Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
23. März 2023(* )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 16 Abs. 1 – Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren – Aufeinanderfolgende Aussetzungsmaßnahmen – Strafrechtlicher Charakter – Art. 48 und 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Unschuldsvermutung – Grundsatz ne bis in idem – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑412/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare, Rumänien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2021, in dem Verfahren
Dual Prod SRL
gegen
Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot, S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Dual Prod SRL, vertreten durch D. Pătrăuş, A. Şandru und T. D. Vidrean-Căpuşan, Avocați,
– der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Wellman als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, Avvocato dello Stato,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) sowie von Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dual Prod SRL und der Direcţia Generală Regională a Finanțelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Klausenburg – Regionale Kommission für die Zulassung von Wirtschaftsteilnehmern im Bereich der Herstellung und des Vertriebs von Waren, die der harmonisierten Verbrauchsteuer unterliegen, Rumänien) u. a. wegen Aufhebung der Entscheidung, mit der diese die Zulassung von Dual Prod zum Betrieb eines Steuerlagers verbrauchsteuerpflichtiger Waren ausgesetzt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 15 und 16 der Richtlinie 2008/118 lauteten:
„(15) Da in Herstellungs- und Lagerstätten Kontrollen durchgeführt werden müssen, um die Einziehung der Steuern sicherzustellen, sollte zur Erleichterung solcher Kontrollen ein System behördlich zugelassener Lager unterhalten werden.
(16) Es sollten auch die Verpflichtungen festgelegt werden, die zugelassene Lagerinhaber und Wirtschaftsbeteiligte zu erfüllen haben, denen keine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers erteilt wurde.“
4 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmte:
„Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden:
…
b) Alkohol und alkoholische Getränke gemäß den Richtlinien 92/83/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 21)] und 92/84/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Annäherung der Verbrauchsteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 29)];
… “
5 In Art. 4 der Richtlinie hieß es:
„Im Sinne dieser Richtlinie und ihrer Durchführungsbestimmungen gelten folgende Definitionen:
1. Ein ‚zugelassener Lagerinhaber‘ ist eine natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu verarbeiten, zu lagern, zu empfangen oder zu versenden.
…
7. Das ‚Verfahren der Steueraussetzung‘ ist eine steuerliche Regelung, die auf die Herstellung, die Verarbeitung, die Lagerung sowie die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die keinem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren unterliegen, unter Aussetzung der Verbrauchsteuer Anwendung findet.
…
11. Ein ‚Steuerlager‘ ist jeder Ort, an dem unter bestimmten von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber in Ausübung seines Berufs hergestellt, verarbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden.“
6 Art. 15 der Richtlinie lautete:
„(1) Jeder Mitgliedstaat erlässt die Vorschriften für die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Richtlinie.
(2) Die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger und noch nicht versteuerter Waren erfolgen in einem Steuerlager.“
7 In Art. 16 der Richtlinie 2008/118 hieß es:
„(1) Die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber bedürfen der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaates, in dem das Steuerlager belegen ist.
Die Zulassung unterliegt den Bedingungen, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch festlegen können.
(2) Der zugelassene Lagerinhaber ist verpflichtet:
…
b) den von dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen;
…
d) alle in einem Verfahren der Steueraussetzung beförderten verbrauchsteuerpflichtigen Waren nach Beendigung der Beförderung in sein Steuerlager zu verbringen und in seinen Büchern zu erfassen, sofern Artikel 17 Absatz 2 keine Anwendung findet;
e) alle Maßnahmen zur Kontrolle oder zur amtlichen Bestandsaufnahme zu dulden.
… “
Rumänisches Recht
8 Art. 364 Abs. 1 Buchst. d der Legea nr. 227/2015 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 227/2015 über das Steuergesetzbuch) vom 8. September 2015 (Monitorul Oficial al României , Teil I, Nr. 688 vom 10. September 2015, im Folgenden: Steuergesetzbuch) bestimmt:
„Die zuständige Behörde erteilt die Zulassung für ein Steuerlager für eine Einrichtung nur, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
…
d) im Fall einer natürlichen Person, die ihre Tätigkeit als zugelassene Lagerinhaberin ausübt, wenn sie nicht für geschäftsunfähig erklärt worden ist und nicht rechtskräftig oder bedingt wegen folgender Straftaten verurteilt worden ist:
…
12. die in diesem Gesetz geregelten Straftaten.“
9 In Art. 369 Abs. 3 des Steuergesetzbuchs heißt es:
„Auf Vorschlag der Kontrollorgane kann die zuständige Behörde die Zulassung eines Steuerlagers aussetzen:
…
b) für einen Zeitraum von einem bis zwölf Monaten, wenn festgestellt wird, dass eine der in Art. 452 Abs. 1 Buchst. b bis e, g und i genannten Taten begangen wurde;
c) bis zur rechtskräftigen Erledigung des Strafverfahrens, wenn die Strafverfolgung wegen der in Art. 364 Abs. 1 Buchst. d genannten Straftaten eingeleitet wurde;
… “
10 Art. 452 des Steuergesetzbuchs sieht vor:
„ (1) Folgende Handlungen stellen Straftaten dar:
…
h) wenn jemand außerhalb des Steuerlagers verbrauchsteuerpflichtige Waren, die nach dem vorliegenden Titel gekennzeichnet werden müssen, aufbewahrt oder diese im Hoheitsgebiet Rumäniens in den Verkehr bringt und wenn diese Waren nicht oder nicht ordnungsgemäß oder mit falschen Steuerzeichen gekennzeichnet sind und dabei der Schwellenwert von 10 000 Zigaretten, 400 Zigarren à 3 Gramm, 200 Zigarren mit mehr als 3 Gramm, ein Kilogramm Rauchtabak, 40 Liter Äthylalkohol, 200 Liter Spirituosen, 300 Liter Halbfabrikate oder 300 Liter gegorene Getränke mit Ausnahme von Bier und Wein überschritten wird;
i) wenn jemand bewegliche Rohrleitungen, elastische Schläuche oder andere solche Leitungen oder ungeeichte Tanks verwendet und vor Zählern Behältnisse oder Hähne aufstellt, durch die vom Zähler nicht erfasste Alkohol- oder Destillatmengen entnommen werden können;
…
(3) Nach Feststellung der Handlungen im Sinne des Abs. 1 Buchst. b bis e, g und i ordnet die zuständige Kontrollbehörde die Einstellung der Tätigkeit sowie die Versiegelung der Anlage gemäß den technologischen Verfahren für die Schließung der Anlage an und übermittelt den Kontrollakt der Steuerbehörde, die die Zulassung erteilt hat, mit dem Vorschlag, die Zulassung für das Steuerlager auszusetzen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Dual Prod ist eine Gesellschaft rumänischen Rechts, die eine Zulassung im Bereich der Herstellung von Alkohol und alkoholischen Getränken besitzt, die der Verbrauchsteuer unterliegen.
12 Am 1. August 2018 wurde in den Geschäftsräumen dieser Gesellschaft eine Durchsuchung durchgeführt.
13 Nach dieser Durchsuchung wurde wegen des Verdachts von Straftaten nach Art. 452 Abs. 1 Buchst. h und i des Steuergesetzbuchs, die zum einen in der Abzweigung und Aufbewahrung einer Menge von mehr als 40 Litern Äthylalkohol mit einem Alkoholgehalt von mindestens 96 Vol.‑% außerhalb des Steuerlagers und zum anderen in der Installation eines Schlauchs in der Produktionsanlage bestehen, ein Strafverfahren gegen unbekannt eingeleitet.
14 Mit Entscheidung vom 5. September 2018 setzte die zuständige Verwaltungsbehörde gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs die Zulassung von Dual Prod zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren für einen Zeitraum von zwölf Monaten aus. Die Behörde legte diese Bestimmung dahin aus, dass sie es erlaube, eine solche Aussetzung allein aufgrund von Indizien für die Begehung von strafrechtlichen Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren zu verhängen.
15 Am 13. Dezember 2019 verkürzte die Curtea de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea, Rumänien), bei der Dual Prod gegen die Entscheidung vom 5. September 2018 Klage erhoben hatte, die Dauer dieser Aussetzung auf acht Monate, nachdem sie zu der Ansicht gelangt war, dass die Festsetzung der in Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs vorgesehenen maximalen Aussetzungsfrist offensichtlich unverhältnismäßig sei. Diese Aussetzung wurde vollständig vollzogen.
16 Nachdem gegen Dual Prod am 21. Oktober 2020 im Rahmen des nach der Durchsuchung vom 1. August 2018 eingeleiteten Strafverfahrens Anklage erhoben worden war, setzte die zuständige Verwaltungsbehörde die Zulassung von Dual Prod zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens erneut aus. Dual Prod focht diese Entscheidung vor dem Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare, Rumänien) an.
17 Dieses Gericht weist darauf hin, dass die Richtlinie 2008/118 allgemeine Bestimmungen über die Zulassung von Steuerlagern enthalte. Folglich könnten die in Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta verankerten Grundsätze der Unschuldsvermutung und ne bis in idem im vorliegenden Fall relevant sein.
18 Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob der Grundsatz der Unschuldsvermutung dem entgegensteht, dass eine Verwaltungsbehörde die Zulassung einer juristischen Person zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren für unbestimmte Zeit allein deshalb aussetzt, weil Indizien dafür vorliegen, dass die juristische Person eine Straftat begangen hat, und noch bevor ein Gericht rechtskräftig über die Schuld dieser Person entschieden hat.
19 Das vorlegende Gericht betont, dass die Aussetzung der Zulassung von Dual Prod darauf hinzudeuten scheine, dass diese Gesellschaft als schuldig angesehen werde, und weist darauf hin, dass das Strafverfahren seit mehr als drei Jahren anhängig sei.
20 Was zweitens den Grundsatz ne bis in idem betrifft, fragt sich das vorlegende Gericht, ob es mit Art. 50 der Charta vereinbar sei, wenn gegen eine juristische Person wegen derselben Taten im Rahmen eines Steuerverfahrens nur deshalb zwei gleichartige Sanktionen verhängt würden, weil ein parallel laufendes Strafverfahren in ein bestimmtes Stadium eingetreten sei.
21 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 48 Abs. 1 der Charta, in dem der Grundsatz der Unschuldsvermutung verankert ist, in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er einer Rechtslage wie der im vorliegenden Fall entgegensteht/nicht entgegensteht, nach der eine Verwaltungsmaßnahme zur Aussetzung einer Zulassung der Ausübung der Tätigkeit als Alkoholhersteller auf der Grundlage bloßer Vermutungen angeordnet werden kann, die Gegenstand laufender strafrechtlicher Ermittlungen sind, ohne dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung vorliegt?
2. Ist Art. 50 der Charta, in dem der Grundsatz ne bis in idem verankert ist, in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er einer Rechtslage wie der im vorliegenden Fall entgegensteht/nicht entgegensteht, nach der gegen dieselbe Person wegen derselben Tat zwei gleichartige Sanktionen (die Aussetzung der Zulassung der Ausübung der Tätigkeit als Alkoholhersteller) verhängt werden können, wobei der einzige Unterschied in der Dauer der Sanktionen besteht?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
22 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die zuständige Verwaltungsbehörde parallel zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen unbekannt nach einer Durchsuchung in den Geschäftsräumen von Dual Prod die dieser Gesellschaft erteilte Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs für einen Zeitraum von zwölf Monaten ausgesetzt hat. Diese Aussetzung wurde infolge einer von Dual Prod eingereichten Klage auf acht Monate verkürzt. Nach Ablauf dieser Aussetzung setzte die Verwaltungsbehörde diese Zulassung gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs erneut auf unbestimmte Zeit mit der Begründung aus, gegen Dual Prod sei im Rahmen der gegen sie nach einer Durchsuchung in ihren Geschäftsräumen eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen Anklage erhoben worden.
24 Die im Ausgangsverfahren fraglichen Aussetzungsmaßnahmen stehen folglich im Zusammenhang mit mutmaßlichen Verstößen gegen die Verpflichtungen, die die rumänischen Rechtsvorschriften den Inhabern einer Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung und ‑missbrauch auferlegen.
25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/118, mit der ein harmonisiertes allgemeines System für die Verbrauchsteuern geschaffen werden soll, die Vorbeugung von Steuerhinterziehung und ‑missbrauch ein gemeinsames Ziel sowohl des Unionsrechts als auch des Rechts der Mitgliedstaaten ist. Denn zum einen haben die Mitgliedstaaten ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen, und zum anderen ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein mit dieser Richtlinie verfolgtes Ziel, wie die Erwägungsgründe 15 und 16 sowie Art. 16 dieser Richtlinie bestätigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2022, MONO, C‑326/20, EU:C:2022:7, Rn. 28 und 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Folglich führt ein Mitgliedstaat, wenn er die für den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 erforderliche Zulassung wegen Indizien, dass Straftaten gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren begangen wurden, aussetzt, diese Richtlinie und damit das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch und muss daher die Bestimmungen der Charta beachten.
27 Zweitens ist es zwar letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen für die Zwecke der Anwendung von Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta als „strafrechtliche Sanktionen“ eingestuft werden können, doch ist darauf hinzuweisen, dass insoweit drei Kriterien maßgebend sind. Erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 25).
28 Was das erste Kriterium betrifft, ist nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen nach rumänischem Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden.
29 Allerdings ist erstens hervorzuheben, dass sich die Anwendung der Bestimmungen der Charta, die einer Straftat beschuldigte Personen schützen, nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen in Rn. 27 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197‚ Rn. 30).
30 Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, ohne dass der bloße Umstand, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird, ihr ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89).
31 Im vorliegenden Fall wurden Dual Prod die Aussetzungsmaßnahmen offenbar parallel zu einem Strafverfahren auferlegt und sollen nicht den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen.
32 Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass diese Aussetzungsmaßnahmen zu dem durch die Richtlinie 2008/118 eingeführten Verfahren der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung gehören, in dem die Steuerlagerinhaber eine zentrale Rolle spielen (vgl. dazu Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia, C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 31). Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass diese Maßnahmen nur auf Wirtschaftsteilnehmer Anwendung finden sollen, die Inhaber einer Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren im Sinne der Art. 15 und 16 dieser Richtlinie sind, indem ihnen vorübergehend die sich aus einer solchen Zulassung ergebenden Vorteile genommen werden.
33 Daher richten sich Aussetzungsmaßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht generell gegen die Allgemeinheit, sondern gegen eine bestimmte Kategorie von Adressaten, die, weil sie eine speziell durch das Unionsrecht geregelte Tätigkeit ausüben, verpflichtet sind, die Voraussetzungen für die Erteilung einer von den Mitgliedstaaten erteilten Zulassung zu erfüllen, die ihnen bestimmte Vorrechte verleiht. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen darin bestehen, die Ausübung dieser Vorrechte auszusetzen, weil die zuständige Verwaltungsbehörde der Ansicht war, dass die Voraussetzungen für die Erteilung dieser Zulassung nicht mehr erfüllt werden oder nicht mehr erfüllt zu werden drohen, was dafür spräche, dass mit diesen Maßnahmen keine repressive Zielsetzung verfolgt wird.
34 Ein solcher Anhaltspunkt scheint sich auch daraus zu ergeben, dass Art. 369 Abs. 3 Buchst. b und c des Steuergesetzbuchs der zuständigen Verwaltungsbehörde offenbar nicht vorschreibt, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen zu erlassen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
35 Was insbesondere die erste gegen Dual Prod verhängte Aussetzungsmaßnahme angeht, ist es ebenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, aus welchem Grund die zuständige Verwaltungsbehörde beschlossen hat, die Zulassung dieser Gesellschaft für einen Zeitraum von zwölf Monaten, d. h. für die nach Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs zulässige Höchstdauer, auszusetzen, und aus welchem Grund das Gericht, das über die von Dual Prod erhobene Klage entschieden hat, diesen Zeitraum auf acht Monate verkürzt hat, um festzustellen, ob die zur Rechtfertigung solcher Entscheidungen angeführten Gründe eine präventive oder eine repressive Zielsetzung erkennen lassen.
36 Was die zweite, auf der Grundlage von Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs gegen Dual Prod verhängte Aussetzungsmaßnahme betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht zu einem im Voraus festgelegten Zeitpunkt, sondern erst nach Abschluss des laufenden Strafverfahrens endet, was eher für eine präventive oder sichernde Maßnahme als für eine repressive Maßnahme charakteristisch erscheint.
37 Was drittens das Kriterium des Schweregrads der drohenden Sanktion betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass zwar jede der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen negative wirtschaftliche Folgen für Dual Prod haben kann, dass diese jedoch dem präventiven oder sichernden Charakter dieser Maßnahmen inhärent sind, den diese Maßnahmen zu haben scheinen, und grundsätzlich nicht den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, damit sie als strafrechtlich eingestuft werden können, insbesondere weil sie diese Gesellschaft nicht daran hindern, während dieser Aussetzungszeiträume weiterhin wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben, die keine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren erfordern.
Zur ersten Frage
38 Wie sich aus Rn. 16 des vorliegenden Urteils ergibt, ist das vorlegende Gericht mit einer Klage befasst, mit der die Rechtmäßigkeit der zweiten, gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs gegen Dual Prod angeordneten Aussetzungsmaßnahme in Frage gestellt werden soll.
39 Daher möchte das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 48 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde.
40 Art. 48 Abs. 1 der Charta soll jedermann gewährleisten, nicht als Straftäter bezeichnet oder behandelt zu werden, bevor nicht seine Schuld nachgewiesen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Rubach, C‑344/08, EU:C:2009:482, Rn. 31).
41 Zwar steht diese Bestimmung der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion durch eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 35), gegen diese Bestimmung wird hingegen verstoßen, wenn eine Verwaltungsbehörde eine strafrechtliche Sanktion erlässt, ohne zuvor die Verletzung einer vorher aufgestellten Regel festgestellt und der betroffenen Person Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu entlasten, wobei dieser Person ein bestehender Zweifel zugutekommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, NKT Verwaltung und NKT/Kommission, C‑607/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:385, Rn. 234, 235 und 237 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Außerdem verlangt Art. 47 der Charta, dass jeder Adressat einer verwaltungsrechtlichen Sanktion mit strafrechtlichem Charakter über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihm ermöglicht, diese Sanktion von einem Gericht mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung überprüfen zu lassen (Urteil vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 32 bis 35), wobei dieser Rechtsbehelf u. a. die Prüfung ermöglicht, ob die Verwaltungsbehörde nicht gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen hat.
43 Sollte das vorlegende Gericht der Ansicht sein, dass eine Aussetzungsmaßnahme wie die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils genannte für die Zwecke der Anwendung von Art. 48 Abs. 1 der Charta eine strafrechtliche Sanktion darstellt, stünde folglich der in dieser Bestimmung verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung dem Erlass einer solchen Maßnahme, obwohl noch nicht über die strafrechtliche Schuld der auf diese Weise sanktionierten Person entschieden worden ist, entgegen.
44 Nach alledem ist Art. 48 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde, sofern diese Aussetzung eine strafrechtliche Sanktion darstellt.
Zur zweiten Frage
Zur Zulässigkeit
45 Soweit die italienische Regierung offenbar geltend macht, die zweite Frage sei unzulässig, weil das vorlegende Gericht nicht hinreichend deutlich gemacht habe, inwiefern es sich bei dem Sachverhalt, der zu den beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen geführt habe, um dieselbe Tat handle, ist dieses Vorbringen zurückzuweisen.
46 Es genügt nämlich der Hinweis, dass aus der Begründung der Vorlageentscheidung und dem Wortlaut der zweiten Frage klar hervorgeht, dass nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen beide aufgrund des bei der Durchsuchung in den Räumlichkeiten von Dual Prod festgestellten Sachverhalts erlassen wurden, der den Verdacht weckte, dass diese Gesellschaft Straftaten nach den Rechtsvorschriften über verbrauchsteuerpflichtige Waren begangen habe.
47 Die Frage, ob eine solche Beurteilung den Anforderungen von Art. 50 der Charta entspricht, gehört zur inhaltlichen Prüfung der zweiten Vorlagefrage.
Zur Beantwortung der Frage
48 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Sanktion gegen eine juristische Person entgegensteht, gegen die wegen derselben Tat bereits eine Sanktion gleicher Art, aber von unterschiedlicher Dauer verhängt wurde.
49 Zunächst ist festzustellen, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Daher ist die zweite Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nur sachdienlich, wenn jede der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels ist, was das vorlegende Gericht anhand der in den Rn. 27 bis 37 des vorliegenden Urteils dargelegten Kriterien zu prüfen hat.
51 Vorbehaltlich dieser Klarstellung ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis “), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem “) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).
52 Was erstens die Voraussetzung „idem “ betrifft, so verlangt diese, dass der materielle Sachverhalt bzw. die materielle Tat identisch und nicht nur ähnlich ist. Die Identität der materiellen Tat ist als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36 und 37).
53 Im vorliegenden Fall zeigt sich, wie das vorlegende Gericht selbst ausgeführt hat, dass die gegen Dual Prod verhängten Aussetzungsmaßnahmen beide mit einem identischen materiellen Sachverhalt zusammenhängen, nämlich demjenigen, der anlässlich der Durchsuchung in den Geschäftsräumen dieser Gesellschaft festgestellt wurde.
54 Der Umstand, dass die zweite im Ausgangsverfahren in Rede stehende Aussetzungsmaßnahme mit der Begründung angeordnet wurde, gegen Dual Prod sei im Rahmen eines Strafverfahrens Anklage erhoben worden, kann an dieser Feststellung nichts ändern, da sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, dass mit diesem Strafverfahren gerade die gleichen Taten geahndet werden sollen, die bei dieser Durchsuchung festgestellt wurden.
55 Was zweitens die Voraussetzung „bis “ anbelangt, ist es für die Annahme, dass mit einer Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden worden ist, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 29).
56 Was im vorliegenden Fall zum einen die Bestandskraft der Entscheidung betrifft, mit der die erste Aussetzungsmaßnahme gegen Dual Prod angeordnet wurde, muss sich das vorlegende Gericht insbesondere vergewissern, dass die gerichtliche Entscheidung, mit der die Dauer einer solchen Aussetzungsmaßnahme auf acht Monate verkürzt wurde, jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses der zweiten Aussetzungsmaßnahme gegenüber Dual Prod rechtskräftig geworden war.
57 Was zum anderen die Voraussetzung der Prüfung in der Sache betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Beachtung des Grundsatzes ne bis in idem , dass, wenn die zuständige Behörde eine Sanktion als Folge des dem Betroffenen vorgeworfenen Verhaltens verhängt hat, vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass die zuständige Behörde zuvor die Umstände der Rechtssache und die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Betroffenen beurteilt hat (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, § 98).
58 Sollte das vorlegende Gericht nach Prüfung der in den Rn. 49 bis 57 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen der Auffassung sein, dass Art. 50 der Charta auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, würde die Kumulierung der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen eine Einschränkung des in diesem Art. 50 verbürgten Grundrechts darstellen.
59 Allerdings könnte eine solche Beschränkung noch auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40).
60 In einem solchen Fall wäre es als Zweites Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob konkret alle Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen Art. 52 Abs. 1 der Charta den Mitgliedstaaten erlaubt, das in Art. 50 der Charta garantierte Grundrecht einzuschränken.
61 Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
62 Was erstens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, ist zum einen festzustellen, dass die Möglichkeit einer Kumulierung der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen ganz offensichtlich gesetzlich vorgesehen ist, nämlich in Art. 369 Abs. 3 Buchst. b und c des rumänischen Steuergesetzbuchs.
63 Zum anderen wahrt diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta nur, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43). Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht hervor, dass diese Voraussetzung im vorliegenden Fall offenbar nicht erfüllt ist.
64 Was zweitens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, die vom Gerichtshof nur für den Fall geprüft werden, dass das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die Voraussetzungen von Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta im vorliegenden Fall erfüllt sind, geht zunächst aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung allgemein die korrekte Erhebung der Verbrauchsteuer gewährleistet werden soll und Steuerhinterziehungen und ‑missbrauch bekämpft werden sollen.
65 In Anbetracht der Bedeutung dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung des betreffenden Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 52).
66 Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 48).
67 Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist konkret zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Im vorliegenden Fall ist insbesondere festzustellen, dass aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte nicht hervorgeht, dass die zuständige Verwaltungsbehörde bei der Beurteilung der zweiten gegen Dual Prod verhängten Aussetzungsmaßnahme die Schwere der ersten gegen dieses Unternehmen bereits verhängten Aussetzungsmaßnahme berücksichtigt hätte, was die Verhältnismäßigkeit dieser zweiten Aussetzungsmaßnahme im Sinne von Art. 52 der Charta beeinträchtigen könnte.
69 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 50 der Charta, wenn die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen als strafrechtliche Sanktionen anzusehen sind, der Verhängung der zweiten Aussetzungsmaßnahme gegen Dual Prod, deren Rechtmäßigkeit vor dem vorlegenden Gericht bestritten wird, entgegenstehen kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
70 Schließlich ist hinzuzufügen, dass, selbst wenn das vorlegende Gericht der Ansicht sein sollte, dass zumindest eine der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen für die Zwecke der Anwendung von Art. 50 der Charta keine strafrechtliche Sanktion darstellt und dieser Artikel daher der Kumulierung dieser beiden Sanktionen keinesfalls entgegenstehen kann, die Anordnung der zweiten Aussetzungsmaßnahme, wie die Kommission festgestellt hat, dennoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts beachten müsste.
71 Dieser Grundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten, sich solcher Mittel zu bedienen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die aber nicht über das erforderliche Maß hinausgehen und die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Der Gerichtshof stellt insoweit in seiner Rechtsprechung klar, dass, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 13. Januar 2022, MONO, C‑326/20, EU:C:2022:7, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Insoweit kann der Umstand, dass eine Maßnahme zur Aussetzung einer Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren, die gegen eine juristische Person verhängt wird, die verdächtigt wird, gegen die Vorschriften zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Erhebung der Verbrauchsteuern verstoßen zu haben, während des gesamten gegen diese juristische Person eingeleiteten Strafverfahrens weiterhin ihre Wirkungen entfaltet, auch wenn dieses Verfahren bereits eine angemessene Dauer überschritten hat, auf eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des legitimen Rechts dieser juristischen Person auf Ausübung ihrer unternehmerischen Tätigkeit hinweisen.
73 Nach alledem ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion aufgrund von Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren gegen eine juristische Person, gegen die wegen derselben Tat bereits eine rechtskräftige strafrechtliche Sanktion verhängt wurde, nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
– die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
– die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
– mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
– es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht
Kosten
74 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde, sofern diese Aussetzung eine strafrechtliche Sanktion darstellt.
2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion aufgrund von Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren gegen eine juristische Person, gegen die wegen derselben Tat bereits eine rechtskräftige strafrechtliche Sanktion verhängt wurde, nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
– die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
– die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
– mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
– es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Unterschriften