C-481/19 – Consob

C-481/19 – Consob

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:861

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 26. Oktober 2020(1)

Rechtssache C481/19

DB

gegen

Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob),

Beteiligte:

Presidenza del Consiglio dei Ministri

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale [Verfassungsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Marktmissbrauch – Richtlinie 2003/6/EG – Art. 14 Abs. 3 – Verordnung (EU) Nr. 596/2014 – Art. 30 Abs. 1 Buchst. b – Fehlende Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden – Verwaltungsrechtliche Sanktionen und/oder andere verwaltungsrechtliche Maßnahmen – Grundrechtskonforme Auslegung – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Auskunftsverweigerungsrecht – Tragweite“

1.        In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) befasst, das sich auf die Auslegung und die Gültigkeit von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch)(2) sowie von Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission(3) bezieht, die den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegen, Verstöße gegen die Pflicht zur Zusammenarbeit mit der für die Marktaufsicht zuständigen Behörde (im Folgenden: Aufsichtsbehörde) zu ahnden.

2.        Insbesondere möchte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vom Gerichtshof wissen, ob diese Vorschriften im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht (nemo tenetur se detegere), so wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ergeben soll, ausgelegt werden können, und gegebenenfalls, welche Tragweite diesem Recht zuzuerkennen ist.

3.        Zusammenfassend wird der Gerichtshof in seinem zu erlassenden Urteil Gelegenheit haben, sich zu einer Reihe heikler Rechtsfragen zu äußern, insbesondere zur Anwendbarkeit des Auskunftsverweigerungsrechts im Rahmen von Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung einer Sanktion strafrechtlicher Natur führen können, sowie zur genauen Tragweite eines solchen Rechts, deren Bestimmung durch eine vermeintliche diesbezügliche Diskrepanz zwischen der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) und der Rechtsprechung des Gerichtshofs erschwert wird.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      EMRK

4.        Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„(1)      Jede Person hat ein Recht darauf, dass … über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.

(2)      Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

…“

B.      Unionsrecht

1.      Charta

5.        Art. 47 Abs. 2 der Charta bestimmt:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …“

6.        Art. 48 Abs. 1 der Charta lautet:

„Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“

2.      Richtlinie 2003/6

7.        Art. 12 der Richtlinie 2003/6 sieht vor:

„(1)      Die zuständige Behörde ist mit allen Aufsichts- und Ermittlungsbefugnissen auszustatten, die zur Ausübung ihrer Tätigkeit erforderlich sind. Sie macht von diesen Befugnissen folgendermaßen Gebrauch:

a)      direkt,

b)      in Zusammenarbeit mit anderen Behörden oder den Marktteilnehmern,

c)      indem sie als verantwortliche Behörde Aufgaben an diese anderen Behörden oder Marktteilnehmer überträgt oder

d)      durch Antragstellung bei den zuständigen Justizbehörden.

(2)      Unbeschadet des Artikels 6 Absatz 7 werden die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Befugnisse im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht ausgeübt und beinhalten zumindest das Recht,

b)      von jedermann Auskünfte anzufordern, auch von Personen, die an der Übermittlung von Aufträgen oder an der Ausführung der betreffenden Handlungen nacheinander beteiligt sind, sowie von deren Auftraggebern, und, falls notwendig, eine Person vorzuladen und zu vernehmen,

…“

8.        Art. 14 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, sorgen die Mitgliedstaaten entsprechend ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht dafür, dass bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften gegen die verantwortlichen Personen geeignete Verwaltungsmaßnahmen ergriffen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängt werden können. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass diese Maßnahmen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind.

(2)      Die Kommission erstellt nach dem Verfahren des Artikels 17 Absatz 2 eine der Unterrichtung dienende Aufstellung der Verwaltungsmaßnahmen und im Verwaltungsverfahren zu erlassenden Sanktionen nach Absatz 1.

(3)      Die Mitgliedstaaten legen im Einzelnen fest, wie die Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen von Ermittlungen im Sinne von Artikel 12 zu ahnden ist.

(4)      Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die zuständige Behörde Maßnahmen oder Sanktionen, die wegen Verstößen gegen aufgrund dieser Richtlinie erlassene Vorschriften ergriffen bzw. verhängt werden, öffentlich bekannt geben kann, es sei denn, diese Bekanntgabe würde Finanzmärkte erheblich gefährden oder zu einem unverhältnismäßigen Schaden bei den Beteiligten führen.“

3.      Verordnung Nr. 596/2014

9.        In Art. 23 („Befugnisse der zuständigen Behörden“) der Verordnung Nr. 596/2014 heißt es:

„(1)      Die zuständigen Behörde[n] nehmen ihre Aufgaben und Befugnisse wahlweise folgendermaßen wahr:

a)      unmittelbar,

b)      in Zusammenarbeit mit anderen Behörden oder den Marktteilnehmern,

c)      indem sie als verantwortliche Behörde[n] Aufgaben auf andere Behörden oder Marktteilnehmer übertragen,

d)      durch Antrag bei den zuständigen Justizbehörden.

(2)      Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben gemäß dieser Verordnung müssen die zuständigen Behörden nach nationalem Recht zumindest über die folgenden Aufsichts- und Ermittlungsbefugnisse verfügen:

b)      von jeder Person, auch von solchen, die nacheinander an der Übermittlung von Aufträgen oder an der Ausführung der betreffenden Tätigkeiten beteiligt sind, sowie von deren Auftraggebern Auskünfte zu verlangen oder zu fordern und erforderlichenfalls zum Erhalt von Informationen eine Person vorzuladen und zu befragen;

…“

10.      Art. 30 („Verwaltungsrechtliche Sanktionen und andere verwaltungsrechtliche Maßnahmen“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen und unbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der zuständigen Behörden nach Artikel 23 übertragen die Mitgliedstaaten im Einklang mit nationalem Recht den zuständigen Behörden die Befugnis, angemessene verwaltungsrechtliche Sanktionen und andere verwaltungsrechtliche Maßnahmen in Bezug auf mindestens die folgenden Verstöße zu ergreifen:

b)      Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer Ermittlung oder einer Prüfung oder einer in Artikel 23 Absatz 2 genannten Anfrage.

…“

C.      Italienisches Recht

11.      Die Italienische Republik hat die Richtlinie 2003/6 umgesetzt durch Art. 9 der Legge n. 62 – Disposizioni per l’adempimento di obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia alle Comunità europee. Legge comunitaria 2004 (Gesetz Nr. 62 mit Vorschriften zur Erfüllung der sich aus der Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften ergebenden Verpflichtungen – Gemeinschaftsgesetz von 2004) vom 18. April 2005 (GURI Nr. 96 vom 27. April 2005 – Supplemento ordinario Nr. 76). Mit diesem Artikel sind zahlreiche Bestimmungen in den Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria, ai sensi degli articoli 8 e 21 della n. 52 (Einheitstext der Bestimmungen über die Finanzvermittlung gemäß den Art. 8 und 21 des Gesetzes Nr. 52) vom 6. Februar 1996 (im Folgenden: Einheitstext), der im Decreto legislativo n. 58 (Gesetzesdekret Nr. 58) vom 24. Februar 1998 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 71 vom 26. März 1998) zu finden ist, aufgenommen worden, darunter Art. 187bis, der sich auf die Ordnungswidrigkeit des Insidergeschäfts bezieht, und Art. 187quinquiesdecies, der die Sanktionen betrifft, die bei Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen einer Ermittlung verhängt werden können.

12.      Art. 187bis des Einheitstexts in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung war mit „Insidergeschäft“ überschrieben und hatte folgenden Wortlaut:

„(1)      Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen, wenn die Tat eine Straftat ist, wird als Verwaltungssanktion mit einer Geldbuße in Höhe von 20 000 Euro bis drei Millionen Euro belegt, wer, wenn er aufgrund der Zugehörigkeit zum Verwaltungs‑, Leitungs- oder Aufsichtsorgan des Emittenten, der Beteiligung am Kapital des Emittenten oder der Ausübung einer Arbeit oder eines Berufs oder der Erfüllung von Aufgaben (auch öffentlichen) über Insider‑Informationen verfügt und

a)      unter Nutzung dieser Informationen für eigene oder fremde Rechnung direkt oder indirekt Finanzinstrumente erwirbt oder veräußert oder andere Geschäfte damit tätigt;

b)      diese Informationen an Dritte weitergibt, sofern die Offenlegung nicht im Rahmen der normalen Ausübung seiner Arbeit oder seines Berufs oder der Erfüllung seiner Aufgaben erfolgt;

c)      auf der Grundlage dieser Informationen Dritten empfiehlt, ein in Abs. 1 Buchst. a genanntes Geschäft zu tätigen, oder sie dazu anstiftet.

(2)      Die Sanktion nach Abs. 1 wird auch verhängt, wenn jemand, der aufgrund der Vorbereitung oder Ausführung von Straftaten über Insider‑Informationen verfügt, eine in Abs. 1 genannte Handlung begeht.

(4)      Die Sanktion nach Abs. 1 wird auch verhängt, wenn jemand, der über Insider‑Informationen verfügt und weiß oder bei durchschnittlicher Sorgfalt wissen könnte, dass es sich dabei um Insider‑Informationen handelt, eine in Abs. 1 genannte Handlung begeht.

(5)      Die in den Abs. 1, 2 und 4 vorgesehenen Geldbußen als Verwaltungssanktionen werden bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Aufkommens oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöht, wenn sie unter Berücksichtigung persönlicher Eigenschaften des Täters oder der Höhe des Aufkommens oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung trotz Verhängung des Höchstbetrags nicht angemessen erscheinen.

…“

13.      In der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung war Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts mit „Schutz der Aufsichtstätigkeit der Consob“ überschrieben und bestimmte:

„(1)      Außer in den Fällen nach Art. 2638 des Codice civile [(italienisches Zivilgesetzbuch)] wird jeder, der nicht fristgemäß den Anfragen der Consob entspricht oder die Ausübung ihrer Aufgaben verzögert, mit einer Verwaltungsgeldbuße von 10 000 Euro bis 200 000 Euro bestraft.“

14.      In seiner derzeit geltenden Fassung hat derselbe mit „Schutz der Aufsichtstätigkeiten der Banca d’Italia und der Consob“ überschriebene Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts folgenden Wortlaut:

„(1)      Außer in den Fällen nach Art. 2638 des Codice civile [(italienisches Zivilgesetzbuch)] wird nach diesem Artikel jeder bestraft, der nicht fristgemäß den Anfragen der Banca d’Italia [(Bank von Italien)] und der Consob entspricht oder mit diesen Behörden zum Zweck der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufsichtsfunktionen nicht zusammenarbeitet oder die Ausübung derselben verzögert.

(1bis)      Wird die Zuwiderhandlung von einer natürlichen Person begangen, so wird diese mit einer Verwaltungsgeldbuße von 10 000 Euro bis fünf Millionen Euro bestraft.

(1ter)            Wird die Zuwiderhandlung von einer Gesellschaft oder einer Einrichtung begangen, so wird diese mit einer Verwaltungsgeldbuße von 10 000 Euro bis fünf Millionen Euro oder von bis zu 10 Prozent des Umsatzes bestraft, wenn dieser Betrag über fünf Millionen Euro liegt und der Umsatz gemäß Art. 195 Abs. 1bis bestimmbar ist. Unbeschadet der Bestimmungen für Gesellschaften und Einrichtungen, denen gegenüber die Zuwiderhandlungen festgestellt werden, wird die Verwaltungsgeldbuße nach Abs. 1bis in den in Art. 190bis Abs. 1 Buchst. a vorgesehenen Fällen gegen die Vertreter und das Personal der Gesellschaft oder Einrichtung verhängt.

(1quater)      Übersteigt der vom Täter nach der Zuwiderhandlung erlangte Vorteil die in diesem Artikel festgelegten Grenzen, wird die Verwaltungsgeldbuße auf das Doppelte des Betrags des erlangten Vorteils erhöht, sofern dieser Betrag bestimmbar ist.“

II.    Sachverhalt des Rechtsstreits, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15.      Mit Entscheidung Nr. 18199 vom 18. Mai 2012 verhängte die Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) gegen DB Geldbußen wegen der Ordnungswidrigkeit des Insidergeschäfts, die sich aus zwei Teilen, nämlich Insidergeschäften und der unrechtmäßigen Weitergabe von Insider‑Informationen zwischen dem 19. und 26. Februar 2009, zusammensetzt. Sie erlegte ihm darüber hinaus eine Geldbuße in Höhe von 50 000 Euro wegen der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung nach Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts auf, weil er mehrmals den Zeitpunkt für die Anhörung, zu der er in seiner Eigenschaft als über den Sachverhalt informierte Person geladen worden war, verschoben und sich geweigert hatte, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten, als er dort erschienen war. Außerdem verhängte die Consob gegen DB die in Art. 187quater Abs. 1 des Einheitstexts genannte Sanktion der vorübergehenden Aberkennung der Zuverlässigkeit für eine Dauer von 18 Monaten und verfügte gemäß Art. 187sexies des Einheitstexts die Beschlagnahme des entsprechenden Gewinns bzw. der bei seiner Erzielung eingesetzten Mittel.

16.      Im Rahmen des Ausgangsverfahrens, das zur vorliegenden Vorlage geführt hat, erhob DB zunächst Einspruch vor der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) und machte u. a. die Rechtswidrigkeit der gemäß Art. 187quinquiesdecies des Gesetzesdekrets Nr. 58 vom 24. Februar 1998 gegen ihn verhängten Sanktion geltend. Nachdem dieser Einspruch zurückgewiesen worden war, legte DB Kassationsbeschwerde ein. Mit Beschluss vom 16. Februar 2018 warf die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) zwei inzidente Fragen der Verfassungsmäßigkeit auf, die von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) geprüft werden sollten.

17.      Die erste Frage bezieht sich auf Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts in der Fassung von Art. 9 des Gesetzes Nr. 62 vom 18. April 2005, soweit diese Vorschrift die Weigerung, fristgemäß den Anfragen der Consob zu entsprechen, bzw. die Verzögerung der Ausübung ihrer Aufgaben auch in Bezug auf die Person sanktioniert, der die Consob in Ausübung ihrer Aufsichtsfunktionen ein Insidergeschäft zur Last legt.

18.      In ihrer Vorlageentscheidung weist die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) darauf hin, dass Art. 187quinquiesdecies gegen mehrere Grundsätze verstoße, von denen sich einige aus dem nationalen Recht (das Recht auf Verteidigung und der Grundsatz der Gleichheit der Parteien im Prozess, die in Art. 24 Abs. 2 bzw. Art. 111 Abs. 2 der italienischen Verfassung vorgesehen seien), andere aus dem Völkerrecht und dem Unionsrecht (das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK, Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Art. 47 der Charta) ergäben, wobei ein Verstoß gegen die letztgenannten Artikel gemäß Art. 11 und Art. 117 Abs. 1 der italienischen Verfassung zur Verfassungswidrigkeit der betreffenden Vorschrift führen könne.

19.      Es sei nicht davon auszugehen, dass das aus den geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie den Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts hergeleitete „Auskunftsverweigerungsrecht“ als solches die Weigerung einer Person, zu der von der Consob verfügten Anhörung zu erscheinen, oder ihr verspätetes Erscheinen zu dieser Anhörung rechtfertigen könne, sofern das Recht der genannten Person, die in der Anhörung möglicherweise an sie gerichteten Fragen nicht zu beantworten, anders als im vorliegenden Fall garantiert sei.

20.      Der Wortlaut von Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts sowohl in seiner zum Zeitpunkt des Sachverhalts geltenden als auch in seiner derzeitigen Fassung erfasse nämlich auch den Fall, dass die persönliche Anhörung gegenüber einer Person verfügt werde, die die Consob auf der Grundlage der in ihrem Besitz befindlichen Informationen bereits als mögliche Urheberin einer Zuwiderhandlung identifiziert habe, deren Feststellung in ihre Zuständigkeit falle. Daher sei zu ermitteln, ob das Auskunftsverweigerungsrecht nicht nur im Rahmen von Strafverfahren anwendbar sei, sondern auch in den von der Consob im Rahmen ihrer Aufsichtstätigkeit verfügten Anhörungen. Das sowohl auf Art. 24 der italienischen Verfassung als auch auf Art. 6 EMRK in der Auslegung durch den EGMR gestützte Vorbringen spreche für eine Bejahung dieser Frage.

21.      Eine entgegengesetzte Schlussfolgerung bringe die Gefahr mit sich, dass der mutmaßliche Urheber einer Ordnungswidrigkeit, die zu einer Sanktion „strafrechtlicher“ Natur führen könne, aufgrund der Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde de facto auch zur Erhebung einer strafrechtlichen Anklage gegen ihn beitragen könne. Insidergeschäfte stellten im italienischen Recht nämlich sowohl Ordnungswidrigkeiten (Art. 187bis des Einheitstexts) als auch Straftaten (Art. 184 des Einheitstexts) dar. Die einschlägigen Verfahren könnten – wie bei DB tatsächlich der Fall – parallel in Gang gesetzt und geführt werden, sofern dies mit dem Grundsatz ne bis in idem vereinbar sei(4).

22.      Darüber hinaus würden die damit aufgeworfenen Zweifel auch durch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK bekräftigt.

23.      Da Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts in Durchführung einer spezifischen Verpflichtung aus Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 in die italienische Rechtsordnung aufgenommen worden sei und heute die genaue Umsetzung von Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 darstelle, drohe es in Anbetracht des Umstands, dass die beiden erwähnten Vorschriften den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten auch die Pflicht aufzuerlegen schienen, eine Person, die Geschäfte getätigt habe, die den Tatbestand in die Zuständigkeit dieser Behörden fallender Zuwiderhandlungen erfüllten, und in einer Anhörung die Aussage verweigere, mit einer Sanktion zu belegen, gegen das Unionsrecht zu verstoßen, wenn Art. 187quinquiesdecies für verfassungswidrig erklärt werden sollte. Daher könne man an der Vereinbarkeit einer solchen Sanktionspflicht mit den Art. 47 und 48 der Charta zweifeln, die in den gleichen wie den sich aus Art. 6 EMRK und Art. 24 der italienischen Verfassung ergebenden Grenzen ebenfalls ein Grundrecht des Einzelnen anzuerkennen schienen, sich nicht selbst zu belasten und nicht dazu gezwungen zu werden, Erklärungen abzugeben, die den Charakter von Geständnissen hätten.

24.      In diesem Zusammenhang gibt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) an, die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Auskunftsverweigerungsrecht im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zu kennen, die dadurch, dass sie den Täter zur Beantwortung reiner Tatsachenfragen verpflichte, gleichwohl darauf hinauslaufe, die Tragweite des Grundsatzes nemo tenetur se detegere signifikant einzuschränken, da dieser Grundsatz in Strafsachen das Recht des Betroffenen beinhalte, sich mit seinen Aussagen nicht – auch nicht indirekt – selbst zu belasten. Diese Rechtsprechung – die in Bezug auf juristische und nicht auf natürliche Personen sowie weitgehend vor Annahme der Charta und deren Erhebung in den Rang der Verträge ergangen sei – erscheine nur schwer vereinbar mit der „strafrechtlichen“ Natur der in der italienischen Rechtsordnung vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen für Insidergeschäfte, die der Gerichtshof im Urteil Di Puma und Zecca(5) selbst anerkannt habe. Diese Natur scheine auf die Notwendigkeit hinzudeuten, dem mutmaßlichen Täter Garantien zuzugestehen, die mit denen vergleichbar seien, die ihm in Strafsachen zugestanden würden.

25.      Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vertritt ferner die Ansicht, die Rechtsprechung des Gerichtshofs stehe nicht voll und ganz im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der dem Auskunftsverweigerungsrecht des Beschuldigten – auch im Rahmen von Verwaltungsverfahren zur Verhängung von Sanktionen „strafrechtlicher“ Natur – im Gegenteil eine größere Tragweite zuzuerkennen scheine.

26.      Da der Gerichtshof und der Unionsgesetzgeber bislang nicht auf die Frage eingegangen sind, ob die Art. 47 und 48 der Charta im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK vorschreiben, die Existenz dieses Rechts auch im Rahmen von Verwaltungsverfahren anzuerkennen, die zur Verhängung von Sanktionen „strafrechtlicher“ Natur führen könnten, hält es das vorlegende Gericht – bevor es sich zu der ihm unterbreiteten Frage der Verfassungsmäßigkeit äußert – für erforderlich, den Gerichtshof anzurufen, damit dieser es über die Auslegung und erforderlichenfalls die Gültigkeit von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6, soweit er zeitlich noch anwendbar ist, und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im Hinblick auf die Art. 47 und 48 der Charta aufklärt. Insbesondere sei festzustellen, ob diese Vorschriften es einem Mitgliedstaat gestatteten, denjenigen nicht mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigere, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit strafrechtlichen oder verwaltungsrechtlichen Sanktionen „strafrechtlicher“ Natur bewehrte Zuwiderhandlung ergeben könne.

27.      Unter diesen Umständen hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6, soweit er zeitlich noch anwendbar ist, und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten, denjenigen nicht mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf Fragen der zuständigen Behörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen „strafrechtlicher“ Natur bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann?

2.      Sind im Fall der Verneinung der ersten Frage Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6, soweit er zeitlich noch anwendbar ist, und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 mit den Art. 47 und 48 der Charta, auch im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, vereinbar, soweit sie vorschreiben, denjenigen mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf Fragen der zuständigen Behörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen „strafrechtlicher“ Natur bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

28.      Diese Fragen sind Gegenstand schriftlicher Erklärungen von DB, der italienischen und der spanischen Regierung, des Rates der Europäischen Union, des Europäischen Parlaments sowie der Europäischen Kommission gewesen.

29.      Dieselben Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 13. Juli 2020 mündlich verhandelt.

IV.    Würdigung

A.      Zulässigkeit der Vorlagefragen

30.      In seinen Schriftsätzen stellt der Rat fest, dass auf den in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden Sachverhalt, worauf die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) in der Vorlageentscheidung selbst hinweise, nur die Richtlinie 2003/6 zeitlich anwendbar sei, obwohl die Angelegenheit derzeit durch die Verordnung Nr. 596/2014 geregelt werde, die diese Richtlinie aufgehoben und ersetzt habe, ohne jedoch anderweitig mit der Situation in Verbindung zu stehen, die dem betreffenden nationalen Verfahren zugrunde liege.

31.      Unter Hervorhebung der Tatsache, dass die einzige für die Ausgangsrechtssache relevante Vorschrift Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 sei, scheine die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), so der Rat, implizit anzuerkennen, dass die Antworten auf ihre Fragen nach der Auslegung und Gültigkeit von Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 für die Entscheidung des der Rechtssache zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht erforderlich seien, sondern im Wesentlichen dazu dienten, die Rechtslage für die Zukunft zu klären.

32.      Daher ist einleitend zu fragen, ob auch Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 relevant ist, wenn es darum geht, der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) zu ermöglichen, über die Vorlage der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) zu entscheiden.

33.      Hierzu sei zunächst darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Diese Vermutung lässt sich nur in außergewöhnlichen Fällen entkräften, nämlich dann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeitsprüfung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen sowie für das Verständnis der Gründe erforderlich sind, aus denen das nationale Gericht der Ansicht ist, dass die Beantwortung dieser Fragen erforderlich ist, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können(6).

34.      Im vorliegenden Fall beruht das Vorbringen des Rates meines Erachtens auf der Feststellung, dass die Vorlageentscheidung dem in Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs genannten Erfordernis insoweit nicht genüge, als in dieser Entscheidung weder die Gründe dargelegt würden, die die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) dazu bewegt hätten, nach der Auslegung und Gültigkeit der Verordnung Nr. 596/2014 zu fragen, einerseits, noch ein Zusammenhang zwischen dieser Verordnung und den auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Rechtsvorschriften hergestellt werde, andererseits. Diese Lücken hätten, so der Rat, zur Folge, den Gerichtshof zur Abgabe einer Stellungnahme zu hypothetischen Fragen zu veranlassen, und führten daher zur teilweisen Unzulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens.

35.      Ich kann mich diesem Standpunkt aus folgenden Gründen nicht anschließen.

36.      Was den ersten Teil bezüglich des Erfordernisses in Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung angeht, so stelle ich fest, dass die erbetene Auslegung, wie die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) in der Vorlageentscheidung deutlich macht, dadurch gerechtfertigt ist, dass eine etwaige Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts auch Gefahr liefe, die Sanktionspflicht zu verletzen, die sich derzeit aus Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 ergibt. Damit erkennt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) meines Erachtens implizit an, dass sich ihre Entscheidung nicht nur auf Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts in seiner zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung, sondern auch auf dieselbe Vorschrift in ihrer derzeit geltenden Fassung beziehen wird. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen feststellt, ergibt sich nämlich aus Art. 27 der Legge n. 87 – Norme sulla costituzione e sul funzionamento della Corte costituzionale (Gesetz Nr. 87 – Vorschriften über die Verfassung und die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtshofs) vom 11. März 1953 (GURI Nr. 62 vom 14. März 1953), dass die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), wenn sie einem Antrag oder einer Klage stattgibt, der bzw. die sich auf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder einer Verordnung mit Gesetzeskraft bezieht, sich innerhalb der Grenzen des Klagegegenstands nicht nur zu den verfassungswidrigen Rechtsvorschriften, sondern auch zu denen äußert, deren Verfassungswidrigkeit die Folge der getroffenen Entscheidung ist. Die Tatsache, dass in der Vorlageentscheidung nicht ausdrücklich auf diese Vorschrift verwiesen wird, die die Tragweite von Entscheidungen abgrenzt, mit denen dem Normenkontrollantrag bzw. der Normenkontrollklage in einer Weise stattgegeben wird, die denen anderer Verfassungsgerichtshöfe in der Union sicherlich nicht fremd ist, erscheint jedoch kaum ausreichend, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, wonach dem ersten Teil des genannten Erfordernisses nicht Genüge getan sei.

37.      Was den zweiten Teil betrifft, so genügt die Feststellung, dass die betreffende innerstaatliche Vorschrift, nämlich Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts, wie die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) in der Vorlageentscheidung darlegt, zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 umgesetzt hat und zum gegenwärtigen Zeitpunkt Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 umsetzt. Es trifft zwar zu, dass es sich bei dem „auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Recht“ um Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts in seiner die Richtlinie 2003/6 umsetzenden Fassung handelt, es trifft aber auch zu, dass der Zusammenhang zwischen der Verordnung Nr. 596/2014 und dem auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Recht unter Berücksichtigung der Kohärenz zwischen den Bestimmungen der Richtlinie 2003/6 und denen der erwähnten Verordnung nach meinem Dafürhalten als hergestellt betrachtet werden muss.

38.      Deshalb schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen für zulässig zu erklären.

B.      Begründetheit

1.      Umformulierung der Vorlagefragen

39.      Aus der Lektüre der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) u. a. Klarstellungen dazu erhalten möchte, welche Tragweite sie dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen aufgrund der vermeintlichen diesbezüglichen Diskrepanz zwischen der Rechtsprechung des EGMR und der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuzuerkennen hat(7).

40.      In Anbetracht der Formulierung der Vorlagefragen sowie des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen der Antwort auf die erste Frage und der Prüfung der zweiten liefe diese Problematik meines Erachtens Gefahr, vom Gerichtshof in seinem anstehenden Urteil nicht geprüft zu werden.

41.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, die es ihm ermöglicht, den Inhalt seines Normenkontrollurteils auszuarbeiten, erscheint es mir daher erforderlich, die Fragen, die es dem Gerichtshof unterbreitet hat, neu zu formulieren.

42.      Die dem Gerichtshof zur Verfügung stehende Möglichkeit, die ihm vorgelegten Fragen umzuformulieren, findet nämlich im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ihre Rechtfertigung darin, dass es dem Gerichtshof obliegt, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben(8).

43.      Andererseits scheint mir die Umformulierung von Vorlagefragen generell eine heikle Angelegenheit zu sein, die ein hohes Maß an Umsicht seitens des Gerichtshofs erfordert, um jeden Eingriff in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts zu vermeiden, das allein die Erheblichkeit der Rechtsfragen, die in dem Rechtsstreit aufgeworfen worden sind, mit dem es befasst ist, sowie die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils zu beurteilen hat(9).

44.      Im vorliegenden Fall haben einige Verfahrensbeteiligte eine Umformulierung der ersten Frage dahin gehend vorgeschlagen, dass mit ihr im Wesentlichen in Erfahrung gebracht werden soll, ob Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten, denjenigen nicht mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann.

45.      Eine solche Umformulierung läuft nach meinem Dafürhalten auf eine Verfälschung des Gegenstands der ersten Frage, die sich auf die bloße Möglichkeit der Mitgliedstaaten bezieht, die genannten Vorschriften beim Erlass von Übergangs- oder Durchführungsmaßnahmen im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht auszulegen, und de facto auf eine Umgehung der Problematik im Zusammenhang mit der Gültigkeit der betreffenden Vorschriften hinaus, die Gegenstand der zweiten Frage ist.

46.      Um ein solches Ergebnis zu vermeiden, muss sich die Umformulierung meines Erachtens auf die Frage beziehen, ob Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 in Anbetracht des Wortlauts dieser Vorschriften grundrechtskonform und insbesondere im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht, das sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergeben soll, ausgelegt werden können oder ob eine solche Auslegung hingegen contra legem wäre. Falls die Antwort positiv ausfällt, wird selbstverständlich jeglicher Zweifel an der Gültigkeit der Vorschriften im Hinblick auf die genannten Artikel der Charta ausgeschlossen sein. Überdies muss diese Umformulierung dem Gerichtshof die Möglichkeit geben, sich zur Problematik im Zusammenhang mit der genauen Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts, die in Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt wird, zu äußern.

47.      Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die beiden Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts wie folgt umzuformulieren:

Welche Tragweite ist dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, in Anbetracht der Rechtsprechung des EGMR und der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen für den Fall zu verleihen, dass Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im Einklang mit diesem Recht ausgelegt werden können?

2.      Prüfung der umformulierten Frage

48.      Entsprechend der inneren Logik der umformulierten Frage werde ich prüfen, ob eine im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht stehende Auslegung in Anbetracht des Wortlauts der betreffenden Artikel möglich ist; in diesem Fall könnte die Gültigkeit dieser Vorschriften daher nicht in Frage gestellt werden. Das hängt von der Frage ab, ob die genannten Vorschriften dahin zu verstehen sind, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, Personen mit einer Sanktion zu belegen, die sich weigern, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter(10) bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann (Abschnitt b). Zu bemerken ist jedoch, dass diese Frage eine bejahende Antwort auf die Frage voraussetzt, ob das Auskunftsverweigerungsrecht nicht nur im Rahmen von Strafverfahren anwendbar ist, sondern auch in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung der erwähnten Sanktionen führen können. Obwohl das vorlegende Gericht mehrere Argumente vorbringt, die für eine solche Antwort sprechen, scheint es den Gerichtshof darum zu ersuchen, diesbezüglich jeglichen Restzweifel auszuschalten. Ich werde daher als Erstes auf diesen Punkt eingehen (Abschnitt a). Schließlich werde ich dazu Stellung nehmen, welche Tragweite dem Auskunftsverweigerungsrecht, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, in diesem Zusammenhang zu verleihen ist (Abschnitt c).

a)      Anerkennung des Auskunftsverweigerungsrechts in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung von Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter führen können

49.      Zunächst ist zu beachten, dass weder in Art. 47 Abs. 2 (Recht auf ein faires Verfahren) noch in Art. 48 Abs. 1 (Unschuldsvermutung) der Charta ausdrücklich ein Auskunftsverweigerungsrecht verankert ist.

50.      Entsprechend der Homogenitätsklausel in Art. 52 Abs. 3 der Charta, wonach die in dieser verankerten Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, „die gleiche Bedeutung und Tragweite [haben müssen], wie sie ihnen [in dem entsprechenden Artikel der EMRK] verliehen wird“, heißt es jedoch in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte im Hinblick auf deren Art. 47 Abs. 2, dass die sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebenden Garantien „in der Union entsprechend [gelten]“, und im Hinblick auf Art. 48 Abs. 1, dass dieses Recht „dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite“ wie das Recht hat, das in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankert ist(11).

51.      Zwar enthält auch der Wortlaut von Art. 6 EMRK keinen Verweis auf das Auskunftsverweigerungsrecht; es sei aber darauf hingewiesen, dass das Auskunftsverweigerungsrecht und der Schutz vor Selbstbelastung als Bestandteil des Auskunftsverweigerungsrechts, wie der EGMR wiederholt entschieden hat, trotz des Fehlens einer solchen ausdrücklichen Anerkennung „international allgemein anerkannte Grundsätze [sind], die im Mittelpunkt des in Art. 6 EMRK verankerten Begriffs eines fairen Verfahrens stehen“(12).

52.      Was den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK angeht, so geht aus seinem Wortlaut hervor, dass der strafrechtliche Geltungsbereich dieser Vorschrift immer dann Anwendung findet, wenn es um eine „strafrechtliche Anklage“ geht.

53.      Es ist allgemein bekannt, dass der EGMR den Begriff „Strafsachen“ weit ausgelegt hat, mit dem Ziel, nicht nur Verfahren zu erfassen, die zur Verhängung von Sanktionen führen könnten, die vom nationalen Gesetzgeber in den strafrechtlichen Bereich eingeordnet werden, sondern auch solche, die, obwohl sie von diesem Gesetzgeber als administrativ, fiskalisch oder disziplinarisch eingestuft werden, einen im Wesentlichen strafrechtlichen Charakter aufweisen. Eine solche autonome Auslegung beruht auf den Kriterien, die seit dem Urteil Engel(13) entwickelt und anschließend vom Gerichtshof im Urteil Bonda(14) herangezogen worden sind, nämlich der Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, der Art dieser Zuwiderhandlung und dem Schweregrad der angedrohten Sanktion (im Folgenden: Kriterien des Urteils Bonda).

54.      Diese Kriterien, so wie sie in der Rechtsprechung des EGMR charakterisiert worden sind, sollten wir kurz Revue passieren lassen(15).

55.      Das erste Kriterium, das die Einordnung der Zuwiderhandlung nach nationalem Recht betrifft, ist nicht einschlägig, wenn es um eine Sanktion geht, die als administrativ eingestuft wird(16). In einem solchen Fall ist es erforderlich, zwei andere Kriterien zu prüfen.

56.      Das zweite Kriterium, mit dem die wahre Natur der Zuwiderhandlung erfasst werden soll, wird auf der Grundlage einer Reihe von Faktoren bestimmt, wobei eine Zuwiderhandlung u. a. dann strafrechtlicher Natur sein wird, wenn sich die im nationalen Recht vorgesehene Sanktion an die Öffentlichkeit im Allgemeinen und nicht an eine kleine, eng abgegrenzte Personengruppe wendet(17), wenn der Tatbestand mit präventiven oder repressiven Zielsetzungen normiert worden ist(18), anstatt lediglich auf den Ausgleich von Vermögensschäden ausgerichtet zu sein(19), und wenn die nationale Sanktionsvorschrift ein Rechtsgut schützt, das normalerweise durch das Strafrecht geschützt wird(20).

57.      Das dritte Kriterium bezieht sich u. a. auf den Schweregrad der angedrohten Sanktion, wobei dieser anhand der Sanktion, mit der die betreffende Person von vornherein belegt werden kann, und nicht anhand der tatsächlich verhängten Sanktion bestimmt wird(21). Freiheitsstrafen sind schon per Definition strafrechtlicher Natur(22), und dasselbe ist bei Geldstrafen der Fall, die in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden können, wenn sie nicht entrichtet werden, oder die einen Eintrag im Strafregister zur Folge haben(23).

58.      Das zweite und das dritte Kriterium sind grundsätzlich alternativ. Ein kumulativer Ansatz kann jedoch gewählt werden, wenn es eine getrennte Betrachtung der einzelnen Kriterien nicht erlaubt, hinsichtlich des Vorliegens einer strafrechtlichen Anklage zu einem klaren Ergebnis zu gelangen(24).

59.      Ergibt die Prüfung dieser Kriterien, dass das fragliche Verwaltungsverfahren zu einer Sanktion führen könnte, die zum „Strafrechtsbereich“ gehört, gelangt die gesamte Bandbreite der dem strafrechtlichen Geltungsbereich von Art. 6 EMRK zugeordneten Garantien zur Anwendung, einschließlich des Auskunftsverweigerungsrechts. Wenn der EGMR feststellt, dass die Sanktion, die am Ende des zu prüfenden Verfahrens verhängt werden kann, strafrechtlichen Charakter hat, fragt er sich nämlich nicht noch, ob das betreffende spezifische Recht anwendbar ist, da diese Anwendbarkeit die unabwendbare Folge einer solchen Einordnung der Sanktion ist(25).

60.      Jedenfalls ist hervorzuheben, dass das Auskunftsverweigerungsrecht, wie das vorlegende Gericht zu Recht bemerkt, bereits mehrfach Personen zuerkannt worden ist, die im Rahmen von Verfahren zur Feststellung verwaltungsrechtlicher Zuwiderhandlungen nicht auf die Fragen der Verwaltungsbehörden geantwortet hatten. Bei diesen Gelegenheiten hat der EGMR gerade den strafrechtlichen Charakter der Sanktionen, die von der Verwaltungsbehörde für die von ihr untersuchten Zuwiderhandlungen verhängt werden konnten, als entscheidend angesehen(26).

61.      Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Schluss zu ziehen, dass, wenn die untersuchten Sanktionen anhand der Kriterien des Urteils Bonda als strafrechtlich eingestuft werden, die Anerkennung des Auskunftsverweigerungsrechts automatisch erfolgt.

b)      Möglichkeit, die in Rede stehenden Vorschriften im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht auszulegen

62.      In diesem Stadium ist festzustellen, ob Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 in Anbetracht ihres Wortlauts im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht ausgelegt werden können, d. h. dahin gehend, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, denjenigen mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann. Nur wenn sich dies bestätigen sollte, wäre die Frage nach der Gültigkeit dieser Bestimmungen im Hinblick auf die Art. 47 und 48 der Charta nämlich zu bejahen.

63.      Hierzu ist zunächst kurz der rechtliche Kontext zu umreißen, in den sich die Vorschriften, die Gegenstand dieser Frage sind, einfügen.

64.      Die Richtlinie 2003/6 soll den Marktmissbrauch bekämpfen. Wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 12 hervorgeht, verbietet sie Insider-Geschäfte sowie solche, die auf Marktmanipulation abzielen, um die Integrität der Finanzmärkte sicherzustellen und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte zu stärken, ein Vertrauen, das insbesondere darauf beruht, dass die Anleger einander gleichgestellt sind und gegen die unrechtmäßige Verwendung einer Insider‑Information geschützt werden(27).

65.      Damit dieser Rechtsrahmen hinreichende Wirkung entfaltet, müssen alle Verstöße gegen die gemäß der Richtlinie 2003/6 erlassenen Verbote unverzüglich aufgedeckt und geahndet werden(28). In diesem Zusammenhang führt Art. 14 der Richtlinie die Erfordernisse auf, an die die Mitgliedstaaten ihr nationales Sanktionssystem anzupassen haben.

66.      Obwohl die Verordnung Nr. 596/2014 die gleichen Ziele verfolgt wie die Richtlinie 2003/6(29), soll mit ihr u. a. dadurch ein einheitlicherer und stärkerer Rechtsrahmen geschaffen werden, dass die Aufsichts‑, Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der Aufsichtsbehörde gestärkt werden(30). Im Sanktionsbereich erweitert Art. 30 dieser Verordnung die Bandbreite der Anforderungen, an die die Mitgliedstaaten ihr nationales System anpassen müssen.

67.      Was die Vorschriften betrifft, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache auszulegen hat, ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 im Einzelnen festlegen müssen, wie die Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen von Ermittlungen der Aufsichtsbehörde zu ahnden ist. Aufgrund des in diesem Artikel vorgenommenen ausdrücklichen Verweises auf Art. 12 derselben Richtlinie ist die in Rede stehende Vorschrift in Verbindung mit Art. 12 auszulegen, der, was den Mindestinhalt der Befugnisse der Aufsichtsbehörde angeht, in seinem Abs. 2 Buchst. b bestimmt, dass diese Befugnisse das Recht einschließen müssen, „von jedermann Auskünfte anzufordern, auch von Personen, die an der Übermittlung von Aufträgen oder an der Ausführung der betreffenden Handlungen nacheinander beteiligt sind, sowie von deren Auftraggebern, und, falls notwendig, eine Person vorzuladen und zu vernehmen“(31). Mit anderen Worten besagt Art. 12 der Richtlinie 2003/6, dass der Kreis von Personen, denen gegenüber das erwähnte Recht der Aufsichtsbehörde ausgeübt werden kann, grundsätzlich unbegrenzt ist.

68.      Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 sieht im Wesentlichen vor, dass die Mitgliedstaaten der Aufsichtsbehörde die Befugnis übertragen müssen, verwaltungsrechtliche Sanktionen und Maßnahmen in Bezug auf die „Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer Ermittlung oder einer Prüfung oder einer … Anfrage“ zu verhängen. Da dieser Art. 30 der Verordnung Nr. 596/2014 ausdrücklich auf Art. 23 derselben Verordnung verweist, ist er notwendigerweise in Verbindung mit der letztgenannten Vorschrift auszulegen, die in ihrem Abs. 2 den Mindestinhalt der Aufsichts- und Ermittlungsbefugnisse der Aufsichtsbehörde dahin gehend festlegt, dass diese Befugnisse u. a. die Befugnis einschließen, „von jeder Person, auch von solchen, die nacheinander an der Übermittlung von Aufträgen oder an der Ausführung der betreffenden Tätigkeiten beteiligt sind, sowie von deren Auftraggebern Auskünfte zu verlangen oder zu fordern und erforderlichenfalls zum Erhalt von Informationen eine Person vorzuladen und zu befragen“(32).

69.      Die semantische Kraft des Pronomens „jedermann“ und des Adjektivs „jede“ in Verbindung mit der Tatsache, dass es den Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich verboten ist, Personen, aus deren Antworten sich ihre Verantwortlichkeit für eine in die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde fallende Zuwiderhandlung ergeben kann, wegen Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer Sanktion zu belegen, könnte den schriftlichen Erklärungen der italienischen Regierung zufolge eine Auslegung von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 rechtfertigen, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die genannten Personen auch auf administrativem Wege mit einer Sanktion zu belegen.

70.      Ich bin gleichwohl davon überzeugt, dass eine solche Schlussfolgerung falsch ist.

71.      In diesem Zusammenhang möchte ich zum einen hervorheben, dass sich das Pronomen „jedermann“ und das Adjektiv „jede“ in den beiden fraglichen Rechtsakten auf Personen, von denen die Aufsichtsbehörde Auskünfte anfordern bzw. die diese Behörde zur Befragung vorladen darf, und nicht unmittelbar auf Personen beziehen, die sie aufgrund einer Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen ihrer Ermittlungen mit einer Sanktion zu belegen hat, was nicht ohne Auswirkung auf die Solidität der vorstehenden Wortlautauslegung ist. Zum anderen und vor allem bin ich der Ansicht, dass eine Auslegung, die auf das Fehlen eines ausdrücklichen Ausschlusses der Möglichkeit abstellt, Personen mit einer Sanktion zu belegen, aus deren Antworten sich ihre Verantwortlichkeit für eine in die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde fallende Zuwiderhandlung ergeben kann, notwendigerweise auf die Annahme zurückzuführen ist, dass sowohl Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 als auch Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 den Mitgliedstaaten vorschreiben, sicherzustellen, dass eine Verletzung der Pflicht zur Zusammenarbeit im Rahmen von Ermittlungen dieser Behörde mit verwaltungsrechtlichen Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter bestraft wird. Wie oben dargestellt, findet das Auskunftsverweigerungsrecht nämlich lediglich in Strafverfahren oder in Verwaltungsverfahren Anwendung, die zur Verhängung von Sanktionen mit einem solchen Charakter führen könnten.

72.      Ich weise schon jetzt darauf hin, dass bei Anwendung anderer traditioneller Auslegungsmethoden des Gerichtshofs wie beispielsweise der Methoden der systematischen und der historischen Auslegung meines Erachtens offenkundig wird, dass die vorstehende Auslegung der in Rede stehenden Vorschriften falsch ist.

73.      Eine systematische Auslegung von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 setzt zunächst die Berücksichtigung von Abs. 1 derselben Vorschrift voraus, in dem es heißt: „Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, sorgen die Mitgliedstaaten entsprechend ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht dafür, dass bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften gegen die verantwortlichen Personen geeignete Verwaltungsmaßnahmen ergriffen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängt werden können. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass diese Maßnahmen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind.“ Aus diesem Absatz geht hervor, dass die Mitgliedstaaten über einen weiten Ermessensspielraum verfügen, wenn es darum geht, Maßnahmen zu erlassen, mit denen Verstöße gegen nationale Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2003/6 geahndet werden sollen. Ganz allgemein sind sie nicht nur ausdrücklich verpflichtet, zusätzlich zu etwaigen strafrechtlichen Sanktionen verwaltungsrechtliche Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter vorzusehen; sie dürfen sogar für die Verhängung einfacher „geeignete[r] Verwaltungsmaßnahmen“ anstelle verwaltungsrechtlicher Sanktionen im eigentlichen Sinne optieren. Außerdem ist, auch wenn sich die Mitgliedstaaten für die Aufnahme „verwaltungsrechtlicher Sanktionen“ in ihre nationalen Rechtsvorschriften entscheiden, der Ermessensspielraum, über den sie hinsichtlich der Tragweite dieser Sanktionen verfügen, nur durch die Verpflichtung begrenzt, dafür zu sorgen, dass die Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sind(33). Diese Verpflichtung beinhaltet meines Erachtens nicht notwendigerweise die Verpflichtung, Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter vorzusehen, da Sanktionen, die keinen solchen Charakter aufweisen, grundsätzlich auch wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein können(34). Ich vermag nämlich nicht zu erkennen, wie sich ausschließen ließe, dass eine Sanktion, die aufgrund ihres ausschließlich präventiven oder ausgleichenden Zwecks das zweite Kriterium des Urteils Bonda nicht erfüllt oder aufgrund ihrer geringen Höhe dem dritten Kriterium des Urteils Bonda nicht genügt, die genannten Merkmale in sich vereinen kann.

74.      Die vorstehende Auslegung scheint mir im Übrigen in einer Linie mit einer Passage der Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Spector Photo Group und Van Raemdonck(35) zu stehen. Nach dem Hinweis, dass Art. 14 der Richtlinie 2003/6 zu den Bestimmungen dieser Richtlinie gehört, die „Mindestvorgaben“ aufstellen, und „die Mitgliedstaaten ermächtigt sind, darüber hinausgehende Maßnahmen zu ergreifen“, stellt die Generalanwältin nämlich fest, dass der besagte Artikel „lediglich vor[schreibt], dass die Mitgliedstaaten effektive und abschreckende Verwaltungsmaßnahmen vorsehen müssen“, und die Richtlinie 2003/6 bezüglich der Art der Sanktionierung also nur zu „einer Mindestharmonisierung“ führt(36).

75.      Auch die systematische Auslegung von Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 erlaubt meiner Ansicht nach keine Schlussfolgerung, wonach diese Vorschrift dahin auszulegen ist, dass sie den Mitgliedstaaten vorschreibt, ein System verwaltungsrechtlicher Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter zu verabschieden. Zwar schränkt Art. 30 Abs. 1 dieser Verordnung den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten insofern ein, als er die Mitgliedstaaten im Wesentlichen dazu verpflichtet, sowohl verwaltungsrechtliche Maßnahmen als auch verwaltungsrechtliche Sanktionen zur Ahndung von Verstößen gegen die Bestimmungen der Verordnung einzuführen, ohne ihnen die Wahl zwischen diesen beiden Sanktionsmechanismen zu belassen. Zu bemerken ist jedoch, dass eine Verletzung der Verpflichtung zur Zusammenarbeit vom Anwendungsbereich des Art. 30 Abs. 2 dieser Verordnung ausgenommen ist, der unter den verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen, zu deren Verhängung die Aufsichtsbehörden zusätzlich zu den strafrechtlichen Sanktionen zumindest ermächtigt sein müssen, einige Sanktionen aufführt, die nach den Kriterien des Urteils Bonda vermutlich strafrechtlichen Charakter haben(37).

76.      Das sind somit die Kriterien, die die Aufsichtsbehörde nach nationalem Recht anzuwenden hat, wenn es darum geht, innerhalb der in Art. 31 Abs. 1 Buchst. a bis g der Verordnung Nr. 596/2014 vorgesehenen Grenzen(38) die Art und die Höhe der Sanktion sowie das unterschiedliche Gewicht zu bestimmen, das die genannte Behörde diesen – nach meinem Dafürhalten für die Feststellung eines etwaigen strafrechtlichen Charakters der Sanktion entscheidenden – Kriterien nach demselben Recht beimessen muss.

77.      Auch eine historische Auslegung von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 zeigt meines Erachtens, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten beim Erlass dieser beiden Rechtsakte nicht die Verpflichtung auferlegen wollte, Verstöße gegen die Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 2003/6 oder die Bestimmungen der Verordnung Nr. 596/2014 mit strafrechtlichen oder verwaltungsrechtlichen Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter zu ahnden, da sowohl diese Richtlinie als auch diese Verordnung auf eine einfache Mindestharmonisierung der nationalen Sanktionssysteme abzielten. Dies geht offensichtlich – was die Richtlinie 2003/6 angeht – aus dem Richtlinienvorschlag hervor, in dem die Kommission klargestellt hat, dass „[die Sanktionsregelung] selbst … in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten [verbleibt]“ und „[d]ie Sanktionen … wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein [müssen]. Jeder Mitgliedstaat kann jedoch selbst darüber entscheiden, welche Sanktionen bei Zuwiderhandlung gegen die Richtlinie oder bei der Weigerung, bei Ermittlungen im Sinne von Artikel 12 der Richtlinie zusammenzuarbeiten, angewandt werden“(39). Was die Verordnung Nr. 596/2014 betrifft, so kommt die Absicht, den gleichen Harmonisierungsgrad fortzuschreiben, genauso offensichtlich in der Passage des Verordnungsvorschlags zum Ausdruck, in der die Kommission feststellt, dass „mit dieser Verordnung Mindestvorschriften für verwaltungsrechtliche Maßnahmen, Sanktionen und Geldbußen eingeführt [werden]. Dies hindert einzelne Mitgliedstaaten nicht an der Festlegung höherer Standards“(40).

78.      Unter Berücksichtigung des weiten Ermessensspielraums, der den Mitgliedstaaten bei der Erfüllung der auf ihnen lastenden Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im Rahmen der Fortschreibung eines Mindestharmonisierungsgrads belassen wird, überrascht es nach meiner Einschätzung nicht, dass der Unionsgesetzgeber nicht klargestellt hat, dass, wenn verwaltungsrechtliche Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter auf nationaler Ebene festgelegt werden, sie nicht gegen Personen verhängt werden dürfen, die sich im Rahmen von Ermittlungen betreffend einen mit solchen Sanktionen bewehrten Verstoß weigern, die Fragen der Untersuchungsbehörde, aus denen sich ihre Verantwortung für den betreffenden Verstoß ergeben kann, zu beantworten. Indem der Gesetzgeber den Mitgliedstaaten die Freiheit belassen hat, Art und Tragweite der im Fall einer Verletzung der Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde vorzusehenden Sanktionen festzulegen, hat er meiner Meinung nach nämlich notwendigerweise anerkannt, dass die Verhängung einer Sanktion als Folge der Anerkennung der Grundrechte, die die Charta mit Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter verknüpft, ausgeschlossen werden kann. Mit anderen Worten bedeutet, wie der Rat in seinen schriftlichen Erklärungen geltend macht, die Tatsache, dass sowohl Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 als auch Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 allgemein und unbedingt formuliert sind, nicht, dass Ausnahmen im Zusammenhang mit der Wahrung eines Grundrechts nicht im Wege der Auslegung eingeführt werden könnten.

79.      Insoweit ist zu beachten, dass der 44. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/6(41) und der 77. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 596/2014(42) den Grundsatz kodifizieren, wonach Bestimmungen des abgeleiteten Rechts der Union grundrechtskonform ausgelegt werden müssen(43). Im vorliegenden Fall gebietet es dieser Grundsatz, die Verpflichtung zur Ahndung einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, auszulegen, das zuerkannt werden muss, wenn ein Verfahren zur Verhängung von Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter führen kann.

80.      Dagegen verlangt der vorerwähnte Grundsatz entgegen dem, was das vorlegende Gericht in Betracht zu ziehen scheint, nicht, dass im Rahmen der Auslegung der Verpflichtung zur Ahndung einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde der Notwendigkeit Rechnung getragen wird, die Schutzstandards der von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geschützten Grundrechte einzuhalten, falls diese Schutzstandards höher sind als die auf der Ebene des Unionsrechts garantierten Standards.

81.      Zunächst wird eine solche Auslegung nicht, wie das vorlegende Gericht geltend zu machen scheint, durch die Satzteile „entsprechend [dem] jeweiligen innerstaatlichen Recht“ und „im Einklang mit nationalem Recht“ in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 bzw. Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 596/2014, die sich auf die den Mitgliedstaaten obliegende Sanktionspflicht beziehen, gestützt. Mit der Aufnahme dieser Satzteile soll meines Erachtens nämlich schlicht und ergreifend hervorgehoben werden, dass die Sanktionsregelung einer Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf(44).

82.      Jedenfalls hat der Gerichtshof eine solche Auslegung in seinem Urteil Melloni(45) ganz allgemein bereits zurückgewiesen. In der Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, bezog sich die dritte Vorlagefrage des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien) darauf, ob Art. 53 der Charta(46) es einem Mitgliedstaat gestattet, ein durch seine Verfassung garantiertes höheres Schutzniveau für die Grundrechte anzuwenden. Die Große Kammer des Gerichtshofs hat diese Frage mit der Begründung verneint, dass eine solche Auslegung des genannten Art. 53 gegen den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts verstoßen würde(47).

83.      Auch im vorliegenden Fall verstieße eine solche Auslegung gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, da sie es einem Mitgliedstaat gestatten würde, die Anwendung von Bestimmungen des Unionsrechts, die vollkommen im Einklang mit der Charta stehen, nämlich Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 596/2014, allein deshalb zu verhindern, weil sie angeblich nicht die durch die Verfassung dieses Staates garantierten Grundrechte achten. Außerdem würde sie insoweit eine einheitliche und effiziente Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen, als sie die Einheitlichkeit des Schutzniveaus des Auskunftsverweigerungsrechts im Fall der Ahndung einer Verletzung der Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde in Frage stellen würde und der Harmonisierung der Sanktionsbefugnisse der Aufsichtsbehörden in Bezug auf die genannte Verletzung entgegenstehen könnte.

84.      Vor diesem Hintergrund bin ich der Ansicht, dass Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, ausgelegt werden können und dass ihre Gültigkeit im Hinblick auf diese Artikel der Charta nicht in Zweifel gezogen werden kann. Folglich kann auf die Problematik im Zusammenhang mit der Tragweite des fraglichen Rechts eingegangen werden.

c)      Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt

85.      Wie in Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge erwähnt, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof darüber hinaus wissen, welche Tragweite dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, im Rahmen von Verwaltungsverfahren zur Verhängung von Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter wie den in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahren zur Ahndung von Marktmissbrauch zuzuerkennen ist(48). In diesem Zusammenhang hebt das vorlegende Gericht hervor, dass die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK diesem Recht eine größere Tragweite zu verleihen scheine, als sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen ergebe.

86.      Die vorstehende Problematik soll in den folgenden Nummern untersucht werden. Insbesondere werde ich auf die Frage eingehen, ob dem Auskunftsverweigerungsrecht, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, im vorliegenden Fall die gleiche Tragweite verliehen werden muss, wie sie ihr in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuerkannt worden ist, und diese Frage verneinen (Abschnitt 1). Sodann werde ich entsprechend der Homogenitätsklausel in Art. 52 Abs. 3 der Charta und den Erläuterungen zu dieser(49) versuchen, anhand der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK die Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts im vorliegenden Fall bestimmen (Abschnitt 2).

87.      Bevor ich mit dieser Würdigung beginne, ist eine Klarstellung geboten. Das vorlegende Gericht hat bereits – meines Erachtens zu Recht – ausgeschlossen, dass das Auskunftsverweigerungsrecht als solches die Weigerung einer Person, zu der von der Aufsichtsbehörde verfügten Anhörung zu erscheinen, oder ihr unentschuldigt verspätetes Erscheinen zu einer solchen Anhörung rechtfertigen kann, unbeschadet der Möglichkeit dieses Gerichts, zu prüfen, ob und inwieweit die Weigerung dadurch begründet sein kann, dass der Betroffene nicht die Gewähr erhalten hat, dass sein Auskunftsverweigerungsrecht gewahrt wird. Aus diesem Grund wird sich meine Würdigung lediglich auf die Tatsachenannahme einer Weigerung beziehen, Fragen der genannten Behörde zu beantworten.

1)      Auskunftsverweigerungsrecht in der Rechtsprechung des Gerichtshofs

88.      Nach meiner Kenntnis hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union zur Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts ausschließlich im Bereich des Wettbewerbsrechts geäußert.

89.      Ausgangspunkt für jede Prüfung dieser Rechtsprechung ist das Grundsatzurteil Orkem/Kommission(50).

90.      In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hatte die klagende Gesellschaft einen Klagegrund geltend gemacht, der auf das Argument gestützt war, wonach sie mit dem Auskunftsersuchen, das die Kommission im Anschluss an eine von ihr durchgeführte Nachprüfung über die mögliche Beteiligung der genannten Gesellschaft an Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen an sie gerichtet hatte, dazu gezwungen werde, sich durch das Eingeständnis der Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln selbst zu beschuldigen. Auf dieses Argument hatte der Gerichtshof zunächst festgestellt, dass es zum einen ein solches Recht in der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht gibt und zum anderen eine „Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung“ besteht, die auf Unternehmen lastet, gegen die eine Untersuchung durchgeführt wird, mit der festgestellt werden soll, ob sie eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen haben. Sodann hatte der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass bestimmte Beschränkungen der Untersuchungsbefugnisse der Kommission aufgrund des Erfordernisses der Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen gleichwohl anerkannt werden können, um zu verhindern, dass diese Rechte in nicht wiedergutzumachender Weise in Voruntersuchungsverfahren, die von entscheidender Bedeutung für die Erbringung des Beweises für das rechtswidrige Verhalten der Unternehmen sein können, beeinträchtigt werden(51). Die genannten Beschränkungen werden vom Gerichtshof wie folgt definiert: „[D]ie Kommission [ist] zwar … berechtigt, das Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen. Jedoch darf die Kommission … dem Unternehmen nicht die Verpflichtung auferlegen, Antworten zu erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat.“(52)

91.      Aus den später ergangenen Urteilen geht, wie das vorlegende Gericht nahelegt, hervor, dass die Definition dieser Beschränkungen vom Gerichtshof nicht wesentlich verändert worden ist(53). Er hat im Gegenteil die Auffassung vertreten, dass die dem Auskunftsverweigerungsrecht auf diese Weise verliehene Tragweite mit den Art. 47 und 48 der Charta im Einklang steht, weil das Erfordernis, die Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts zu gewährleisten, es gebietet, eine Abwägung zwischen dem Auskunftsverweigerungsrecht und dem der Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht zugrunde liegenden öffentlichen Interesse vorzunehmen(54). Die Anerkennung eines Auskunftsverweigerungsrechts, das auch sämtliche rein tatsächliche Fragen umfassen würde („absolutes Auskunftsverweigerungsrecht“), ginge nach dieser Rechtsprechung nämlich über das hinaus, was zur Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen erforderlich ist, und würde zu einer ungerechtfertigten Behinderung der Kommission bei der Erfüllung der ihr übertragenen Aufgabe führen, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt zu wachen. Ebenfalls nach dieser Rechtsprechung würde nichts das Unternehmen, das auf rein tatsächliche Fragen geantwortet hat, daran hindern, später im Verwaltungsverfahren oder in einem Verfahren vor dem Unionsrichter zu beweisen, dass die in seinen Antworten mitgeteilten Tatsachen eine andere als die ihnen von der Kommission beigemessene Bedeutung haben.

92.      Zusammenfassend erstreckt sich das Auskunftsverweigerungsrecht nach Ansicht des Gerichtshofs nicht auf Antworten auf Sachfragen, es sei denn, die Fragen bezwecken, das Eingeständnis des betreffenden Unternehmens zu erlangen, dass die von der Kommission untersuchte Zuwiderhandlung begangen worden ist. Mit anderen Worten setzt der durch dieses Recht gewährleistete Schutz, wie der Gerichtshof im Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission klargestellt hat, die Feststellung voraus, ob eine Antwort des Unternehmens, das Adressat der genannten Fragen ist, tatsächlich dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkäme(55).

93.      Ist dies nicht der Fall, gilt die Frage als „rein tatsächlich“(56) oder als Frage „nach rein tatsächlichen Gegebenheiten“(57), so dass sie selbst dann nicht in den Anwendungsbereich des Auskunftsverweigerungsrechts fällt, wenn die Antwort des betreffenden Unternehmens diesem gegenüber als Beweis für das Vorliegen eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verwendet werden kann.

94.      In ihren schriftlichen Erklärungen trägt die italienische Regierung im Wesentlichen vor, diese Rechtsprechung könne entsprechend übertragen werden, wenn es darum gehe, die Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts natürlicher Personen im Rahmen von Verwaltungsverfahren zu ermitteln, mit denen Marktmissbrauch aufgedeckt werden solle. Insbesondere das Erfordernis, die Wirksamkeit der Bestimmungen des abgeleiteten Rechts zu gewährleisten, die zur Ahndung eines solchen Missbrauchs verpflichteten, wie beispielsweise Art. 14 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 der Verordnung Nr. 596/2014, gebiete es, die Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts mittels einer Abwägung zwischen diesem und dem öffentlichen Interesse zu bestimmen, die Integrität der Finanzmärkte sicherzustellen und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte zu stärken(58).

95.      Diesem Standpunkt kann ich mich nicht anschließen.

96.      Entwickelt unter Bezugnahme auf Unternehmen, gegen die Ermittlungen über Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht geführt wurden, betrifft diese Rechtsprechung offenkundig nur juristische Personen, worauf im Übrigen auch das vorlegende Gericht hinweist. Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind nämlich die einzigen Subjekte des Wettbewerbsrechts der Union und die einzigen Einheiten, gegen die die Kommission Geldbußen wegen Verstoßes gegen die Art. 101 und 102 AEUV verhängen kann(59). Die Frage nach der Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts natürlicher Personen scheint mir vom Gerichtshof hingegen bislang nicht untersucht worden zu sein.

2)      Auskunftsverweigerungsrecht in der Rechtsprechung des EGMR

97.      Anders als der Gerichtshof hat sich der EGMR nach meiner Kenntnis nie dazu geäußert, ob sich eine juristische Person in einem gegen sie geführten Straf- oder Verwaltungsverfahren zur Verhängung von Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter auf das Auskunftsverweigerungsrecht berufen kann. Mit anderen Worten ist der Anwendungsbereich dieses Rechts, der in seinen Grundzügen in den folgenden Nummern definiert wird, bislang nur in Bezug auf natürliche Personen anerkannt worden(60).

98.      Das ergibt sich sehr deutlich aus der Art und Weise, in der der EGMR erläutert hat, weshalb es das Recht, die Aussage zu verweigern, und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, gibt, wobei Letzteres eine Komponente des Ersteren ist. Die Existenz dieser Rechte liegt nach Ansicht des EGMR nämlich im Schutz von Personen, gegen die eine „strafrechtliche Anklage“ erhoben wird, vor missbräuchlichem Zwang seitens der Behörden begründet. Ein solcher Schutz, so dieses Gericht, ziele darauf ab, Justizirrtümer zu vermeiden und das mit Art. 6 EMRK angestrebte Ergebnis zu erreichen(61), insbesondere sicherzustellen, dass in einer Strafsache die Staatsanwaltschaft den Angeklagten überführe, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die sie durch Zwang oder Druck und gegen den Willen des Angeklagten erlangt habe. Dieses letzte Element wird durch die Klarstellung verstärkt, dass es beim Aussageverweigerungsrecht „in erster Linie darum [geht], den Willen eines Angeklagten, die Aussage zu verweigern, zu respektieren“(62).

99.      Mit anderen Worten steht, wie die Kommission es in ihren schriftlichen Erklärungen treffend ausgedrückt hat, der Respekt vor der Person und ihrer Entschlussfreiheit durch die Verhinderung der Ausübung behördlichen Zwangs auf die Willensbildung dieser Person im Mittelpunkt der Zielsetzungen des Auskunftsverweigerungsrechts, so wie der EGMR es prüft. Daher wird das fragliche Recht vom besagten Gericht als Bestandteil der Menschenwürde verstanden, worauf Richter Martens in seinem dem Urteil Saunders/Vereinigtes Königreich beigefügten Sondervotum, in dem es heißt, dass sich der EGMR dem Standpunkt angeschlossen zu haben scheint, wonach „der Respekt der Würde und der Freiheit des Menschen verlangt, dass eine verdächtige Person vollkommen frei in ihrer Entscheidung ist, wie sie mit den gegen sie erhobenen Anschuldigungen umgeht“, zu Recht hingewiesen hat(63)(64). Unter diesen Umständen scheint die Bedeutung, die dem Auskunftsverweigerungsrecht von der genannten Rechtsprechung beigelegt worden ist, nicht ohne Weiteres auf juristische Personen übertragen werden zu können(65).

100. In Anbetracht der Tragweite, die der EGMR dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen zuerkennt, sei zunächst in Erinnerung gerufen, dass dieses Recht nach Ansicht des EGMR im Schutz von Personen, gegen die eine strafrechtliche Anklage erhoben wird, vor missbräuchlichem Zwang seitens der Behörden begründet liegt.

101. Im Rahmen der Prüfung, mit der festgestellt werden soll, ob ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vorliegt, fragt sich der EGMR folglich zunächst, ob zur Erlangung von Beweismitteln nachweislich Zwang ausgeübt worden ist, und prüft anschließend, ob dieser Zwang als missbräuchlich eingestuft werden muss. In seiner Rechtsprechung hat er mehrere Situationen identifiziert, die das Vorliegen missbräuchlichen Zwangs befürchten lassen könnten, wobei die erste „die Situation einer verdächtigen Person [ist], die, mit der Verhängung von Sanktionen bedroht, wenn sie nicht aussagt, entweder aussagt oder wegen Verweigerung der Aussage bestraft wird“(66). Um festzustellen, ob sich diese Befürchtung bewahrheitet, prüft der EGMR Natur und Grad des Zwangs, wie sie durch Art und Schwere der mit der Aussageverweigerung verbundenen Sanktion zum Ausdruck kommen(67), sowie das Vorhandensein angemessener Garantien im fraglichen Verfahren(68).

102. Der EGMR hat gleichwohl mehrfach darauf hingewiesen, dass sämtliche Formen unmittelbaren Zwangs gegenüber einem Angeklagten, die ihn dazu bewegen sollen, sich gegen seinen Willen selbst zu belasten, nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK führen können. Da das Auskunftsverweigerungsrecht nach Auffassung dieses Gerichts nämlich keinen absoluten Charakter hat(69), ist der Grad des von den Behörden angewandten Zwangs unvereinbar mit der erwähnten Vorschrift, wenn er dazu führt, dass das besagte Recht seines Inhalts beraubt wird(70). Im Rahmen einer solchen Beurteilung kommt es nach Auffassung des EGMR entscheidend auf die Verwendung der unter Zwang erlangten Informationen während eines Strafverfahrens an(71) – sowohl im Kontext des Verfahrens selbst als auch außerhalb eines solchen Kontexts(72).

103. Mit dem letztgenannten Kriterium lässt sich insbesondere feststellen, ob der Zwang gegebenenfalls missbräuchlich ist, wenn sich die Fragen, die dem Angeklagten gestellt werden, auf Tatsachen beziehen. Auf diese Problematik ist der EGMR erstmals in der Rechtssache Saunders/Vereinigtes Königreich eingegangen. In Beantwortung des Vorbringens der britischen Regierung, wonach das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, unter den Umständen jener Rechtssache keine Anwendung finde, weil der Kläger nicht gezwungen worden sei, selbstbelastende Antworten zu geben, hat der EGMR zunächst ausgeführt, dass das Auskunftsverweigerungsrecht „vernünftigerweise nicht auf Geständnisse von Straftaten oder auf Äußerungen beschränkt sein [kann], mit denen dieses Recht unmittelbar in Frage gestellt wird“, und sodann klargestellt, dass „[e]ine unter Zwang erhaltene Aussage, die auf den ersten Blick nicht belastend erscheint – wie beispielsweise ihren Urheber entlastende Äußerungen oder einfache Informationen über Tatsachenfragen –, … in einem späteren Strafverfahren zur Stützung der Auffassung der Staatsanwaltschaft verwendet werden [kann]“(73)(74).

104. Diesbezügliche wesentliche Klarstellungen sind später im Urteil Corbet u. a./Frankreich vorgenommen worden. Nachdem der EGMR das Vorliegen von Zwang sowie den Umstand festgestellt hatte, dass die Aussagen der Angeklagten nicht selbstbeschuldigend waren, hat er im Hinblick auf die Verwendung von Aussagen über unter Zwang gesammelte Tatsachen nämlich die Ansicht vertreten, dass nur dann ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vorliegt, wenn sich diese Aussagen „auf den Schuldspruch oder die Strafe ausgewirkt“ haben(75). Mir scheint, dass, da die dem Strafrecht im eigentlichen Sinne eigene Sprache ausschließlich durch die Besonderheiten des tatsächlichen Rahmens jener Rechtssache gerechtfertigt ist, der genannte Grundsatz so angesehen werden muss, als sei er auch anwendbar, wenn sich die Aussagen auf die Verurteilung oder die Sanktion ausgewirkt haben, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens, das zum Strafrecht im Sinne von Art. 6 EMRK gehört, verhängt worden ist.

105. Überdies hat der EGMR klargestellt, dass die Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts nicht durch dessen Abwägung mit einem Interesse öffentlicher Natur verringert werden darf. Diese Ausrichtung wird seit dem Urteil Saunders/Vereinigtes Königreich verfolgt, in dem der EGMR die Auffassung der Regierung zurückgewiesen hat, wonach das wesentliche öffentliche Interesse an der Verfolgung der Betrugsfälle im Gesellschaftsbereich und an der Bestrafung der Verantwortlichen es rechtfertigen könne, dass dem Angeklagten das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht zuerkannt werde(76).

106. Folglich erfasst der Anwendungsbereich des Auskunftsverweigerungsrechts natürlicher Personen in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung einer Sanktion mit strafrechtlichem Charakter wie der in der Ausgangsrechtssache führen können, auch Antworten auf Sachfragen, die nicht notwendigerweise ein Schuldeingeständnis beinhalten, sofern sie sich auf die Begründung der ergangenen Entscheidung oder die am Ende dieses Verfahrens verhängte Sanktion ausgewirkt haben. Für die Festlegung dieses Anwendungsbereichs ist das der Verfolgung der betreffenden Straftat zugrunde liegende öffentliche Interesse irrelevant.

107. In diesem Zusammenhang ist zu dem von der Kommission sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch während der mündlichen Verhandlung entwickelten Argument Stellung zu nehmen, wonach der sich aus dem Urteil der Großen Kammer des EGMR in der Rechtssache Jussila/Finnland (im Folgenden: Urteil Jussila)(77) ergebende Grundsatz(78), den das Gericht der Europäischen Union im Urteil Schindler Holding u. a./Kommission(79) angewandt hat, in Bereichen wie dem der Ahndung von Marktmissbrauch eine „gemäßigte“ Anwendung des Auskunftsverweigerungsrechts gestatte, so dass dieses Recht eine genauso geringe Tragweite besitze wie das Recht, das juristischen Personen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zuerkannt werde.

108. In jener Rechtssache war der EGMR mit der Frage befasst, ob der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung in einem Rechtsmittelverfahren betreffend eine vom finnischen Fiskus beschlossene Steuererhöhung mit Art. 6 EMRK vereinbar ist. Bei dieser Gelegenheit hat der EGMR den Grundsatz bekräftigt, wonach in allen Verfahren, die zur Anwendung von Sanktionen führen, die gemäß Art. 6 EMRK als strafrechtliche Sanktionen einzustufen sind, zwischen den Verfahren und Sanktionen, die den „harten Kern des Strafrechts“ bilden und für diejenigen, die sie betreffen, „ehrenrührigen Charakter“ haben, und solchen unterschieden werden muss, die nicht dazu gehören. Nachdem der EGMR darauf hingewiesen hatte, dass die von ihm gewählte autonome Auslegung des Begriffs der „strafrechtlichen Anklage“ zu einer schrittweisen Erweiterung des strafrechtlichen Geltungsbereichs von Art. 6 EMRK auf Gebiete geführt hatte, die nicht formell zu den herkömmlichen strafrechtlichen Kategorien gehören, hat er nämlich klargestellt, dass die mit dem strafrechtlichen Geltungsbereich von Art. 6 EMRK verknüpften Garantien – außerhalb der Kategorien, die zum harten Kern des Strafrechts gehören – „nicht unbedingt in ihrer ganzen Strenge anzuwenden sind“(80).

109. Da das Auskunftsverweigerungsrecht zu den erwähnten Garantien gehört, könnte nämlich vorgebracht werden, dass der Umfang der diesem Recht vom EGMR zuerkannten Tragweite von der Frage abhängt, ob der Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK zum harten Kern des Strafrechts gehört, so dass die Tragweite bei Verneinung als geringer angesehen werden und somit der Tragweite entsprechen muss, die ihm von der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zuerkannt worden ist.

110. Nach meinem Dafürhalten kann dieses Argument in der vorliegenden Rechtssache keinen Erfolg haben, da der EGMR im Urteil Grande Stevens u. a./Italien bereits die Auffassung vertreten hat, dass die vom italienischen Gesetzgeber zur Umsetzung der Richtlinie 2003/6 angenommenen Sanktionen durchaus zum harten Kern des Strafrechts gehören, wobei sich ihr ehrenrühriger Charakter aus der Tatsache ergibt, dass sie geeignet sind, der beruflichen Ehrenhaftigkeit und dem Ansehen der betroffenen Personen zu schaden(81).

111. Jedenfalls habe ich Zweifel daran, ob eine Berufung auf den sich aus dem Urteil Jussila ergebenden Grundsatz überhaupt möglich ist, um eine strengere Auslegung der Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts zu rechtfertigen.

112. Zunächst ist hervorzuheben, dass sich der Gerichtshof, obwohl das Gericht diesen Grundsatz tatsächlich einige Male angewandt hat(82), seiner nie bedient hat, auch wenn er von seinen Generalanwälten dreimal hierzu aufgefordert worden ist(83).

113. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass seine Anwendung in zweifacher Hinsicht begrenzt ist. Erstens verweist Rn. 43 des besagten Urteils zwar allgemein auf die „vom strafrechtlichen Geltungsbereich des Art. 6 gebotenen Garantien“; zu bemerken ist aber auch, dass diese weniger strenge Anwendung des strafrechtlichen Geltungsbereichs von Art. 6 EMRK, wie die spätere Rechtsprechung des EGMR klar zu verstehen gegeben hat, lediglich einige der Garantien betrifft. So hat dieses Gericht im Urteil Kammerer/Österreich die Ansicht vertreten, dass der im Urteil Jussila gewählte Ansatz „nicht auf die Frage des Verzichts auf eine mündliche Verhandlung beschränkt ist, sondern auf andere von Art. 6 erfasste Verfahrensgarantien wie beispielsweise hier die Teilnahme der Angeklagten an der mündlichen Verhandlung ausgedehnt werden kann“(84)(85). In Anbetracht dieser Erwägung erscheint es mir zweifelhaft, ob eine weniger strenge Anwendung einer Garantie wie des Auskunftsverweigerungsrechts, das nach der Rechtsprechung des EGMR „im Kern des Begriffs eines fairen Verfahrens“ angesiedelt ist, hingenommen werden kann. Zweitens teile ich voll und ganz die Auslegung, wonach der sich aus dem Urteil Jussila ergebende Grundsatz keine Ausblendung oder Einschränkung der Tragweite der hier zu prüfenden Garantie voraussetzt, sondern schlicht und ergreifend deren Ersetzung durch alternative Modalitäten für den Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren(86)(87). In diesem Urteil ist nämlich im Anschluss an eine kontextbezogene Beurteilung der Frage, ob die rechtlichen Problematiken, mit denen das Gericht befasst war, es den nationalen Behörden ausnahmsweise gestatten konnten, den Antrag auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung abzulehnen, festgestellt worden, dass kein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vorliegt.

114. Folglich könnte der durch das Urteil Jussila eingeführte Grundsatz es nicht rechtfertigen, dass Antworten auf Sachfragen der Aufsichtsbehörde, mit denen das Vorliegen einer Zuwiderhandlung festgestellt werden soll, nur dann vom Auskunftsverweigerungsrecht erfasst werden, wenn alternative Modalitäten für den Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren in einem solchen Fall anwendbar sind, was mittels einer kontextbezogenen Beurteilung zu überprüfen wäre.

115. Diese zweite Erwägung gilt meines Erachtens auch, wenn es darum geht, die Relevanz des Urteils A. Menarini Diagnostics S.R.L./Italien (im Folgenden: Urteil Menarini)(88) auszuschließen, das die Kommission aufgrund des darin zum Ausdruck gebrachten benachbarten Grundsatzes, wonach „[die Unterschiede zwischen einem Verwaltungsverfahren und einem Strafverfahren im eigentlichen Sinne] die Vertragsstaaten zwar nicht von ihrer Verpflichtung entbinden [können], alle vom strafrechtlichen Geltungsbereich des Art. 6 gebotenen Garantien einzuhalten, sie aber gleichwohl die Modalitäten ihrer Anwendung beeinflussen können“(89), in diesem Zusammenhang ebenfalls angeführt hat. Im Urteil wurde die Tatsache, dass der EGMR eine mögliche Verletzung des Rechts jeder Person darauf, dass ihre Sache von einem Organ mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung in einem fairen Verfahren verhandelt wird, anlässlich der Kontrolle der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörde durch den italienischen Verwaltungsrichter verneint hat, im Wesentlichen damit begründet, dass die italienischen Rechtsvorschriften und die italienische Rechtsprechung den Verwaltungsrichter zwar veranlassten, nur eine einfache Rechtmäßigkeitskontrolle durchzuführen, der Staatsrat unter den Umständen des vorliegenden Falls aber eine unbeschränkte Nachprüfung vorgenommen habe(90).

116. Daher können meiner Meinung nach weder der sich aus dem Urteil Jussila ergebende Grundsatz noch der aus dem Urteil Menarini abgeleitete Grundsatz zur Stützung des Arguments ins Feld geführt werden, wonach das Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung einer Sanktion mit strafrechtlichem Charakter führen können, eine genauso geringe Tragweite haben muss, wie es sie hat, wenn es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen einer juristischen Person zugutekommt.

117. Im Ergebnis vertrete ich die Ansicht, dass die Tragweite, die dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung einer Sanktion strafrechtlicher Natur führen können, zuerkannt werden muss, in Anbetracht der Homogenitätsklausel in Art. 52 Abs. 3 der Charta der Tragweite entsprechen muss, die in der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR und insbesondere – wenn es um Antworten auf Sachfragen geht – im Urteil Corbet u. a./Frankreich(91) festgelegt worden ist.

V.      Ergebnis

118. Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die beiden umformulierten Fragen, die ihm die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, wie folgt zu beantworten:

Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission können im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergibt, ausgelegt werden, da sie dahin zu verstehen sind, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, Personen mit einer Sanktion zu belegen, die sich weigern, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann. Dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung einer Sanktion mit strafrechtlichem Charakter führen können, ist gemäß der Homogenitätsklausel in Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte diejenige Tragweite zuzuerkennen, die sich aus der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, wonach dieses Recht u. a. Antworten auf Sachfragen erfasst, sofern sie sich auf die Verurteilung oder die am Ende der genannten Verfahren verhängte Sanktion auswirken.





























































































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