C-488/19 – Minister for Justice and Equality (Mandat d’arrêt – Condamnation dans un État tiers, membre de l’EEE)

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CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:738

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 17. September 2020(1)

Rechtssache C488/19

Minister for Justice and Equality

gegen

JR

(Verurteilung durch einen EWR-Drittstaat)

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Hoher Gerichtshof, Irland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen –Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Anwendungsbereich – Verurteilung durch das Gericht eines Drittstaats – Anerkenntnis dieser Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat – Vollzug im Ausstellungsmitgliedstaat – Gegenseitige Anerkennung – Gegenseitiges Vertrauen – Art. 4 Nr. 7 Buchst. b – Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls – Straftaten, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden“

I.      Einleitung

1.        Die Justizbehörden der Mitgliedstaaten können auf Grundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI(2) Europäische Haftbefehle ausstellen, um Haftstrafen zu vollstrecken. Doch gilt dies auch für den Vollzug eines Urteils, das in einem Drittstaat ausgesprochen und in dem ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung anerkannt wurde?

2.        Die Verurteilung in einem Drittstaat wirft darüber hinaus eine Frage zu einem Grund für die Verweigerung der Vollstreckung des Haftbefehls auf, mit dem sich der Gerichtshof bislang noch nicht beschäftigt hat. Nach Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses darf der ersuchte Staat die Vollstreckung nämlich verweigern, wenn die Straftat außerhalb des ersuchenden Mitgliedstaats begangen wurde und die Rechtsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen. Im vorliegenden Fall wurde die Tat zwar in einem Drittstaat begangen, doch es gab Vorbereitungshandlungen im ersuchenden Mitgliedstaat. Daher ist zu klären, was dies für die Anwendung des genannten Verweigerungsgrundes bedeutet.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

1.      Übereinkommen zwischen Litauen und Norwegen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Strafsachen

3.        Seit dem 5. April 2011 besteht das Übereinkommen zwischen der Republik Litauen und dem Königreich Norwegen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird. Das Übereinkommen regelt die Anerkennung von Urteilen des ausstellenden Staates (Art. 7) und enthält Gründe für die Nicht-Anerkennung durch den vollziehenden Staat (Art. 8).

2.      Übereinkommen zwischen der Europäischen Union, Island und Norwegen über das Übergabeverfahren

4.        Das Übereinkommen zwischen der Europäischen Union, der Republik Island und dem Königreich Norwegen über das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island und Norwegen(3) ist seit 1. November 2019 in Kraft(4).

5.        In der Präambel des Übereinkommens heißt es:

„…

im gegenseitigen Vertrauen auf die Struktur und die Funktionsweise ihrer Rechtssysteme und die Fähigkeit aller Vertragsparteien, ein faires Verfahren zu gewährleisten,

…“

6.        Art. 1 Abs. 3 des Übereinkommens sieht vor:

„Dieses Übereinkommen berührt nicht die Pflicht, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze oder im Falle einer Vollstreckung durch eine Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Grundsätze des Artikels 6 des Vertrags über die Europäische Union zu achten.“

7.        Im Übrigen entsprechen die Bestimmungen des Übereinkommens über das Übergabeverfahren weitgehend denen des Rahmenbeschlusses 2002/584.

B.      Unionsrecht

8.        Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“

9.        Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 definiert den Europäischen Haftbefehl und verpflichtet zu seiner Vollstreckung:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

10.      Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt den Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls:

„(1)      Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.

(2)      Bei den nachstehenden Straftaten erfolgt, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit:

–      …

–      illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen,

–      …

(3)      …

(4)      Bei anderen Straftaten als denen des Absatzes 2 kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat.“

11.      Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erlaubt in bestimmten Fällen, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

1.      wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; …

7.      wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die

a)       nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind;

oder

b)      außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.“

12.      Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 schreibt den Inhalt des Europäischen Haftbefehls vor:

„(1)      Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

c)      die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

…“

C.      Irisches Recht

13.      Irland setzte den Rahmenbeschluss 2002/584 durch das Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003 um. Dessen Section 5 stellt klar, wann von einer Strafbarkeit in Irland auszugehen ist:

„Nach diesem Gesetz entspricht eine in einem Europäischen Haftbefehl bezeichnete Straftat einer Straftat nach dem Recht des [irischen] Staates, wenn die Handlung oder Unterlassung, die den so bezeichneten Straftatbestand erfüllt, wäre sie in dem [irischen] Staat am Tag der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls begangen worden, eine Straftat nach dem Recht des [irischen] Staates darstellt.“

14.      Mit Section 44 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl von 2003 hat Irland Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 umgesetzt:

„Eine Person wird nach diesem Gesetz nicht übergeben, wenn die Straftat, die in dem für sie ausgestellten Europäischen Haftbefehl genannt ist, an einem anderen Ort als in dem Ausstellungsstaat begangen wurde oder begangen worden sein soll und wenn die Handlung oder Unterlassung, die den Straftatbestand erfüllt, wegen ihrer Begehung an einem anderen Ort als in dem Staat keine Straftat nach dem Recht des Staates darstellt.“

15.      Das irische Gesetz über Drogenmissbrauch von 1977(5) enthält Section 15(1):

„Jede Person, in deren Besitz sich, unabhängig davon, ob rechtmäßig oder nicht, kontrollierte Drogen für den Zweck des Verkaufs oder der sonstigen Weitergabe unter Verstoß gegen die Vorschriften des Abschnitts 5 dieses Gesetzes befinden, ist strafbar.“

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

16.      JR ist litauischer Staatsangehöriger. Im Januar 2014 einigte er sich in Litauen mit einer dritten Person, Drogen gegen Zahlung von 570 Euro nach Norwegen zu bringen. Er transportierte die Drogen aus Litauen und überquerte dabei mehrere internationale Grenzen, bis er schließlich von Schweden aus nach Norwegen einreiste. Am 19. Januar 2014 wurde er in Norwegen, etwa fünf Kilometer von der Grenze entfernt, mit etwa 4,6 kg Methamphetamin entdeckt.

17.      Das Heggen og Frøland tingrett (Bezirksgericht Heggen und Froland, Norwegen) verurteilte JR (im Folgenden: der Verurteilte) am 28. November 2014 wegen des Straftatbestands der „rechtswidrigen Lieferung einer sehr großen Menge narkotischer Substanzen“ gemäß Art. 162 des norwegischen Strafgesetzbuchs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Das Rechtsmittel des Verurteilten wurde zurückgewiesen.

18.      Das Jurbarko rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht der Region Jurbarkas, Litauen) erkannte das norwegische Urteil am 18. Juni 2015 auf der Grundlage des Übereinkommens zwischen Norwegen und Litauen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Strafsachen an, so dass es nach litauischem Recht vollstreckt werden konnte. Ein Rechtsmittel des Verurteilten gegen diese Entscheidung wurde zurückgewiesen.

19.      Norwegen überstellte den Verurteilten am 7. April 2016 nach Litauen.

20.      Am 15. November 2016 ordnete das Kaišiadorių rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht der Region Kaisiadorys, Litauen) an, den Verurteilten auf Bewährung aus der Haft zu entlassen. Wegen der Verletzung von Bewährungsauflagen gab das Marijampolės apylinkės teismo Jurbarko rūmai (Bezirksgericht in Marijampole, Kammer von Jurbarkas, Litauen) dem Verurteilten jedoch am 5. Februar 2018 auf, den restlichen Teil seiner Strafe von einem Jahr, sieben Monaten und 24 Tagen zu verbüßen.

21.      Da der Verurteilte mittlerweile ins Ausland geflohen war, erließen die litauischen Behörden am 24. Mai 2018 einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe für eine einheitliche Straftat der rechtswidrigen Lagerung, des Transports, der Weitergabe, des Verkaufs oder der sonstigen Verbreitung einer sehr großen Menge an einer narkotischen oder psychotropen Substanz.

22.      Am 21. Januar 2019 wurde der Verurteilte in Irland in Haft genommen. Dort verbüßte er zunächst bis Oktober 2019 wegen eines anderen Delikts eine irische Haftstrafe.

23.      Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) soll über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls entscheiden und richtete daher am 26. Juni 2019 die folgenden Fragen an den Gerichtshof:

1.      Ist der Rahmenbeschluss 2002/584 in einer Situation anwendbar, in der die gesuchte Person in einem Drittstaat verurteilt und bestraft wurde, das Urteil des Drittstaats aber aufgrund eines bilateralen Abkommens zwischen diesem Drittstaat und dem Ausstellungsstaat vom Ausstellungsstaat anerkannt und nach den Gesetzen des Ausstellungsstaats vollstreckt wurde?

2.      Für den Fall, dass die Frage bejaht wird: Wenn der Vollstreckungsstaat die in Art. 4 Nr. 1 und Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses genannten Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, in seinem nationalen Recht umgesetzt hat, wie hat dann die vollstreckende Justizbehörde ihre Entscheidung in Bezug auf eine Straftat zu treffen, von der erklärt wird, dass sie in dem Drittstaat begangen wurde, bei der aber die Begleitumstände dieser Straftat Vorbereitungshandlungen erkennen lassen, die im Ausstellungstaat stattgefunden haben?

24.      Den Antrag des High Court (Hoher Gerichtshof), diese Fragen in einem Eilvorabentscheidungsverfahren zu beantworten, hat der Gerichtshof mangels Dringlichkeit abgelehnt.

25.      Zu den Fragen haben sich der Verurteilte, Irland und die Europäische Kommission schriftlich geäußert.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Zum Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584 (Frage 1)

26.      Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht erfahren, ob ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt werden kann, um eine Haftstrafe zu vollstrecken, die durch das Gericht eines Drittstaats ausgesprochen und vom Ausstellungsmitgliedstaat anerkannt wurde.

27.      Nach Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusseses 2002/584 handelt es sich bei dem Europäischen Haftbefehl um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

28.      Vorliegend möchte der Ausstellungsmitgliedstaat eine Freiheitsstrafe vollstrecken. Diese hat jedoch nicht der Mitgliedstaat selbst verhängt, sondern ein Drittstaat, und der Ausstellungsstaat hat sie in der Folge anerkannt. Es gilt folglich zu klären, ob das drittstaatliche Urteil bzw. das Anerkenntnis im Ausstellungsstaat tauglicher Gegenstand eines Europäischen Haftbefehls sein können.

29.      Freiheitsstrafen von Drittstaaten sind grundsätzlich nicht mit dem Europäischen Haftbefehl vollstreckbar (dazu 1). Etwas anderes gilt, wenn der Ausstellungmitgliedstaat die Freiheitsstrafe anerkennt (dazu 2). Der Vollstreckungsmitgliedstaat überprüft sodann, ob der Europäische Haftbefehl wirksam ist (dazu 3).

1.      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gilt nicht im Verhältnis zu Drittstaaten,

30.      Der Rahmenbeschluss 2002/584 gilt nur für Mitgliedstaaten und nicht für Drittstaaten.(6) Die von einem Drittstaat verhängte Freiheitsstrafe als solche kann deswegen grundsätzlich nicht im Wege des Europäischen Haftbefehls vollstreckt werden.

31.      Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 darf der ersuchende Staat einen Europäischen Haftbefehl nur ausstellen, wenn eine vollstreckbare justizielle Entscheidung vorliegt.(7) Solche vollstreckbaren justiziellen Entscheidungen werden von mitgliedstaatlichen Behörden erlassen.(8)

32.      Zwischen den Mitgliedstaaten gilt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und den der Europäische Haftbefehl gemäß Art. 1 Abs. 2 und dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 konkret verwirklicht.(9)

33.      Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens von jedem Mitgliedstaat, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte beachten.(10)

34.      Diese Grundsätze können aber nicht ohne Weiteres auf Drittstaaten übertragen werden. Ohne ein solches gegenseitiges Vertrauen kann nicht vermutet werden, dass der Drittstaat die Grundrechte der gesuchten Person gewahrt hat. Nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sind aber die Grundrechte zu achten. Der Umstand, dass ein Drittstaat völkerrechtliche Verträge abgeschlossen hat, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte verlangen, kompensiert dies nicht zwangsläufig.(11)

35.      Das norwegische Urteil konnte daher für sich genommen nicht Grundlage des Europäischen Haftbefehls sein.

2.      … sondern nur innerhalb der Union …

36.      Allerdings hat Litauen vorliegend die Verurteilung und die Strafe des norwegischen Gerichts anerkannt.

37.      Solange kein internationales Abkommen zwischen der Union und einem Drittstaat einschlägig ist, fallen die Auslieferungsvorschriften im Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit für Auslieferungen das Unionsrecht beachten.(12)

38.      Da das Übereinkommen zwischen der Union, Island und Norwegen zum Zeitpunkt der Auslieferung von Norwegen nach Litauen noch nicht in Kraft war, durfte Litauen sein Übereinkommen mit Norwegen uneingeschränkt anwenden.

39.      In Frage steht damit, ob ein Europäischer Haftbefehl voraussetzt, dass die zu vollstreckende Freiheitsstrafe in einem Mitgliedstaat verhängt wurde, oder ob der ausstellende Mitgliedstaat eine drittstaatliche Freiheitsstrafe „legalisieren“ kann, indem er die Verurteilung anerkennt.

40.      An eine solche Konstellation scheint beim Erlass des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht gedacht worden zu sein. Gleichwohl kann der Europäische Haftbefehl für eine Situation wie die vorliegende anwendbar sein, wenn die Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses vorliegen. Er schließt dies nämlich nicht ausdrücklich aus.

41.      Ausgangspunkt ist der bereits erwähnte Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584. Danach muss der Europäische Haftbefehl auf einer weiteren justiziellen Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats aufbauen.(13) Dafür kommt ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Art. 1 und 2 in Betracht.

42.      Insofern ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass das Bezirksgericht der Region Jurbarkas das norwegische Urteil vom 28. November 2014 mit Urteil vom 18. Juni 2015 anerkannt hat, so dass es nach litauischem Recht vollstreckt werden konnte. Nach vorübergehender Aussetzung der Vollstreckung hat das Bezirksgericht in Marijampole, Kammer von Jurbarkas, dem Verurteilten am 5. Februar 2018 aufgegeben, den Rest der Strafe zu verbüßen. Also liegt eine vollstreckbare justizielle Entscheidung vor.

43.      Wie zu beurteilen ist, ob eine Entscheidung die gleichen Rechtswirkungen nach den Art. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hat, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Jedoch zeigen insbesondere die Fassungen des Art. 8 Abs. 1 Buchst. c in englischer und französischer Sprache, dass zu prüfen ist, ob die Entscheidung in den Anwendungsbereich der Art 1 und 2 fällt.(14) Das entspricht der Funktion von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c. Die nach Art. 8 erforderlichen Angaben sollen nur verdeutlichen, dass die Voraussetzungen eines Europäischen Haftbefehls erfüllt sind.(15) Diese sind insbesondere in den Art. 1 und 2 niedergelegt.

44.      Der Anwendungsbereich der Art. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wiederum bestimmt sich nicht anhand einer Aufzählung innerstaatlicher justizieller Entscheidungen, sondern aufgrund des Zwecks und des Gegenstands der Entscheidung.

45.      Zwar definiert Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 den Europäischen Haftbefehl als eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist, doch ist damit nicht die Entscheidung gemeint, die mit dem Europäischen Haftbefehl durchgesetzt wird. Für diese letztgenannte Entscheidung ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 für den vorliegenden Fall nur, dass der Haftbefehl die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bezwecken muss. Diese Strafe muss zumindest nach dem Wortlaut der Regelung nicht in einem Mitgliedstaat verhängt worden sein. Die Anerkennung eines drittstaatlichen Urteils hat insofern die gleiche Funktion wie eine Verurteilung, denn sie verlangt den Vollzug dieses Urteils in dem anerkennenden Mitgliedstaat.

46.      Gemäß Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann ein Europäischer Haftbefehl im Fall einer Verurteilung zu einer Haftstrafe von mindestens vier Monaten erlassen werden. Auch hier ist nicht vorgeschrieben, dass die Verurteilung in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurde. Vielmehr fällt die Anerkennung einer drittstaatlichen Verurteilung in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, wenn sie eine ausreichend lange Freiheitsstrafe betrifft.

47.      Im Ergebnis ist damit der Rahmenbeschluss 2002/584 in einer Situation anwendbar, in der die gesuchte Person in einem Drittstaat verurteilt und bestraft wurde, das Urteil des Drittstaats aber aufgrund eines völkerrechtlichen Abkommens mit diesem Drittstaat vom Ausstellungsmitgliedstaat anerkannt wurde und nach den Gesetzen des Ausstellungsstaats vollzogen wird.

3.       und bedeutet nicht blindes Vertrauen

48.      Auch wenn der Rahmenbeschluss anwendbar ist, bleibt noch zu klären, inwieweit die Anerkennung einer Haftstrafe im Mitgliedstaat der ersuchenden Justizbehörde die vollstreckende Justizbehörde bindet.

49.      Um die gegenseitige Anerkennung des Urteils durch die anderen Mitgliedstaaten zu legitimieren, muss der Schutz der Verfahrens- und Grundrechte eingehalten werden.(16) Daher ist der Rahmenbeschluss 2002/584 in einer Weise auszulegen, die sicherstellt, dass die Grundrechte der betroffenen Personen gewahrt werden, ohne die Wirksamkeit des Systems der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, von dem der Europäische Haftbefehl in seiner Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber einen wesentlichen Baustein bildet.(17)

50.      Das System des Europäischen Haftbefehls enthält insofern einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte der gesuchten Person. Auf der ersten Stufe muss der gesuchten Person beim Erlass der vollstreckbaren justiziellen Entscheidung gerichtlicher Schutz offenstehen. Auf der zweiten Stufe ist gerichtlicher Schutz bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls zu gewährleisten.(18)

51.      In diesem Sinne erlaubt ein vorheriges gerichtliches Verfahren, in dem darüber entschieden wird, ob die gesuchte Person schuldig ist, der vollstreckenden Justizbehörde die Annahme, dass die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe zu erlassen, in einem nationalen Verfahren erfolgt ist, in dessen Rahmen die verurteilte Person über alle dem Erlass derartiger Entscheidungen eigene Garantien verfügte, insbesondere über diejenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben.(19)

52.      Vorliegend hat Litauen das norwegische Urteil auf Grundlage seines Übereinkommens mit Norwegen anerkannt und dem Verurteilten stand mit dem Rechtsmittel gerichtlicher Schutz gegen das Anerkenntnis offen. Aufgrund des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten ist davon auszugehen, dass in diesem Verfahren des ersuchenden Mitgliedstaats die Verfahrens- und Grundrechte des Verurteilten gewahrt wurden.

53.      Allerdings sind unter außergewöhnlichen Umständen Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich.(20)

54.      Ausgangspunkt der Identifizierung solcher außergewöhnlichen Umstände ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, nach dem dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in den Art. 2 und 6 EUV niedergelegt sind, zu achten.(21)

55.      Doch nicht jede denkbare Verletzung von Grundrechten im ersuchenden Mitgliedstaat ist zwangsläufig als außergewöhnlicher Umstand anzusehen, denn es liegt in der Natur des gegenseitigen Vertrauens, dass es in der Regel ausreicht, wenn die Betroffenen diesbezüglich in diesem Staat Rechtsschutz erhalten.(22)

56.      Als außergewöhnlich ist nur die Gefahr schwerwiegender Grundrechtsverletzungen anzusehen. Dies hat der Gerichtshof zunächst bei der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union angenommen.(23) Die gleiche Qualität käme einer echten Gefahr zu, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl (zur Strafverfolgung) ergangen ist, im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.(24)

57.      Anerkennt und vollzieht ein Mitgliedstaat eine Strafe, die ein Gericht eines Drittstaats ausgesprochen hat, kann sich die Gefahr einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung einerseits auf die Verurteilung im Drittstaat beziehen, etwa auf das Verfahren, den Straftatbestand oder das Strafmaß, andererseits aber auch auf das Verfahren und die Haftbedingung in dem ersuchenden Mitgliedstaat.

58.      Dabei mag es Fälle geben, in denen entsprechende Gefahren aufgrund allgemein bekannter Informationen auf der Hand liegen(25) oder sich die betroffene Person auf das ernsthafte Risiko einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung im Fall der Auslieferung beruft(26).

59.      In derartigen Fällen hat die vollstreckende Justizbehörde daher nach einer konkreten und genauen Beurteilung des Einzelfalls zu prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person der Gefahr eines schwerwiegenden Grundrechtsverstoßes ausgesetzt ist.(27) Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde, wie das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren, insbesondere gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig hält, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen.(28)

60.      Im vorliegenden Verfahren wurden aber bislang keine Anhaltspunkte für eine Grundrechtsverletzung, geschweige denn für eine schwerwiegende Verletzung vorgetragen. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht um das Anerkenntnis eines Urteils irgendeines Drittstaats handelt.

61.      Zwar reicht es nicht aus, dass Norwegen Vertragspartei der EMRK ist.(29) Doch dieser Staat hat mit der Union das am 1. November 2019 in Kraft getretene Übereinkommen über das Übergabeverfahren geschlossen. Die Vertragsparteien haben in der Präambel dieses Übereinkommens das gegenseitige Vertrauen auf die Struktur und die Funktionsweise ihrer Rechtssysteme und ihre Fähigkeit, ein faires Verfahren zu gewährleisten, zum Ausdruck gebracht.(30) Damit hat die Union gegenüber Norwegen ein Vertrauen zum Ausdruck gebracht, das an das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten heranreicht. Bei diesem Drittstaat ist daher widerlegbar zu vermuten, dass schon bisher die Grundrechte gewahrt wurden und auch in Zukunft gewahrt werden.

4.      Ergebnis zur ersten Frage

62.      Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist folglich in einer Situation anwendbar, in der die gesuchte Person in Norwegen verurteilt und bestraft wurde, dieses Urteil aber aufgrund eines völkerrechtlichen Abkommens mit Norwegen vom Ausstellungsmitgliedstaat anerkannt und nach den Gesetzen des Ausstellungsstaats vollzogen wird.

63.      Die vollstreckende Justizbehörde beendet das Übergabeverfahren jedoch, wenn sie ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme hat, dass der Vollzug der norwegischen Freiheitsstrafe, die Litauen anerkannt hat, zu einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung führen würde.

B.      Zur Möglichkeit, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen (Frage 2)

64.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Nr. 1 und Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigern kann, weil die Straftat in einem Drittstaat begangen wurde, wenn der Täter Vorbereitungshandlungen im Ausstellungsstaat begangen hat.

1.      Zu Art. 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584

65.      Gemäß Art. 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn in einem der in Art. 2 Abs. 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt.

66.      Es erscheint ausgeschlossen, dass die Auslieferung im vorliegenden Fall auf dieser Grundlage verweigert werden kann, da das gegenständliche Delikt, Drogenhandel, nach Section 15 des irischen Gesetzes über Drogenmissbrauch strafbar ist und es darüber hinaus allem Anschein nach nicht unter Art. 2 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt. Es handelt sich vielmehr um eine Katalogstraftat gemäß Art. 2 Abs. 2, fünfter Spiegelstrich, die keine beiderseitige Strafbarkeit voraussetzt.

67.      Der Gerichtshof muss sich daher nicht zu Art. 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 äußern.

2.      Zu Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584

68.      Die Auslegung von Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist hingegen entscheidungserheblich. Nach dieser Bestimmung kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn dieser sich auf Straftaten erstreckt, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.

69.      Die Verweigerung hängt also von zwei kumulativen Voraussetzungen ab: Die Straftat, auf die sich der Europäische Haftbefehl erstreckt, wurde außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats lassen die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zu.

70.      Sinn und Zweck dieser Ausnahmevorschrift ist es, der vollstreckenden Justizbehörde zu ermöglichen, bei der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundlegende Entscheidungen des ersuchten Mitgliedstaats über die Reichweite seiner eigenen Strafgewalt zu berücksichtigen. Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 verleiht dieser Zielsetzung allerdings keine uneingeschränkte Geltung.

71.      Was die zweite oben genannte Voraussetzung angeht, so können nur die irischen Gerichte die Reichweite der einschlägigen irischen Strafvorschriften klären. Insoweit liegt die Ablehnung der Vollstreckung in den Händen der ersuchten Justizbehörde.

72.      Dagegen verweist Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 beim Begriff der Straftaten, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, nicht auf das Recht des ersuchten Mitgliedstaats. Daher handelt es sich um einen Begriff des Unionsrechts, den der Gerichtshof im Hinblick darauf auslegen muss, wie er zu verstehen ist, falls der Täter Vorbereitungshandlungen im Ausstellungsstaat begangen hat.(31)

73.      Entgegen der Auffassung Irlands hat das Anerkenntnis durch den Ausstellungsmitgliedstaat für diese Frage keine Bedeutung, denn das Anerkenntnis ändert nichts an dem Ort der Begehung der Straftat. Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 stellt aber darauf ab, wo die Straftat „begangen“ wurde. Die Tat muss also im konkret maßgeblichen Fall extraterritorial gewesen sein.

74.      Vorliegend einigte der Verurteilte sich in Litauen mit einer dritten Person, Drogen gegen Zahlung von Geld nach Norwegen zu bringen. Er transportierte die Drogen aus Litauen und überquerte dabei mehrere internationale Grenzen, bis er schließlich von Schweden aus nach Norwegen einreiste. Dort wurde er, etwa fünf Kilometer von der Grenze entfernt, mit mehreren Kilogramm Methamphetamin entdeckt. Verurteilt wurde er wegen der „rechtswidrigen Lieferung einer sehr großen Menge narkotischer Substanzen“. Dass Handlungen in Litauen Gegenstand der Verurteilung waren, wurde dem Gerichtshof nicht dargelegt.

75.      Der Ausgangsfall wirft insoweit drei Fragen auf, nämlich erstens, ob eine Berufung auf Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 bereits ausgeschlossen ist, wenn nur einige, aber nicht alle Tathandlungen im Ausstellungsstaat begangen wurden, zweitens, inwieweit der Begriff der Tat Vorbereitungshandlungen einschließt, und drittens, ob es auf den Umfang der Verurteilung ankommt, die vollzogen werden soll.

a)      Inländische Teilhandlungen

76.      Was den notwendigen Umfang der Tathandlungen im Ausstellungsstaat angeht, so ist Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Zusammenhang mit Buchst. a zu lesen.

77.      Art. 4 Nr. 7 Buchst. a spricht davon, dass die Tat „ganz oder zum Teil“ im Vollstreckungsstaat begangen wurde. Die Begehung von Teilhandlungen im Vollstreckungsstaat reicht also aus, damit dieser die Auslieferung nach dieser Regelung verweigern kann.

78.      Art. 4 Nr. 7 Buchst. b hingegen spricht schlicht von „außerhalb“ des Ausstellungsstaats, ohne weiteren Zusatz. Daher greift der Ausschlussgrund des Buchst. b nur, wenn die Tat vollständig außerhalb des ersuchenden Staats begangen wurde, während es nicht ausreicht, wenn dies nur zum Teil geschah.

79.      Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die Überlegung, dass Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht nur für die vorliegend einschlägige Durchsetzung einer Haftstrafe gilt, sondern auch für die Strafverfolgung. Diese sollte aber auch möglich sein, wenn der ersuchende Staat tätig wird, weil er seine örtliche Zuständigkeit nur auf einen Teil der Tathandlungen stützt.

b)      Tatbegriff

80.      Das vorlegende Gericht fragt aber auch, inwieweit Vorbereitungshandlungen der Straftat zuzurechnen sind, wegen derer die Auslieferung beantragt wird.

81.      Diesbezüglich kann auf Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zurückgegriffen werden. Als Ausprägung des Verbots der Doppelbestrafung nach Art. 50 der Charta ist danach die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn die gesuchte Person bereits wegen derselben Handlung verurteilt worden ist. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bei der Auslegung des Begriffs „derselben Handlung“ auf die tatsächliche Handlung abgestellt, unabhängig von ihrer rechtlichen Qualifizierung oder dem geschützten rechtlichen Interesse und festgestellt, dass er einen Komplex konkreter unlösbar miteinander verbundener Umstände umfasst.(32)

82.      Somit ist auch bei der Bestimmung der begangenen Straftat auf die tatsächliche Handlung abzustellen. Maßgeblich sind die konkret unlösbar miteinander verbundenen Umstände.

83.      Was strafbare Handlungen im Bereich des illegalen Drogenhandels angeht, so können Aus- und Einfuhr derselben Betäubungsmittel in verschiedenen Staaten einen Komplex von Tatsachen darstellen, die ihrer Natur nach unlösbar miteinander verbunden sind.(33)

84.      Danach liegt es nahe, dass der Verurteilte neben den Straftaten der Lieferung und des Einführens von Betäubungsmitteln in Norwegen Tathandlungen in Litauen vornahm, insbesondere die Ausfuhr von Drogen. Damit wäre die Straftat nicht ausschließlich außerhalb des Ausstellungsmitgliedstaats begangen worden. Ob eine Einigung mit einer anderen Person, Drogen gegen Entgelt zu transportieren, ebenfalls Teil eines solchen Tatkomplexes ist, bedarf daher keiner abschließenden Beurteilung. Diese Einigung legt allerdings nahe, dass der Verurteilte die Betäubungsmittel aus Litauen ausführte, um sie nach Norwegen einzuführen, also mit einheitlichem Tatvorsatz handelte.

85.      Die endgültige Beurteilung ist insoweit jedoch Sache der jeweils zuständigen innerstaatlichen Gerichte, die feststellen müssen, ob die fragliche materielle Tat einen Komplex von Tatsachen darstellt, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind.(34) Im vorliegenden Auslieferungsverfahren fällt diese Feststellung vorrangig in die Verantwortung der irischen Gerichte, die allerdings die in Litauen anerkannten Feststellungen der norwegischen Gerichte angemessen berücksichtigen müssen. Falls weitere Aufklärung nötig ist, müssen sie möglicherweise darüber hinaus die litauischen Gerichte nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um zusätzliche Informationen ersuchen.

c)      Zum Gegenstand der Verurteilung

86.      Vorliegend darf die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch nicht deswegen verweigern, weil die norwegische Verurteilung nicht an den Grenzübertritt anknüpft, sondern nur wegen der Lieferung von Betäubungsmitteln erfolgte.

87.      Zwar hat die Verurteilung – soweit ersichtlich – im vorliegenden Fall nur eine Straftat außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats zum Gegenstand. Doch Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 stellt in seinem Wortlaut darauf ab, wo die Straftat „begangen“ wurde. Hätte der Gesetzgeber auf die abgeurteilten Handlungen abstellen wollen, wäre der Begriff „verurteilt“ verwendet worden, wie etwa in Art. 3 Nr. 2 oder Art. 4 Nr. 5.

88.      Auf die Verurteilung abzustellen, würde die Anwendung des Rahmenbeschlusses auch unverhältnismäßig erschweren. Denn zum Zeitpunkt der Verurteilung ist in der Regel nicht absehbar, welche Tathandlungen später für die Anwendung des Rahmenbeschlusses bedeutsam sein könnten und daher einbezogen werden sollten. Für Verurteilungen in Drittstaaten gilt dies in besonderem Maß, da für die dortigen Gerichte die Anwendung des Rahmenbeschlusses besonders fernliegt.

89.      Schließlich ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur beiderseitigen Strafbarkeit nichts anderes. Zwar knüpft die beiderseitige Strafbarkeit maßgeblich an die der Straftat zugrunde liegenden Sachverhaltselemente an, wie sie in dem im Ausstellungsstaat erlassenen Urteil wiedergegeben werden.(35) Allerdings stellt auch die beiderseitige Strafbarkeit auf die Begehung der Straftat und nicht die Verurteilung ab. Denn nach Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI(36) kann der Vollstreckungsstaat die Anerkennung eines Urteils davon abhängig machen, dass die ihm zugrunde liegenden Handlungen nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Straftat darstellen.

3.      Ergebnis zur zweiten Frage

90.      Eine vollstreckende Justizbehörde darf somit die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht gemäß Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigern, wenn feststeht, dass die gesuchte Person strafbare Vorbereitungshandlungen im Ausstellungsstaat vorgenommen hat, die konkret unlösbar mit der Tat verbunden sind, wegen der die gesuchte Person verurteilt wurde.

V.      Ergebnis

91.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt auf das Vorabentscheidungsersuchen zu antworten:

1.      Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist in einer Situation anwendbar, in der die gesuchte Person im Königreich Norwegen verurteilt und bestraft wurde, dieses Urteil aber aufgrund eines völkerrechtlichen Abkommens mit Norwegen vom Ausstellungsmitgliedstaat anerkannt und nach den Gesetzen des Ausstellungsstaats vollzogen wird.

Die vollstreckende Justizbehörde beendet das Übergabeverfahren jedoch, wenn sie ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme hat, dass der Vollzug der norwegischen Freiheitsstrafe, die die Republik Litauen anerkannt hat, zu einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung führen würde.

2.      Eine vollstreckende Justizbehörde darf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht gemäß Art. 4 Nr. 7 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigern, wenn feststeht, dass die gesuchte Person strafbare Vorbereitungshandlungen im Ausstellungsstaat vorgenommen hat, die konkret unlösbar mit der Tat verbunden sind, wegen der die gesuchte Person verurteilt wurde.






































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