C-451/21 P – Luxemburg/ Kommission

C-451/21 P – Luxemburg/ Kommission

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Language of document : ECLI:EU:C:2023:383

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 4. Mai 2023(1)

Rechtssache C454/21 P

Engie Global LNG Holding S.à.r.l,

Engie Invest International S.A.,

Engie S.A.

gegen

Europäische Kommission

Rechtssache C451/21 P

Großherzogtum Luxemburg

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Beihilferecht – Maßnahme des Großherzogtums Luxemburg zugunsten von Engie – Selektiver Vorteil – Bestimmung des Referenzsystems – Prüfungsmaßstab für einen selektiven Vorteil im Steuerrecht – Steuervorbescheid – Fehler in der Rechtsanwendung zugunsten des Steuerpflichtigen als selektiver Vorteil – Schachtelprivileg und verdeckte Gewinnausschüttung – Ungeschriebenes Korrespondenzprinzip – Auslegung innerstaatlichen Rechts durch die Kommission – Unrichtige Anwendung einer allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschrift als selektiver Vorteil“

I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Rechtsmittel geben dem Gerichtshof erneut(2) die Möglichkeit, sich mit der Überprüfung eines Steuervorbescheids anhand des Beihilferechts zu beschäftigen. Während solche Steuervorbescheide einerseits der Rechtssicherheit dienen, besteht andererseits mitunter der latente Verdacht, dass sie in einigen Mitgliedstaaten zu potenziell wettbewerbsschädlichen Absprachen zwischen Steuerbehörden und Steuerpflichtigen führen.

2.        Anders als in den übrigen Beihilfeverfahren, die die Kommission in Bezug auf Steuervorbescheide eingeleitet hat,(3) geht es hier aber nicht um Verrechnungspreise, die vom Fremdvergleichsgrundsatz abweichen. Im zugrunde liegenden Rechtsstreit hatte sich die luxemburgische Steuerverwaltung gegenüber der Engie-Gruppe stattdessen in zwei Reihen von Steuervorbescheiden zur steuerrechtlichen Behandlung einer Umstrukturierung der Unternehmensgruppe in Luxemburg geäußert. Im Ergebnis bescheinigte sie, dass ein Wandeldarlehen zwischen mehreren luxemburgischen Gesellschaften der Engie-Gruppe im Ergebnis auf Ebene der „Darlehensnehmerin“ als Fremdkapital und auf Ebene der „Darlehensgeberin“ als Eigenkapital zu qualifizieren sei. Die im Zusammenhang mit der Finanzierung geleisteten Vergütungen wurden daher auf Ebene der Tochtergesellschaft nicht von der Bemessungsgrundlage erfasst, bei der Muttergesellschaft jedoch als Beteiligungserträge behandelt. Letztere werden üblicherweise innerhalb eines Konzerns – so auch in Luxemburg – nicht besteuert. Auf Ebene der Tochtergesellschaft fand hingegen eine Besteuerung nur in Höhe einer mit der Steuerverwaltung vereinbarten speziellen Bemessungsgrundlage („Marge“) statt.

3.        Im streitigen Beschluss(4) ging die Kommission davon aus, dass die luxemburgische Steuerverwaltung die Beteiligungserträge auf Ebene der Muttergesellschaft nicht als steuerfrei hätte behandeln dürfen. Indem das Großherzogtum dies in den Steuervorbescheiden anders beurteilte, habe es den jeweiligen Muttergesellschaften bzw. der Engie-Gruppe eine Beihilfe gewährt. Alternativ hätte die Finanzverwaltung die allgemeine Missbrauchsvermeidungsvorschrift im luxemburgischen Recht anwenden müssen. Das Gericht schloss sich dieser Sichtweise der Kommission vollumfänglich an.

4.        Damit stellt sich im vorliegenden Rechtsmittelverfahren erstens die Frage, ob die durch den Einsatz der Wandeldarlehen erzielten Steuervorteile als selektive Steuerbegünstigung im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV zu qualifizieren sind. Dabei wird auch die Frage zu beantworten sein, ob das Beihilferecht im innerstaatlichen Kontext eine korrespondierende Besteuerung (d. h. keine Steuerfreiheit für Beteiligungserträge, wenn die ausgeschütteten Gewinne nicht bereits auf Ebene der Tochtergesellschaft vollständig besteuert wurden) gebietet.

5.        Zweitens stellt sich die Frage, ob mittels des Beihilferechts die nationale Steuerverwaltung und deren Steuerbescheide durch die Kommission und den Gerichtshof auf ihre „Richtigkeit“ überprüft werden können. Insofern ist im Hinblick auf beide Aspekte u. a. auch die Frage zu beantworten, inwiefern die Kommission eine von den nationalen Steuerbehörden vorgenommene Auslegung des nationalen Rechts (hier einer allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschrift) durch ihre eigene Auslegung (des nationalen Rechts) ersetzen kann, um einen selektiven Vorteil nachzuweisen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

6.        Den unionsrechtlichen Rahmen bilden die Art. 107 ff. AEUV. Das Verfahren bei rechtswidrigen Beihilfen ist in Kapitel III der Verordnung (EU) 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV(5) (im Folgenden: Verordnung 2015/1589) geregelt.

B.      Luxemburgisches Recht

7.        Art. 22 Abs. 5 des geänderten Gesetzes vom 4. Dezember 1967 über die Einkommensteuer (Loi concernant l’impot sur le revenu, im Folgenden: LIR) bestimmt sinngemäß, dass die Umwandlung von Vermögenswerten grundsätzlich als Tausch und damit als Veräußerung des hingegebenen Vermögenswertes und als Anschaffung des erhaltenen Vermögenswertes behandelt wird. Hieraus kann sich ein steuerpflichtiger Kapitalgewinn ergeben.

8.        In Art. 22bis Abs. 2 Nr. 1 LIR in der laut dem angefochtenen Urteil zum Zeitpunkt des Erlasses der Steuervorbescheide geltenden Fassung heißt es:

„(2) Abweichend von Artikel 22 Absatz 5 führen die in den nachfolgenden Nummern 1 bis 4 genannten Austauschvorgänge nicht zur Realisierung von Kapitalgewinnen, es sei denn, dass in den Fällen der Nummern 1, 3 und 4 entweder der Gläubiger oder der Anteilseigner auf die Anwendung dieser Bestimmung verzichtet:

1. bei der Umwandlung eines Darlehens: die Zuteilung von Anteilen am Gesellschaftskapital des Schuldners an den Gläubiger. Im Falle der Umwandlung eines verzinslichen Wandeldarlehens sind die kapitalisierten Zinsen, die auf das Geschäftsjahr vor der Umwandlung entfallen, zum Zeitpunkt des Austauschs zu versteuern.“

9.        Art. 164 LIR lautet:

„1. Für die Bestimmung der Bemessungsgrundlage ist es unerheblich, ob der Gewinn an die Berechtigten ausgeschüttet wurde oder nicht.

2. Als Ausschüttung im Sinne des vorstehenden Absatzes sind Ausschüttungen jeglicher Art an Inhaber von Aktien, Partizipationsscheinen, Gründeraktien, Genussscheinen oder anderen Wertpapieren, einschließlich variabel verzinslicher Anleihen, zu verstehen, die einen Anspruch auf einen Anteil am jährlichen Gewinn oder am Liquidationsgewinn gewähren.

3. Verdeckte Gewinnausschüttungen sind der Bemessungsgrundlage zuzurechnen. Eine verdeckte Gewinnausschüttung liegt insbesondere vor, wenn ein Aktionär, ein Gesellschafter oder eine interessierte Partei entweder direkt oder indirekt Gewinne von einem Unternehmen oder einem Verein bezieht, die er bzw. sie ohne diese Eigenschaft normalerweise nicht erhalten hätte.“

10.      In Art. 166 Abs. 1 LIR heißt es:

„Die Erträge aus einer Beteiligung:

1. eines voll steuerpflichtigen, gebietsansässigen Organismus mit kollektivem Charakter mit einer im Anhang zu Absatz 10 aufgeführten Form,

2. einer voll steuerpflichtigen, nicht im Anhang zu Absatz 10 aufgeführten gebietsansässigen Kapitalgesellschaft,

3. einer inländischen Betriebsstätte eines Organismus mit kollektivem Charakter im Sinne von Artikel 2 der Richtlinie [2011/96],

4. einer inländischen Betriebsstätte einer Kapitalgesellschaft, die in einem Staat ansässig ist, mit dem das Großherzogtum Luxemburg ein Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen hat,

5. einer inländischen Betriebsstätte einer Kapitalgesellschaft oder einer Genossenschaft, die in einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ansässig ist, der kein Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, sind steuerfrei, wenn der Begünstigte die Beteiligung zum Zeitpunkt der Zurverfügungstellung der Erträge für einen ununterbrochenen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten gehalten hat oder sich verpflichtet, sie über einen solchen Zeitraum zu halten, und während dieses gesamten Zeitraums die Beteiligungshöhe nicht eine Schwelle von 10 % oder der Kaufpreis eine Schwelle von 1 200 000 Euro unterschreiten.“

11.      Art. 6 des luxemburgischen Steueranpassungsgesetzes (im Folgenden: StAnpG) sieht vor:

„Durch Missbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts kann die Steuerpflicht nicht umgangen oder gemindert werden. Liegt ein Missbrauch vor, so sind die Steuern so zu erheben, wie sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen, Tatsachen und Verhältnissen angemessenen rechtlichen Gestaltung zu erheben wären.“

III. Hintergrund des Rechtsstreits

12.      Dem Rechtsstreit liegen zwei Reihen von Steuervorbescheiden zugrunde, die das Großherzogtum Luxemburg der Engie-Gruppe erteilte. Diese betreffen jeweils zwei vergleichbare konzerninterne Finanzierungsstrukturen.

13.      Zum besseren Verständnis werde ich zunächst die für den Rechtsstreit maßgebliche Struktur der Engie-Gruppe darstellen (dazu unter A.), bevor ich auf die den Steuervorbescheiden zugrunde liegenden Transaktionen einschließlich der von Engie gewählten Finanzierungsstruktur eingehe (dazu unter B.). Anschließend stelle ich die von den luxemburgischen Steuerbehörden gewährten Steuervorbescheide (dazu unter C.), den Beschluss der Kommission (dazu unter D.) und das Verfahren vor dem Gericht und das angefochtene Urteil dar (dazu unter E.).

A.      Struktur der Engie-Gruppe

14.      Die Engie-Gruppe besteht aus der Engie S.A., einem in Frankreich ansässigen Unternehmen, sowie allen Unternehmen, die direkt oder indirekt von ihr kontrolliert werden (Rn. 4 ff. des angefochtenen Urteils). Zu diesen Unternehmen gehören auch mehrere Gesellschaften mit Sitz in Luxemburg.

15.      In Luxemburg kontrolliert die Engie S.A. u. a. die Compagnie Européenne de Financement C.E.F. S.A. (im Folgenden: CEF), die im Jahr 2015 in Engie Invest International S.A. umbenannt wurde. Zweck des Unternehmens ist der Erwerb von Beteiligungen an luxemburgischen und ausländischen Unternehmen sowie die Verwaltung, Verwertung und Kontrolle dieser Beteiligungen.

16.      CEF hält sämtliche Anteile an der GDF Suez Treasury Management S.à.r.l (im Folgenden: GSTM), der Electrabel Invest Luxembourg S.A. (im Folgenden: EIL) und der GDF Suez LNG Holding S.à.r.l (im Folgenden: LNG Holding), die im Jahr 2009 in Luxemburg gegründet und im Jahr 2015 in Engie Global LNG Holding S.à.r.l umbenannt worden ist.

17.      Zweck von LNG Holding ist ebenfalls der Erwerb von Beteiligungen an luxemburgischen und ausländischen Unternehmen sowie die Verwaltung dieser Beteiligungen. Die Gesellschaft hält ihrerseits sämtliche Anteile an der GDF Suez LNG Supply S.A. (im Folgenden: LNG Supply) und der GDF Suez LNG Luxembourg S.à.r.l (im Folgenden: LNG Luxembourg). LNG Supply ist auf dem Gebiet des An- und Verkaufs sowie des Handels mit Flüssigerdgas, Gas und Gasderivaten tätig.

B.      Transaktionen und Finanzierungsstruktur

18.      In den Jahren 2009 bis 2015 fanden innerhalb des luxemburgischen Teils der Engie-Gruppe mehrere Umstrukturierungen statt, die u. a. durch komplexe gruppeninterne Finanzierungsstrukturen umgesetzt wurden, die im angefochtenen Urteil in den Rn. 12 ff. und Rn. 36 ff. wie folgt beschrieben werden:

1.      Übertragung von Aktivitäten auf LNG Supply

19.      Die erste Umstrukturierung betraf LNG Holding (Muttergesellschaft) sowie deren Tochtergesellschaften LNG Luxembourg (im Folgenden auch als Zwischengesellschaft bezeichnet) und LNG Supply (Tochtergesellschaft).

20.      Zum 30. Oktober 2009 hat LNG Holding ihr operatives Geschäft im Bereich Flüssigerdgas und Gasderivate auf LNG Supply übertragen. Der Kaufpreis betrug 657 Mio. US-Dollar (USD) (etwa 553,26 Mio. Euro).

21.      Zur Finanzierung der konzerninternen Übertragung gewährte LNG Luxembourg der LNG Supply ein zwingend konvertibles Darlehen (im Folgenden: ZORA(6)) mit einem Nennwert von 646 Mio. USD und einer Laufzeit von 15 Jahren. Auf das ZORA wurden keine periodischen Zinsen erhoben. Stattdessen sollte LNG Supply der LNG Luxembourg als Darlehensgeberin eigene Anteile bei der zu einem späteren Zeitpunkt vorgesehenen Umwandlung des ZORA in Eigenkapital gewähren.

22.      Der Wert der dann zu gewährenden Anteile bemisst sich nach dem Nennwert des ZORA im Zeitpunkt der Umwandlung zuzüglich oder abzüglich eines variablen Anteils. Der variable Anteil entspricht wiederum den von LNG Supply während der Laufzeit des ZORA erwirtschafteten Gewinnen nach Abzug einer zu versteuernden Marge. Die konkret zu versteuernde Marge und die Bemessungsgrundlage dieser Marge wurden in einem Steuervorbescheid mit der Finanzverwaltung abgestimmt (dazu sogleich unter C.). Der variable Anteil kann aber auch – in verlustreichen Jahren – negativ sein. Der Betrag des variablen Anteils wird auch als „ZORA-Akkretionen“ bezeichnet.

23.      LNG Luxembourg hat ihrerseits das ZORA durch ein Termingeschäft mit LNG Holding (zu diesem Zeitpunkt noch LNG Trading) finanziert. Im Rahmen dieses Termingeschäfts zahlt LNG Holding an LNG Luxembourg einen Betrag in Höhe des Nennbetrags des ZORA – also 646 Mio. USD – gegen den Erwerb der Rechte an den Anteilen, welche LNG Supply bei der Umwandlung des ZORA ausgeben wird.

24.      Im Jahr 2014 kam es zu einer teilweisen Umwandlung des ZORA. Als sogenanntes hybrides Finanzierungselement wird das ZORA auf Ebene der Tochtergesellschaft als eine Art Fremdkapital behandelt, während es auf Ebene der Muttergesellschaft im Moment der Umwandlung als Eigenkapital betrachtet wird. Zu diesem Zweck führte LNG Supply eine Kapitalerhöhung in Höhe von 699,9 Mio. USD (etwa 589,6 Mio. Euro) durch, wovon 193,8 Mio. USD (etwa 163,3 Mio. Euro) auf die Rückzahlung eines Teils des Nennwerts des betreffenden ZORA und der Restbetrag auf die Zahlung eines Teils der ZORA-Akkretionen entfielen.

25.      Auf Ebene von LNG Luxembourg (Zwischengesellschaft) hat die teilweise Umwandlung zu einer Verringerung des als Vermögenswert erfassten ZORA um 193,8 Mio. USD und zu einer entsprechenden Verringerung der im Hinblick auf das Termingeschäft ausgewiesenen Verbindlichkeit geführt. Folglich war der Vorgang auf Ebene von LNG Luxembourg steuerneutral. Die daraufhin auf Ebene von LNG Holding (Muttergesellschaft) vereinnahmten Beteiligungserträge in Gestalt der Anteile, welche LNG Supply (Tochtergesellschaft) bei der Umwandlung des ZORA ausgegeben hat, wurden durch die Anwendung des Schachtelprivilegs nach Art. 166 LIR (d. h. durch die Steuerbefreiung von Gewinnausschüttungen innerhalb eines Konzerns) als steuerfrei behandelt. Diese steuerrechtlichen Folgen waren in den Steuervorbescheiden vorgesehen (dazu sogleich unter C.).

2.      Übertragung von Aktivitäten auf GSTM

26.      Die zweite Umstrukturierung betraf CEF (Muttergesellschaft) sowie deren Tochtergesellschaften EIL (im Folgenden auch als Zwischengesellschaft bezeichnet) und GSTM (Tochtergesellschaft). Ab 2010 hat CEF ihre Finanzierungs- und „Treasury-Management-Aktivitäten“ auf GSTM übertragen. Der Kaufpreis hierfür betrug ca. 1,036 Mrd. Euro.

27.      Auch diese konzerninterne Übertragung wurde durch ein ZORA mit einer Laufzeit bis 2026 finanziert, das GSTM von EIL gewährt wurde. Der Nennwert des ZORA entspricht dem Kaufpreis. Die Finanzierungsstruktur entsprach im Übrigen derjenigen für die Übertragung der Aktivitäten auf LNG Supply; insbesondere schloss EIL mit CEF ein identisches Termingeschäft, so dass auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann.

28.      Zu einer Umwandlung des ZORA ist es insofern bislang allerdings nicht gekommen, so dass CEF insoweit noch keine Beteiligungserträge vereinnahmt hat.

C.      Steuervorbescheide der luxemburgischen Steuerverwaltung

29.      Im Zusammenhang mit diesen Transaktionen sowie deren jeweiliger Finanzierung erteilte die luxemburgische Steuerverwaltung der Engie-Gruppe zwei Reihen von Steuervorbescheiden (Rn. 17 ff. des angefochtenen Urteils).

1.      Steuervorbescheide betreffend die Übertragung von Aktivitäten auf LNG Supply

30.      Der erste Steuervorbescheid wurde am 9. September 2008 erteilt. Er bezieht sich auf die Gründung von LNG Supply und LNG Luxembourg sowie auf die geplante Übertragung der Aktivitäten von LNG Holding auf LNG Supply.

31.      In steuerlicher Hinsicht ergibt sich aus dem Steuervorbescheid, dass LNG Supply nur bezüglich einer mit der luxemburgischen Steuerverwaltung vereinbarten Marge in einer besonderen Art und Weise besteuert wird: Ausweislich des Beschlusses der Kommission vom 20. Juni 2018(7) ist die Bemessungsgrundlage nicht der Gewinn (als Unterschiedsbetrag zweier Betriebsvermögen am Anfang und am Ende des Wirtschaftsjahres) von LNG Supply, sondern ein Betrag, der „einer gesamten Nettomarge von ■ % des in der Bilanz von [LNG Supply] ausgewiesenen Bruttobetrags der Vermögenswerte entspricht“. Dabei darf „diese Nettomarge jedoch nicht niedriger als ■ % des jährlichen Bruttoumsatzes aus dem Unternehmen“ sein. Dieser Betrag (Marge) unterliegt dann dem normalen Ertragsteuersatz (im Folgenden: Margenbesteuerung).

32.      Im Ergebnis erfolgt so eine bilanzwertbasierte Ertragsbesteuerung, mindestens jedoch eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung. Dies bedeutet, dass LNG Supply auch im Verlustfall Ertragsteuern zu zahlen hat. Aufgrund dieser bilanzwert- bzw. umsatzbasierten Besteuerung waren die tatsächlichen Einkünfte (Einnahmen abzüglich der Ausgaben) von LNG Supply für die steuerrechtliche Bemessungsgrundlage nicht mehr relevant. Wieso und auf welcher gesetzlichen Grundlage sich die luxemburgische Finanzverwaltung auf diese abweichende Besteuerung eingelassen hat (bzw. einlassen durfte) und eine solche Nettomarge besteuert, ergibt sich nicht aus den Akten. Das wirtschaftliche Ergebnis, das nach Abzug dieser Marge bei LNG Supply verblieb, ergab jedenfalls vereinbarungsgemäß die Höhe der ZORA-Akkretionen.

33.      Ausweislich des Beschlusses der Kommission(8) gibt die luxemburgische Steuerverwaltung LNG Luxembourg als „Darlehensgeberin“ die Möglichkeit, während der Laufzeit des ZORA dessen Wert in ihren Abschlüssen zum Buchwert zu halten, wovon LNG Luxembourg Gebrauch gemacht hat. Ferner sieht der Steuervorbescheid vor, dass die spätere Umwandlung des ZORA in Gesellschaftsanteile zu keinem steuerpflichtigen Kapitalgewinn führt, sofern LNG Luxembourg für die Anwendung des Art. 22bis LIR optiert. Es kommt also nicht zu einer Besteuerung der im Wert der ausgegebenen Anteile enthaltenen ZORA-Akkretionen. Diese werden insoweit wie Eigenkapital behandelt.

34.      Schließlich ergibt sich aus dem Steuervorbescheid vom 9. September 2008, dass LNG Holding die im Zusammenhang mit dem Termingeschäft an LNG Luxembourg geleistete Zahlung als Finanzanlagevermögen erfasst, so dass LNG Holding vor der Umwandlung des ZORA keine Erträge oder abzugsfähigen Aufwendungen im Zusammenhang mit diesem ZORA berücksichtigen wird. Zudem bestätigt die luxemburgische Steuerbehörde, dass die Steuerbefreiung für Beteiligungserträge nach Art. 166 LIR auf die aufgrund des Termingeschäfts erworbene Beteiligung an LNG Supply anwendbar ist.

35.      Der zweite Steuervorbescheid wurde am 30. September 2008 erteilt und betrifft die Verlegung der effektiven Verwaltung von LNG Trading in die Niederlande. Der dritte Steuervorbescheid wurde am 3. März 2009 erteilt und bestätigt die im Steuervorbescheid vom 9. September 2008 vorgesehenen Änderungen der Finanzierungsstruktur, insbesondere die Ersetzung von LNG Trading durch LNG Holding und die Umsetzung des von LNG Supply mit LNG Luxembourg und LNG Holding abgeschlossenen ZORA. Der vierte Steuervorbescheid wurde am 9. März 2012 erteilt und präzisiert bestimmte Rechnungslegungsvorschriften zur Bestimmung der Marge, bezüglich der die LNG Supply besteuert wird.

36.      Der letzte Steuervorbescheid wurde am 13. März 2014 erteilt und bestätigte die im Antrag vom 20. September 2013 dargelegte Auffassung. Er betrifft die steuerliche Behandlung der teilweisen Umwandlung des von LNG Supply abgeschlossenen ZORA. Daraus ergibt sich laut Rn. 27 des angefochtenen Urteils, dass LNG Supply am Tag der Umwandlung dieses Darlehens ihr Grundkapital um einen Betrag in Höhe dieses Umwandlungsbetrags herabsetzen wird.

37.      In steuerlicher Hinsicht bestätigt die luxemburgische Steuerverwaltung, dass die in Rede stehende teilweise Umwandlung keine Konsequenzen für LNG Luxembourg haben werde. LNG Holding wird ihrerseits einen Gewinn in Höhe der Differenz zwischen dem Nennwert der umgewandelten Anteile und dem Umwandlungsbetrag (d. h. in Höhe der ZORA-Akkretionen) erfassen. Außerdem wird festgestellt, dass dieser Gewinn unter die Steuerbefreiung von Beteiligungen gemäß Art. 166 LIR fällt.

2.      Steuervorbescheide betreffend die Übertragung von Aktivitäten auf GSTM

38.      Der erste, am 9. Februar 2010 erteilte Steuervorbescheid billigt eine ähnliche Struktur wie die, die von LNG Holding zur Finanzierung der Übertragung ihrer Aktivitäten im Bereich Flüssigerdgas auf LNG Supply eingeführt wurde. Die in Rede stehende Struktur beruht nämlich auf einem von GSTM mit EIL abgeschlossenen ZORA zur Finanzierung des Erwerbs der Finanzierungs- und „Treasury-Management-Aktivitäten“ von CEF. Ebenso wie LNG Supply wird GSTM während der Laufzeit des ZORA auf eine mit der luxemburgischen Steuerverwaltung vereinbarte Marge besteuert.

39.      Der zweite, am 15. Juni 2012 erteilte Steuervorbescheid billigt die steuerliche Behandlung der Finanzierungstransaktion und beruht auf derselben Analyse wie derjenigen im Steuervorbescheid vom 9. September 2008 betreffend die Übertragung der Aktivitäten von LNG Trading auf LNG Supply. Jedoch unterscheidet er sich von diesem Bescheid im Hinblick auf eine mögliche Erhöhung des Betrags des von GSTM abgeschlossenen ZORA.

3.      Zusammenfassung

40.      Im Ergebnis ergibt sich aus den Steuervorbescheiden, dass die operativen Gesellschaften LNG Supply und GSTM nur bezüglich einer mit der Finanzverwaltung vereinbarten Bemessungsgrundlage (Marge) zum normalen Körperschaftsteuersatz besteuert werden. Die Ermittlung dieser körperschaftsteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage erfolgte nicht im Rahmen der normalen Gewinnermittlung (d. h. üblicherweise über einen Betriebsvermögensvergleich), sondern bilanzwertbezogen, mindestens aber umsatzbezogen. Damit erfolgte eine Besteuerung der operativen Tochtergesellschaften auch im Verlustfall.

41.      Die über die so ermittelte Bemessungsgrundlage hinausgehenden Vermögenszugewinne (d. h. der restliche effektive Gewinn) wurden aufgrund der vereinbarten Margenbesteuerung auf Ebene der operativen Gesellschaften (LNG Supply und GSTM) nicht besteuert und allein dem Finanzierungselement (ZORA) zugerechnet.

42.      Aufgrund des Termingeschäfts fällt im Fall der Umwandlung des ZORA in Gesellschaftsanteile kein Gewinn auf Ebene der Zwischengesellschaft an. Die Gewinne aus der Umwandlung des ZORA werden dann auf Ebene der Muttergesellschaft als Eigenkapital behandelt und aufgrund des luxemburgischen Schachtelprivilegs (Art. 166 LIR) nicht besteuert. Im Ergebnis verbleibt nur die beschriebene Margenbesteuerung des operativen Geschäfts.

D.      Beschluss der Kommission

43.      Am 23. März 2015 übermittelte die Europäische Kommission dem Großherzogtum Luxemburg ein Auskunftsersuchen zu den der Engie-Gruppe erteilten Steuervorbescheiden. Nachdem die Kommission mit Schreiben vom 1. April 2016 dem Großherzogtum Luxemburg mitgeteilt hatte, dass sie Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Steuervorbescheide mit dem Beihilferecht habe, eröffnete sie am 19. September 2016 gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV das förmliche Prüfverfahren. Am 20. Juni 2018 erließ die Kommission den streitigen Beschluss.

44.      Darin vertritt die Kommission im Wesentlichen die Auffassung, dass das Großherzogtum Luxemburg der Engie-Gruppe unter Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 Abs. 3 AEUV einen selektiven Vorteil gewährt habe. Die Kommission beanstandet die praktischen Auswirkungen der gewählten Finanzierungsstruktur auf die gesamte Steuerschuld der Gruppe, da letztlich nahezu alle von den Tochtergesellschaften in Luxemburg erzielten Gewinne tatsächlich unversteuert blieben.

45.      Die Verschaffung eines wirtschaftlichen Vorteils begründet die Kommission insbesondere damit, dass es nach den Steuervorbescheiden abgesehen von der mit der luxemburgischen Steuerverwaltung vereinbarten Marge bei keiner der an den Transaktionen beteiligten Gesellschaften zu einer Besteuerung der ZORA-Akkretionen komme, die den von LNG Supply und GSTM erzielten Gewinnen entsprächen. Der beihilferechtlich relevante Vorteil liege konkret in der Anwendung der Steuerbefreiung des Art. 166 LIR auf die von den jeweiligen Muttergesellschaften nach Umwandlung erzielten Beteiligungserträge, obgleich auf Ebene der Tochtergesellschaften (wie auch der Zwischengesellschaften) keine effektive Besteuerung sichergestellt gewesen sei.

46.      Im Hinblick auf das Vorliegen eines selektiven Vorteils stützt sich die Kommission auf insgesamt vier unterschiedliche Argumentationslinien.

47.      Erstens geht die Kommission von einer Selektivität auf Ebene der Muttergesellschaften – also LNG Holding und CEF – aus, weil die Steuervorbescheide auf dieser Ebene eine Nichtbesteuerung von Beteiligungserträgen gebilligt hätten, die aus wirtschaftlicher Sicht den ZORA-Akkretionen entsprochen hätten. Damit weiche die Behandlung von einem erweiterten Referenzrahmen in Gestalt des luxemburgischen Körperschaftsteuersystems ab, nach dem die in Luxemburg ansässigen Körperschaftsteuersubjekte auf ihren in den Jahresabschlüssen festgestellten Gewinn besteuert würden.

48.      Zweitens geht die Kommission von einer Selektivität auf Ebene der Muttergesellschaften aus, weil die Steuervorbescheide die Anwendung der Steuerbefreiung für Beteiligungserträge gemäß Art. 166 LIR auf die von den Muttergesellschaften erzielten Erträge gebilligt hätten. Nach Auffassung der Kommission weiche diese Behandlung von einem begrenzten Referenzrahmen in Gestalt der Vorschriften über die Steuerbefreiung von Beteiligungserträgen ab, weil danach eine Steuerbefreiung nur dann zu gewähren sei, wenn die ausgeschütteten Gewinne zuvor auf Ebene der Tochtergesellschaften besteuert worden seien (sogenanntes Korrespondenzprinzip).

49.      Drittens ist die Kommission der Ansicht, dass die Steuervorbescheide zu einem selektiven Vorteil für die Engie-Gruppe führten, weil die steuerliche Abzugsfähigkeit der ZORA-Akkretionen auf Ebene der Tochtergesellschaften kombiniert mit deren Nichtbesteuerung auf Ebene der Zwischen- und Muttergesellschaften insgesamt zu einer Verringerung der gesamten Steuerbemessungsgrundlage der Gruppe in Luxemburg geführt habe. Dies weiche von einem erweiterten Referenzrahmen in Gestalt des luxemburgischen Körperschaftsteuersystems ab, das eine solche Verringerung der Steuerbemessungsgrundlage nicht zulasse (sogenannte Gruppenbetrachtung).

50.      Als alternative Argumentationslinie führt die Kommission viertens an, dass die Steuervorbescheide von der luxemburgischen Missbrauchsvermeidungsvorschrift im Steuerrecht abwichen bzw. dass die Steuerverwaltung die Missbrauchsvermeidungsvorschrift des Art. 6 StAnpG unzulässigerweise nicht angewendet habe. Nach Auffassung der Kommission sei die von der Engie-Gruppe geschaffene Finanzierungsstruktur missbräuchlich gewesen, so dass die luxemburgische Steuerverwaltung diese Steuervorbescheide auf Grundlage der luxemburgischen Rechtsprechung nicht hätte erteilen dürfen (Unterlassen der Missbrauchsbekämpfung).

51.      Die Kommission ging davon aus, dass auch die übrigen Tatbestandsmerkmale einer Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt seien, und entschied daher, dass Luxemburg die Beihilfe von LNG Holding zurückzufordern habe. Etwaige Beträge, die LNG Holding nicht zurückzahlt, sollten von der Engie S.A. zurückgefordert werden. Da es bei der zweiten Reihe von Steuervorbescheiden noch nicht zu einer Umwandlung der ZORAs in Anteile von GSTM gekommen war, wurde insoweit keine Rückforderung angeordnet. Im Hinblick auf zukünftige Umwandlungen wurde die weitere Behandlung der resultierenden Beteiligungserträge als steuerfrei untersagt.

E.      Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

52.      Mit Klageschrift, die am 30. August 2018 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob das Großherzogtum Luxemburg in der Rechtssache T‑516/18 Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses.

53.      Mit Klageschrift, die am 4. September 2018 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben die Engie Global LNG Holding S.à.r.l, Engie Invest International S.A. und Engie S.A. (im Folgenden: Engie) in der Rechtssache T‑525/18 ebenfalls Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses.

54.      Mit Beschluss vom 15. Februar 2019 gab der Präsident der Siebten erweiterten Kammer des Gerichts dem Antrag Irlands auf Zulassung als Streithelfer in der Rechtssache T‑516/18 statt.

55.      Mit Beschluss des Präsidenten der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts vom 12. Juni 2020 wurden die Rechtssachen T‑516/18 und T‑525/18 nach Anhörung der Parteien gemäß Art. 68 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts zur gemeinsamen mündlichen Verhandlung verbunden.

56.      Zur Stützung der Klagen machten Engie und das Großherzogtum Luxemburg im Wesentlichen sechs Gruppen von Klagegründen geltend:

–        Die erste Gruppe betrifft einen Verstoß gegen die Art. 4 und 5 EUV sowie die Art. 3 bis 5 und 113 bis 117 AEUV, soweit die Beurteilung der Kommission zu einer verschleierten steuerlichen Harmonisierung führe (dritter Klagegrund in der Rechtssache T‑516/18 und fünfter Klagegrund in der Rechtssache T‑525/18);

–        die zweite Gruppe betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass die Steuervorbescheide einen Vorteil gewährten, weil sie nicht im Einklang mit dem luxemburgischen Steuerrecht stünden (zweiter Klagegrund in der Rechtssache T‑516/18 und zweiter Klagegrund in der Rechtssache T‑525/18);

–        die dritte Gruppe betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, gegen die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV sowie gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, soweit die Kommission die Selektivität dieses Vorteils festgestellt habe (erster, vierter und sechster Klagegrund in der Rechtssache T‑516/18 sowie dritter, sechster und achter Klagegrund in der Rechtssache T‑525/18);

–        die vierte Gruppe betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, soweit die Kommission von einer Zurechenbarkeit der Steuervorbescheide an den luxemburgischen Staat sowie einer Bindung staatlicher Mittel ausgegangen sei (erster Klagegrund in der Rechtssache T‑525/18);

–        die fünfte Gruppe betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, soweit die Kommission die Steuervorbescheide fehlerhaft als Einzelbeihilfen eingestuft habe (vierter Klagegrund in der Rechtssache T‑525/18);

–        die sechste Gruppe betrifft einen Verstoß gegen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, soweit die Kommission die Rückforderung der Beihilfe angeordnet habe (fünfter Klagegrund in der Rechtssache T‑516/18 und siebter Klagegrund in der Rechtssache T‑525/18).

57.      Mit dem angefochtenen Urteil wies das Gericht sämtliche Klagegründe zurück und damit die Klagen in den Rechtssachen T‑516/18 und T‑525/18 insgesamt ab.

58.      Zur ersten Gruppe von Klagegründen, stellte das Gericht (Rn. 134 ff., insbesondere Rn. 150) im Wesentlichen fest, dass die Kommission durch die Prüfung der Steuervorbescheide keine steuerliche Harmonisierung vorgenommen, sondern lediglich von der ihr durch Art. 107 Abs. 1 AEUV verliehenen Befugnis Gebrauch gemacht habe.

59.      Im Hinblick auf die zweite und dritte Gruppe von Klagegründen stellte das Gericht in Rn. 230 seines Urteils dar, dass, soweit bestimmte Gründe einer Entscheidung diese für sich allein rechtlich hinreichend rechtfertigen können, etwaige Mängel der übrigen Begründung keine Auswirkungen auf den verfügenden Teil haben. Das Gericht hat zunächst den beschränkten Referenzrahmen, der aus Art. 164 und Art. 166 LIR bestehen soll, überprüft und kommt schon anhand dieses Referenzrahmens zu einer Abweichung von diesem, die nicht rechtfertigungsfähig sei. Es vertrat in Übereinstimmung mit der Kommission die Auffassung, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, die Regelungen der Mutter-Tochter-Richtlinie in den Referenzrahmen einzubeziehen, insbesondere da es sich um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt gehandelt habe (Rn. 263 ff.). Die Kommission sei daher zu Recht davon ausgegangen, dass die Steuervorbescheide von dem aus den Art. 164 und 166 LIR bestehenden Referenzrahmen abgewichen seien, also mit den Steuervorbescheiden ein Rechtsanwendungsfehler gebilligt worden sei (Rn. 288 ff.).

60.      Zum behaupteten Fehlen eines selektiven Vorteils im Licht der Rechtsmissbrauchsvermeidungsvorschrift führte das Gericht aus, dass die Kommission alle für die Feststellung eines Rechtsmissbrauchs nach luxemburgischem Recht erforderlichen Kriterien – nämlich die Verwendung privatrechtlicher Formen oder Institutionen, die Verringerung der Steuerschuld, die Verwendung einer unangemessenen rechtlichen Gestaltung und das Fehlen nicht steuerbezogener Gründe – ausreichend nachgewiesen habe (Rn. 384 ff., insbesondere Rn. 410 ff.).

61.      Was die vierte Gruppe von Klagegründen angeht, stellte das Gericht fest (Rn. 212 ff.), dass die Steuervorbescheide von der luxemburgischen Steuerverwaltung erlassen wurden und sich aus diesen Vorbescheiden eine Verringerung der grundsätzlich von einem Unternehmen zu tragenden Steuerbelastung ergebe, so dass es weder an einer Zurechenbarkeit zum Großherzogtum Luxemburg noch an einer Bindung staatlicher Mittel fehle.

62.      Im Hinblick auf die fünfte Gruppe von Klagegründen führte das Gericht (Rn. 479 ff.) aus, dass die Kommission eine Maßnahme zur Durchführung einer allgemeinen Regelung als Einzelbeihilfe einstufen könne, ohne zuvor nachweisen zu müssen, dass die zugrunde liegenden Bestimmungen eine Beihilferegelung darstellen, selbst wenn dies der Fall sein sollte.

63.      Schließlich stellte das Gericht zur sechsten Gruppe von Klagegründen fest (Rn. 489 ff.), dass die Kommission nicht gegen die allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoßen habe, indem sie gegenüber dem Großherzogtum Luxemburg die Rückforderung der Beihilfe angeordnet habe. Insbesondere dürften die von einer Beihilfe begünstigten Unternehmen grundsätzlich nur dann auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe vertrauen, wenn sie unter Einhaltung des in Art. 108 AEUV vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

64.      Am 22. Juli 2021 hat Engie gegen das Urteil des Gerichts das vorliegende Rechtsmittel (Rechtssache C‑454/21 P) eingelegt. Engie beantragt,

–        das vorliegende Rechtsmittel für zulässig und begründet zu erklären;

–        das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 12. Mai 2021 in den verbundenen Rechtssachen T‑516/18 und T‑525/18, Luxemburg und Engie Global LNG Holding u. a./Kommission aufzuheben;

–        gemäß Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs endgültig in der Sache zu entscheiden und den von Engie im ersten Rechtszug gestellten Anträgen stattzugeben oder, hilfsweise, Art. 2 des Beschlusses (EU) 2019/421 der Kommission vom 20. Juni 2018 über die von Luxemburg durchgeführte staatliche Beihilfe SA.44888 (2016/C) (ex 2016/NN) zugunsten von Engie (ABl. 2019, L 78, S. 1) insoweit für nichtig zu erklären, als darin die Rückforderung der Beihilfe angeordnet wird;

–        höchst hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen;

–        der Kommission die gesamten Kosten aufzuerlegen.

65.      Am 21. Juli 2021 hat das Großherzogtum Luxemburg gegen das Urteil des Gerichts das vorliegende Rechtsmittel (Rechtssache C‑451/21 P) eingelegt. Luxemburg beantragt,

–        das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 12. Mai 2021 in den verbundenen Rechtssachen T‑516/18 und T‑525/18, Luxemburg und Engie Global LNG Holding u. a./Kommission aufzuheben;

–        gemäß Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs endgültig in der Sache zu entscheiden und den von Luxemburg im ersten Rechtszug gestellten Anträgen stattzugeben und den Beschluss (EU) 2019/421 der Kommission vom 20. Juni 2018 über die von Luxemburg durchgeführte staatliche Beihilfe SA.44888 (2016/C) (ex 2016/NN) für nichtig zu erklären;

–        hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen;

–        der Kommission die dem Großherzogtum Luxemburg entstandenen Kosten aufzuerlegen.

66.      Die Kommission beantragt in beiden Rechtssachen, der Gerichtshof möge die Rechtsmittel zurückweisen und den Rechtsmittelführern die Kosten auferlegen.

67.      Vor dem Gerichtshof haben sämtliche Beteiligte schriftlich Stellung genommen und am 30. Januar 2023 gemeinsam mündlich über die Rechtsmittel verhandelt.

V.      Rechtliche Würdigung

68.      Zur Stützung des Rechtsmittels macht Engie drei und Luxemburg vier Rechtsmittelgründe, die sich inhaltlich überschneiden, geltend. Bei der Prüfung der Rechtsmittelgründe werde ich mit denen von Engie (unter A., B., C.) beginnen und mit den darüber hinausgehenden von Luxemburg (unter D.) enden. Dabei werde ich mich beispielhaft auf die Reihe von Steuervorbescheiden betreffend LNG Holding beschränken, da es im Hinblick auf diese jedenfalls zu einer teilweisen Umwandlung des ZORA gekommen ist. Die Ausführungen lassen sich auf die zweite Reihe von Steuervorbescheiden betreffend GSTM übertragen.

A.      Zum ersten Rechtsmittelgrund: unrichtige Auslegung des Art. 107 Abs. 1 AEUV im Kontext des beschränkten Referenzrahmens

69.      Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund macht Engie (und auch Luxemburg) Rechtsfehler des Gerichts bei der Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV, insbesondere bei der Bestimmung des Referenzrahmens, geltend. Das Gericht war davon ausgegangen, dass bei den Steuervorbescheiden zugunsten von Engie von dem auf Art. 164 und Art. 166 LIR beschränkten Referenzrahmen abgewichen worden sei.

70.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt die Qualifizierung als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, dass es sich erstens um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handelt. Zweitens muss sie geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss sie dem Begünstigten einen selektiven Vorteil gewähren. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.(9)

71.      Zu überprüfen sind hier allein die Ausführungen des Gerichts zum Merkmal des selektiven Vorteils. Für steuerrechtliche Maßnahmen ist die Selektivität nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs in mehreren Stufen zu bestimmen. Dazu ist in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung (der sogenannte Referenzrahmen) zu ermitteln.(10) Ausgehend von dieser allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung ist in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob die in Rede stehende steuerliche Maßnahme vom allgemeinen System insoweit abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dieser allgemeinen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.(11) Wurde eine Abweichung von der „Normalbesteuerung“ festgestellt, ist in einem letzten Schritt zu prüfen, ob die Abweichung gerechtfertigt ist.

72.      Ausgangspunkt bei der Bestimmung des Referenzrahmens kann dabei immer nur die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers sein, was dieser als die „normale“ Besteuerung ansieht. Die grundlegenden steuerlichen Belastungsentscheidungen, insbesondere die Entscheidungen über die Besteuerungstechnik, aber auch die Ziele und Prinzipien der Besteuerung, stehen daher dem Mitgliedstaat zu.(12) Daher können weder die Kommission noch der Gerichtshof das nationale Steuerrecht an einem idealen oder fiktiven Steuersystem messen.(13)

73.      Da die Bestimmung dieses Bezugsrahmens den Ausgangspunkt für die vergleichende Prüfung darstellt, die im Zusammenhang mit der Beurteilung der Selektivität zu erfolgen hat, führt ein bei dieser Bestimmung begangener Fehler zwangsläufig dazu, dass die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet ist.(14)

1.      Feststellungen des Gerichts

74.      Das Gericht hat in den Rn. 292 ff. festgestellt, dass Art. 166 LIR die Gewährung der Steuerbefreiung für Beteiligungserträge auf Ebene der Muttergesellschaft zwar formal nicht von einer Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der Tochtergesellschaften abhängig mache. Aus dem Zusammenhang von Art. 166 LIR und Art. 164 LIR ergebe sich aber, dass die Steuerbefreiung für Beteiligungserträge nach Art. 166 LIR nur gewährt werde, wenn die Erträge nicht von der Bemessungsgrundlage der Tochtergesellschaft abgezogen worden seien (Rn. 297).

75.      Zudem handle es sich bei den ZORA-Akkretionen zwar formal nicht um Gewinnausschüttungen im Sinne von Art. 164 LIR. Da die auf Ebene der Muttergesellschaften steuerbefreiten Beteiligungserträge aber im Wesentlichen dem Betrag der Akkretionen entsprechen, sei unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls davon auszugehen, dass es sich materiell um Gewinnausschüttungen handle (Rn. 300).

76.      Das Gericht hat in Rn. 327 festgestellt, dass die luxemburgische Finanzverwaltung in den Steuervorbescheiden dadurch von dem aus den Art. 164 und 166 LIR bestehenden Referenzrahmen abgewichen sei, indem sie auf Ebene der Muttergesellschaften die Steuerbefreiung für die Beteiligungserträge bestätigt habe, die wirtschaftlich gesehen dem Betrag der auf Ebene der Tochtergesellschaften als Aufwand abgezogenen ZORA-Akkretionen entsprächen.

2.      Würdigung

77.      Im Ergebnis machen Engie und Luxemburg geltend, dass das Gericht bei diesen Feststellungen Rechtsfehler begangen und Tatsachen verfälscht habe. Es habe unzutreffend einen Zusammenhang zwischen Art. 164 LIR und Art. 166 LIR angenommen, als es die luxemburgischen Steuervorbescheide in Übereinstimmung mit der Kommission als Beihilfe angesehen hat. Zu klären ist mithin, ob das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es das von der Kommission im streitigen Beschluss herangezogene Bezugssystem bestätigt hat.

78.      Die korrekte Bestimmung des zutreffenden Referenzrahmens erfordert eine Auslegung des luxemburgischen Steuergesetzes (LIR). Die Kommission stellt die Zulässigkeit dieses Teils des Rechtsmittelgrundes mit der Begründung in Abrede, dass er Tatsachenfragen betreffe. Zwar ist die Würdigung der Tatsachen – und darunter fällt grundsätzlich auch die Beurteilung des nationalen Rechts durch das Gericht(15) – und der Beweise keine Rechtsfrage, die der Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels überprüfen kann. Der Gerichtshof kann nur prüfen, ob dieses Recht verfälscht wurde.(16) Die rechtliche Qualifizierung des nationalen Rechts durch das Gericht am Maßstab des Unionsrechts kann der Gerichtshof hingegen überprüfen.(17) Dies ist im Anwendungsbereich von Art. 107 Abs. 1 AEUV entscheidend, denn der für die Annahme einer Beihilfe notwendige selektive Vorteil ergibt sich erst aus einem Abweichen vom „normalen“ nationalen Steuersystem, dem Referenzsystem.

79.      Dementsprechend ist im Beihilferecht anerkannt, dass die Frage, ob das Gericht das sich aus dem nationalen Recht ergebende Referenzsystem angemessen ermittelt und abgegrenzt hat, eine Rechtsfrage ist. Als solche kann sie Gegenstand einer Überprüfung durch den Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren sein.(18) Ein Vorbringen, mit dem die Wahl des zutreffenden Bezugssystems im ersten Schritt der Prüfung des Vorliegens eines selektiven Vorteils in Frage gestellt wird, ist daher auch in einem Rechtsmittelverfahren zulässig.

80.      Da das Vorbringen von Engie und Luxemburg darauf abzielt, die vom Gericht angenommene Existenz eines Korrespondenzprinzips gemäß Art. 164 LIR in Verbindung mit Art. 166 LIR als das beihilferechtliche Referenzsystem in Frage zu stellen, ist der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes zulässig. Der Gerichtshof kann somit im Rechtsmittelverfahren die Rechtsfrage prüfen, ob das Gericht das Korrespondenzprinzip im luxemburgischen Recht als Teil des Referenzsystems richtig festgestellt und angewandt hat.

81.      Insofern wird zunächst der maßgebliche selektive Vorteil herausgearbeitet (dazu unter a.). Anschließend ist der Prüfungsmaßstab bei der Überprüfung von Steuervorbescheiden zu ermitteln (dazu unter b.). Auf Grundlage dessen werden die Ausführungen des Gerichts zur Feststellung des maßgeblichen Referenzrahmens untersucht (dazu unter c. und d.). Da die Kommission in der mündlichen Verhandlung die Kohärenz des luxemburgischen Steuerrechts als solches in Frage gestellt hat, wird anschließend noch darauf eingegangen, ob ein mögliches Fehlen einer materiellen Korrespondenzklausel im nationalen Recht eine Beihilfe sein kann (dazu unter e.).

a)      Der maßgebliche selektive Vorteil

82.      Die Kommission nimmt in dem angefochtenen Beschluss einen selektiven Vorteil an, weil ihrer Meinung nach ein zwingender Zusammenhang zwischen Art. 164 und Art. 166 LIR bestehe. Insoweit haben die Kommission und ihr folgend das Gericht herausgearbeitet, dass es aufgrund der von der Engie-Gruppe gewählten Finanzierungsstruktur abweichend von der normalen Körperschaftbesteuerung weitgehend zu einer Nichtbesteuerung der auf Ebene der Tochtergesellschaften erzielten Gewinne kommt, wenn diese Tochtergesellschaft Gewinne erzielt. Übersehen wurde von beiden allerdings, dass es – ebenfalls abweichend von der normalen Körperschaftbesteuerung – auch zu einer Besteuerung kommt, wenn die Tochtergesellschaft Verluste erwirtschaftet, wie dies offenbar in den Jahren 2015 und 2016 bei LNG Supply der Fall war.

83.      Besteuert wird in beiden Fällen nämlich immer die mit der Finanzverwaltung abgestimmte Marge, die sich mindestens anhand des Umsatzes und dann unabhängig von etwaigen Gewinnen bestimmt. Demgegenüber betont die Kommission und ihr folgend das Gericht, dass auf Ebene der Muttergesellschaften, wo die Gewinne bei der Umwandlung des ZORA letztlich ankamen, die Steuerbefreiung für Beteiligungserträge nach Art. 166 LIR in Anspruch genommen werden konnte, obwohl diese nicht nach Art. 164 LIR bei der Tochtergesellschaft „besteuert“ worden sind.

84.      Nicht geprüft oder beanstandet hat die Kommission mithin die Vereinbarung der Marge, die auf Ebene der Tochtergesellschaften laut den Steuervorbescheiden die alleinige Bemessungsgrundlage darstellen soll. Die Frage, ob diese von der normalen Körperschaftbesteuerung abweichende Methode (kein Buchwertvergleich, sondern eine bilanzwertbasierte bzw. umsatzbasierte Besteuerung) einen selektiven Vorteil darstellt, ist nicht geprüft worden. Auch die Frage, ob diese spezielle Methode nach dem luxemburgischen Steuergesetz allen vergleichbaren Steuerpflichtigen zur Verfügung stand, hat die Kommission weder aufgeworfen noch geprüft. Gleiches gilt für die dort angesetzten Prozentsätze. Woraus sich diese ergeben und wie deren Höhe begründet werden kann, bleibt offen.

85.      Daher ist diese Margenbesteuerung, die insbesondere die Höhe der ZORA-Akkretionen beeinflusst, weder Gegenstand des angefochtenen Beschlusses noch des angefochtenen Urteils und kann vom Gerichtshof daher ebenfalls nicht geprüft werden. Der Kommission bleibt es aber unbenommen, dem in einer neuen Beihilfenentscheidung abzuhelfen, sofern noch keine Verjährung eingetreten ist.

b)      Steuervorbescheide als Gegenstand der beihilferechtlichen Prüfung und der anwendbare Prüfungsmaßstab

86.      Die Kommission stellt in ihrem Beschluss vielmehr ausdrücklich klar, dass sich die Beihilfe aus den der Engie-Gruppe erteilten Steuervorbescheiden ergeben soll. Nicht das Schachtelprivileg des Art. 166 LIR (d. h. die Steuerbefreiung von Gewinnausschüttungen innerhalb eines Konzerns) an sich, sondern dessen Anwendung soll im konkreten Fall beihilferechtlich problematisch sein. Die Kommission beruft sich dabei – wenn auch nicht ausdrücklich – auf einen Rechtsanwendungsfehler durch die luxemburgischen Behörden. Das ergibt sich auch aus den Ausführungen zum engen Referenzrahmen, der nach Auffassung der Kommission aus den Art. 164 und 166 LIR bestehen soll.

87.      Dieser Sichtweise schließt sich das Gericht an, indem es davon ausgeht, dass die von der Kommission angenommene Beihilfe in der falschen Anwendung von Art. 164 in Verbindung mit Art. 166 LIR besteht, weil dem luxemburgischen Körperschaftsteuerrecht ein sogenanntes Korrespondenzprinzip zu entnehmen sei. Damit ist gemeint, dass die Steuerfreiheit auf Ebene der empfangenden Muttergesellschaft davon abhängt, dass die ausgeschütteten Beträge auf Ebene der Tochtergesellschaft zuvor besteuert worden sind.

88.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Steuervorbescheide nicht per se unzulässige Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV sind. Sie sind ein wichtiges Instrument, um Rechtssicherheit zu schaffen, was auch die Kommission anerkennt.(19) Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts.(20) Vorbescheide sind daher so lange beihilferechtlich unproblematisch, wie sie allen Steuerpflichtigen (in der Regel auf Antrag) offenstehen und dem jeweiligen Steuergesetz – wie jeder andere Steuerbescheid auch – entsprechen. Insoweit nehmen sie lediglich das Ergebnis eines späteren Steuerbescheids vorweg.

89.      Ist der Steuervorbescheid Gegenstand der beihilferechtlichen Prüfung, stellt sich jedoch die Frage, ob jede für den Steuerpflichtigen günstige Abweichung vom Steuergesetz (mithin jeder zugunsten des Steuerpflichtigen unrichtige Steuervorbescheid) eine Beihilfe im Sinne der Verträge darstellen kann. An sich wäre eine solche Auslegung vom Wortlaut des Art. 107 Abs. 1 AEUV gedeckt.

90.      Sie widerspricht aber dem Prüfungsmaßstab, den der Gerichtshof für Beihilferegelungen in Gestalt allgemeiner Steuergesetze entwickelt hat. So betont er, dass es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung des Steuerrechts der Union freisteht, das ihnen am geeignetsten erscheinende Steuersystem einzuführen,(21) was explizit auch für den Bereich der staatlichen Beihilfen(22) gilt. Dieser Spielraum der Mitgliedstaaten erfasst die Bestimmung der grundlegenden Merkmale jeder Steuer. Darunter fallen u. a. die Wahl des Steuersatzes, der proportional oder progressiv sein kann, aber auch die Festlegung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und des Steuertatbestands.(23) Ebenso ist die Entscheidung, welche ausländischen Steuern und unter welchen Voraussetzungen diese auf die inländische Steuerschuld angerechnet werden können, eine solch allgemeine Entscheidung, die in das Ermessen des Mitgliedstaats zur Bestimmung der grundlegenden Merkmale der Steuer fällt.(24) Gleiches gilt für die Implementierung und Ausgestaltung des Fremdvergleichsgrundsatzes für Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen.(25)

91.      Die Grenzen dieses Spielraums der Mitgliedstaaten sind jedoch überschritten, wenn die Mitgliedstaaten ihr Steuerrecht dazu missbrauchen, um einzelnen Unternehmen dennoch Vorteile „am Beihilferecht vorbei“ zu gewähren.(26) Ein solcher Missbrauch der Steuerautonomie kann bei einer offensichtlich inkohärenten Ausgestaltung des Steuergesetzes – wie z. B. im Fall von Gibraltar(27) geschehen – angenommen werden. So nimmt der Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung eine beihilfenrechtliche Kontrolle allgemeiner steuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nur vor, wenn diese in einer offensichtlich diskriminierenden Weise ausgestaltet wurden, um die Anforderungen zu umgehen, die sich aus dem Unionsrecht im Bereich staatlicher Beihilfen ergeben.(28)

92.      Es ist kein Grund ersichtlich, diese Rechtsprechung nicht auf die fehlerhafte Rechtsanwendung zugunsten des Steuerpflichtigen zu übertragen. Daraus folgt dann, dass nicht jeder fehlerhafte, sondern nur offensichtlich falsche Steuervorbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen einen selektiven Vorteil darstellen. Offensichtlich sind solche Abweichungen vom anwendbaren nationalen Referenzrahmen, die einem Dritten wie der Kommission oder den Unionsgerichten nicht plausibel zu erklären sind und damit auch für den betroffenen Steuerpflichtigen offenkundig sind. In solchen Fällen kann eine Umgehung des Beihilfenrechts durch eine offensichtlich diskriminierende Weise der Gesetzesanwendung angenommen werden. Die in der mündlichen Verhandlung aufgeworfenen Fragen, ob Teile des luxemburgischen Schrifttums oder ein erstinstanzliches luxemburgisches Gericht das luxemburgische Steuerrecht wirklich anders auslegen als die Finanzverwaltung und andere Teile des luxemburgischen Schrifttums, können dann unbeantwortet bleiben.

93.      Ebenso wenig wäre zu befürchten, dass die Kommission und die Unionsgerichte mit der im Einzelnen richtigen Auslegung von 27 verschiedenen Steuerrechtsordnungen überfordert werden könnten.

94.      Diese Überforderung zeigt sich bereits in diesem Verfahren. Die Argumentation der Kommission, die vom Gericht als zutreffend beurteilt wurde, basiert auf einer anderen Auslegung der Art. 164 und 166 LIR, als dies Engie und vor allem Luxemburg vortragen. Dabei offenbaren die steuerrechtlichen Aussagen des Gerichts zur Auslegung der Art. 164 und 166 LIR(29), dass das Gericht mit der Stellung als „zweites luxemburgisches Finanzgericht“ Schwierigkeiten hatte. In Rn. 294 des angefochtenen Urteils spricht das Gericht z. B. davon, dass Art. 164 LIR die Besteuerung der von einer Gesellschaft erzielten Erträge vorsehe, „unabhängig davon, ob diese Erträge ausgeschüttet werden oder nicht. Zu diesen Erträgen sollen nach Art. 164 Abs. 3 LIR auch verdeckte Gewinnausschüttungen gehören.“

95.      Art. 164 LIR betrifft nach seinem Wortlaut aber gar nicht die Besteuerung von Erträgen, sondern allein die Bestimmung der Bemessungsgrundlage der Tochtergesellschaft. Ob irgendwelche Erträge besteuert werden, wird darin nicht angesprochen. Die Besteuerung von Erträgen dürfte sich vielmehr aus dem jeweiligen Steuertatbestand und dem Eingreifen beziehungsweise Nichteingreifen von Steuerbefreiungsvorschriften ergeben, die an anderer Stelle geregelt sind.

96.      Zudem entstünde bei einer weiten Auslegung von Art. 107 AEUV – wonach alle zugunsten des Steuerpflichtigen unrichtigen Steuervorbescheide selektive Vorteile darstellen – folgende weitere Problematik: Bei dem Erlass eines Vorbescheides können ebenso wie bei dem Erlass eines jeden Steuerbescheides Fehler unterlaufen. Die Überprüfung, ob ein solcher Steuerbescheid falsch oder richtig ist, obliegt aber eigentlich den nationalen Finanzbehörden und den nationalen Gerichten. Würde man jeden einfachen Fehler bei der Steuerfestsetzung bereits als einen Verstoß gegen das Beihilferecht ansehen, hätte das zur Konsequenz, dass die Kommission de facto zu einem Obersten Finanzamt und die Unionsgerichte durch die Kontrolle der Beschlüsse der Kommission zu Obersten Finanzgerichtshöfen würden.

97.      Dies wiederum würde die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten tangieren, wie auch die erste Gruppe der Klagegründe im Ausgangsverfahren indiziert. Dort ist die Rede von einer verschleierten steuerrechtlichen Harmonisierung. Auch der dritte Rechtsmittelgrund von Luxemburg versteht die beihilferechtliche Überprüfung von Steuerbescheiden und Steuergesetzen, die nicht harmonisierte Steuern betreffen, als Eingriff in die eigene Steuerautonomie.

98.      Diesen Bedenken trägt der Gerichtshof an anderer Stelle bereits Rechnung. So hat Generalanwalt Pikamäe zu den Kriterien für die Feststellung der „normalen“ Besteuerung ausgeführt, dass dafür die Vorschriften des positiven Rechts maßgebend sind. Um jeden Eingriff in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Besteuerung zu vermeiden, kann das Vorliegen eines Vorteils im Sinne von Art. 107 AEUV nur anhand des normativen Rahmens geprüft werden, den der nationale Gesetzgeber in tatsächlicher Ausübung dieser Zuständigkeit gezogen hat.(30) Bei der Anwendung dieses normativen Rahmens sei z. B. bei der Bestimmung der maßgebenden Verrechnungspreise ein gewisser Ermessensspielraum zuzuerkennen.(31)

99.      Der Gerichtshof betont in diesem Zusammenhang,(32) dass bei der Prüfung der Frage, ob ein selektiver Steuervorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt, und der Feststellung, welche Steuerbelastung ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, Parameter und Regeln, die außerhalb des fraglichen nationalen Steuersystems liegen, nicht berücksichtigt werden dürfen, es sei denn, das nationale Steuersystem bezieht sich ausdrücklich darauf. Dies ist Ausdruck des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, der als allgemeiner Rechtsgrundsatz Teil der Unionsrechtsordnung ist. Er gebietet, dass jede Pflicht zur Entrichtung einer Steuer sowie alle wesentlichen Elemente, die die materiell-rechtlichen Aspekte der Steuer ausmachen, gesetzlich vorgesehen sind. Der Steuerpflichtige muss in der Lage sein, die Höhe der geschuldeten Steuer vorherzusehen und zu berechnen und ihren Fälligkeitszeitpunkt zu bestimmen.(33) Darüber hinaus betont der Gerichtshof, dass die etwaige Festlegung der Methoden und Kriterien, anhand deren sich ein „fremdvergleichskonformes“ Ergebnis feststellen lässt, in das Ermessen der Mitgliedstaaten fällt.(34)

100. Eine solche eingeschränkte Überprüfung des nationalen Rechts ist also auch vor dem Hintergrund des Interesses der Steuerpflichtigen an Rechtssicherheit geboten. Wie bereits oben ausgeführt (Nrn. 88 ff.), sind Steuervorbescheide mehr noch als sonstige Steuerbescheide(35) wichtige Instrumente, um Rechtssicherheit zu schaffen.(36) Sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit als auch das damit verbundene Institut der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes würden entwertet, wenn jeder fehlerhafte Steuerbescheid (Steuervorbescheid wie normaler Steuerbescheid) als ein Verstoß gegen das Beihilferecht angesehen werden könnte.

101. Unter Berücksichtigung oben genannter (Nrn. 90 ff.) Rechtsprechung bin ich daher der Auffassung, dass auch die Überprüfung einzelner Steuerbescheide (normaler Steuerbescheide wie Steuervorbescheide) nur anhand eines eingeschränkten Prüfungsmaßstabes erfolgen sollte, der sich auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt. Danach begründet nicht jede unrichtige Anwendung des nationalen Steuerrechts einen selektiven Vorteil. Nur ein offensichtliches Abweichen des Steuervorbescheides (oder Steuerbescheides) von dem Referenzrahmen in Gestalt des nationalen Steuergesetzes zugunsten des Steuerpflichtigen kann daher einen selektiven Vorteil darstellen. Liegt keine solche offensichtliche Abweichung vor, dann mag der Bescheid möglicherweise rechtswidrig sein, stellt aber aufgrund dieses möglichen Abweichens vom Referenzrahmen noch keine Beihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV dar.

c)      Zum Vorliegen eines zutreffend bestimmten Referenzrahmens (Art. 164 in Verbindung mit Art. 166 LIR)

102. Folglich muss der Gerichtshof nicht prüfen, ob sich aus dem luxemburgischen Steuerrecht tatsächlich die in den Steuervorbescheiden zugesagte und von der Kommission angegriffene Rechtsfolge ergibt. Entscheidend ist allein, ob sich diese Rechtsfolge offensichtlich nicht aus dem luxemburgischen Steuerrecht ergibt.

103. Dies wäre der Fall, wenn sich aus Art. 164 in Verbindung mit Art. 166 LIR offensichtlich ein Kohärenzprinzip ergibt, wie es die Kommission und das Gericht als den anwendbaren Referenzrahmen zugrunde gelegt haben.

1)      Unterbliebene Einbeziehung der Mutter-Tochter-Richtlinie in den Referenzrahmen (erster Teil des ersten Rechtsmittelgrundes von Engie)

104. Nicht zu beanstanden ist zunächst entgegen der Auffassung von Engie und Luxemburg die fehlende Einbeziehung der Mutter-Tochter-Richtlinie in den Referenzrahmen. Es ist zwar richtig, dass nach der Mutter-Tochter-Richtlinie bis zu ihrer Änderung im Jahr 2014(37) eine vorherige Besteuerung der Gewinne auf Ebene der Tochtergesellschaft nicht Voraussetzung für die Steuerbefreiung der Kapitalerträge auf Ebene der Muttergesellschaft war.

105. Die Bestimmung des Referenzrahmens hat aber ausgehend von dem angewendeten nationalen Recht zu erfolgen. Gegenüber dem Steuerpflichtigen (hier Engie) kann aber eine EU-Richtlinie grundsätzlich nicht unmittelbar angewendet werden, da sie sich an den Mitgliedstaat wendet. Mangels grenzüberschreitenden Sachverhaltes (alle betroffenen Gesellschaften sind in Luxemburg ansässig) war deren sachlicher Anwendungsbereich zudem nicht eröffnet. Folglich ist allein das luxemburgische Recht (hier Art. 164 und Art. 166 LIR) der entsprechende Referenzrahmen.

106. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mutter-Tochter-Richtlinie bedeutungslos ist. Art. 166 LIR stellt nämlich – wie in der mündlichen Verhandlung erneut vorgetragen wurde – eine Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie in das luxemburgische Recht dar und regelt den grenzüberschreitenden und den internen Fall gleichermaßen. Dies ist bei der Auslegung des Referenzrahmens durchaus zu berücksichtigen.

2)      Zusammenhang zwischen Art. 164 und Art. 166 LIR im luxemburgischen Recht (sogenanntes Korrespondenzprinzip)

107. Ferner richtet sich das Rechtsmittel von Engie und Luxemburg gegen den von der Kommission konstatierten zwingenden Zusammenhang zwischen Art. 164 und Art. 166 LIR. Wenn dieser tatsächlich bestünde, wäre die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung für Beteiligungserträge nach luxemburgischem Recht von einer Besteuerung auf Ebene der Tochtergesellschaft abhängig. Die Anwendung des Schachtelprivilegs (Steuerfreiheit der Ausschüttungen im Konzern) könnte dann einen Rechtsanwendungsfehler darstellen, weil die ZORA-Akkretionen auf Ebene der Tochtergesellschaft nicht in die Bemessungsgrundlage der vereinbarten Margenbesteuerung gefallen sind.

108. Mithin stellt sich die Frage, ob das Steuerrecht des Großherzogtums Luxemburg tatsächlich eine solche korrespondierende Besteuerung verlangt. Nur dann hätte das Gericht bei der Annahme, dies sei der zutreffende Referenzrahmen, keinen Rechtsfehler (dazu ausführlich oben, Nrn. 78 ff.) begangen. Bei Anwendung des oben vorgeschlagenen reduzierten Prüfungsmaßstabs kann dies recht eindeutig verneint werden, denn offensichtlich ist ein solcher Zusammenhang jedenfalls nicht.

109. Der Wortlaut des nationalen Rechts (Art. 164 und Art. 166 LIR) enthält keine Verknüpfung beider Vorschriften. Vielmehr betreffen diese jeweils unterschiedliche Steuerpflichtige. Weder wird daraus deutlich, dass eine verdeckte Gewinnausschüttung nach Art. 164 Abs. 3 LIR wie z. B. eine erhöhte Zinszahlung für ein Gesellschafterdarlehen (die bei der Tochtergesellschaft der Bemessungsgrundlage wieder zugerechnet wird) als steuerfreier Ertrag aus einer Beteiligung nach Art. 166 LIR zu behandeln ist. Noch gilt umgekehrt, dass ein steuerfreier Ertrag nach Art. 166 LIR als eine Gewinnverwendung im Sinne des Art. 164 zu behandeln ist.

110. Diese von der Kommission „vorgeschlagene“ Auslegung der Art. 164 und 166 LIR, die das Gericht übernommen hat, mag möglich sein, ergibt sich aber nicht aus dem Wortlaut des nationalen Gesetzes. Das Gegenteil (kein Korrespondenzprinzip, wie es von Luxemburg und Engie vertreten wird) ist ebenfalls möglich und entspricht sogar eher dem Wortlaut. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Art. 166 LIR eine Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie darstellt und diese bei Erlass der Steuervorbescheide ebenfalls keine Korrespondenzklausel vorsah, spricht auch eine richtlinienkonforme Auslegung gegen die vom Gericht vorgenommene Auslegung des Art. 166 LIR.

111. Dieses Ergebnis wird sogar noch durch den Beschluss der Kommission und das Urteil des Gerichts bestätigt. Diese haben beide alternativ auch einen selektiven Vorteil durch die fehlerhafte Anwendung der nationalen Anti-Missbrauchsvorschrift (Art. 6 StAnpG) begründet und bejaht.(38) Diese Begründung und dieses Ergebnis kann aber denklogisch nur vorliegen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der „doppelten Nichtbesteuerung“ auf Ebene der Tochtergesellschaft und auf Ebene der Muttergesellschaft vorlagen. Offenbar hatten daher sowohl die Kommission als auch das Gericht Zweifel, ob die eigene Auslegung der Art. 164 und 166 LIR zwingend (mithin offensichtlich) richtig ist.

112. Im Übrigen kann eine falsche Anwendung der Art. 164 und 166 LIR durch die Finanzverwaltung nie eine missbräuchliche Gestaltung durch den Steuerpflichtigen nach Art. 6 StAnpG sein.

113. Somit ist die von Luxemburg in den Steuervorentscheiden zugrunde gelegte Auslegung jedenfalls keine offensichtlich falsche Auslegung des nationalen Rechts. Die Kommission und das Gericht sind daher von einem falschen Referenzrahmen ausgegangen, da sich der von ihnen zugrunde gelegte Referenzrahmen nicht offensichtlich aus dem luxemburgischen Recht ergibt.

114. Nach ständiger Rechtsprechung führt ein Fehler bei der Bestimmung des Referenzsystems zwangsläufig dazu, dass die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet ist.(39) Folglich sind die Rechtsmittel von Engie und Luxemburg bereits aus diesem Grunde begründet.

d)      Hilfsweise: Bestehen eines Korrespondenzprinzips aufgrund einer Auslegung von Art. 164 in Verbindung mit Art. 166 LIR?

115. Würde man den Prüfungsmaßstab hingegen nicht auf eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit der Steuervorbescheide absenken, müsste der Gerichtshof im Einzelnen entscheiden, wie die Art. 164 und 166 LIR richtig auszulegen sind, um zu beurteilen, ob das Gericht den richtigen Referenzrahmen zugrunde gelegt hat. Dies setzt vertiefte Kenntnisse des luxemburgischen Steuerrechts voraus, die ich mir nicht anmaße. Dennoch zweifle ich, ob – wie es die Kommission und das Gericht in den Rn. 292 ff. getan haben – aus einer Zusammenschau der Art. 164 und 166 LIR tatsächlich ein Korrespondenzprinzip zu entnehmen ist. Diese Zweifel belege ich im Folgenden mit meiner hilfsweisen Auslegung des luxemburgischen Steuerrechts.

116. Wie bereits oben ausgeführt (Nr. 109), spricht der Wortlaut gegen ein Korrespondenzprinzip. Art. 166 Abs. 1 LIR nimmt keinen unmittelbaren Bezug auf Art. 164 LIR. Es ist davon auszugehen, dass Art. 166 Abs. 1 LIR die Voraussetzungen, unter denen die Steuerbefreiung für Beteiligungserträge gewährt wird, abschließend regelt. Er stellt jedoch nur auf eine Mindesthaltedauer und Mindesthöhe der Beteiligung ab, nicht aber auf eine steuerliche Vorbelastung der ausgeschütteten Gewinne. Zudem lässt sich aus Art. 164 LIR nicht entnehmen, dass die ausgeschütteten Erträge auf Ebene der Tochtergesellschaft einer Besteuerung unterliegen müssen. Insbesondere betrifft Art. 164 LIR nur die Bemessungsgrundlage (dazu oben Nr. 95) der Tochtergesellschaft. Bemessungsgrundlage und Steuerpflicht sind im Steuerrecht zwei unterschiedliche Dinge.

117. Zum anderen verlangt auch der Sinn und Zweck der beiden Vorschriften nicht zwingend eine solche Korrespondenz. Dies zeigt schon die Mutter-Tochter-Richtlinie, die diese Voraussetzung bis zu ihrer Änderung im Jahr 2014(40) ebenfalls nicht enthielt. Ohne eine solche Korrespondenzregel war die Mutter-Tochter-Richtlinie möglicherweise nicht perfekt, ihre Regelungen ergaben gleichwohl Sinn und waren nicht inkohärent. Da Art. 166 LIR auch die Mutter-Tochter-Richtlinie in Luxemburg umsetzt und dabei nicht zwischen grenzüberschreitenden und internen Ausschüttungen unterscheidet, ist diese Aussage der Mutter-Tochter-Richtlinie (d. h. kein Korrespondenzprinzip bei Erlass der Steuervorbescheide) auf die Auslegung des Art. 166 LIR übertragbar.

118. Leider ist es Luxemburg in der mündlichen Verhandlung nur bedingt gelungen, den Zweck von Art. 166 LIR präzise zu erläutern. Die Aussage der Kommission, Art. 166 LIR sei inkohärent und habe kein eigenes Ziel, ist aber auch nicht überzeugend. Normalerweise hat ein Schachtelprivileg (so wie in Art. 166 LIR vorgesehen) zwei Zwecke. Zum einen wird eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung von schon versteuertem Einkommen verhindert. Zum anderen wird damit auch sichergestellt, dass eine (persönliche oder sachliche) Steuerbefreiung auf Ebene der Tochtergesellschaft erhalten bleibt, wenn diese ihren (dann steuerfreien) Gewinn an den Anteilseigner (Muttergesellschaft) weiter ausschüttet. Damit kann eine gewisse Gleichbehandlung von einstöckigen und mehrstöckigen Gesellschaftsstrukturen, mithin eine gewisse Rechtsform- bzw. Organisationsformneutralität, erreicht werden. Dies scheint mir auch der Sinn der Regelung von Art. 166 LIR im luxemburgischen Recht zu sein. Dieser spricht damit auch gegen ein umfassendes und ungeschriebenes Korrespondenzprinzip.

119. Gleiches gilt unter Berücksichtigung des Subjektsteuerprinzips, das einer Ertragsteuer in der Regel zugrunde liegt. Die Besteuerung eines Steuerpflichtigen hängt normalerweise nicht von der konkreten Besteuerung eines anderen Steuerpflichtigen ab. Der Gesetzgeber kann eine solche Korrespondenz in gewissen Grenzen sicherlich einführen. Dann verlangt aber der Vorbehalt des Gesetzes im Steuerrecht (immerhin klassisches Eingriffsrecht), dass sich diese Korrespondenz im Gesetzeswortlaut widerspiegelt.

120. Ein ungeschriebenes Korrespondenzprinzip ergibt sich entgegen den Ausführungen der Kommission – und dem folgend des Gerichts – auch nicht zwingend aus der Antwort des Großherzogtums Luxemburg vom 31. Januar 2018, die im 202. Erwägungsgrund des Beschlusses der Kommission aufgeführt wird. Danach werden alle Beteiligungen, deren Erträge in den Genuss der Freistellungsregelung nach Art. 166 LIR kommen, auch von Art. 164 LIR erfasst. Dies sagt aber nichts über eine steuerliche Vorbelastung auf Ebene der Tochtergesellschaften aus, sondern bestätigt nur, dass die Ausschüttung selbst nicht zu einer Minderung der steuerlichen Bemessungsgrundlage führen darf.

121. Schließlich kann auch aus der – wohl unverbindlichen – Stellungnahme des Conseil d’État (Staatsrat) vom 2. April 1965 zum Gesetzesentwurf von Art. 166 LIR kein zwingender Zusammenhang abgeleitet werden. Zwar mag es sein, dass Sinn und Zweck des Schachtelprivilegs im luxemburgischen Recht die Vermeidung einer mehrfachen Besteuerung ist. Das bedeutet aber entgegen den Ausführungen des Gerichts nicht, dass das luxemburgische Recht eine doppelte Nichtbesteuerung im konkreten Einzelfall nicht hinnehmen würde. Auch die Mutter-Tochter-Richtlinie wollte eine Doppelbesteuerung vermeiden und nahm bis zu ihrer Änderung im Jahr 2014 eine doppelte Nichtbesteuerung aufgrund einer fehlenden Korrespondenzklausel hin.

122. All dies zeigt, dass das von der Kommission und dem Gericht zugrunde gelegte ungeschriebene Korrespondenzprinzip nicht in das luxemburgische Recht als das Referenzsystem hineininterpretiert werden kann. Zwar könnten damit Besteuerungslücken, die sich z. B. durch hybride Finanzierungsmittel auftun, geschlossen werden. Wie aber der Gerichtshof schon mehrfach entschieden hat,(41) kann über das Beihilferecht kein ideales Steuerrecht durch Unionsorgane wie die Kommission oder das Gericht gestaltet werden. Dies ist im nicht harmonisierten Steuerrecht letztendlich die Aufgabe des nationalen Gesetzgebers.

123. Schlussendlich hat die Kommission und ihr folgend auch das Gericht bei der Bestimmung und Anwendung des Referenzrahmens übersehen, dass sich die angebliche doppelte Nichtbesteuerung gar nicht aus der Anwendung der Art. 164 und 166 LIR ergibt. Zum einen werden die Tochtergesellschaften besteuert, nur eben sehr niedrig. Zum anderen wäre, selbst wenn die ZORA-Akkretionen auf Ebene der Tochtergesellschaft als (offene oder verdeckte) Gewinnausschüttungen anzusehen wären, Art. 164 LIR hier nicht einschlägig. Dies wäre nur der Fall, wenn die ZORA-Akkretionen die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung verringert hätten. Dies wäre möglicherweise im Rahmen einer normalen Körperschaftbesteuerung der Fall gewesen. Hier resultiert das durchaus seltsame Ergebnis (sehr niedrige Besteuerung der operativen Tochtergesellschaften) aber allein aus der Margenbesteuerung, die mit der luxemburgischen Finanzverwaltung abgestimmt wurde.

124. Folglich haben die Kommission und das Gericht den falschen Referenzrahmen (Art. 164 und 166 LIR statt der gesetzlichen Grundlage für die Margenvereinbarung) zugrunde gelegt und diesen dann auch noch falsch (durch die Annahme eines ungeschriebenen Korrespondenzprinzips) bestimmt. Damit ist die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet. Auch insoweit sind die Rechtsmittel von Engie und Luxemburg begründet.

e)      Inkohärenz des luxemburgischen Steuerrechts aufgrund des Fehlens einer materiellen Korrespondenzklausel?

125. Die Kommission hat schließlich noch angedeutet, dass das luxemburgische Steuerrecht ohne eine solche Korrespondenzklausel inkohärent und daher als solches eine Beihilfe sei.(42)

126. Dies hätte aber aus zwei Gründen keine Auswirkungen auf das oben (Nr. 124) gefundene Ergebnis. Zum einen betreffen der streitige Beschluss der Kommission und das angefochtene Urteil des Gerichts nicht das luxemburgische Gesetz als eine Beihilferegelung, sondern nur die Steuervorbescheide als Einzelbeihilfen (siehe dazu auch oben, Nrn. 86 ff.). Daher wäre eine fehlende gesetzliche Korrespondenzklausel nicht Gegenstand des Rechtsstreits.

127. Zum anderen ist ein nationales Steuergesetz, welches zu einer Nichtbesteuerung bei der Anwendung hybrider Finanzierungsinstrumente führen kann, nicht per se inkohärent.

128. Zwar hat das Gericht in Rn. 293 des angefochtenen Urteils zutreffend darauf hingewiesen, dass es bei dem oben erläuterten Verständnis nach dem luxemburgischen Steuerrecht zu einer doppelten Nichtbesteuerung von Gewinnen kommen kann. In der Tat scheint die Steuerbefreiung auf Ebene der die Ausschüttung empfangenden Gesellschaft nach Art. 166 Abs. 1 Nr. 2 LIR unabhängig vom steuerlichen Schicksal der ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der ausschüttenden Gesellschaft zu sein. Die Grenze zur Inkohärenz ist damit aber nicht überschritten.

129. Zum einen ist ein solches Schachtelprivileg international weit verbreitet und üblich. Im grenzüberschreitenden Kontext zeigt sich das schon an der Existenz der Mutter-Tochter-Richtlinie, der ein ähnlicher Gedanke zugrunde liegt und die bis in das Jahr 2014 auch keine materielle Korrespondenzklausel enthielt. Zum anderen sind die Mitgliedstaaten in der genauen Ausgestaltung eines solchen Schachtelprivilegs im Grundsatz frei. Insofern ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu nationalen Anrechnungsvorschriften im grenzüberschreitenden Kontext übertragbar, deren genaue Ausgestaltung ebenso den Mitgliedstaaten obliegt.(43)

130. Zutreffend ist zwar, dass aus einer rechtspolitischen Perspektive und vor dem Hintergrund der weltweiten Bemühungen, auf ein gerechtes Steuersystem hinzuwirken, sogenannte weiße Einkünfte möglichst verhindert werden sollten. Die Neutralisierung solcher – insbesondere grenzüberschreitender – Besteuerungsinkongruenzen ist ein Anliegen sowohl der OECD(44) als auch der EU(45).

131. Hier ist zum einen jedoch schon zweifelhaft, ob überhaupt von weißen Einkünften gesprochen werden kann, denn die Gewinne der Tochtergesellschaft bleiben nicht gänzlich unversteuert. Vielmehr werden sie laut den Vorbescheiden in einer anderen Art und Weise (besondere Margenbesteuerung) besteuert. Zum anderen richten sich die Maßnahmen der OECD und EU ausschließlich gegen hybride Gestaltungen, die sich aus den (nicht abgestimmten) Wechselwirkungen zwischen den Körperschaftsteuersystemen mehrerer Mitgliedstaaten oder Drittstaaten ergeben. Nicht erfasst werden dagegen solche Inkongruenzen, die ihren Ursprung in rein innerstaatlichen Steuersystemen haben. Insoweit mag es zwar rechtspolitisch erstrebenswert und mittlerweile auch international weit verbreitet sein, die Entstehung weißer Einkünfte durch konkrete materielle Korrespondenzklauseln zu vermeiden.

132. Offenbar wurde in Luxemburg für die Zukunft auch eine solche eingeführt, um die 2014 geänderte Mutter-Tochter-Richtlinie entsprechend umzusetzen. Das verändert den Referenzrahmen aber nur für die Zukunft.

133. Folglich bleibt es eine Entscheidung, die dem nationalen Gesetzgeber obliegt. Er – und nicht die Kommission oder die Unionsgerichte – muss entscheiden, ob und in welchen Situationen eine materielle Korrespondenzklausel eingeführt werden soll.

3.      Zusammenfassung zum ersten Rechtsmittelgrund

134. Damit bleibt es dabei, dass nur der luxemburgische Steuergesetzgeber per Gesetz dafür sorgen konnte, dass eine korrespondierende Besteuerung zwischen ausschüttender und empfangender Körperschaft den Referenzrahmen für die Normalbesteuerung innerhalb von Luxemburg bildet. Da dies nicht bzw. erst später geschehen ist, hat die Kommission statt des geltenden nationalen Steuerrechts ein möglicherweise vorzugswürdiges, aber letztlich fiktives Steuersystem zugrunde legt. Wie bereits oben (Nrn. 72 ff.) ausgeführt, erlaubt dies das Beihilferecht nicht.

135. Der erste Rechtsmittelgrund ist folglich begründet. Das Gericht hat einen Rechtsfehler begangen, indem es bei der Bestimmung des Referenzrahmens von einem zwingenden Zusammenhang zwischen Art. 164 und Art. 166 LIR, mithin einem Korrespondenzprinzip, ausgegangen ist. Dieser Zusammenhang ist weder offensichtlich (Nrn. 107 ff.) noch ergibt er sich bei genauerer Betrachtung aus dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck der innerstaatlichen Regelungen oder aus der ständigen Rechtsprechung der luxemburgischen Gerichte (Nrn. 115 ff.).

B.      Zum zweiten Rechtsmittelgrund: unrichtige Auslegung von Art. 107 AEUV durch Heranziehung von Art. 6 StAnpG als Referenzrahmen

136. Allerdings hat das Gericht einen weiteren Klagegrund alternativ auch deshalb abgewiesen, weil die luxemburgischen Finanzbehörden die allgemeine Missbrauchsvermeidungsvorschrift von Art. 6 StAnpG nicht angewandt hätten, obwohl deren Voraussetzungen vorgelegen hätten.

137. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund machen Engie und Luxemburg daher einen Rechtsfehler des Gerichts geltend, weil dieses ihren erstinstanzlichen Klagegrund abgewiesen habe, wonach ein Verstoß gegen Art. 107 AEUV nicht vorgelegen habe. Die Nichtanwendung von Art. 6 StAnpG im konkreten Fall stelle kein Abweichen vom Referenzrahmen in Gestalt des luxemburgischen Rechts dar.

138. Nach der allgemeinen luxemburgischen Missbrauchsvermeidungsvorschrift des Art. 6 StAnpG darf eine Steuerschuld nicht durch missbräuchliche Inanspruchnahme der Formen und Möglichkeiten des bürgerlichen Rechts umgangen oder gemindert werden. Im Fall eines Missbrauchs sind die Steuern so zu erheben, wie sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen, Tatsachen und Umständen angepassten rechtlichen Struktur erhoben würden.

139. Im hier zu entscheidenden Fall muss sich der Gerichtshof erstmals mit der Frage befassen, ob die fehlerhafte bzw. unterlassene Anwendung einer allgemeinen nationalen Missbrauchsvermeidungsvorschrift im Steuerrecht (hier Art. 6 StAnpG) eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 AEUV darstellt.

1.      Feststellungen des Gerichts

140. Das Gericht geht in den Rn. 384 ff. davon aus, dass die Kommission dargelegt habe, dass die vier Voraussetzungen für einen Missbrauch nach Art. 6 StAnpG, die von der luxemburgischen Finanzrechtsprechung entwickelt wurden, erfüllt seien. Die Auslegung der Rechtsmissbrauchsvorschrift des Art. 6 StAnpG weise auch keine Auslegungsschwierigkeiten auf, so dass es nicht erforderlich gewesen sei, die Praxis der luxemburgischen Verwaltung zu untersuchen (Rn. 409 des angefochtenen Urteils).

141. Die Kommission und ihr folgend das Gericht (Rn. 388) gehen insbesondere davon aus, dass andere Finanzierungsinstrumente (reine Eigen- oder Fremdkapitalinstrumente) verfügbar gewesen seien, ohne dass es zu einer Nichtbesteuerung der auf Ebene der Tochtergesellschaften erzielten Gewinne gekommen wäre. So hätte das ZORA auch unmittelbar von der jeweiligen Muttergesellschaft an ihre jeweilige Tochtergesellschaft ausgegeben werden können. Zu einer angemessenen Besteuerung wäre es auch bei Heranziehung eines Wandeldarlehens ohne Einschaltung einer Zwischengesellschaft gekommen.

142. Die Steuervorbescheide hätten demnach nicht in dieser Form erlassen werden dürfen. Vielmehr hätte die luxemburgische Finanzverwaltung die allgemeine Missbrauchsvermeidungsvorschrift in Art. 6 StAnpG anwenden müssen. Indem es deren Anwendung unterlassen habe, habe das Großherzogtum Luxemburg Engie einen selektiven Steuervorteil gewährt.

2.      Würdigung

143. Engie und Luxemburg machen im Ergebnis geltend, das Gericht sei bei der Ermittlung des Referenzrahmens zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Berücksichtigung der luxemburgischen Verwaltungspraxis durch die Kommission nicht erforderlich gewesen sei. Zudem seien der Kommission und dem Gericht bei der Auslegung der vier kumulativen Voraussetzungen für die Annahme eines Missbrauchs sowie der Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter diese Voraussetzungen mehrere offensichtliche Auslegungs- und Anwendungsfehler unterlaufen.

144. Da die Kommission und ihr folgend das Gericht einen Verstoß gegen das Beihilfeverbot aufgrund der Nichtanwendung einer allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschrift geltend machen, sind zunächst Ausführungen zu diesem Ansatz und zum anwendbaren Prüfungsmaßstab angebracht (dazu unter a.), um den richtigen Referenzrahmen ermitteln zu können. Anschließend ist zu untersuchen, ob das Gericht im vorliegenden Fall den richtigen Referenzrahmen zugrunde gelegt hat (dazu unter b.).

a)      Beihilferechtliche Prüfung der Anwendung allgemeiner steuerrechtlicher Missbrauchsvermeidungsvorschriften

145. Nur wenn die luxemburgische Finanzverwaltung die allgemeine Missbrauchsvermeidungsvorschrift gemäß Art. 6 StAnpG bei Erlass der Vorbescheide hätte anwenden müssen, kommt ein Abweichen von dem Referenzrahmen (Art. 6 StAnpG) in Betracht. Auch insoweit machen die Kommission und das Gericht im Ergebnis jedoch nur einen einfachen Fehler bei der Anwendung des luxemburgischen Rechts geltend. Das begründet aber noch keinen selektiven Vorteil (siehe oben, Nrn. 89 ff.).

146. Im Übrigen besteht bei allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschriften (sogenannte GAAR(46)) zwangsläufig ein Spielraum bei der Rechtsanwendung, ähnlich dem, der für die Finanzverwaltung bei der Festlegung des „richtigen“ Verrechnungspreises besteht.(47)

147. Nicht nur unterliegt der Begriff des Missbrauchs in besonderer Weise den Wertungen der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung. Die Feststellung eines Missbrauchs ist überdies per se stark vom Einzelfall abhängig.

148. Insofern erscheint die Aussage des Gerichts in Rn. 409 des angefochtenen Urteils zweifelhaft, wonach „die Rechtsmissbrauchsvorschrift im vorliegenden Fall keine Auslegungsschwierigkeiten aufwarf“. Es gibt wohl keine allgemeine Missbrauchsvermeidungsvorschrift im Steuerrecht, die keine Auslegungsschwierigkeiten aufweist.(48) Dies gilt umso mehr, als dem Gericht bereits die Auslegung der angeblich missbräuchlich angewendeten luxemburgischen Steuerrechtsnormen Schwierigkeiten bereitete (siehe oben, Nrn. 94 ff.).

149. Nur in sehr wenigen Fällen dürfte die Anwendung einer Missbrauchsvermeidungsvorschrift zwingend sein. Das können nur Konstellationen sein, die offensichtlich sind, weil sie durch die Finanzrechtsprechung der Mitgliedstaaten (nicht der Kommission oder des Gerichts) bereits geklärt sind. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass es dem Steuerpflichtigen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Unionsrecht sogar freisteht, innerhalb der gesetzlichen Grenzen die für ihn günstigste steuerrechtliche Gestaltung zu wählen.(49)

150. In Anbetracht der Besonderheiten allgemeiner Missbrauchsvermeidungsvorschriften muss bei der beihilferechtlichen Kontrolle der Anwendung allgemeiner Missbrauchsvorschriften der Kontrollmaßstab erst recht auf eine reine Plausibilitätskontrolle reduziert werden. Es muss sich folglich um eine offensichtliche Fehlanwendung der Missbrauchsvermeidungsvorschrift handeln. Dies kann angenommen werden, wenn es niemandem plausibel zu erklären ist, weshalb im konkreten Fall kein Missbrauch vorliegen sollte.

b)      Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Fall

151. Im Ausgangspunkt zutreffend gehen die Kommission und ihr folgend das Gericht (Rn. 398 ff.) von einem Referenzrahmen in Gestalt des Art. 6 StAnpG aus. Ein Missbrauch liegt nach Art. 6 StAnpG vor, wenn vier Kriterien kumulativ erfüllt sind, nämlich die Verwendung privatrechtlicher Formen oder Institutionen, die Verringerung der Steuerschuld, die Verwendung einer unangemessenen rechtlichen Gestaltung und das Fehlen nicht steuerbezogener Gründe.

152. Der Referenzrahmen lässt sich hier daher nur konkret bestimmen, wenn feststeht, wie „Missbrauch“ im luxemburgischen Steuerrecht zu verstehen ist. Art. 6 StAnpG definiert den Begriff des Missbrauchs nicht. Eine Bestimmung des Missbrauchsbegriffs im luxemburgischen Steuerrecht und damit des Referenzrahmens hätte zwingend eine Auseinandersetzung sowohl mit der luxemburgischen Rechtsprechung als auch mit der luxemburgischen Verwaltungspraxis vorausgesetzt. Insofern hat das Gericht in Rn. 409 des angegriffenen Urteils bereits einen Rechtsfehler begangen, indem es davon ausgegangen ist, dass eine Berücksichtigung der Verwaltungspraxis nicht erforderlich sei, da die Missbrauchsvermeidungsvorschrift im vorliegenden Fall keine Auslegungsschwierigkeiten aufwerfe.

153. Zwar hat das Gericht in Rn. 409 des angefochtenen Urteils darauf verwiesen, dass die Kommission in ihrem Beschluss auf ein Rundschreiben der luxemburgischen Verwaltung sowie auf die luxemburgische Rechtsprechungspraxis verwiesen hat. Aus den betreffenden Passagen des Kommissionsbeschlusses (Nrn. 293 bis 298), auf die das Gericht verweist, ergibt sich aber lediglich, dass die Kommission sich allgemein mit den vier Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Art. 6 StAnpG auseinandergesetzt hat, nicht dagegen mit der Frage, wie die luxemburgische Steuerverwaltung mit vergleichbaren steuerlichen Gestaltungen umgeht.

154. Des Weiteren hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es seine eigene Auslegung an die Stelle derjenigen der luxemburgischen Finanzverwaltung setzte. Geboten ist hingegen eine Überprüfung der Entscheidung der luxemburgischen Finanzverwaltung auf offensichtliche Fehler (siehe oben, Nr. 150).

155. Hier ist jedoch nicht offensichtlich, dass die Missbrauchsvermeidungsvorschrift hätte angewendet werden müssen. Insbesondere ist nicht offensichtlich, dass sich die Auslegung der Kommission und des Gerichts tatsächlich so aus dem luxemburgischen Recht ergibt. Dies lässt sich beispielhaft an den Ausführungen zum Kriterium der unangemessenen rechtlichen Gestaltung nachvollziehen. Nach der luxemburgischen Rechtsprechung, auf die sich die Kommission bezieht, ist dieses Merkmal so auszulegen, dass eine steuerliche Behandlung ermöglicht wird, die in unmittelbarem Widerspruch zu der dem Ziel oder dem Geist des Gesetzes entsprechenden offenkundigen Absicht des Gesetzgebers steht. Es muss nach den Ausführungen von Luxemburg mindestens zwei Möglichkeiten geben, das angestrebte wirtschaftliche Ergebnis zu erreichen, von denen eine unangemessen wäre und einen steuerlichen Vorteil bewirkt, der durch die angemessene Möglichkeit nicht möglich gewesen wäre.

156. Das Gericht (Rn. 445 ff.) prüft auf dieser Grundlage, ob durch Heranziehung alternativer Finanzierungsinstrumente im Ergebnis eine doppelte Nichtbesteuerung vermieden worden wäre. Dazu zieht das Gericht eine Finanzierung mit einem Eigenmittelinstrument, mit einem nicht wandelbaren Darlehen sowie mit einem direkten ZORA, das unmittelbar zwischen der Muttergesellschaft und der Tochtergesellschaft abgeschlossen wird, in Betracht. Nach den Feststellungen des Gerichts wäre in all diesen Fällen eine einmalige Besteuerung erreicht worden, was in der mündlichen Verhandlung allerdings von Luxemburg und Engie weiterhin bestritten wurde.

157. Das Gericht hat dahin gehend in zweierlei Hinsicht einen Rechtsfehler begangen. Zunächst hat es die luxemburgischen Vorschriften, die die Kommission als Referenzrahmen herangezogen hat, wie diese offensichtlich falsch angewendet, mithin einen falschen Referenzrahmen zugrunde gelegt. Voraussetzung von Art. 6 StAnpG ist, dass die gewählte Struktur eine unangemessene rechtliche Gestaltung darstellt. Das Gericht und die Kommission haben jedoch umgekehrt geprüft, ob stattdessen andere Finanzierungsmöglichkeiten angemessen gewesen wären. Der Umkehrschluss, dass die von Engie gewählte Konstruktion dann tatsächlich unangemessen ist, ist aber nicht zwingend.

158. Ferner besteht Uneinigkeit darüber, ob es bei der Heranziehung eines direkten ZORA, also ohne Heranziehung einer Zwischengesellschaft, auch zu einer doppelten Nichtbesteuerung kommen könnte, da die Kommission und dem folgend das Gericht (Rn. 441 ff.) die Unangemessenheit gerade an der Komplexität der Struktur festmachen. Das ist meiner Auffassung nach nicht eindeutig und schließt daher einen offensichtlichen Missbrauch aus. Insbesondere sind sich Engie und die Kommission über die Rolle von Art. 22bis LIR uneinig. Danach führt die Umwandlung eines Darlehens unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu einer Realisierung von Kapitalgewinnen. Insofern scheint – wie auch die mündliche Verhandlung zeigte – fraglich zu sein, ob der Anwendungsbereich von Art. 22bis LIR überhaupt eröffnet ist und was seine Auswirkungen im Ergebnis wären. Der Gerichtshof selbst kann dies hier nicht beurteilen. Im Fall solcher Auslegungsschwierigkeiten des nationalen Rechts kann man nicht von einem offensichtlichen Missbrauch sprechen.

159. Vorliegend ist eben nicht offensichtlich, dass allein aufgrund einer Finanzierung durch ein wandelbares Finanzierungsinstrument mit einer mehrstöckigen Beteiligungsstruktur ein evidenter Widerspruch zur gesetzgeberischen Intention bestehen würde, zumal beide in Unternehmensstrukturen üblich sind. Hinzu kommt, dass eine doppelte Nichtbesteuerung aufgrund der Margenbesteuerung der Tochtergesellschaften bei genauer Betrachtung nicht vorliegt. Vielmehr liegt eine sehr niedrige Besteuerung aufgrund der vereinbarten Margenbesteuerung vor, die die Kommission aber nicht im streitigen Beschluss aufgegriffen hat (siehe oben, Nrn. 84 und 85).

160. Eine verbotene Beihilfe im Zusammenhang mit einer allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschrift kann schließlich auch nur dann angenommen werden, wenn die betroffene Gestaltung nicht allen Unternehmen gleichermaßen offenstand, weil die mitgliedstaatliche Steuerverwaltung in gleich gelagerten Fällen die Missbrauchsvermeidungsvorschrift angewendet hätte.

161. Die Kommission muss daher nachweisen, dass die luxemburgische Finanzverwaltung in anderen rechtlich oder tatsächlich gleichgelagerten Fällen Art. 6 StAnpG angewendet hätte. Nicht ausreichend ist die Feststellung, dass die Missbrauchsvermeidungsvorschrift ganz allgemein gegenüber anderen Steuerpflichtigen zur Anwendung gekommen ist. Wie Engie zutreffend ausgeführt hat, ergibt sich hieraus nicht, dass die Nichtanwendung der Missbrauchsvermeidungsvorschrift im konkreten Fall diskriminierend ist.

162. Daher ist hier die Nichtanwendung von Art. 6 StAnpG beim Erlass der Steuervorbescheide kein selektiver Vorteil zugunsten von Engie.

3.      Zusammenfassung

163. Auch der zweite Rechtsmittelgrund greift daher durch. Die Kommission und das sie bestätigende Gericht haben den falschen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt, indem sie eine eigene Auslegung der allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschrift von Art. 6 StAnpG vorgenommen haben, um deren vermeintlichen Anwendungsbereich zu bestimmen. Stattdessen hätten sie die luxemburgische Verwaltungspraxis und die Auslegung in Luxemburg zugrunde legen müssen. Insofern ist das Vorliegen eines Missbrauchs nach luxemburgischem Recht weder offensichtlich noch von der Kommission nachgewiesen, was das Gericht in Rn. 472 des angefochtenen Urteils verkannt hat.

C.      Hilfsweise: Zum dritten Rechtsmittelgrund – Verstoß gegen allgemeine Grundsätze des Vertrauensschutzes

164. Mit seinem dritten Rechtsmittelgrund macht Engie geltend, dass die Anordnung der Rückforderung der Beihilfe gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verstoße. Luxemburg rügt dies innerhalb seines zweiten Rechtsmittelgrundes ebenfalls. Einer vertieften Auseinandersetzung mit diesem Rechtsmittelgrund bedarf es aber nicht. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils folgt nämlich bereits aus der Begründetheit der ersten beiden Rechtsmittelgründe.

165. Sollte der Gerichtshof im Zusammenhang mit der allgemeinen Missbrauchsvermeidungsvorschrift jedoch nicht den moderaten Prüfungsmaßstab anwenden und zum Ergebnis gelangen, dass eine missbräuchliche Gestaltung im Sinne des luxemburgischen Art. 6 StAnpG vorgelegen habe, dann würde sich die Frage des Vertrauensschutzes stellen. Deswegen sind insoweit wiederum hilfsweise einige Ausführungen angezeigt.

166. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe durch Rückforderung die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit.(50)

167. Die Verpflichtung zur Rückforderung wird insbesondere durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts im Sinne von Art. 16 der Verordnung 2015/1589 ist, beschränkt. Der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist jedoch zu entnehmen, dass eine Rückforderung durch Vertrauensschutzerwägungen nur in Ausnahmefällen ausgeschlossen ist. So hat der Gerichtshof entschieden, dass sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes nur derjenige berufen kann, bei dem ein Unionsorgan durch klare Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat.(51)

168. Demgegenüber sollen Zusicherungen des Mitgliedstaates vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Effektivität nicht genügen.(52) Das würde bedeuten, dass allein die Tatsache, dass in einem Steuervorbescheid durch nationale Behörden eine bestimmte steuerliche Behandlung zugesagt wurde, aus unionsrechtlicher Perspektive keinen Vertrauensschutz begründen könnte.

169. Steuervorbescheide sind jedoch ein klassisches Instrument zur Gewährleistung von Rechtssicherheit durch die nationale Steuerverwaltung, was auch die Kommission anerkennt (siehe oben, Nrn. 88 ff.). Wenn jede falsche Rechtsanwendung durch eine Behörde zugunsten des Steuerpflichtigen einen Vertrauensschutz verhindern würde, dann wäre die Bestandskraft der entsprechenden Bescheide stark eingeschränkt, was wiederum in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Rechtssicherheit stünde.

170. Wenn der Gerichtshof jedoch dem hier für Rechtsanwendungsfehler vorgeschlagenen reduzierten Prüfungsmaßstab folgt, entfällt diese Problematik. Wenn der Fehler bei der Anwendung des nationalen Steuerrechts nicht offenkundig ist, liegt schon keine Beihilfe vor. Dagegen kann eine Beihilfe vorliegen, wenn ein Rechtsanwendungsfehler offensichtlich ist und auch einem Dritten nicht plausibel erklärt werden kann. Wenn dies der Fall ist, ist der „Rechtsbruch“ auch für den Steuerpflichtigen erkennbar. Dieser hat dann kein schutzwürdiges Vertrauen. Daran vermag dann auch die (dann offensichtlich rechtswidrige) Zusicherung in Form eines Verwaltungsaktes nichts mehr zu ändern.

D.      Zu den darüber hinausgehenden Rechtsmittelgründen von Luxemburg

171. Mit seinem dritten Rechtsmittelgrund rügt Luxemburg eine Verletzung der Art. 4 und 5 EUV, da das Gericht einen Eingriff in die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten vorgenommen habe. Mit dem vierten Rechtsmittelgrund rügt Luxemburg eine Verletzung der Begründungspflicht durch das Gericht. Einer vertieften Auseinandersetzung mit diesen Rechtsmittelgründen bedarf es nicht. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils folgt nämlich bereits aus der Begründetheit der ersten beiden Rechtsmittelgründe.

E.      Zur Klage vor dem Gericht

172. Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall einer Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

173. An der Entscheidungsreife könnte man hier zweifeln, weil die Kommission die Selektivität in ihrem Beschluss auf vier verschiedenen Wegen hergeleitet hatte. Engie und Luxemburg wenden sich in ihren Klagen gegen all diese Argumentationslinien. Das Gericht hat in seinem Urteil (Rn. 382 in Verbindung mit den Rn. 230 und 231) dann ausgeführt, dass, wenn die Kommission den verfügenden Teil einer Entscheidung auf mehrere Teile ihrer Würdigung stützt, wovon jeder allein ausreichen würde, um die Verfügung zu begründen, ein derartiger Rechtsakt grundsätzlich nur dann für nichtig zu erklären ist, wenn jede dieser Stützen fehlerhaft ist.

174. Das Gericht prüfte in seinem Urteil daher ausschließlich die Argumentationslinien der Kommission zu den Art. 164 und 166 LIR und zur fehlerhaften Anwendung von Art. 6 StAnpG und kam zum Ergebnis, dass nach beiden Ansätzen Selektivität gegeben sei. Die übrigen zwei Wege, Selektivität herzuleiten,(53) prüfte das Gericht nicht. Eine Aufhebung des Beschlusses der Kommission kommt aber nur in Betracht, wenn auch diese beiden Argumentationslinien nicht zu einer Selektivität der durch die Steuervorbescheide gewährten steuerlichen Behandlung führen.

175. Nach dem Gerichtshof kann in einem solchen Fall gleichwohl Entscheidungsreife gegeben sein, wenn die übrigen Klagegründe vor dem Gericht streitig erörtert wurden und deren Prüfung keine weitere prozessleitende Maßnahme oder Beweisaufnahme erfordert.(54)

176. Ein solcher Fall liegt hier vor. Sämtliche Klagegründe von Engie, die die Selektivität der durch die Steuervorbescheide gewährten steuerlichen Behandlung betreffen, wurden zumindest im Laufe des Verfahrens vor dem Gericht erörtert, da Engie sich im Klagewege gegen alle Möglichkeiten, zu Selektivität zu kommen, gewendet hat. Überdies ist zwischen den Parteien zwar streitig, wie das nationale Recht des Großherzogtums Luxemburg auszulegen ist. Allerdings ist keine Beweisaufnahme erforderlich, um den Rechtsstreit zu lösen. Schließlich sind für die zwei vom Gericht nicht geprüften Wege, Selektivität herzuleiten, im Wesentlichen die gleichen grundsätzlichen Erwägungen und Tatsachen maßgeblich wie für den beschränkten Referenzrahmen, der vom Gerichtshof ohnehin ausführlich zu prüfen ist. Sollte sich aus diesen Gründen der Beschluss als rechtmäßig erweisen, wäre das Rechtsmittel im Ergebnis unbegründet.

177. Ich werde daher im Folgenden noch einige Ausführungen zur Selektivität der durch die Steuerbescheide gewährten steuerlichen Behandlung machen, soweit diese nach Auffassung der Kommission aus einem erweiterten Referenzrahmen bestehend aus dem gesamten Körperschaftsteuersystem herzuleiten ist (dazu unter 1.). Schließlich werde ich auch prüfen, ob von der Kommission eine Selektivität im Licht des erweiterten Referenzrahmens in Bezug auf die Engie-Gruppe, die vorliegend die betreffenden Muttergesellschaften, die Zwischengesellschaften und die Tochtergesellschaften umfasst, nachvollziehbar dargelegt wurde (dazu unter 2.).

1.      Selektivität gemessen an einem erweiterten Referenzrahmen

178. Die Kommission geht in ihrem Beschluss (Nrn. 171 ff.) primär davon aus, dass der Referenzrahmen sich aus dem allgemeinen luxemburgischen Körperschaftsteuersystem zusammensetzt, und kommt so ebenso zu einer Selektivität der Nichtbesteuerung der Kapitalerträge auf Ebene der LNG Holding.

179. Die Freistellung der Beteiligungserträge resultiert auf einer – nach Auffassung der Kommission fehlerhaften – Anwendung des Schachtelprivilegs nach Art. 166 LIR. Der von der Kommission erhobene Vorwurf ist also wiederum, dass die Beteiligungserträge steuerfrei behandelt wurden, obwohl das wirtschaftliche Äquivalent in Form der ZORA-Akkretionen von der Bemessungsgrundlage der LNG Supply steuerlich abzugsfähig war.

180. Wie bereits erläutert, ist dem nationalen Recht des Großherzogtums kein solches Korrespondenzprinzip zu entnehmen (siehe oben, Nrn. 102 ff. und Nrn. 115 ff.). Daher verändert auch die Heranziehung des gesamten luxemburgischen Körperschaftsteuersystems als Referenzrahmen das oben gefundene Ergebnis nicht.

181. Das Schachtelprivileg (Steuerbefreiung von Gewinnausschüttungen an die Muttergesellschaft) ist auch bei einer Heranziehung des gesamten luxemburgischen Körperschaftsteuersystems als inhärenter Bestandteil des Referenzrahmens selbst zu verstehen. Es ist also von der steuerlichen Souveränität Luxemburgs umfasst. Damit konnte Luxemburg entscheiden, ob es eine solche Regelung zur Verhinderung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung in Konzernstrukturen vorsieht oder nicht bzw. wie diese genau ausgestaltet ist.

182. Wenn diese Vorschrift – wie oben ausgeführt – einschlägig ist, dann kommt auch unter Heranziehung des gesamten Körperschaftsteuersystems keine selektive, vorteilhafte Behandlung durch die Anwendung dieser Vorschrift in Betracht.

2.      Selektivität gemessen an den Auswirkungen der steuerlichen Behandlung auf die gesamte Unternehmensgruppe

183. Schließlich leitet die Kommission in dem streitigen Beschluss (Nrn. 237 ff.) eine Selektivität der steuerlichen Behandlung von Engie aus einer gruppenbezogenen Betrachtungsweise her. Der Ausgangspunkt dieser Argumentationslinie ist identisch zur Heranziehung des gesamten Körperschaftsteuersystems als Referenzrahmen. Die Kommission erweitert aber den Blickwinkel insoweit, als sie hier auf die gesamte steuerliche Bemessungsgrundlage der Engie‑Gruppe abstellt.

184. Die Kommission argumentiert, dass die Beihilferegelungen nicht auf einzelne Gesellschaften eines Unternehmens anzuwenden seien, sondern der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff heranzuziehen sei. Alle hier betroffenen Gesellschaften seien Teil eines Unternehmens im wettbewerbsrechtlichen Sinne. Die bereits beschriebene resultierende steuerliche Behandlung habe anders als die Entscheidungen der Kommission zur Groepsrentebox(55) und Fiat(56) keine grenzüberschreitende Komponente, so dass es nicht inkonsistent sei, wenn die Kommission eine gruppenbezogene Herangehensweise wähle.

185. Als Referenzsystem identifiziert die Kommission (Nrn. 245 ff.) wiederum das Körperschaftsteuersystem des Großherzogtums Luxemburg. Sie beschränkt ihre Analyse dann auf die steuerliche Behandlung von Finanzierungstransaktionen innerhalb einer Unternehmensgruppe. Danach sei eine Reduzierung der kombinierten Steuerbemessungsgrundlage unabhängig von der Finanzierungsart nach luxemburgischem Steuerrecht nicht vorgesehen. Sie erläutert das anhand der bereits beschriebenen alternativen Möglichkeiten, eine Finanzierung sicherzustellen, die jeweils zu einer Einmalbesteuerung führen würden. Dem luxemburgischen Körperschaftsteuersystem sei außerdem das Ziel der Besteuerung von Unternehmensgewinnen zu entnehmen. Daraus würde sich direkt ergeben, dass eine Reduzierung der gesamten Steuerbemessungsgrundlage einer Unternehmensgruppe nicht zulässig sei. Alle Unternehmensgruppen, die Finanzierungstransaktionen innerhalb einer Unternehmensgruppe durchführen, seien vergleichbar. Im Übrigen stehe die Finanzierungsstruktur nicht allen Unternehmen offen. Auch eine Rechtfertigung sei nicht möglich.

186. Die Argumentation der Kommission weicht nur insofern von ihren übrigen Ausführungen ab, als dass die Kommission von der Relevanz einer kombinierten Steuerbemessungsgrundlage ausgeht und sie die Engie-Gruppe in Anwendung des wettbewerbsrechtlichen Unternehmensbegriffs als Empfängerin der Beihilfemaßnahme identifiziert hat. Schon letztere These ist nicht überzeugend, wenn das jeweilige nationale Steuergesetz keine Gruppenbesteuerung vorsieht bzw. diese nicht in Anspruch genommen wurde. Sie steht insofern im Widerspruch zu dem üblicherweise im Steuerrecht geltenden Subjektsteuerprinzip.

187. Letztlich leitet die Kommission das Vorliegen eines selektiven Vorteils darüber hinaus wiederum nur daraus her, dass dem luxemburgischen Körperschaftsteuerrecht das Ziel der Besteuerung von Unternehmensgewinnen zu entnehmen sei. Dies mag sein, jedoch ist auch in diesem Kontext darauf zu verweisen, dass das Schachtelprivileg ein inhärenter Bestandteil des luxemburgischen Steuerrechts ist (siehe oben, Nrn. 180 ff.) und dieses Ziel insofern modifiziert. Zum anderen werden die operativen Gewinne der Tochtergesellschaften auch versteuert, nur eben nach einer anderen Methode. Diese andere Methode wurde von der Kommission aber nicht näher untersucht.

188. Im Ergebnis hat die Kommission also auch insoweit nicht dargelegt, dass die der Engie-Gruppe zugesagte steuerrechtliche Behandlung mittels der ZORA-Akkretionen selektiv im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ist.

3.      Ergebnis zur Klage vor dem Gericht

189. Da die Kommission der ihr obliegenden Darlegungslast auch im Hinblick auf die im Urteil nicht behandelten Ansatzpunkte für das Vorliegen eines selektiven Vorteils nicht gerecht geworden ist, kann der streitige Beschluss insgesamt ohne eine Rückverweisung an das Gericht für nichtig erklärt werden.

VI.    Zu den Kosten

190. Gemäß Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.

191. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach Art. 184 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Engie und Luxemburg einen solchen Antrag gestellt haben, ist die Kommission zur Tragung der Kosten zu verurteilen, die Engie und Luxemburg im vorliegenden Rechtsmittelverfahren entstanden sind.

192. Da die Kommission in beiden Instanzen unterlegen ist, sind ihr gemäß den Anträgen der Rechtsmittelführer die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen aufzuerlegen.

193. Nach Art. 184 in Verbindung mit Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Irland, das dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten ist, trägt daher im vorliegenden Verfahren seine eigenen Kosten.

VII. Ergebnis

194. In Anbetracht des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, in der Rechtssache C‑454/21 P wie folgt zu entscheiden:

1.      Das Urteil des Gerichts vom 12. Mai 2021, Luxemburg u. a./Kommission (T‑516/18 und T‑525/18, EU:T:2021:251), wird aufgehoben.

2.      Der Beschluss (EU) 2019/421 der Kommission vom 20. Juni 2018 über die von Luxemburg durchgeführte staatliche Beihilfe SA.44888 (2016/C) (ex 2016/NN) zugunsten von Engie (ABl. 2019, L 78, S. 1) wird für nichtig erklärt.

3.      Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten, die der Engie Global LNG Holding S.à.r.l, der Engie Invest International S.A. und der Engie S.A. in beiden Rechtszügen entstanden sind. Irland trägt in beiden Rechtszügen seine eigenen Kosten.

195. Des Weiteren schlage ich dem Gerichtshof vor, in der Rechtssache C‑451/21 P wie folgt zu entscheiden:

1.      Das Urteil des Gerichts vom 12. Mai 2021, Luxemburg u. a./Kommission (T‑516/18 und T‑525/18, EU:T:2021:251), wird aufgehoben.

2.      Der Beschluss (EU) 2019/421 der Kommission vom 20. Juni 2018 über die von Luxemburg durchgeführte staatliche Beihilfe SA.44888 (2016/C) (ex 2016/NN) zugunsten von Engie (ABl. 2019, L 78, S. 1) wird für nichtig erklärt.

3.       Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten, die dem Großherzogtum Luxemburg in beiden Rechtszügen entstanden sind. Irland trägt in beiden Rechtszügen seine eigenen Kosten.





























































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