechtsprechung zu Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 gilt daher in gleicher Weise auch für Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95.

27.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. a enthält zwei Teile. Der erste Teil schließt eine unter Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention fallende Person „von der Anerkennung als Flüchtling“ im Sinne der Richtlinie aus. Der erste Absatz des Art. 1 Abschnitt D schließt vom Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention Personen aus, die „zurzeit“ den Schutz oder Beistand des UNRWA(9) „genießen“ (Ausschlussklausel). Der zweite Absatz des Art. 1 Abschnitt D bestimmt, dass dann, wenn „dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen [ist]“, ohne dass das Schicksal dieser Person endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention fallen (Einschlussklausel). Das Schicksal der beim UNRWA registrierten palästinensischen Flüchtlinge ist eindeutig noch nicht in diesem Sinne geregelt(10). Die englische Sprachfassung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 gibt Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 wörtlich wieder, wobei lediglich das Wort „Abkommen“ durch „Richtlinie“ ersetzt wird(11). Daraus folgt denknotwendig – und ist auch in ständiger Rechtsprechung anerkannt –, dass die Einschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 nur zum Tragen kommt, wenn die Ausschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 Anwendung findet(12).

28.      Während unter die Genfer Flüchtlingskonvention nur „Flüchtlinge“ fallen, gelten die Richtlinie 2011/95 und die Richtlinie 2004/83 auch für den „subsidiären Schutz“. Daher gilt die Ausschlussklausel nach Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention für das gesamte Abkommen, während der Ausschluss nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der beiden Richtlinien nur die Anerkennung als „Flüchtling“ betrifft. Eine Person kann daher von der Anerkennung als Flüchtling nach dieser Bestimmung der Richtlinie 2011/95 ausgeschlossen sein, aber dennoch Anspruch auf subsidiären Schutz haben.

29.      Der Gerichtshof hat für die Richtlinie 2011/95 wiederholt festgestellt, dass sich aus den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 dieser Richtlinie ergibt, dass die Genfer Flüchtlingskonvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und über deren Inhalt erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Abkommens auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten(13), so dass die Bestimmungen dieser Richtlinie, ebenso wie der Richtlinie 2004/83, im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und anderen einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen sind(14). Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass diese Auslegung zudem, wie dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 zu entnehmen ist, die Achtung der Grundrechte und insbesondere die Befolgung der in der Charta anerkannten Grundsätze gewährleisten muss(15).

 2.       Räumlicher Umfang der UNRWA-Einsätze

30.      Das UNRWA ist innerhalb eines Mandatsgebiets [„area of operations“; im Folgenden auch: Einsatzgebiet] tätig, das fünf Operationsgebiete [„fields of operations“] umfasst, nämlich das Westjordanland, Gaza, Jordanien, den Libanon und Syrien(16), in denen es palästinensischen Flüchtlingen und bestimmten anderen Gruppen von berechtigten Personen, wie etwa „den Mittellosen Jerusalems und den Mittellosen Gazas“ sowie nicht registrierten Personen, die infolge der Feindseligkeiten von 1967 und späterer Feindseligkeiten vertrieben wurden, Schutz und/oder Beistand(17) leistet(18). Den Sachverhaltsangaben des Vorabentscheidungsersuchens nach ist XT offenbar ein „Palästina-Flüchtling“. Die beiden Operationsgebiete, in denen XT sich aufgehalten hat, befinden sich in zwei verschiedenen souveränen Staaten, Syrien und dem Libanon. Sie gehören gleichwohl beide zum Mandatsgebiet [„area of operations“] des UNRWA.

31.      Das UNRWA hat keine Kontrolle über die räumlichen Gebiete, die seinen Operationsgebieten entsprechen, und kann einem registrierten palästinensischen Flüchtling den Zugang zu dem räumlichen Gebiet, in dem ein bestimmtes Operationsgebiet liegt, nicht gewähren oder verweigern. Demzufolge kann (und wird häufig) der tatsächliche Zugang von der veränderlichen Politik der Regierungs- oder regierungsähnlichen Kräfte abhängen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt die Kontrolle über das jeweilige Gebiet ausüben.

B.      Fragen 1 und 2

32.      Mit seinen Fragen 1 und 2, die ich zusammen erörtern werde, ersucht das vorlegende Gericht im Wesentlichen um Hinweise dazu, auf welches räumliche Gebiet bei der Beurteilung der Frage abzustellen ist, ob einer bestimmten Person der Schutz oder Beistand des UNRWA, den sie zuvor in Anspruch genommen hat, „nicht länger gewährt“ wird. Die Fragen beziehen sich insbesondere auf die „Einschlussklausel“ des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 und des Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention(19). Das Vorabentscheidungsersuchen beruht auf der Prämisse, dass die „Ausschlussklausel“ des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 und des Art. 1 Abschnitt D Abs. 1 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. Für meine Analyse lege ich die Annahme zugrunde, dass dies der Fall ist.

1.      Zusammenfassung des Vorbringens der Beteiligten

33.      Die Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben – die Kommission, Belgien, Deutschland und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – stimmen alle darin überein, dass bei der Beurteilung der Frage, ob einer Person der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a nicht länger gewährt wird, nicht nur auf das Operationsgebiet des letzten Aufenthalts der betreffenden Person abzustellen sei. Nach Ansicht der Kommission – der ich grundsätzlich zustimme – ist sowohl auf die Operationsgebiete des UNRWA, zu denen die betreffende Person beim Verlassen des Mandatsgebiets des UNRWA tatsächlich Zugang gehabt hätte(20), als auch auf die Operationsgebiete, zu denen die betreffende Person zum Zeitpunkt der Entscheidung (einschließlich einer gerichtlichen Entscheidung) über den Antrag auf Anerkennung als Flüchtling Zugang hätte, abzustellen.

34.      Nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland ist neben dem Operationsgebiet des letzten tatsächlichen Aufenthalts auch auf sonstige Operationsgebiete, zu denen die betreffende Person einen substanziellen Bezug hat, abzustellen. Bei diesen anderen Operationsgebieten könne es sich um solche handeln, in denen der Antragsteller seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt oder enge Familienangehörige gehabt habe. Nach Ansicht Belgiens ist bei der Beurteilung, ob einem staatenlosen Palästinenser zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser das Mandatsgebiet des UNRWA verlassen habe, der Beistand des UNRWA weiterhin gewährt werde, auf sämtliche Operationsgebiete des UNRWA abzustellen; es obliege dem Antragsteller, nachzuweisen, dass es ihm unmöglich sei, in ein anderes Operationsgebiet des UNRWA zu reisen und dort Schutz oder Beistand in Anspruch zu nehmen.

35.      Frankreich hat keine schriftlichen Erklärungen eingereicht, jedoch eine mündliche Verhandlung beantragt, in der es die Ansicht vertreten hat, dass es für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA noch gewährt werde oder nicht, nur auf das Operationsgebiet ankomme, in dem der Antragsteller vor Stellung seines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ gehabt habe.

2.      Würdigung der Fragen 1 und 2

36.      Festzustellen ist zunächst, dass weder in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a noch in Art. 1 Abschnitt D der „Aufenthalt“ der betreffenden Person erwähnt wird. Maßgebend ist für Satz 1 des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 1 des Art. 1 Abschnitt D, ob der Person Schutz oder Beistand der betreffenden Einrichtung gewährt wird, und für Abs. 2 bzw. Satz 2 dieser beiden Bestimmungen, ob dieser Schutz oder Beistand „nicht länger gewährt“ wird(21).

37.      Sodann ist nach ständiger Rechtsprechung die Prüfung, ob eine Person von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 oder 2 oder beiden Sätzen erfasst ist, als Einzelfallprüfung vorzunehmen und nicht durch Beurteilung der palästinensischen Flüchtlinge oder palästinensischer Flüchtlinge im Allgemeinen als Gruppe(22). Ich teile daher die von einigen Beteiligten geäußerte Besorgnis nicht, dass dann, wenn bei der Beurteilung der Frage, ob der Schutz oder Beistand dieser Einrichtung noch gewährt werde, auf das gesamte Mandatsgebiet des UNRWA abgestellt würde, der Anwendungsbereich der Einschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 übermäßig eingeschränkt würde(23). Diese Prüfung ist als Einzelfallprüfung vorzunehmen, d. h., dass ausschließlich derjenige Schutz oder Beistand in den anderen Operationsgebieten maßgebend sein darf, zu dem der Antragsteller tatsächlich Zugang hatte oder hat.

38.      Aufgrund der verschiedenen Bezugspunkte, die einige der Beteiligten vortragen, erscheint es offenbar allgemein wahrscheinlicher, dass ein bestimmter Antragsteller tatsächlich Zugang zu dem betreffenden Operationsgebiet und somit zu dem vom UNRWA dort gewährten Schutz oder Beistand hätte. Ganz eindeutig ist dies bei einem der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeführten Beispiele der Fall. Wenn ein Antragsteller förmlich berechtigt ist, sich in einem anderen Operationsgebiet aufzuhalten, in dem das UNRWA seinen Beistand leistet, und es ihm möglich ist, dorthin zu reisen, dann hat er offensichtlich tatsächlich Zugang zu diesem Beistand, so dass die Einschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 meines Erachtens keine Anwendung finden kann.

39.      Ob familiäre Beziehungen oder Bindungen, ein früherer gewöhnlicher Aufenthalt oder sonstige substanzielle Bezugspunkte zu einem bestimmten Operationsgebiet einem bestimmten einzelnen Antragsteller tatsächlich den Zugang zum Beistand des UNRWA in diesem Operationsgebiet ermöglichen würden, ist eine Tatsachenfrage, über die meines Erachtens auf der Grundlage des Einzelfalls und unter Berücksichtigung aller einschlägigen tatsächlichen Umstände, einschließlich der persönlichen Umstände des Antragstellers, zu entscheiden ist(24). Hatte der betreffende Antragsteller bei Beurteilung des Einzelfalls zum Zeitpunkt des Verlassens des Mandatsgebiets des UNRWA tatsächlich Zugang zu Schutz oder Beistand des UNRWA oder hat er einen solchen tatsächlichen Zugang zum Zeitpunkt des Ergehens einer Entscheidung (einschließlich einer gerichtlichen Entscheidung) über seinen Antrag, kann nicht angenommen werden, dass er von der Einschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 erfasst ist, unabhängig davon, welcher Art gegebenenfalls die Verbindungen zu dem Operationsgebiet sind, die den Zugang ermöglichten. In diesem Fall kann, wenn das UNRWA in einem oder mehreren Operationsgebieten, die für den Antragsteller zugänglich sind, weiterhin Schutz oder Beistand leistet, nicht davon ausgegangen werden, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ wird. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller diesen Schutz oder Beistand mit dem Verlassen des Operationsgebiets, in dem er zuvor Zugang dazu hatte, aufgehoben hat.

40.      Diese Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a wird durch die Urteile des Gerichtshofs Bolbol, El Kott und Alheto gestützt. In jedem dieser Urteile hat der Gerichtshof das Mandatsgebiet des UNRWA ausdrücklich dahin bezeichnet, dass es sich auf den Gazastreifen, das Westjordanland, Jordanien, den Libanon und Syrien erstreckt, und dieses Gebiet, soweit relevant, als eine Einheit betrachtet(25). Ferner befand der Gerichtshof im Urteil Alheto im Zusammenhang mit einer Frage zu Art. 35 der Richtlinie 2013/32/EU(26), dass eine Person, der „vom UNRWA tatsächlich Schutz und Beistand [in einem anderen Operationsgebiet] gewährt w[urde]“ als dem, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor sie das Mandatsgebiet des UNRWA verließ, und die sich daher dort in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten konnte, ohne der Gefahr einer Zurückweisung in das Gebiet ihres gewöhnlichen Aufenthalts ausgesetzt zu sein, „gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 … in der Union von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen werden [muss]“(27).

41.      Der UNHCR hat über die Jahre verschiedene Leitlinien, Hinweise und sonstige Stellungnahmen zur Auslegung von Art. 1 Abschnitt D und bisweilen von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a heraus- und abgegeben. Diese Stellungnahmen stellen „soft law“ dar und haben als solche einen Hinweischarakter, sind aber nicht verbindlich(28).

42.      Obwohl Art. 1 Abschnitt D unverändert geblieben ist, haben sich die vom UNHCR hierzu geäußerten Ansichten mit der Zeit deutlich geändert. So hat der UNHCR in einer dieser Stellungnahmen(29) die Ansicht vertreten, dass ein palästinensischer Flüchtling, der das Mandatsgebiet des UNRWA aus welchem Grund auch immer verlassen habe, ipso facto unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention falle und Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach der Richtlinie 2004/83 habe, bis er oder sie in dieses Gebiet zurückgekehrt sei (vgl. Nrn. 2.2 und 2.3 jener Stellungnahme – ich weise darauf hin, dass bei dieser Auslegung alle fünf Vorabentscheidungsfragen überflüssig wären), während er in einer seiner Leitlinien(30) die Ansicht vertrat, dass die Einschlussklausel des Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 Anwendung finde, wenn ein oder mehrere „objektive Gründe“ dafür vorlägen, dass das Verlassen des Mandatsgebiets des UNRWA oder der Umstand, dass eine Person daran gehindert sei, den Schutz oder Beistand des UNRWA (erneut) in Anspruch zu nehmen, dazu geführt habe, dass der betreffenden Person dieser Schutz oder Beistand nicht länger gewährt werde (Nrn. 19 und 22 der Leitlinien).

43.      In den vorgenannten Leitlinien vertritt der UNHCR ferner die Ansicht, dass die Prüfung, ob einem palästinensischen Flüchtling der Zugang zum Schutz oder Beistand des UNRWA möglich sei, anhand „eines einheitlichen Mandatsgebiets des UNRWA [a single UNRWA area of operations]“ und nicht anhand „jedes einzelnen Einsatzgebiets des UNRWA [each of UNRWA’s areas of operations]“ vorzunehmen sei(31). Der UNHCR stützt diese Empfehlung auf den Wortlaut der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache El Kott und darauf, dass der Gerichtshof den Begriff „area of operation [Mandatsgebiet]“ in jenem Urteil im Singular verwende(32).

44.      Meines Erachtens ist die Empfehlung des UNHCR nicht überzeugend und wird auch durch die Entscheidung des Gerichtshofs der Rechtssache El Kott(33) nicht gestützt. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der UNHCR in jenem Teil der Leitlinien nicht nur von den Begriffen abweicht, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einheitlich in ihren Resolutionen zum UNRWA, vom UNRWA selbst in der Darstellung seiner Arbeit sowie vom Gerichtshof in seinen Urteilen, einschließlich des Urteils El Kott(34), verwendet werden, sondern auch von den Begriffen, die zuvor vom UNHCR in dessen „Überarbeiteter Stellungnahme zu Artikel 1D der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951“(35) sowie in dessen „Überarbeitetem Vermerk zur Anwendbarkeit von Artikel 1D der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 zur Flüchtlingseigenschaft von palästinensischen Flüchtlingen“(36) verwendet wurden, wo der Begriff „UNRWA area of operations [Mandatsgebiet des UNRWA]“ zur Bezeichnung des gesamten Gebiets, in dem das UNRWA Schutz und Beistand gewährte, verwendet wurde.

45.      In seiner jüngsten Stellungnahme zu dieser Frage, die im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall für den Gerichtshof abgegeben worden ist(37), bezieht sich der UNHCR nicht auf das Urteil El Kott des Gerichtshofs als Stütze für seine Auffassung. In dieser Stellungnahme kehrt der UNHCR zu der gewöhnlich verwendeten Begrifflichkeit zurück und verwendet den Ausdruck „UNRWA area of operations [Einsatz- bzw. Mandatsgebiet des UNRWA]“ zur Einbeziehung aller fünf Operationsgebiete des UNRWA(38). Er äußert die Auffassung, dass die Prüfung, ob Schutz und Beistand nicht länger gewährt werden, „in Bezug auf das Operationsgebiet vorzunehmen ist, in dem sich die Person zuvor aufgehalten hat“(39). Wenn die betreffende Person sich zuvor in einem oder mehreren Operationsgebieten des UNRWA aufgehalten hat, vertritt der UNHCR nunmehr die Auffassung, dass die Prüfung, ob Schutz und Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt werden, in Bezug auf mehr als eines der Gebiete, in denen sich die Person zuvor aufgehalten hat, vorgenommen werden kann. Zur Untermauerung dieser Ansicht führt der UNHCR seine eigenen Leitlinien zum Internationalen Schutz, Nr. 13(40), an, die oben in den Nrn. 43 und 44 angeführt werden, ohne die offenbar nicht ausgeräumten Diskrepanzen zwischen der Stellungnahme und jenen Leitlinien zu klären. Meines Erachtens ist die Stellungnahme ebenso wenig überzeugend wie die Leitlinien.

46.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die Vorlagefragen 1 und 2 wie folgt zu beantworten:

Bei der Beurteilung der Frage, ob im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 einer bestimmten Person der Schutz oder Beistand des UNRWA, den sie zuvor in Anspruch genommen hat, „nicht länger gewährt“ wird, haben die nationalen Gerichte oder zuständigen Verwaltungsbehörden alle Operationsgebiete des UNRWA zu berücksichtigen, in denen der Antragsteller tatsächlich Zugang zum Schutz oder Beistand des UNRWA hätte.

Bei dieser Entscheidung hat das nationale Gericht oder die nationale Verwaltungsbehörde alle einschlägigen tatsächlichen Umstände, einschließlich der persönlichen Umstände des Antragstellers und der Frage, ob ihm ein tatsächlicher Zugang zu diesen Operationsgebieten möglich ist, zu berücksichtigen.

C.      Frage 4

47.      Mit seiner Frage 4, die ich als nächstes prüfen werde, ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise dazu, auf welches räumliche Gebiet bei der Beurteilung der Frage abzustellen ist, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Eigenschaft als ipso facto-Flüchtling seit dem Zeitpunkt weggefallen sind, zu dem der Antragsteller das Mandatsgebiet des UNRWA verlassen hat, und insbesondere, ob das zugrunde zu legende Gebiet dem in der Antwort auf die Fragen 1 und 2 genannten Gebiet entspricht. Die Frage beruht auf der Prämisse, dass die Einschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 auf den Kläger zu dem Zeitpunkt Anwendung fand, zu dem er das Mandatsgebiet des UNRWA verließ, aber zu dem Zeitpunkt keine Anwendung mehr findet, zu dem die zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden oder Gerichte über den Antrag entscheiden, d. h., dass dem Kläger zu dem Zeitpunkt, zu dem er das Mandatsgebiet des UNRWA verließ, der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wurde, sondern dieser dort wiederhergestellt wurde, bevor über seinen Anspruch auf Anerkennung als ipso facto-Flüchtling endgültig entschieden wurde.

 1.      Zusammenfassung des Vorbringens der Beteiligten

48.      Die Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, stimmen letztlich alle darin überein, dass die Antwort auf Frage 4 der Antwort auf Frage 2 entsprechen sollte, d. h., dass für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA zu dem Zeitpunkt, zu dem der Antragsteller das Mandatsgebiet des UNRWA verlasse, nicht länger gewährt werde, und für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA zum Zeitpunkt der Entscheidung der zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden oder Gerichte über den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wiederhergestellt worden sei, auf dasselbe räumliche Gebiet abzustellen sei(41).

49.      Die französische Regierung hat in ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung ihre Ansicht zu den Fragen 1, 2 und 4, wonach das einschlägige räumliche Gebiet das Operationsgebiet sein soll, in dem der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, darauf gestützt, dass dieser Begriff in Art. 2 Buchst. d und n der Richtlinie 2011/95 zur Definition der Voraussetzungen für die Anerkennung eines Staatenlosen als Flüchtling verwendet werde und derselbe Begriff in Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie zur Definition der Voraussetzungen, unter denen ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling sei, verwendet werde.

 2.      Würdigung der Frage 4

50.      Hinweisen möchte ich erstens darauf, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a eine Person „von der Anerkennung als Flüchtling“ ausschließt und dass die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung vom Aufenthalt unabhängig sind, wie in den Nrn. 36 ff. der vorliegenden Schlussanträge erörtert. Dass Art. 2 Buchst. d und n sich auf den „gewöhnlichen Aufenthalt“ beziehen, ist daher für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht maßgebend. Zweitens unterscheidet sich der Sachverhalt, auf den sich die Frage 4 (und die Frage 2) beziehen, von dem, den Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 ins Auge fasst. Diese Bestimmung betrifft den Fall, dass ein Staatenloser bereits als Flüchtling anerkannt worden ist und die Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde, weggefallen sind; sie findet ferner in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 Anwendung, wonach „die Mitgliedstaaten“ einem Staatenlosen „die … Flüchtlingseigenschaft ab[erkennen], [diese] beenden … oder … ihre Verlängerung ab[lehnen], wenn er gemäß Artikel 11 nicht länger Flüchtling ist“ (Hervorhebung nur hier).

51.      In Frage 4 geht es dagegen darum, ob die jeweilige Person nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 überhaupt als Flüchtling anzuerkennen ist. Diese Bestimmung würde – erforderlichenfalls dann, wenn eine spätere Entscheidung über die Aberkennung zu treffen wäre – in Verbindung mit Art. 14 Abs. 3 Anwendung finden, wonach die Mitgliedstaaten einem Staatenlosen „die Flüchtlingseigenschaft ab[erkennen], [diese] beenden … oder … ihre Verlängerung ab[lehnen], falls … die Person gemäß Artikel 12 von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist“ (Hervorhebung nur hier). In Art. 14 Abs. 3 wird der Aufenthalt, sei es der gewöhnliche oder sonstige Aufenthalt, nicht erwähnt.

52.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, Vorlagefrage 4 wie folgt zu beantworten:

Das Gebiet, auf das bei der Entscheidung darüber abzustellen ist, ob zum Zeitpunkt einer Entscheidung über einen Antrag auf Zuerkennung der Eigenschaft als ipso facto-Flüchtling nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung weggefallen sind, entspricht dem Gebiet, auf das bei der Beurteilung abzustellen ist, ob einer bestimmten Person der Schutz oder Beistand des UNRWA, den sie zuvor in Anspruch genommen hat, „nicht länger gewährt“ wird, im Sinne der Antwort auf die Fragen 1 und 2.

D.      Frage 3

53.      Mit seiner dritten Frage bittet das vorlegende Gericht im Wesentlichen um Klärung der Frage, ob sich ein Staatenloser auf eine unsichere persönliche Lage berufen kann, wenn er sich freiwillig in diese Lage gebracht hat, indem er sich von einem sicheren (oder relativ sicheren) Operationsgebiet des UNRWA in ein Gebiet begeben hat, in dem er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, und ob er angesichts dieser freiwillig eingegangenen Gefahr beanspruchen kann, ipso facto den Schutz als Flüchtling nach der Richtlinie 2011/95 zu genießen.

54.      Der Gerichtshof hat im Urteil El Kott bereits klargestellt, dass das freiwillige Verlassen des Mandatsgebiets des UNRWA nicht genügt, um den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nach Art. 1 Abschnitt D zu beenden(42). Er hat jedoch festgestellt, dass dann, wenn einer Person, die den Schutz oder Beistand des UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen hatte, dieser Schutz oder Beistand aus einem von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird, die Einschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Anwendung findet und die Person ipso facto den Schutz der Richtlinie genießt, sofern keine der sonstigen Ausschlussklauseln in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b, Art. 12 Abs. 2 oder Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 greift(43).

55.      In diesem Zusammenhang ist dann davon auszugehen, dass eine Person gezwungen war, das Mandatsgebiet des UNRWA zu verlassen, wenn sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand und es dem UNRWA unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang gestanden hätten(44).

56.      Ausgehend von diesen Erwägungen kann meines Erachtens auch dann, wenn ein sicheres (oder ein relativ sicheres) Operationsgebiet des UNRWA freiwillig verlassen und ein anderes aufgesucht wird, in dem sich der Betroffene in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, nicht geltend gemacht werden, dass dieser Person der Schutz oder Beistand des UNRWA „nicht länger gewährt“ werde.

57.      Insbesondere wenn die unsichere persönliche Lage in dem Operationsgebiet, in das sie sich begeben hat, der betreffenden Person bekannt oder für sie vernünftigerweise vorhersehbar war und sie vernünftigerweise nicht davon ausgehen konnte, in das (relativ) sichere Operationsgebiet, das sie verlassen hatte, oder in ein anderes sicheres Operationsgebiet des UNRWA sicher zurückkehren zu können, kann nicht davon ausgegangen werden, dass ihr der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird.

58.      Ergänzt sei, dass dieses Ergebnis die betreffende Person nicht schutzlos stellt. Sie hat möglicherweise weiterhin Anspruch auf subsidiären Schutz; auch der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 21 der Richtlinie 2011/95 findet weiterhin Anwendung, sie hat jedoch wegen der wissentlich und freiwillig auf sich genommenen unsicheren Lage nicht ipso facto Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

59.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, Vorlagefrage 3 wie folgt zu beantworten:

Eine ihre Anerkennung als Flüchtling beantragende Person kann sich, soweit sie geltend macht, ipso facto Anspruch auf Schutz als Flüchtling nach der Richtlinie 2011/95 zu haben, nicht auf ihre unsichere persönliche Lage berufen, wenn sie sich freiwillig in diese Lage gebracht hat, indem sie sich von einem sicheren (oder relativ sicheren) Operationsgebiet des UNRWA in ein Operationsgebiet begeben hat, in dem sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet.

E.      Frage 5

60.      Das vorlegende Gericht legt die fünfte Frage nur für den Fall vor, dass für die Antworten auf die Fragen 2 und 4 dem gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers Bedeutung zukommt. Ausgehend von den vorgeschlagenen Antworten auf die ersten vier Fragen bedarf Frage 5 keiner Beantwortung durch den Gerichtshof.

61.      Die Kommission hat vorgetragen, dass der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts für die Fragen 2 und 4 nicht maßgeblich sei, Frage 5 aber dennoch einer Beantwortung bedürfe. Sie weist insoweit darauf hin, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ in Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 verwendet werde, der gegebenenfalls auch auf staatenlose Palästinenser Anwendung finde.

62.      Dem Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass die Entscheidung über den von XT gestellten Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch nicht endgültig ist, da die Rechtssache noch im Rechtsmittelverfahren anhängig ist. Die Frage einer späteren Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber XT ist offenbar nicht Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Revisionsverfahrens, und dieses Gericht ersucht den Gerichtshof nicht um eine Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. f dieser Richtlinie. Wie in Nr. 50 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, wäre auf den hypothetischen Fall einer künftigen Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber XT auf der Grundlage der Ausschlussklausel in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 anwendbar, der nicht in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 Buchst. f Anwendung findet. Meines Erachtens ist Frage 5 daher hypothetischer Natur, es sei denn, dem Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ des Klägers käme für die Antworten auf Frage 2 oder 4 oder beide Fragen Bedeutung zu. Dies ist meines Erachtens (und auch nach Ansicht der Kommission) nicht der Fall.

IV.    Ergebnis

63.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Bei der Beurteilung der Frage, ob im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes einer bestimmten Person der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA), den sie zuvor in Anspruch genommen hat, „nicht länger gewährt“ wird, haben die nationalen Gerichte oder zuständigen Verwaltungsbehörden alle Operationsgebiete des UNRWA zu berücksichtigen, in denen der Antragsteller tatsächlich Zugang zum Schutz oder Beistand des UNRWA hätte.

Bei dieser Entscheidung hat das nationale Gericht oder die nationale Verwaltungsbehörde alle einschlägigen tatsächlichen Umstände, einschließlich der persönlichen Umstände des Antragstellers und der Frage, ob ihm ein tatsächlicher Zugang zu diesen Operationsgebieten möglich ist, zu berücksichtigen.

2.      Das Gebiet, auf das bei der Entscheidung darüber abzustellen ist, ob zum Zeitpunkt einer Entscheidung über einen Antrag auf Zuerkennung der Eigenschaft als ipso facto-Flüchtling nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung weggefallen sind, entspricht dem Gebiet, auf das bei der Beurteilung abzustellen ist, ob einer bestimmten Person der Schutz oder Beistand des UNRWA, den sie zuvor in Anspruch genommen hat, „nicht länger gewährt“ wird, im Sinne der Antwort auf die Fragen 1 und 2.

3.      Eine ihre Anerkennung als Flüchtling beantragende Person kann sich, soweit sie geltend macht, ipso facto Anspruch auf Schutz als Flüchtling nach der Richtlinie 2011/95 zu haben, nicht auf ihre unsichere persönliche Lage berufen, wenn sie sich freiwillig in diese Lage gebracht hat, indem sie sich von einem sicheren (oder relativ sicheren) Operationsgebiet des UNRWA in ein Operationsgebiet begeben hat, in dem sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet.

4.      Ausgehend von den vorgeschlagenen Antworten auf die ersten vier Fragen bedarf Frage 5 keiner Beantwortung durch den Gerichtshof.














































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