Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
TAMARA ĆAPETA
vom 21. März 2024(1 )
Rechtssache C ‑494/22 P
Europäische Kommission
gegen
Tschechische Republik
„Rechtsmittel – Eigenmittel der Union – Zölle – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Zahlung von Beträgen, die nicht eingezogenen Eigenmitteln entsprechen, an die Kommission – Untersuchung der Umgehung von Antidumpingzöllen auf Taschenfeuerzeuge aus Laos – Missionsbericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung – Art. 268 und 340 AEUV“
I. Einleitung
1. Aller guten Dinge sind drei, wie man so schön sagt.
2. Mit dieser Rechtssache versucht die Tschechische Republik zum dritten Mal, einen Streit mit der Europäischen Kommission über die Verpflichtung zur Gutschrift von Eigenmitteln der Union vor den Unionsgerichten auszutragen. Zuvor hatte der Mitgliedstaat versucht, erstens eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV (auf Nichtigerklärung des Zahlungsaufforderungsschreibens der Kommission)(2 ) und zweitens eine Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV (weil die Kommission es versäumt habe, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihn einzuleiten) zu erheben(3 ).
3. In seinem Grundsatzurteil in der Rechtssache Tschechische Republik/Kommission(4 ) vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass in dem Fall, dass ein Mitgliedstaat mit der Kommission in Bezug auf seine Verpflichtungen im Bereich der Eigenmittel uneins ist, weder eine Nichtigkeitsklage möglich ist, noch die Kommission verpflichtet werden kann, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Dem Mitgliedstaat steht es jedoch frei, Erstattung wegen ungerechtfertigter Bereicherung der Union zu fordern und insoweit eine Klage vor dem Gericht anzustrengen.
4. In der Praxis muss ein Mitgliedstaat daher den streitigen Betrag an Eigenmitteln der Union dem Konto der Kommission gutschreiben, um im Fall eines Unterliegens im Rechtsstreit keine Verzugszinsen zahlen zu müssen. Der Mitgliedstaat hat dann im Rahmen der Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung der Europäischen Union auf Erstattung dieses Betrags die Möglichkeit, zu beweisen, dass die Kommission im Unrecht war.
5. Genau das hat die Tschechische Republik getan. Nachdem die verfahrensrechtliche Hürde nun genommen ist, geht es im Rechtsmittelverfahren vor dem Gerichtshof in materiell-rechtlicher Hinsicht um die Frage, ob der Mitgliedstaat oder die Kommission die Haushaltsvorschriften der Union richtig verstanden hat.
6. Mit dem Urteil des Gerichts vom 11. Mai 2022, Tschechische Republik/Kommission (T‑151/20, EU:T:2022:281, im Folgenden: angefochtenes Urteil), hat das Gericht der Klage der Tschechischen Republik wegen ungerechtfertigter Bereicherung teilweise stattgegeben. Das Gericht hat im Wesentlichen festgestellt, dass die Tschechische Republik von ihrer Verpflichtung zur Zahlung bestimmter Eigenmittelbeträge, die sich als uneinbringlich erwiesen hätten, habe befreit werden können und dass sie berechtigt gewesen sei, einen Missionsbericht des Amtes für Betrugsbekämpfung der Europäischen Union (im Folgenden: OLAF)(5 ) abzuwarten, bevor sie die erforderlichen Maßnahmen getroffen habe, um diese Beträge in die entsprechende Buchführung aufzunehmen.
7. Mit dem Rechtsmittel macht die Kommission geltend, dass die Tschechische Republik nach Unionsrecht verpflichtet gewesen sei, sämtliche streitigen Beträge zu zahlen, und dass keine ungerechtfertigte Bereicherung der Europäischen Union vorliege.
8. Diese Rechtssache wirft also wichtige grundsätzliche und praktische Fragen zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach dem Eigenmittelrecht der Union auf. Es geht im Wesentlichen um zwei Fragen. Die erste erfordert eine Auslegung des einschlägigen Unionsrechts, um festzustellen, ob einem Mitgliedstaat im Fall der verspäteten buchmäßigen Erfassung die Befreiung von seinen Verpflichtungen zur Bereitstellung von Eigenmitteln verwehrt ist. Die zweite betrifft die Frage, ob die Tschechische Republik unter den besonderen Umständen dieses Falles die Ansprüche der Union verspätet festgestellt und verbucht hat, weil sie den Missionsbericht des OLAF abwartete.
II. Hintergrund
A. Das Eigenmittelsystem der Union und das einschlägige Unionsrecht
9. Die Europäische Union stützt sich auf einen ausgeglichenen Haushalt, der hauptsächlich aus Eigenmitteln finanziert wird. Bei den Eigenmitteln der Union handelt es sich im Wesentlichen um Einnahmen, die dem Unionshaushalt automatisch zufließen, ohne dass spätere Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Behörden erforderlich sind(6 ).
10. Es gibt verschiedene Arten von Eigenmitteln, darunter die traditionellen Eigenmittel (im Folgenden: TEM), die hauptsächlich aus Zöllen auf aus Drittländern eingeführte Waren bestehen(7 ). TEM sind eine direkte Einnahmequelle für die Europäische Union, die nicht von Beiträgen der Mitgliedstaaten abhängig sind(8 ). Sie sind in vollem Umfang durch den Unionsgesetzgeber festgelegt(9 ), und die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Erhebung und Übertragung dieser Mittel haben reinen Durchführungscharakter(10 ).
11. Da die Europäische Union jedoch keine eigenen Steuererhebungsstellen hat, müssen die Mitgliedstaaten die Zölle erheben und an den Unionshaushalt abführen (in der Terminologie der Unionsvorschriften „bereitstellen“ oder „zur Verfügung stellen“), indem sie sie auf ein für die Kommission eingerichtetes Konto einzahlen (wobei sie einen bestimmten Prozentsatz für die Erhebungskosten behalten dürfen).
12. Kurz gesagt sind TEM also Geld der Union, aber die Europäische Union ist auf die Mitgliedstaaten angewiesen, um es zu bekommen.
13. Somit unterliegt das Eigenmittelsystem der Union einem spezifischen Unionsrechtsrahmen(11 ), der im Mittelpunkt des vorliegenden Falles steht. In diesem System haben die Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum und müssen die Eigenmittel nach den in den Rechtsvorschriften der Union über Eigenmittel festgelegten Regeln (einschließlich der geltenden Fristen) zur Verfügung stellen(12 ).
14. Einschlägig in diesem Fall sind die Beschlüsse 2000/597(13 ) und 2007/436(14 ) in Verbindung mit der Verordnung Nr. 1150/2000(15 ).
15. Die Verordnung Nr. 1150/2000 enthält Bestimmungen über die Bereitstellung von Eigenmitteln an die Kommission. Diese erfolgt in drei Schritten. Erstens muss ein Mitgliedstaat Ansprüche der Union feststellen , was in Art. 2 der Verordnung geregelt ist. Zweitens muss der Mitgliedstaat diese Ansprüche gemäß Art. 6 der Verordnung in die Buchführung aufnehmen . Drittens muss der Mitgliedstaat gemäß den Art. 9 und 10 der Verordnung den festgestellten Betrag für die Kommission bereitstellen , indem er den den Ansprüchen entsprechenden Betrag dem für die Kommission eingerichteten Konto gutschreibt.
16. Was die Feststellung der Ansprüche betrifft, so stellt Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 eine Verbindung zu den Zollvorschriften der Union her. Danach ist der Anspruch der Europäischen Union auf die TEM festzustellen, „sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind“(16 ). Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung ist der Zeitpunkt der Feststellung „der Zeitpunkt der buchmäßigen Erfassung im Sinne der Zollvorschriften“.
17. Was die buchmäßige Erfassung der Ansprüche betrifft, verpflichtet Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 die Mitgliedstaaten, über die Eigenmittel eigenständig Buch zu führen(17 ). Nach Art. 6 Abs. 3 der Verordnung haben die Mitgliedstaaten die TEM innerhalb der vorgegebenen Fristen(18 ) in eine von zwei Buchführungen aufzunehmen. Im Regelfall, d. h. wenn sie fällige Beträge erhoben oder eine Sicherheit vom Schuldner erhalten haben, nehmen sie den Anspruch in die reguläre Buchführung auf, hier als „A-Buchführung“ bezeichnet. Wurden die Beträge jedoch nicht vom Schuldner eingezogen oder wurde für sie keine Sicherheit geleistet oder werden Beträge, für die eine Sicherheit geleistet worden ist, angefochten und können Veränderungen unterworfen sein, nehmen die Mitgliedstaaten die Ansprüche der Union in eine gesonderte Buchführung auf, hier als „B-Buchführung“ bezeichnet.
18. Hinsichtlich der Bereitstellung der Eigenmittel für die Kommission sieht Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 vor, dass die Mitgliedstaaten die Eigenmittel nach Maßgabe von Art. 10 dem Konto gutschreiben müssen, das zu diesem Zweck für die Kommission eingerichtet wurde. Nach Art. 10 Abs. 1 dieser Verordnung muss die Gutschrift der Eigenmittel aus der A-Buchführung auf dem für die Kommission eingerichteten Konto nach Abzug von Erhebungskosten innerhalb einer Frist erfolgen, die sich nach dem Zeitpunkt der Feststellung der Ansprüche richtet, während die Gutschrift der Eigenmittel aus der B-Buchführung innerhalb einer Frist erfolgen muss, die sich nach dem Zeitpunkt der Einziehung der Ansprüche richtet. Nach Art. 11 der Verordnung sind bei verspäteter Gutschrift der Eigenmittel auf dem Konto der Kommission Verzugszinsen zu entrichten.
19. Nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 „[haben] [d]ie Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Beträge, die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechen, der Kommission nach Maßgabe dieser Verordnung zur Verfügung gestellt werden“.
20. Für in die B-Buchführung aufgenommene Ansprüche sieht Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 in der im fraglichen Zeitpunkt geltenden Fassung jedoch vor, dass die Mitgliedstaaten „nicht verpflichtet [sind], der Kommission die den festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, wenn diese entweder a) aus Gründen höherer Gewalt oder b) aus anderen, nicht von den Mitgliedstaaten zu vertretenden Gründen nicht erhoben werden konnten“.
21. Nach Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 gelten Beträge festgestellter Ansprüche als uneinbringlich „spätestens nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt ihrer Feststellung gemäß Artikel 2“ oder, falls ein Rechtsmittel eingelegt wurde, ab dem Zeitpunkt, an dem die diesbezügliche Gerichtsentscheidung ergangen ist bzw. mitgeteilt oder veröffentlicht wurde. Solche uneinbringlichen Beträge werden aus der B-Buchführung endgültig herausgenommen(19 ).
22. Gemäß dem in Art. 17 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 1150/2000 vorgesehenen Verfahren müssen die Mitgliedstaaten der Kommission Mitteilung über die Fälle machen, in denen die uneinbringlichen Beträge 50 000 Euro übersteigen (oft als „Abschreibungsmitteilung“ bezeichnet). Die Kommission hat sodann ihre Bemerkungen hinsichtlich der Beurteilung zu übermitteln, ob die Befreiung des Mitgliedstaats nach Art. 17 Abs. 2 von seiner Verpflichtung gerechtfertigt ist, wie im vorliegenden Fall geschehen.
B. Vorgeschichte des Rechtsstreits vor dem Gericht
23. Die Rechtssache erwuchs aus einem Streit zwischen der Tschechischen Republik und der Kommission über die Frage, ob der Mitgliedstaat bestimmte den Eigenmitteln der Union entsprechende Beträge verspätet festgestellt hat, weil er auf Informationen des OLAF gewartet hatte. Im Folgenden wird die Abfolge der Ereignisse dargestellt, die zur vorliegenden Rechtssache geführt haben.
24. Im Jahr 2001 führte die Europäische Union Antidumpingzölle auf Taschenfeuerzeuge aus China ein(20 ). Daraufhin wollte man diese Zölle umgehen, und es wurde versucht, die Feuerzeuge unter Verstoß gegen das Unionsrecht mit falschen Ursprungsangaben aus einer Reihe südostasiatischer Länder, darunter Laos, in die Europäische Union einzuführen.
25. Die Baide Lighter Industry (LAO) Co., Ltd. ist ein Unternehmen in Laos, das über seine europäische Gesellschaft Baide International (Europe) s.r.o. in Prag (Tschechische Republik) Taschenfeuerzeuge in die Europäische Union einführte. Ich werde diese Unternehmen nachfolgend zusammen als „Baide“ bezeichnen.
26. Am 22. März 2006 erstellten die tschechischen Behörden ein Risikoprofil (im Folgenden: Risikoprofil), aus dem hervorging, dass ein begründeter Verdacht der Umgehung der Zollvorschriften bei der Einfuhr von Feuerzeugen bestehe, und ordneten interne Kontrollen an.
27. Am 13. April 2006 sandten die tschechischen Behörden dem OLAF ein Schreiben, in dem sie über Fälle von Feuerzeugimporten informierten und den Verdacht des Betrugs durch Unternehmen wie Baide äußerten.
28. Am 28. August 2006 leiteten die tschechischen Behörden eine Untersuchung gegen Baide ein.
29. Am 2. November 2006 aktualisierten die tschechischen Behörden das Risikoprofil.
30. Am 20. Dezember 2006 leitete das OLAF eine Untersuchung über die Einfuhr von Feuerzeugen aus Laos für den Zeitraum 2004 bis 2006 ein.
31. Am 30. April 2007 stellte das OLAF ein Amtshilfeersuchen, das an die Mitgliedstaaten übermittelt wurde, um sie auf den Betrugsverdacht aufmerksam zu machen und um weitere Informationen zu ersuchen.
32. Vom 2. bis 26. November 2007 wurde eine Mission der Europäischen Union nach Laos und Thailand entsandt, um die mutmaßliche Umgehung von Antidumpingzöllen auf Feuerzeuge zu untersuchen, die im Zeitraum von 2004 bis 2007 aus Laos in die Europäische Union eingeführt worden waren (im Folgenden: Mission). Das Team der Mission der Europäischen Union bestand aus Beamten des OLAF und der Zollbehörden der Tschechischen Republik, Deutschlands und des Vereinigten Königreichs, also der drei Mitgliedstaaten, die als die von diesem Warenverkehr Hauptbetroffenen galten.
33. Im Verlauf der Mission erstellten und unterzeichneten die Mitglieder des Missionsteams und die laotischen Behörden am 15. November 2007 ein Dokument mit dem Titel „Agreed Joint Minutes“ (im Folgenden: gemeinsames Protokoll)(21 ). Dieses Protokoll beschrieb die Hintergründe der Mission und die im Rahmen der Mission getroffenen Feststellungen und enthielt eine Reihe von Anlagen.
34. In dem gemeinsamen Protokoll wurde insbesondere auf die von den laotischen Behörden vor der Mission durchgeführte Voruntersuchung verwiesen, die zu dem Ergebnis gekommen war, dass es sich bei 96 der 110 in der Liste der Unionseinfuhren aufgeführten Ladungen um Wiederausfuhren eingeführter chinesischer Feuerzeuge handelte, während es sich bei den übrigen 14 Ladungen um Feuerzeuge mit Ursprung in Laos handelte. In diesem Protokoll wurden auch weitere Informationen und Unterlagen erwähnt, die von den laotischen Behörden sowie bei einem Besuch in den Räumlichkeiten von Baide in Laos eingeholt bzw. beschafft worden waren. Ferner wurde festgehalten, dass vereinbart worden sei, dass die laotischen Behörden weitere Untersuchungen hinsichtlich einiger weiterer Ladungen durchführen würden, die im Laufe der Mission ermittelt worden waren, und dass das Missionsteam an konkrete Behörden in Laos ein neues Ersuchen zur Beschaffung von Zollerklärungen für alle betreffenden Ladungen stellen würde.
35. Nach der Rückkehr von der Mission hatte das OLAF zugesagt, der Tschechischen Republik die im Rahmen der Mission gesammelten Beweise Anfang 2008 zu übermitteln. Allerdings verzögerte sich die Übermittlung des Berichts des OLAF, dem die Beweise beigefügt waren.
36. Am 6. Mai 2008 stellte Baide ihre Tätigkeit in der Tschechischen Republik ein.
37. Am 30. Mai 2008 verabschiedete das OLAF einen Bericht über die Mission (im Folgenden: OLAF‑Bericht). Der Bericht enthielt eine Zusammenfassung der Mission, der Ergebnisse und der Empfehlungen des OLAF; ihm waren die im Laufe der Mission gesammelten Beweise beigefügt.
38. Der OLAF‑Bericht fasste insbesondere die im Laufe der Mission erlangten Informationen zusammen und stellte fest, dass die in Laos vorhandenen Informationen zusammen mit den von den Mitgliedstaaten bereitgestellten Informationen es dem OLAF ermöglichten, einen vollständigen Prüfpfad für 67 in die Europäische Union eingeführte Ladungen zu erstellen. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass Baide Feuerzeuge aus China nach Laos einführte und über Thailand in die Europäische Union wieder ausführte und so Antidumpingzölle umging.
39. In den Empfehlungen des OLAF in diesem Bericht heißt es hierzu: „Es wird davon ausgegangen, dass die im Lauf der Untersuchungsreise gesammelten Beweise für den chinesischen Ursprung insoweit dafür ausreichen, dass die Mitgliedstaaten ein Steuerberichtigungsverfahren durchführen.“
40. Am 9. Juli 2008 wurde der OLAF‑Bericht der Tschechischen Republik übermittelt.
41. Am 4. August 2008 erhielt die Tschechische Republik auf ihre Anfrage hin eine tschechische Fassung des OLAF‑Berichts.
42. Am 11. August 2008 fand eine Besprechung der tschechischen Behörden über die zu treffenden Maßnahmen statt. Am selben Tag führten die tschechischen Behörden eine Inspektion der Geschäftsräume von Baide in Prag durch und stellten fest, dass das Unternehmen aus dem Register gelöscht worden und am 6. Mai 2008 ausgezogen war.
43. Ab September 2008 ergriffen die tschechischen Behörden – mit letztlich geringem Erfolg – Maßnahmen zur Berichtigung und Beitreibung der Zollabgaben in 28 Fällen, in denen zwischen dem 26. September 2005 und dem 1. März 2007 Feuerzeuge durch Baide in die Tschechische Republik eingeführt und in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden waren.
44. Zwischen dem 22. September 2008 und dem 18. Februar 2009 stellte die Tschechische Republik die von Baide geschuldeten Zölle fest und nahm die Beträge, die den festgestellten, aber noch nicht eingezogenen Ansprüchen in diesen Fällen entsprachen, gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1150/2000 in die B-Buchführung auf.
45. Am 10. Dezember 2008 verabschiedete das OLAF einen Abschlussbericht über die Untersuchung der Einfuhren von Feuerzeugen aus Laos im Zeitraum 2004 bis 2006 (im Folgenden: OLAF‑Abschlussbericht). Darin wurden die Hintergründe und die Ergebnisse der Mission zusammengefasst und die rechtliche Beurteilung und die Schlussfolgerungen des OLAF dargelegt.
46. Zwischen November 2013 und November 2014 übermittelte die Tschechische Republik der Kommission Berichte über die 28 Fälle, in denen der Mitgliedstaat der Auffassung war, dass er gemäß Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 von der Verpflichtung befreit werden müsse, der Kommission diese Beträge zur Verfügung zu stellen, weil die Einziehung unmöglich sei.
47. Nach mehrfachem Informationsaustausch übermittelte die Kommission der Tschechischen Republik am 20. Januar 2015 ein Schreiben, in dem sie ihren Standpunkt darlegte, dass die Bedingungen von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 in den 28 Fällen nicht erfüllt seien. Die Kommission forderte den Mitgliedstaat auf, den Betrag von 53 976 340 tschechischen Kronen (CZK) (etwa 2 112 708 Euro) ihrem Konto gutzuschreiben.
48. Am 17. März 2015 zahlte die Tschechische Republik, nachdem sie Vorbehalte geäußert und Erhebungskosten in Höhe von 25 % abgezogen hatte, 75 % dieses Betrags (40 482 255 CZK, d. h. etwa 1 584 531 Euro) auf das Konto der Kommission ein(22 ).
C. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
49. Am 16. März 2020 erhob die Tschechische Republik beim Gericht Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung der Europäischen Union und verlangte Erstattung dieses Betrags.
50. Das Königreich Belgien und die Republik Polen sind zur Unterstützung der Anträge der Tschechischen Republik als Streithelfer beigetreten.
51. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht der Klage der Tschechischen Republik hinsichtlich eines Teilbetrags stattgegeben.
52. Erstens hat das Gericht die Auffassung vertreten, dass sich die Tschechische Republik auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könne, um von ihrer Verpflichtung, der Kommission die fraglichen Beträge zur Verfügung zu stellen, befreit zu werden, unabhängig davon, ob der Mitgliedstaat es versäumt habe, eine rechtzeitige Aufnahme in die B-Buchführung unter Einhaltung der in Art. 6 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen Fristen vorzunehmen. Zudem habe die Tschechische Republik die Aufnahme rechtzeitig vorgenommen, da diese Fristen nicht ab dem Zeitpunkt zu berechnen seien, zum dem die in Rede stehenden Ansprüche hätten festgestellt werden müssen, sondern ab dem Zeitpunkt, zu dem diese Ansprüche tatsächlich festgestellt worden seien (Rn. 85 bis 93 des angefochtenen Urteils).
53. Zweitens hat das Gericht die Auffassung vertreten, dass die Tschechische Republik die von Baide geschuldeten Zölle erst nach Erhalt des OLAF‑Berichts habe feststellen können und dass der Mitgliedstaat nicht verpflichtet gewesen sei, dies bei der Rückkehr von der Mission zu tun. Die Tschechische Republik sei berechtigt gewesen, diesen Bericht abzuwarten und die Vorlage der bei der Mission gesammelten Beweismittel nicht früher zu verlangen, da das OLAF sich verpflichtet habe, die Beweise Anfang 2008 zu übermitteln, dies aber verspätet geschehen sei, und das OLAF tatsächlich am besten in der Lage gewesen sei, die Analyse und Prüfung der Beweise durchzuführen (Rn. 94 bis 126 des angefochtenen Urteils).
54. Drittens hat das Gericht festgestellt, dass die Einstellung der Tätigkeit von Baide in der Tschechischen Republik einen nicht von diesem Mitgliedstaat zu vertretenden Grund im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 darstelle, der diesen Mitgliedstaat von der Pflicht entbunden habe, den streitigen Betrag der Union zur Verfügung zu stellen, da im Inland kein Vermögen mehr habe gepfändet werden können (Rn. 127 bis 137 des angefochtenen Urteils).
55. Viertens hat das Gericht jedoch die Auffassung vertreten, dass die Tschechische Republik nach Unionsrecht verpflichtet gewesen sei, für die von Baide geschuldeten Antidumpingzölle ab dem Zeitpunkt der Annahme des Risikoprofils am 22. März 2006 eine Sicherheit zu verlangen. Auf dieser Grundlage ist das Gericht zu dem Schluss gekommen, dass in den zwölf der 28 Fälle, in denen die Einfuhren vor diesem Datum erfolgt seien, eine ungerechtfertigte Bereicherung der Union vorliege, nicht aber in den 16 Fällen, in denen sie nach diesem Datum stattgefunden hätten (Rn. 145 bis 196 des angefochtenen Urteils).
D. Verfahren vor dem Gerichtshof
56. Mit ihrem am 22. Juli 2022 eingelegten Rechtsmittel beantragt die Kommission, Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben, die Klage abzuweisen und der Tschechischen Republik die Kosten aufzuerlegen, hilfsweise, die Sache zur Entscheidung über die Teile der Klagegründe, über die bisher noch nicht entschieden wurde, an das Gericht zurückzuverweisen und die Entscheidung über die Kosten vorzubehalten.
57. In ihrer am 8. November 2022 eingereichten Rechtsmittelbeantwortung beantragt die Tschechische Republik, das Rechtsmittel als unzulässig, hilfsweise als unbegründet, zurückzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
58. Die Kommission und die Tschechische Republik haben ferner am 13. März 2023 bzw. am 21. April 2023 eine Erwiderung bzw. eine Gegenerwiderung eingereicht.
59. Das Königreich Belgien und die Republik Polen beantragen, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
60. Mit Beschluss vom 13. Februar 2023 hat der Präsident des Gerichtshofs das Königreich der Niederlande als Streithelfer zur Unterstützung der Tschechischen Republik zugelassen.
61. Am 10. Januar 2024 fand eine Sitzung statt, in der die Kommission, die Tschechische Republik sowie die belgische, die niederländische und die polnische Regierung mündlich verhandelt haben.
III. Würdigung
62. Die Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung der Europäischen Union wurde vom Gerichtshof unter dem Begriff der außervertraglichen Haftung der Union entwickelt(23 ).
63. Um mit einer solchen Klage Erfolg zu haben, muss die Tschechische Republik als Klägerin den Nachweis erbringen, dass die Europäische Union ohne wirksame Rechtsgrundlage bereichert und die Tschechische Republik im Zusammenhang mit dieser Bereicherung entreichert ist(24 ).
64. Unstreitig ist im vorliegenden Verfahren, dass die Europäische Union in Höhe der Entreicherung der Tschechischen Republik bereichert ist, da der Mitgliedstaat den streitigen Betrag an Eigenmitteln der Union gezahlt hat, auch wenn er mit der Kommission hinsichtlich seiner Verpflichtung zur Zahlung nicht übereinstimmte. Zentrale Frage des Streits im vorliegenden Fall ist vielmehr, ob es eine wirksame Rechtsgrundlage für eine solche Zahlung gab.
65. Sollte sich die Tschechische Republik erfolgreich auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen können, gäbe es keine wirksame Rechtsgrundlage für die Zahlung. Die Europäische Union wäre dann ungerechtfertigt bereichert und müsste den fraglichen Betrag herausgeben.
66. Das Gericht hat entschieden, dass sich die Tschechische Republik auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könne, um Erstattung eines Teils des dem Unionshaushalt gutgeschriebenen Betrags zu verlangen.
67. Im Rechtsmittelverfahren macht die Kommission geltend, dass die Tschechische Republik die Beträge verspätet festgestellt und verbucht habe, so dass sie sich nicht auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könne. Daher sei der Mitgliedstaat nicht von seiner Pflicht entbunden gewesen, der Kommission sämtliche streitigen Beträge zur Verfügung zu stellen, und es seien keine Beträge zurückzuzahlen.
68. Die Kommission macht zwei Rechtsmittelgründe geltend. Der erste Rechtsmittelgrund stützt sich auf die fehlerhafte Auslegung von Art. 6 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 durch das Gericht. Der zweite Rechtsmittelgrund stützt sich auf die fehlerhafte Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 in Verbindung mit Art. 217 Abs. 1 des Zollkodex und Art. 325 AEUV durch das Gericht.
69. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird im Wesentlichen die Feststellung des Gerichts angefochten, dass sich ein Mitgliedstaat auch dann auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könne, wenn die Aufnahme in die B-Buchführung gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung verspätet erfolgt sei. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wird die Feststellung des Gerichts angefochten, dass die Tschechische Republik die Aufnahme rechtzeitig vorgenommen habe, weil sie berechtigt gewesen sei, den OLAF‑Bericht abzuwarten.
70. Die Tschechische Republik, unterstützt von der belgischen, der niederländischen und der polnischen Regierung, macht geltend, dass das von der Kommission eingelegte Rechtsmittel als unzulässig, jedenfalls aber als unbegründet zurückzuweisen sei.
71. Ich werde zunächst darlegen, warum die von der Tschechischen Republik vorgebrachten Argumente hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsmittels meines Erachtens nicht greifen (A). Anschließend werde ich darlegen, warum ich den ersten (B) und den zweiten (C) Rechtsmittelgrund für begründet halte.
A. Zulässigkeit
72. Die Tschechische Republik macht geltend, dass beide Rechtsmittelgründe unzulässig seien, da sie nicht den verfahrensrechtlichen Anforderungen entsprächen, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Klarheit und Bestimmtheit des Rechtsmittels und die genaue Bezeichnung der beanstandeten Teile des angefochtenen Urteils ausgelegt würden(25 ). Der Mitgliedstaat macht ferner geltend, dass einige der Argumente der Kommission neu seien und im Rahmen des Verfahrens vor dem Gericht nicht geprüft worden seien(26 ). Insbesondere habe die Kommission, wie die Tschechische Republik in der Sitzung betont hat, ihren Standpunkt geändert und auf der Grundlage des gemeinsamen Protokolls neue Argumente vorgebracht, die sie vor dem Gericht nicht geltend gemacht habe.
73. Meines Erachtens sind die Argumente der Tschechischen Republik zurückzuweisen.
74. Erstens sind entgegen dem Vorbringen des Mitgliedstaats in beiden Rechtsmittelgründen die beanstandeten Randnummern des angefochtenen Urteils genau bezeichnet und die Gründe dargelegt, aus denen diese Randnummern nach Ansicht der Kommission mit einem Rechtsfehler behaftet sind, was es dem Gerichtshof ermöglicht, von seiner Befugnis zur Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit Gebrauch zu machen.
75. Zweitens hat die Kommission entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik im Rechtsmittelverfahren keine neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend gemacht. Insoweit ergibt sich aus den Rn. 94, 95 und 104 des angefochtenen Urteils sowie aus den Schriftsätzen der Kommission und der Tschechischen Republik im Verfahren vor dem Gericht(27 ), dass sich die Kommission auf das gemeinsame Protokoll gestützt hat, um vor dem Gericht geltend zu machen, dass die Tschechische Republik über ausreichende Informationen verfügt habe, um die Zollschuld spätestens bei der Rückkehr von der Mission festzustellen. Soweit die Kommission mit ihrem Rechtsmittelvorbringen darlegen will, dass das Gericht zu Unrecht befunden habe, dass die Tschechische Republik mit der Feststellung der Beträge bis zur Vorlage des OLAF‑Berichts habe warten dürfen, handelt es sich um eine Erweiterung eines vor dem Gericht geltend gemachten Verteidigungsmittels und nicht um ein neues, erstmals im Rechtsmittelverfahren vorgebrachtes Verteidigungsmittel.
76. Meines Erachtens ist das Rechtsmittel daher zulässig.
B. Erster Rechtsmittelgrund
77. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügt die Kommission, dass das Gericht in den Rn. 85 bis 93 des angefochtenen Urteils Art. 6 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 falsch ausgelegt habe.
78. Das zentrale Argument der Kommission lautet, dass das Gericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass sich ein Mitgliedstaat auch dann auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könne, wenn er die Ansprüche verspätet gemäß Art. 6 Abs. 3 der Verordnung in die B-Buchführung aufgenommen habe.
79. Die Tschechische Republik, unterstützt von der belgischen, der niederländischen und der polnischen Regierung, macht geltend, dass die Auslegung der Kommission in Bezug auf das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 3 Buchst. b und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 nicht durch den Wortlaut und die Ziele dieser Bestimmungen gestützt werde. Nach Ansicht der vorgenannten Mitgliedstaaten kann eine verspätete Aufnahme in die B-Buchführung nicht automatisch dazu führen, dass einem Mitgliedstaat die Berufung auf Art. 17 Abs. 2 verwehrt ist. Dies liefe der Intention des Unionsgesetzgebers, die dieser Bestimmung zugrunde liege, zuwider.
80. Meines Erachtens hängt die Auslegung des Verhältnisses zwischen Art. 6 Abs. 3 Buchst. b und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 von der Frage ab, wann die Verbuchung eines Anspruchs als verspätet anzusehen ist. Ist die Verbuchung verspätet, weil ein Mitgliedstaat sie aufgrund seines eigenen Versäumnisses nicht früher vorgenommen hat, gibt es keinen Grund, diesem Mitgliedstaat zu erlauben, sich auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 zu berufen. Nach der letztgenannten Bestimmung kann ein Mitgliedstaat nur dann von der Verpflichtung befreit werden, Beträge dem Unionshaushalt gutzuschreiben, wenn sich die Schuld aus Gründen, die nicht von dem Mitgliedstaat zu vertreten sind, als uneinbringlich erweist(28 ).
81. Zunächst werde ich der Frage nachgehen, wann die Verbuchung eines Anspruchs durch einen Mitgliedstaat als verspätet und infolgedessen als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1150/2000 anzusehen ist. Anschließend werde ich mich mit dem Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 2 dieser Verordnung befassen und prüfen, ob im Fall einer verspäteten Verbuchung einem Mitgliedstaat die Berufung auf Art. 17 Abs. 2, um von seinen Verpflichtungen befreit zu werden, verwehrt ist.
1. Wann ist die Verbuchung von Ansprüchen durch einen Mitgl iedstaat verspätet?
82. Nach Auffassung der Kommission ist die Verbuchung verspätet, wenn sie nach Ablauf der hierfür geltenden Frist erfolge, die ab dem Zeitpunkt zu berechnen sei, zu dem der Mitgliedstaat den Anspruch hätte feststellen müssen . Nach Auffassung der Tschechischen Republik und der als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten kann die Frist für die Verbuchung des Anspruchs hingegen erst ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem der Mitgliedstaat den Anspruch tatsächlich festgestellt hat .
83. Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut der Verordnung Nr. 1150/2000 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Feststellung und die Verbuchung von Ansprüchen eng miteinander verbunden sind(29 ).
84. Nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1150/2000 werden die Ansprüche spätestens am ersten Arbeitstag nach dem 19. des zweiten Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Anspruch festgestellt wurde , in die Buchführung aufgenommen. Die Frist für die Aufnahme des Anspruchs beginnt also mit dem Zeitpunkt der Feststellung des Anspruchs.
85. Zieht der Mitgliedstaat innerhalb dieses Zeitraums die Zölle ein oder erhält er eine Sicherheit für sie, so werden diese Ansprüche in die A-Buchführung aufgenommen. Gelingt es dem Mitgliedstaat hingegen nicht, die Forderung einzuziehen, oder wird die Forderung angefochten, so werden diese Ansprüche in die B-Buchführung aufgenommen. Ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Anspruchs in die B-Buchführung ist der Mitgliedstaat gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Forderung einzuziehen und den entsprechenden Betrag der Kommission zur Verfügung zu stellen.
86. Die Frist für die Aufnahme der Ansprüche entweder in die A- oder in die B-Buchführung ist dieselbe und beginnt mit dem Monat, in dem der Anspruch festgestellt wurde . Diese Frist richtet sich somit nach Art. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000, der festlegt, wann die Ansprüche festzustellen sind.
87. Zur Erinnerung: Nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 ist ein Anspruch auf die Eigenmittel festzustellen, „sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind“. Art. 217 Abs. 1 des Zollkodex in der zum fraglichen Zeitpunkt geltenden Fassung besagt wiederum, dass die Zollabgaben „unmittelbar bei Vorliegen der erforderlichen Angaben von den Zollbehörden berechnet“(30 ) werden müssen.
88. Nach der Rechtsprechung ist der Anspruch somit festgestellt, sobald die Zollbehörden des Mitgliedstaats in der Lage sind , erstens den sich aus einer Zollschuld ergebenden Abgabenbetrag zu berechnen und zweitens den Abgabenpflichtigen zu bestimmen (31 ).
89. Daraus folgt, dass die Aufnahme in die entsprechende Buchführung (A oder B) durch einen Mitgliedstaat verspätet ist und somit ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1150/2000 vorliegt, wenn der Mitgliedstaat die Feststellung des Anspruchs verspätet vorgenommen hat. Die Feststellung des Anspruchs durch den Mitgliedstaat ist wiederum verspätet, wenn er über ausreichende Informationen (zur Berechnung des Abgabenbetrags und zur Bestimmung des Abgabenpflichtigen) verfügte, den Anspruch aber nicht festgestellt hat.
90. Der Wortlaut und die Struktur der Verordnung Nr. 1150/2000 sprechen daher für die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung, nach der die Verbuchung von Ansprüchen durch einen Mitgliedstaat verspätet ist, wenn er die Frist versäumt hat, die ab dem Zeitpunkt berechnet wird, zu dem er die Ansprüche hätte feststellen müssen, und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem er sie tatsächlich festgestellt hat.
91. Die polnische Regierung macht geltend, dass ein solcher Ansatz willkürliche Entscheidungen zulasse. Ein hypothetischer Zeitpunkt, zu dem die nationalen Behörden die Zollschuld hätten festsetzen müssen, sei in der Praxis nicht einzuhalten.
92. Ich bin nicht wie die polnische Regierung der Auffassung, dass die Entscheidung, wann der Mitgliedstaat den Anspruch hätte feststellen müssen, willkürlich ist. Sie beruht auf der Feststellung, ob den Behörden des Mitgliedstaats zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Anspruch angeblich hätte feststellen müssen, ausreichende Informationen (über den Abgabenbetrag und den Abgabenpflichtigen) zur Verfügung standen. Wenn der Mitgliedstaat nicht über ausreichende Informationen verfügte oder verfügen konnte, ist er nicht verpflichtet, den Anspruch festzustellen, da diese Verpflichtung erst entsteht, sobald der Mitgliedstaat über ausreichende Informationen verfügt.
93. Wenn jedoch nachgewiesen werden kann, dass ein Mitgliedstaat über alle erforderlichen Informationen verfügte oder hätte verfügen können, wenn er proaktiv gehandelt hätte, aber nicht gehandelt hat, liegt eine verspätete Feststellung und damit auch eine verspätete Verbuchung des Anspruchs vor. Ist der Mitgliedstaat bei der Beschaffung der erforderlichen Informationen untätig geblieben, kann er sich nicht darauf berufen, dass er den Anspruch nicht früher feststellen konnte.
94. Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Erfordernis, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Feststellung und Verbuchung der Ansprüche der Union auf Eigenmittel aufgrund der Labilität des Eigenmittelsystems der Union streng auszulegen; dieses System hängt voll und ganz von einer proaktiven Mitwirkung der Mitgliedstaaten ab(32 ).
95. Die Auslegung, nach der die Frist, innerhalb deren ein Mitgliedstaat Ansprüche auf Eigenmittel verbuchen muss, ab dem Zeitpunkt zu berechnen ist, zu dem die Ansprüche hätten festgestellt werden müssen, und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem sie tatsächlich festgestellt wurden, wird auch durch die frühere Rechtsprechung gestützt(33 ). Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass, auch wenn ein von den Zollbehörden eines Mitgliedstaats begangener Fehler dazu führt, dass der Abgabenpflichtige den Betrag der betreffenden Abgaben nicht entrichten muss, dies nicht die Verpflichtung des fraglichen Mitgliedstaats berühren kann, die Abgaben abzuführen, die im Rahmen der Zurverfügungstellung der Eigenmittel hätten festgestellt werden müssen (34 ). Ferner hat der Gerichtshof jüngst in der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich(35 ) entschieden, dass das Vereinigte Königreich nicht alle geschuldeten Zölle buchmäßig erfasst und infolgedessen auch nicht sämtliche den betreffenden Einfuhren zuzuordnenden Eigenmittel zur Verfügung gestellt hat, als dies hätte geschehen müssen (36 ).
96. In Bezug auf die Frage, wann die Verbuchung von Ansprüchen durch einen Mitgliedstaat verspätet ist, schlage ich dem Gerichtshof daher vor, sich der von der Kommission vertretenen Auslegung anzuschließen, nach der die Frist für die Verbuchung der Ansprüche mit dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Mitgliedstaat den Anspruch hätte feststellen müssen, und nicht mit dem Zeitpunkt, zu dem er ihn tatsächlich festgestellt hat.
2. Kann sich ein Mitgliedstaat auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen, wenn er den Anspruch verspätet verbucht hat?
97. Zur Untermauerung ihrer Argumentation, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könne, wenn er den Anspruch verspätet festgestellt und verbucht habe, beruft sich die Kommission auf das Urteil in der Rechtssache Kommission/Italien(37 ). Die Kommission ist der Auffassung, aus diesem Urteil ergebe sich, dass Art. 17 Abs. 2 nur dann anwendbar sei, wenn das gesamte Zollverfahren im Einklang mit dem Unionsrecht durchgeführt worden sei und somit die Fristen für die Feststellung der Zölle und ihre Aufnahme in die B-Buchführung eingehalten würden.
98. Die Tschechische Republik, unterstützt von der belgischen, der niederländischen und der polnischen Regierung, macht geltend, dass das Urteil Kommission/Italien auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da es auf anderen Umständen beruhe.
99. Ich bin geneigt, mich den Mitgliedstaaten insoweit anzuschließen, als sich die von der Kommission befürwortete Schlussfolgerung nicht unmittelbar aus dem Urteil Kommission/Italien ergibt.
100. Das Urteil erging in einem Fall, in dem die italienischen Zollbehörden unter Verstoß gegen das Zollrecht der Union Bewilligungen erteilt hatten, was hinterzogene Eigenmittel in Höhe von mehr als 22 Mio. Euro zur Folge hatte. Italien wies diesen Betrag gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1150/2000 in der B-Buchführung aus und wollte sich mit der Begründung, dass der Verstoß nicht vom Staat zu vertreten sei, auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung berufen(38 ).
101. Der Gerichtshof entschied, dass Italien durch seine Weigerung, der Kommission die streitigen Beträge zur Verfügung zu stellen, gegen seine Verpflichtungen verstoßen hatte. In Rn. 65 des Urteils Kommission/Italien stellte der Gerichtshof insbesondere fest, dass die Möglichkeit der Befreiung der Mitgliedstaaten von ihrer Verpflichtung, der Kommission die den festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, nicht nur die Einhaltung der in Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 aufgestellten Voraussetzungen erfordert, sondern auch, dass diese Ansprüche ordnungsgemäß in die Buchführung B aufgenommen worden sind. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 68 des Urteils stellt die Aufnahme der Eigenmittel in die Buchführung B eine Ausnahmesituation dar. Dementsprechend stellte der Gerichtshof in Rn. 69 des Urteils fest, dass „den Mitgliedstaaten eine solche Ausnahmesituation nur dann zugutekommen [kann], wenn sie die festgestellten Ansprüche unter Beachtung des Unionsrechts in die Buchführung B aufgenommen haben“(39 ).
102. Vor diesem Hintergrund kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass, wenn das Verhalten der nationalen Behörden den Verpflichtungen aus dem Unionsrecht entsprochen hätte, die fraglichen Eigenmittel festgestellt und in die Buchführung A aufgenommen worden wären. Italien konnte sich also nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Buchführung B berufen, denn indem es die Ansprüche nicht festgestellt hat, hat es selbst die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1150/2000 herbeigeführt. Da die italienischen Behörden die Ansprüche auf die Eigenmittel zu Unrecht in die Buchführung B aufgenommen haben, war Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 nicht auf sie anwendbar(40 ).
103. Meines Erachtens ging es im Urteil Kommission/Italien also um einen Fall, in dem Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 nicht für anwendbar erachtet wurde, weil die Ansprüche fälschlicherweise in der B-Buchführung ausgewiesen wurden, obwohl sie in der A-Buchführung hätten ausgewiesen werden müssen, und nicht, weil die Ansprüche verspätet in der B-Buchführung ausgewiesen wurden(41 ).
104. Im vorliegenden Fall steht nicht mit Sicherheit fest, dass die Tschechische Republik, wenn sie die Ansprüche früher festgestellt hätte, in der Lage gewesen wäre, sie in die A-Buchführung aufzunehmen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie die Ansprüche weiterhin in die B-Buchführung hätte aufnehmen müssen. Die Aufnahme in die B-Buchführung ist jedoch deshalb als verspätet anzusehen, weil der Mitgliedstaat zu dem Zeitpunkt, zu dem es ihm möglich war, die für die Feststellung der Ansprüche erforderlichen Informationen zu beschaffen, untätig blieb.
105. Im Urteil Kommission/Italien hat der Gerichtshof nicht ausdrücklich geprüft, ob die Formulierung „unter Beachtung des Unionsrechts“ in Rn. 69 des Urteils den Fall betrifft, dass der Anspruch ordnungsgemäß in die B-Buchführung aufgenommen wird, die Aufnahme selbst aber hätte früher erfolgen können. Aus diesem Urteil allein lässt sich daher nicht der Schluss ziehen, dass im Fall einer verspäteten Aufnahme in die Buchführung einem Mitgliedstaat die Berufung auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 automatisch verwehrt ist.
106. Das Urteil Kommission/Italien legt, richtig verstanden, gleichwohl nahe, dass das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 dahin gehend korrekt auszulegen ist, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 17 Abs. 2 berufen kann, wenn er den Anspruch verspätet festgestellt und verbucht hat.
107. Die Tschechische Republik macht geltend, dass eine solche Auslegung von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 der Intention des Unionsgesetzgebers zuwiderliefe, einen Mitgliedstaat zu entlasten, wenn er die Unmöglichkeit der Abgabenerhebung nicht verursacht habe und sie nicht habe verhindern können.
108. Meines Erachtens liegt Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 der Gedanke zugrunde, dass Zölle eine direkte Einnahmequelle des Unionshaushalts und von den Einführern und nicht von den Mitgliedstaaten zu zahlen sind. Letztere sind nur die zwischengeschaltete Stelle bei der Erhebung dieser Einnahmen. Wenn also die Unmöglichkeit, die Forderung zu erheben, dem Einführer und nicht dem Einfuhrmitgliedstaat zuzurechnen ist, müsste der Unionshaushalt den Verlust hinnehmen.
109. Art. 17 Abs. 2 bezieht sich hingegen nicht auf Fälle, in denen die Unmöglichkeit der Erhebung der Forderung dem Mitgliedstaat zuzurechnen ist , auch weil er sich nicht proaktiv um die Feststellung und Erhebung der Forderung bemüht hat.
110. Wie bereits erläutert, ist die verspätete Feststellung und Verbuchung dem Mitgliedstaat zuzurechnen. Verspätete Feststellung bedeutet ja gerade, dass ein Mitgliedstaat den Anspruch nicht festgestellt hat, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre. Der Mitgliedstaat kann sich nicht darauf berufen, dass er den Anspruch nicht früher feststellen konnte, wenn er bei der Beschaffung der erforderlichen Informationen untätig geblieben ist.
111. Eine Auslegung, nach der sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen kann, wenn er den Anspruch verspätet festgestellt und verbucht hat, läuft daher nicht der Intention des Unionsgesetzgebers zuwider, wie sie von der Tschechischen Republik verstanden wird.
112. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, hat die in Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 vorgesehene Befreiung von den Verpflichtungen ihrem Wesen nach Ausnahmecharakter, und ein Mitgliedstaat kann sich nur aus einem nicht von ihm zu vertretenden Grund darauf berufen(42 ). Eine so strenge Auslegung von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 ist durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, Anreize für die Mitgliedstaaten zu schaffen, Eigenmittel der Union proaktiv festzustellen und zu erheben, da diese Einnahmen voll und ganz von der kooperativen Mitwirkung der Mitgliedstaaten abhängen (siehe auch Nr. 94 der vorliegenden Schlussanträge).
113. Nach Auffassung der Kommission hätte es zudem nachteilige Folgen für die finanziellen Interessen der Union, wenn sich ein Mitgliedstaat auch dann auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen könnte, wenn er die Nichtfeststellung des Anspruchs zu vertreten hat.
114. Die Tschechische Republik und die als Streithelfer beigetretenen Mitgliedstaaten argumentieren, dass keine derartigen nachteiligen Folgen zu erwarten seien; wenn die Nichterhebung der Zollschuld auf eine verspätete Feststellung der den nationalen Behörden zuzurechnenden Zölle zurückzuführen sei, seien die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 nicht erfüllt. Der Unionshaushalt würde also keinen Schaden erleiden.
115. Dieses Argument der Mitgliedstaaten führt zu dem Schluss, dass es keinen Unterschied macht, ob sich ein Mitgliedstaat auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen kann oder nicht, wenn die Feststellung und Verbuchung von Ansprüchen durch ihn verspätet erfolgt, da der Mitgliedstaat in einem solchen Fall nicht von seiner Verpflichtung befreit werden kann, der Kommission den entsprechenden Betrag zur Verfügung zu stellen. Es stellt sich daher die Frage, warum sich ein Mitgliedstaat, der die Ansprüche später festgestellt hat, als er dies hätte tun müssen, überhaupt auf Art. 17 Abs. 2 berufen können soll, wenn bereits im Voraus feststeht, dass die in dieser Vorschrift festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
116. Meines Erachtens könnte eine Auslegung, nach der sich ein Mitgliedstaat auch im Fall einer Verspätung auf Art. 17 Abs. 2 berufen könnte, der Effizienz des Eigenmittelsystems der Union schaden, da sie Ausnahmen von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur rechtzeitigen Feststellung und Verbuchung der Ansprüche zuließe.
117. Als zusätzliches Argument gegen die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung verweisen die belgische und die niederländische Regierung darauf, dass spätere Änderungen der Unionsvorschriften durch Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 609/2014, dem Nachfolger von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000(43 ), die Position stützten, dass im Fall einer verspäteten Verbuchung einem Mitgliedstaat nicht automatisch die Berufung auf die Befreiung verwehrt sei.
118. Dieses Argument überzeugt mich ebenso wenig.
119. Mit Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 wurde ein weiterer Fall eingefügt, in dem ein Mitgliedstaat von seinen Verpflichtungen in Bezug auf die Eigenmittel entbunden werden kann. In dem entsprechenden Abschnitt des Artikels heißt es:
„Die Mitgliedstaaten werden ebenfalls von der Pflicht, der Kommission die Beträge zur Verfügung zu stellen, die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechen, entbunden, wenn sie nachweisen, dass ein von dem Mitgliedstaat nach der Feststellung dieser Ansprüche begangener Fehler – beispielsweise jene Fehler, die zu einer verspäteten buchmäßigen Erfassung in der gesonderten Buchführung führen – keinen Einfluss auf die Uneinbringlichkeit des Betrags hatte, der diesen Ansprüchen entspricht.“(44 )
120. Nach ihrem Wortlaut bezieht sich diese Bestimmung auf Verwaltungsfehler, die nach der ordnungsgemäßen Feststellung von Ansprüchen begangen wurden. Daher scheint die Bestimmung einen anderen Fall zu betreffen als den vorliegenden, in dem die rechtzeitige Feststellung in Frage steht.
121. Folglich entkräftet dieses Argument nicht die Schlussfolgerung, dass sich ein Mitgliedstaat, der Ansprüche verspätet festgestellt und verbucht hat, nicht auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen kann.
122. Nach den vorstehenden Erwägungen bin ich daher der Auffassung, dass der erste Rechtsmittelgrund begründet ist.
C. Zweiter Rechtsmittelgrund
123. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund rügt die Kommission, dass das Gericht in den Rn. 94 bis 126 des angefochtenen Urteils Art. 2 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 in Verbindung mit Art. 217 Abs. 1 des Zollkodex und Art. 325 AEUV falsch ausgelegt habe, indem es festgestellt habe, dass die Tschechische Republik berechtigt gewesen sei, den OLAF‑Bericht abzuwarten, bevor sie Maßnahmen zur Feststellung und Verbuchung der fraglichen Ansprüche ergriffen habe.
124. Nach Auffassung der Kommission reichten die dem gemeinsamen Protokoll beigefügten Beweise aus, um die Tschechische Republik in die Lage zu versetzen, die Zollschuld spätestens bei der Rückkehr von der Mission festzustellen. Da die Beweise bei der Rückkehr von der Mission nicht vom OLAF angefordert worden seien, sei die Zollschuld verspätet festgestellt worden und seien die dieser Schuld entsprechenden Beträge verspätet in die B-Buchführung aufgenommen worden.
125. Die Tschechische Republik, unterstützt von der belgischen, der niederländischen und der polnischen Regierung, macht geltend, dass sie nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV berechtigterweise habe erwarten können, dass das OLAF seinen Verpflichtungen nachkommen würde, und dass ihr die Verspätung des OLAF nicht angelastet werden könne. Dem OLAF sei bekannt gewesen, dass die Tschechische Republik auf die Beurteilung und Übermittlung der im Rahmen der Mission gesammelten Beweise durch das OLAF gewartet habe. Daher könne der Tschechischen Republik nicht vorgeworfen werden, dass sie diese Beweise nicht früher angefordert habe.
126. Meines Erachtens hat das Gericht das anwendbare Recht falsch ausgelegt, als es festgestellt hat, dass die Tschechische Republik unter den Umständen des vorliegenden Falles den OLAF‑Bericht habe abwarten dürfen, um die Ansprüche der Europäischen Union auf Eigenmittel festzustellen.
127. Wie von der Kommission dargelegt, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 in Verbindung mit Art. 217 Abs. 1 des Zollkodex verpflichtet , so früh wie möglich alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Ansprüche der Europäischen Union auf Eigenmittel festzustellen.
128. Im Rahmen von Art. 325 Abs. 1 AEUV, auf den sich die Kommission ebenfalls beruft, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet , die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche und vollständige Erhebung der Zölle und somit der entsprechenden Eigenmittelbeträge sicherzustellen(45 ).
129. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Verpflichtung zur Feststellung von Ansprüchen den Mitgliedstaaten obliegt.
130. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt diese Position. So hat der Gerichtshof festgestellt, dass „beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die Verwaltung des Systems der Eigenmittel der Union den Mitgliedstaaten anvertraut ist und in deren alleiniger Verantwortung liegt “(46 ).
131. Es stimmt, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten und das OLAF verpflichtet, miteinander zu kooperieren(47 ).
132. Die Tatsache, dass das OLAF nach den Unionsvorschriften(48 ) die Mitgliedstaaten (und das Europäische Parlament) unterrichten und Berichte erstellen muss und dass diese Berichte in den Mitgliedstaaten zulässige Beweismittel darstellen, ändert jedoch nichts an der Verantwortung, die den Mitgliedstaaten im Eigenmittelsystem der Union obliegt.
133. Das Versäumnis des OLAF, der Tschechischen Republik die erforderlichen Informationen wie versprochen zu übermitteln, kann somit nicht entschuldigen, dass der Mitgliedstaat nicht proaktiv tätig geworden ist und diese Informationen nicht vom OLAF angefordert hat.
134. Die Unionsvorschriften über das OLAF stützen diese Position.
135. In der Verordnung Nr. 1073/1999 wird ausgeführt, dass „das derzeitige Gleichgewicht und die derzeitige Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen einzelstaatlicher und [Unions‑]Ebene nicht angetastet werden sollte“ und dass diese Verordnung „in keiner Weise die Befugnisse und Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Europäischen Union] beschneidet“(49 ).
136. Ferner besagt Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1073/1999, dass das OLAF „den zuständigen Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten jederzeit Informationen übermitteln [kann], die es im Laufe externer Untersuchungen erlangt hat“(50 ).
137. Auch Art. 21 Abs. 3 der Verordnung Nr. 515/97 macht deutlich, dass das OLAF den nationalen Behörden „auf deren Antrag“ die im Rahmen von Missionen erlangten Auskünfte zu übermitteln hat.
138. All dies spricht für eine Auslegung, nach der ein Mitgliedstaat eine Verspätung nicht damit entschuldigen kann, dass er untätig auf die Übermittlung von Informationen durch das OLAF gewartet hat.
139. Diese Position wird durch die Rechtsprechung untermauert. In der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich(51 ), in der es um Zollbetrug bei Textilien und Schuhen aus China ging, entschied der Gerichtshof, dass das Vereinigte Königreich u. a. gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht im Bereich der Eigenmittel der Union, der Kommission TEM zur Verfügung zu stellen, verstoßen hat. Da die Anwendung des Zollrechts der Union den dafür ausschließlich verantwortlichen Mitgliedstaaten obliege, sei das Vereinigte Königreich nämlich verpflichtet gewesen, die erforderlichen Maßnahmen für eine korrekte Ermittlung der betreffenden Zollwerte zu treffen. Es habe daher nicht mit seiner eigenen Untätigkeit rechtfertigen können, dass es die Eigenmittel nicht zur Verfügung gestellt habe. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs konnten die vom OLAF gelieferten Angaben allenfalls ein ergänzendes Instrument darstellen, sie konnten jedoch keinesfalls die Angaben ersetzen, die sich die Mitgliedstaaten beschaffen mussten(52 ).
140. Ich komme somit zu dem Schluss, dass die Verspätung bei der Feststellung und Verbuchung der Ansprüche auf Eigenmittel durch die Tschechische Republik, die darauf zurückzuführen war, dass sie den OLAF‑Bericht abwartete, bevor sie die erforderlichen Maßnahmen zur Feststellung der von Baide geschuldeten Zölle traf, unter den besonderen Umständen dieses Falles nicht entschuldigt werden kann.
141. Es sei hier nochmals an die in den Nrn. 26 bis 44 der vorliegenden Schlussanträge dargelegte Abfolge der Ereignisse erinnert:
– Im Jahr 2006 erstellte die Tschechische Republik das Risikoprofil, so dass sie Kenntnis vom Verdacht der Umgehung von Antidumpingzöllen der Europäischen Union hatte.
– Bei der Mission im November 2007 bestätigte sich der Zollbetrug, und ausweislich des gemeinsamen Protokolls wurden die tschechischen Behörden während dieser Mission über die Existenz von Unterlagen informiert, die belegten, dass Baide bei zahlreichen Einfuhren von Taschenfeuerzeugen die Antidumpingzölle der Europäischen Union umgangen hatte.
– Die Tschechische Republik wartete den Eingang des OLAF‑Berichts im Juli 2008 und der tschechischen Sprachfassung im August 2008 ab. In der Sitzung hat die Tschechische Republik bestätigt, dass sie sich nicht mit dem OLAF in Verbindung gesetzt hat, um zu versuchen, die Dokumente früher zu erhalten. Die Tschechische Republik unternahm nichts, da das OLAF versprach, die Informationen zu übermitteln.
– Erst im August 2008, also etwa neun Monate nach der Mission im November 2007, wurde die Tschechische Republik tätig.
– Erst ab September 2008, also fast zehn Monate nach der Mission im November 2007, stellte die Tschechische Republik die Eigenmittelansprüche der Europäischen Union fest und verbuchte sie.
142. Unter diesen Umständen halte ich es objektiv nicht für angemessen, dass ein Mitgliedstaat, nachdem er sichere Kenntnis vom Vorliegen eines Betrugs hatte, immerhin neun Monate abwartete.
143. Somit war die Feststellung und Verbuchung der Ansprüche auf Eigenmittel der Union durch die Tschechische Republik schon allein deshalb verspätet, weil sie untätig auf die Informationen des OLAF gewartet hat.
144. Das entschuldigt nicht, dass das OLAF die versprochenen Informationen nicht übermittelt hat. Ich schließe mich insoweit den Ausführungen der belgischen Regierung an, dass den Dienststellen der Kommission, wie dem OLAF, keine Nachlässigkeit bei der Ausübung ihrer Aufgaben gestattet sein sollte.
145. Jedoch entbindet die Pflichtverletzung des OLAF einen Mitgliedstaat nicht von seiner eigenen Verpflichtung, alles Erforderliche zu unternehmen, um die Ansprüche auf Eigenmittel der Union rechtzeitig festzustellen und zu verbuchen.
146. Entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik sind die vom OLAF getätigten Zusagen irrelevant, da sie nicht an die Stelle der Verantwortung der Mitgliedstaaten treten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun.
147. Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen bin ich daher der Auffassung, dass der zweite Rechtsmittelgrund begründet ist.
IV. Schlussfolgerungen
148. Der erste und der zweite Rechtsmittelgrund sind meines Erachtens begründet. Folglich ist Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben.
149. Wenn der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts aufhebt, kann er nach Art. 61 Abs. 1 Satz 2 der Satzung sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist. Meines Erachtens ist dies hier der Fall.
150. Aus meiner Prüfung des ersten Rechtsmittelgrundes ergibt sich, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen kann, wenn er Ansprüche verspätet feststellt und verbucht. Aus meiner Prüfung des zweiten Rechtsmittelgrundes ergibt sich ferner, dass die Tschechische Republik unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles die streitigen Ansprüche verspätet festgestellt und verbucht hat. Folglich kann sich die Tschechische Republik nicht auf Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1150/2000 berufen, um von ihrer Verpflichtung befreit zu werden, der Kommission die streitigen Beträge zur Verfügung zu stellen, und war verpflichtet, diese dem Konto der Kommission gutzuschreiben. Somit gab es eine wirksame Rechtsgrundlage für die Zahlung, und es liegt im vorliegenden Fall keine ungerechtfertigte Bereicherung der Europäischen Union vor. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die von der Tschechischen Republik beim Gericht erhobene Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung der Europäischen Union abzuweisen.
V. Kosten
151. Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.
152. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag der obsiegenden Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Tschechische Republik unterlegen ist, ist sie gemäß dem Antrag der Kommission zu verurteilen, neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in beiden Rechtszügen entstandenen Kosten zu tragen.
153. Ferner tragen nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Folglich sind dem Königreich Belgien und der Republik Polen ihre eigenen Kosten in beiden Rechtszügen und dem Königreich der Niederlande seine eigenen Kosten im Rechtsmittelverfahren aufzuerlegen.
VI. Ergebnis
154. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:
– Der erste und der zweite Rechtsmittelgrund sind begründet.
– Nr. 1 des Tenors des Urteils des Gerichts vom 11. Mai 2022, Tschechische Republik/Kommission (T‑151/20, EU:T:2022:281), wird aufgehoben.
– Die von der Tschechischen Republik beim Gericht erhobene Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung der Europäischen Union wird abgewiesen.
– Die Tschechische Republik trägt die der Europäischen Kommission in beiden Rechtszügen entstandenen Kosten.
– Das Königreich Belgien und die Republik Polen tragen ihre eigenen Kosten in beiden Rechtszügen, und das Königreich der Niederlande trägt seine eigenen Kosten im Rechtsmittelverfahren.