C-397/19 – Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice

C-397/19 – Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice

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Language of document : ECLI:EU:C:2020:747

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 23. September 2020(1)

Rechtssache C397/19

AX

gegen

Statul Român – Ministerul Finanțelor Publice

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul București [Landgericht Bukarest, Rumänien])

„Vorabentscheidungsvorlage – Vertrag über den Beitritt von Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union – Entscheidung 2006/928/EG der Kommission zur Einrichtung eines Verfahrens für Zusammenarbeit und Überprüfung (VZÜ) – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Staatshaftung – Zivilrechtliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten für Justizirrtümer“

I.      Einführung

1.        Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde in erster Instanz wegen einer Straftat verurteilt und in der Berufungsinstanz freigesprochen. Vor dem vorlegenden Gericht, einem Zivilgericht, macht er nun gegen den rumänischen Staat Ersatz des Schadens geltend, den er wegen der Verurteilung, einschließlich der Untersuchungshaft, erlitten habe.

2.        Vor diesem Hintergrund fragt das vorlegende Gericht nach der Vereinbarkeit verschiedener Aspekte der Definition und des Verfahrens der – kürzlich geänderten – Staatshaftung für einen Justizirrtum in Rumänien mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Der vorliegende Fall betrifft zwar eine Staatshaftungsklage gegen den rumänischen Staat. Das vorlegende Gericht äußert jedoch auch Zweifel hinsichtlich der nationalen Bestimmungen, die eine sich gegebenenfalls anschließende Phase regeln: Würde der Staat nämlich zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet, hätte er die Möglichkeit, ein Regressverfahren gegen den Richter oder Staatsanwalt anzustrengen. In diesem Fall würde das Ministerul Finanţelor Publice (Ministerium für öffentliche Finanzen, Rumänien) bei einem Zivilgericht eine Klage auf Feststellung der zivilrechtlichen Haftung des Richters oder Staatsanwalts, der den Justizirrtum begangen hat, erheben, sofern der Justizirrtum und der durch ihn entstandene Schaden in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde.

3.        Die vorliegende Rechtssache gehört zu einer Reihe von Vorabentscheidungssachen, die die durch die sogenannte Justizgesetzreform herbeigeführten Änderungen verschiedener Aspekte der rumänischen Rechtsordnung betreffen. In allen diesen Rechtssachen bezweifeln die vorlegenden Gerichte die Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen mit dem Unionsrecht und fragen nach der Bedeutung und Rechtsnatur des mit der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission eingeführten „Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung“ (im Folgenden: VZÜ)(2). Dieses sich durch die Rechtssachen ziehende Thema behandle ich auch in meinen anderen Schlussanträgen vom heutigen Tage in den verbundenen Rechtssachen Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ und Asociaţia Mişcarea Pentru Apărarea Statutului Procurorilor sowie PJ und in den Rechtssachen SO und Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a.(3).

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich daher den Schwerpunkt auf die Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Hinblick auf die nationalen Bestimmungen über die Staatshaftung und die zivilrechtliche Haftung von Richtern für Justizirrtümer und die Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem in den genannten Vorschriften verankerten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit legen.

II.    Rechtsrahmen

A.      Unionsrecht

5.        Die einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften sind in den Nrn. 5 bis 12 der Schlussanträge in den Rechtssachen Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. aufgeführt.

B.      Rumänisches Recht

6.        Art. 1381 des Codul civil (rumänisches Zivilgesetzbuch) sieht vor, dass ein Schaden einen Anspruch auf Schadensersatz begründet.

7.        Nach Art. 539 Abs. 1 des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) hat derjenige, dem rechtswidrig die Freiheit entzogen wurde, Anspruch auf Schadensersatz. Gemäß Art. 539 Abs. 2 der Strafprozessordnung muss die rechtswidrige Freiheitsentziehung auf einer Anordnung eines Staatsanwalts, einem endgültigen Beschluss eines für Sachen mit Bezug auf Rechte und Freiheiten zuständigen Richters oder eines Ermittlungsrichters oder einem endgültigen Beschluss oder Urteil des Gerichts, das zur Entscheidung über die Rechtssache berufen ist, beruhen.

8.        Art. 541 der Strafprozessordnung sieht vor:

„(1)      Die Schadensersatzklage kann von der Person erhoben werden, die nach den Art. 538 und 539 dazu berechtigt ist, sowie – nach dem Tod dieser Person – von Dritten, wenn sie zum Zeitpunkt des Todes gegenüber der Person unterhaltsberechtigt sind.

(2)      Die Klage kann binnen sechs Monaten nach dem Tag eingereicht werden, an dem die Entscheidung des Gerichts, Anordnung der Staatsanwaltschaft oder Anordnung der Justizbehörden, mit der der Justizirrtum oder die rechtswidrige Freiheitsentziehung festgestellt wird, rechtskräftig wird.

(3)      Um Ersatz für den erlittenen Schaden zu erlangen, kann der Anspruchsinhaber eine zivilrechtliche Klage gegen den Staat bei dem Tribunalul (Landgericht) des Gerichtsbezirks einreichen, in dem er seinen Wohnsitz hat; die Klage ist in Vertretung des Staates dem Ministerium für öffentliche Finanzen als Beklagtem zuzustellen.

…“

9.        Die zivilrechtliche Haftung von Richtern, die ursprünglich in der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) geregelt war, wurde durch die Legea nr. 242/2018 pentru modificarea și completarea Legii nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 242/2018 zur Änderung und Vervollständigung des Gesetzes Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) geändert(4).

10.      Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004 in der durch das Gesetz Nr. 242/2018 geänderten Fassung lautet:

„(1)      Der Staat haftet mit seinem Vermögen für Schäden, die durch Justizirrtümer verursacht werden.

(2)      Die Haftung des Staates wird gemäß den gesetzlichen Vorgaben begründet und schließt die Haftung von Richtern und Staatsanwälten (auch wenn sie nicht mehr im Dienst sind), die ihr Amt in bösem Glauben oder grob fahrlässig im Sinne von Art. 991 ausgeübt haben, nicht aus.

(3)      Ein Justizirrtum liegt vor, wenn

(a)      im Rahmen des Prozesses die Durchführung von Prozesshandlungen unter offensichtlichem Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften des materiellen und des Verfahrensrechts angeordnet wurde, wodurch die Rechte, Freiheiten und berechtigten Interessen der Person schwerwiegend verletzt wurden, und dadurch ein Schaden verursacht wurde, der nicht durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelf wiedergutgemacht werden konnte;

(b)      eine endgültige gerichtliche Entscheidung erlassen wurde, die offensichtlich mit dem Gesetz oder dem Sachverhalt, wie er sich aus der Beweiserhebung in der Rechtssache ergibt, in Widerspruch steht, wodurch die Rechte, Freiheiten und berechtigten Interessen der Person schwerwiegend beeinträchtigt wurden, und der Schaden nicht durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelf wiedergutgemacht werden konnte.

(4)      Durch die Zivilprozessordnung und die Strafprozessordnung sowie durch andere Sondergesetze können spezielle Fälle geregelt werden, in denen ein Justizirrtum vorliegt.

(5)      Um Schadensersatz zu erlangen, kann der Geschädigte nur gegen den Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, Klage erheben. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die zivilrechtliche Klage liegt bei dem Gericht, in dessen Bezirk der Kläger seinen Wohnsitz hat.

(6)      Die Zahlung der als Schadensersatz geschuldeten Beträge durch den Staat erfolgt innerhalb eines Zeitraums von höchstens einem Jahr ab dem Tag der Bekanntgabe der endgültigen Gerichtsentscheidung.

(7)      Innerhalb von zwei Monaten nach der in Abs. 6 genannten Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung über die Klage ruft das Ministerium für öffentliche Finanzen die Justizinspektion an, damit diese gemäß dem in Art. 741 des Gesetzes Nr. 317/2004 in der neu bekannt gemachten Fassung mit späteren Änderungen vorgesehenen Verfahren prüft, ob der Justizirrtum vom Richter oder Staatsanwalt in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde.

(8)      Der Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, erhebt gegen den Richter oder Staatsanwalt Regressklage, wenn er nach dem beratenden Bericht der Justizinspektion gemäß Abs. 7 und nach eigener Beurteilung der Ansicht ist, dass der Justizirrtum von dem Richter oder Staatsanwalt in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde. Die Frist für die Erhebung der Regressklage beträgt sechs Monate ab dem Zeitpunkt der Übermittlung des Berichts der Justizinspektion.

(9)      Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Regressklage liegt in erster Instanz bei der Zivilkammer der Curtea de Apel (Appellationsgericht) in dem Gerichtsbezirk, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat. Ist der beklagte Richter bzw. Staatsanwalt bei dem Appellationsgericht bzw. bei der dem Appellationsgericht angegliederten Staatsanwaltschaft tätig, ist die Regressklage nach Wahl des Klägers bei dem Appellationsgericht eines angrenzenden Gerichtsbezirks zu erheben.

(10)      Gegen die in dem Verfahren gemäß Abs. 9 ergangene Entscheidung kann bei der zuständigen Kammer bei der Înalta Curte de Casație şi Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) Rechtsmittel eingelegt werden.

(11)      Der Oberste Richterrat legt innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes die Bedingungen, Fristen und Verfahren für die Berufshaftpflichtversicherung der Richter und Staatsanwälte fest. Die Versicherung wird vollständig vom Richter bzw. Staatsanwalt getragen und ihr Fehlen kann die zivilrechtliche Haftung des Richters oder Staatsanwalts für den in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursachten Justizirrtum nicht verzögern, verringern oder beseitigen.“

11.      Schließlich definiert Art. 991 des Gesetzes Nr. 303/2004 in geänderter Fassung den bösen Glauben und grobe Fahrlässigkeit wie folgt:

„(1) Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt in bösem Glauben, wenn er Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts wissentlich verletzt und dabei beabsichtigt oder in Kauf nimmt, einer Person Schaden zuzufügen.

(2) Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt grob fahrlässig, wenn er die Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts in fahrlässiger, schwerwiegender, unbestreitbarer und unentschuldbarer Weise missachtet.“

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

12.      In dem Zeitraum vom 21. Januar 2015 bis zum 21. Oktober 2015 wurde der Kläger festgenommen, in Untersuchungshaft genommen und dann unter Hausarrest gestellt. Diese Maßnahmen wurden von der Ersten Strafkammer des Tribunalul București (Landgericht Bukarest, Rumänien) angeordnet und im weiteren Verlauf verlängert sowie zu einem späteren Zeitpunkt von der Curtea de Apel București (Appellationsgericht Bukarest, Rumänien) aufrechterhalten.

13.      Mit Urteil vom 13. Juni 2017 wurde der Kläger vom Tribunalul București (Landgericht Bukarest) wegen fortgesetzter Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, deren Vollstreckung ausgesetzt wurde. Der Kläger wurde außerdem zur Zahlung von Schadensersatz an den Nebenkläger verurteilt.

14.      In der Berufungsinstanz sprach die Curtea de Apel București (Appellationsgericht Bukarest) den Kläger frei, da sie befand, dass er die Straftat, für die er in erster Instanz verurteilt worden war, nicht begangen habe. Das vorlegende Gericht führt dazu aus, dass dieses Urteil keine Aussage über die Rechtmäßigkeit der gegen den Kläger verhängten vorläufigen Maßnahmen enthalte.

15.      Am 3. Januar 2019 erhob der Kläger bei der Dritten Zivilkammer des Tribunalul București (Landgericht Bukarest) eine Klage gegen den rumänischen Staat, vertreten durch das Ministerul Finanţelor Publice (Ministerium für öffentliche Finanzen) (im Folgenden: Beklagter), und beantragte, den Beklagten zur Zahlung von 50 000 Euro für den Vermögensschaden und 1 Mio. Euro für den Nichtvermögensschaden zu verurteilen. Der Kläger macht geltend, er sei Opfer eines von der Ersten Strafkammer des Tribunalul București (Landgericht Bukarest) begangenen Irrtums geworden, der in der zu Unrecht erfolgten Verurteilung, der Freiheitsentziehung und der rechtswidrigen Freiheitsbeschränkung während des Strafverfahrens bestehe.

16.      Das Ministerium für öffentliche Finanzen in Vertretung des Staates trägt u. a. vor, dass die Klage unzulässig und jedenfalls unbegründet sei, da die Voraussetzungen für eine zivilrechtliche Haftung des Staates nicht gegeben seien. Der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass die vorläufigen bzw. freiheitsbeschränkenden Maßnahmen rechtswidrig gewesen seien.

17.      Vor diesem Hintergrund hat das Tribunalul București (Landgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?

2.      Ist das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ integraler Bestandteil des Beitrittsvertrags und ist es nach Maßgabe von dessen Bestimmungen auszulegen und anzuwenden? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich, und ist, falls dies bejaht wird, das nationale Gericht, das damit betraut ist, im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden, verpflichtet, die Anwendung dieser Normen sicherzustellen, indem es erforderlichenfalls von Amts wegen die Anwendung der Bestimmungen des nationalen Rechts verweigert, die mit den Anforderungen unvereinbar sind, die in den in Anwendung dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellt wurden?

3.      Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt?

4.      Steht Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie der Bestimmung des Art. 96 Abs. 3 Buchst. a des Gesetzes Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten entgegen, mit der der Justizirrtum lapidar und abstrakt als die Durchführung von Prozesshandlungen unter offensichtlichem Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften des materiellen und des Verfahrensrechts definiert wird, ohne nähere Umschreibung der Art der Rechtsvorschriften, gegen die verstoßen wird, des sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereichs dieser Bestimmung im Prozess, der Modalitäten, der Frist und des Verfahrens zur Feststellung eines Verstoßes gegen die gesetzlichen Vorschriften sowie der für die Feststellung eines Verstoßes gegen diese Rechtsvorschriften zuständigen Stelle, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, mittelbar Druck auf Richter bzw. Staatsanwälte auszuüben?

5.      Steht Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie der Bestimmung des Art. 96 Abs. 3 Buchst. b des Gesetzes Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten entgegen, mit der der Justizirrtum definiert wird als Erlass einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung, die offensichtlich mit dem Gesetz oder dem Sachverhalt, wie er sich aus der Beweiserhebung in der Rechtssache ergibt, in Widerspruch steht, ohne Festlegung des Verfahrens zur Feststellung dieses Widerspruchs und ohne konkrete Definition der Bedeutung dieses Widerspruchs, in dem die gerichtliche Entscheidung mit den anwendbaren gesetzlichen Vorschriften und dem Sachverhalt stehen muss, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, die Auslegung der Gesetze und die Beweisaufnahme durch Richter und Staatsanwälte zu blockieren?

6.      Steht Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie der Bestimmung des Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten entgegen, mit der die zivilrechtliche Haftung des Richters oder Staatsanwalts gegenüber dem Staat ausschließlich aufgrund des eigenen Ermessens des Staates sowie unter Umständen auf der Grundlage des beratenden Berichts der Justizinspektion bezüglich der Absicht oder der groben Fahrlässigkeit des Richters oder Staatsanwalts hinsichtlich der Begehung des materiellen Irrtums begründet wird, ohne dass der Richter oder Staatsanwalt die Möglichkeit hätte, sein Verteidigungsrecht in vollem Umfang wahrzunehmen, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, die materielle Haftung des Richters bzw. Staatsanwalts gegenüber dem Staat willkürlich auszulösen oder zu beenden?

7.      Steht Art. 2 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, nationalen Rechtsvorschriften wie den Bestimmungen des Art. 539 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 541 Abs. 2 und 3 der Strafprozessordnung entgegen, mit denen dem Beschuldigten zeitlich unbegrenzt und implizit ein außerordentlicher Rechtsbehelf sui generis gegen eine endgültige gerichtliche Entscheidung bezüglich der Rechtmäßigkeit der Maßnahme der Untersuchungshaft in dem Fall eröffnet wird, dass er in der Sache freigesprochen wird, wobei über diesen Rechtsbehelf ausschließlich vor den Zivilgerichten verhandelt wird, während die Rechtswidrigkeit der Untersuchungshaft nicht durch eine strafgerichtliche Entscheidung festgestellt worden ist, so dass gegen den Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der Rechtsvorschrift, den Grundsatz der Spezialisierung des Richters und den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen wird?

18.      Das vorlegende Gericht hat im Vorlagebeschluss eine Entscheidung über die Rechtssache im beschleunigten Verfahren beantragt. Der Antrag ist mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Juni 2019 zurückgewiesen worden. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. September 2019 ist die vorrangige Behandlung bewilligt worden.

19.      Die polnische und die rumänische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der gemeinsamen mündlichen Verhandlung mit den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑195/19 (Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a.), C‑291/19 (SO) und C‑355/19 (Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a.) am 20. und 21. Januar 2020 haben die folgenden Beteiligten mündlich verhandelt: die Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ (Vereinigung „Forum der rumänischen Richter“), die Asociația „Mișcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“ (Vereinigung „Bewegung zur Verteidigung des Status der Staatsanwälte“), der Oberste Richterrat, OL, die Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Procurorul General al României (Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof – Generalstaatsanwalt von Rumänien), die Regierungen von Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Rumänien und Schweden sowie die Kommission. Speziell in Bezug auf den vorliegenden Fall haben die niederländische und die rumänische Regierung sowie die Kommission mündlich verhandelt.

IV.    Würdigung

20.      Zur ersten, zur zweiten und zur dritten Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts habe ich in den Nrn. 120 bis 172 meiner anderen Schlussanträge vom heutigen Tage in den Rechtssachen Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. eine Antwort vorgeschlagen, auf die ich hier nur verweise. Daher werde ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen weder mit der Zulässigkeit der Vorlagefragen 1 bis 3 noch mit ihrer Beantwortung befassen. Im Folgenden werde ich mich auf die Vorlagefragen 4 bis 7 konzentrieren, also auf die Problematik der Haftung des Staates und der zivilrechtlichen Haftung von Richtern.

21.      Speziell in Bezug auf den vorliegenden Fall sollte angemerkt werden, dass es sich – wie bei den nationalen Bestimmungen in den Rechtssachen Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a.(5) – auch hier um nationale Vorschriften handelt, die unter den Anhang der VZÜ-Entscheidung fallen. Das Staatshaftungsregime und die sich gegebenenfalls anschließende zivilrechtliche Haftung von Richtern für Justizirrtümer stehen im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und richterlicher Verantwortlichkeit. In dieser Hinsicht lässt sich dies – ähnlich wie bei den in meinen Schlussanträgen in den oben genannten Rechtssachen angesprochenen Aspekten – sicherlich unter der im Anhang der VZÜ-Entscheidung verankerten Verpflichtung zur „Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren…“ subsumieren.

22.      Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt gegliedert. Zunächst werde ich die Zulässigkeit prüfen und eine Umformulierung der Vorabentscheidungsfragen vorschlagen (A). Im Rahmen der Prüfung in der Sache (B) werde ich zuerst den Gesamtzusammenhang darlegen (1) und mich dann mit den streitigen Aspekten der Regelung beschäftigen und sie auf ihre Vereinbarkeit insbesondere mit Art. 47 Abs. 2 der Charta prüfen (2).

23.      Schließlich beschränke ich die vorliegenden Schlussanträge auf die Haftung des Staates und die zivilrechtliche Haftung von Richtern. Die nationale Regelung wie auch die vom vorlegenden Gericht vorgelegten Fragen beziehen sich zwar auf die zivilrechtliche Haftung von sowohl Richtern als auch Staatsanwälten, doch liegt hier ein Sachverhalt vor, bei dem es ausschließlich um einen Justizirrtum geht, der auf eine richterliche Entscheidung zurückzuführen sein könnte.

A.      Zulässigkeit der Vorlagefragen und deren Umformulierung

1.      Zulässigkeit

24.      Die rumänische Regierung trägt in ihren schriftlichen Erklärungen vor, dass sämtliche Vorlagefragen der vorliegenden Rechtssache unzulässig seien. Was die Zulässigkeit der Fragen 4 bis 6 betreffe, so seien die vom vorlegenden Gericht angeführten unionsrechtlichen Bestimmungen – Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 EUV – im Ausgangsverfahren nicht einschlägig. Diese Bestimmungen wie auch die Charta seien nur dann maßgeblich, wenn Mitgliedstaaten in Anwendung des Unionsrechts handelten. Außerdem gehe die sechste Frage, die in Wirklichkeit auf Art. 96 Abs. 8 des Gesetzes Nr. 303/2004 verweise, über den Gegenstand des Ausgangsverfahrens hinaus. Diese Vorschrift beziehe sich auf eine Klage, mit der die persönliche Haftung eines Richters geltend gemacht werde, die aber nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht sei. Schließlich umfasse die siebte Frage unbegründete Erwägungen und werfe eine hypothetische Auslegungsfrage auf, die für die Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht relevant sei.

25.      Auch die Kommission hält alle Vorlagefragen für unzulässig. Sie weist darauf hin, dass das in Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004 geregelte Verfahren zweiphasig sei. Die erste Phase betreffe die Staatshaftung. Sei in der ersten Phase die Haftung des Staates festgestellt worden, könne das Ministerium für öffentliche Finanzen in der zweiten Phase eine Klage auf Feststellung der persönlichen Haftung des betreffenden Richters für den Justizirrtum erheben. Eine erfolgreiche Klage gegen den Staat löse allerdings nicht automatisch ein Verfahren gegen den Richter aus. Daher seien die Fragen 1 bis 6 unzulässig, da die unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht werde, die zweite Phase des Verfahrens beträfen, während es im Ausgangsverfahren um die erste Phase, die Verantwortlichkeit des Staates, gehe. Zwischen der erbetenen Auslegung des Unionsrechts und dem Sachverhalt oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens bestehe somit kein Zusammenhang. Schließlich sei auch die siebte Frage unzulässig, da das vorlegende Gericht nicht die Angaben gemacht habe, die der Gerichtshof benötige, um eine sachdienliche Antwort geben zu können.

26.      Die polnische Regierung hat nur zu den Fragen 4 bis 7 Stellung genommen. Diese Fragen seien unzulässig, da das Unionsrecht keine Anwendung auf die Rechtsfragen finde, um die es im Ausgangsverfahren gehe. Die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen sei für die Entscheidung der Ausgangssache nicht notwendig. Die Fragen seien im Rahmen eines Verfahrens vorgelegt worden, das rein internen Charakter habe und sich auf nationale Vorschriften beziehe, die ein Mitgliedstaat im Rahmen seiner ausschließenden Zuständigkeiten erlassen habe. Im Ausgangsverfahren mache der Kläger keinen Schadensersatz für die Verletzung von Unionsrecht geltend. Es gebe keinerlei unionsrechtliche Vorgaben für Schadensersatzverfahren wegen einer Verletzung von nationalem Recht.

27.      Ich kann die insbesondere von der Kommission hinsichtlich der Zulässigkeit der sechsten Frage geäußerten Zweifel nachvollziehen und teile sie bis zu einem gewissen Grad. Nach Abwägung würde ich dennoch dem Gerichtshof vorschlagen, die Fragen 4 bis 6 für zulässig zu erklären. Hingegen ist die siebte Frage in der Tat unzulässig.

28.      Zunächst betrifft – wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. angeführt habe(6) – das Vorbringen zur fehlenden Zuständigkeit der Union im Bereich der Staatshaftung für Justizirrtümer weniger die Zulässigkeit der Vorlagefragen, sondern eher die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Aus den in den genannten Schlussanträgen angeführten Gründen bin ich der Ansicht, dass die Vorlagefragen in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV fallen(7).

29.      Zweitens stimme ich zu, dass das vorlegende Gericht mit dem Verweis auf Art. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV für die Prüfung, ob diese Vorschriften den fraglichen nationalen Bestimmungen entgegenstehen, nicht die einschlägigen Vorschriften zitiert. Würden diese Vorschriften jedoch durch die VZÜ-Entscheidung in Verbindung mit der Charta und/oder Art. 19 Abs. 1 EUV ausgetauscht, lässt sich kaum vertreten, dass insbesondere die Fragen 4 und 5 für das vorlegende Gericht nicht entscheidungserheblich seien.

30.      Entgegen dem Vorbringen der Kommission beziehen sich die Fragen 4 und 5 spezifisch auf die in Art. 96 Abs. 3 Buchst. a und b des Gesetzes Nr. 303/2004 enthaltene Definition des Justizirrtums, die in der Phase des Verfahrens über die staatliche Haftung zur Anwendung kommt. Genau dies ist der Kontext des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht. Insofern betreffen die Fragen nach den Auswirkungen des unionsrechtlichen Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit auf die Prüfung der Regelung über die Staatshaftung für Justizirrtümer durchaus die Entscheidung in der Sache.

31.      Zugegebenermaßen stellt sich die Situation bei Frage 6 anders dar. Dort wird zwar auf Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 verwiesen, tatsächlich geht es aber um die (sich anschließende) zivilrechtliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten, die in Art. 96 Abs. 7 bis 10 des Gesetzes geregelt ist. Dass das Ministerium für öffentliche Finanzen eines Tages – falls die anhängige Staatshaftungsklage erfolgreich sein sollte – möglicherweise eine Regressklage gegen den Richter, der den Justizirrtum begangen haben soll, erheben könnte, ist in dem gegenwärtig beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren rein hypothetisch.

32.      Darüber hinaus ließe sich in Anbetracht einer jüngeren Entscheidung des Gerichtshofs (in der Rechtssache Miasto Łowicz) auch vertreten, dass die Antwort auf die sechste Frage für eine Entscheidung des vorlegenden Gerichts im Ausgangsverfahren gar nicht erforderlich ist(8). Denn wenn der Umstand, dass gegen eine Reihe von Richtern Disziplinarverfahren eingeleitet wurden und dass die Richter, die die spezifischen Vorabentscheidungsersuchen in den betreffenden Fällen vorgelegt haben, nunmehr selbst Gegenstand von disziplinarrechtlichen Ermittlungen zu sein scheinen(9), nicht ausreicht, um einen solchen Fall über die Zulässigkeitshürde zu bringen, fällt es erst recht schwer zu erkennen, wie die sechste Frage diese Hürde jemals nehmen könnte.

33.      Allerdings verstehe ich die Aussage des Gerichtshofs im Urteil Miasto Łowicz als einen Ausdruck des Problems, dass es an dem Bezug zwischen den extrem weit gefassten Fragen und den konkreten Fällen, in deren Rahmen sie gestellt werden, fehlt. Kein Gericht, auch nicht der Gerichtshof, kann einen mutmaßlichen politischen Missbrauch von Disziplinarverfahren abstrakt prüfen, wenn nur wenige Angaben gemacht werden. Der Gerichtshof ist kein internationales Beratungsgremium, das eine bestimmte politische Situation kommentieren und Handlungsanleitungen geben darf. Der Gerichtshof kann über die Verletzung konkreter Normen oder Grundsätze entscheiden. Dafür müssen jedoch konkrete Argumente, wenn nicht sogar Beweise, vorgelegt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Grunde vorgetragen wird, dass bestimmte Vorschriften oder Praktiken anders gehandhabt werden als dies auf dem Papier vorgesehen ist(10).

34.      Ich lese daher aus Miasto Łowicz kein Verbot dessen heraus, was wohl am besten „richterliche Selbstverteidigung“ genannt werden kann, d. h. einer Situation, in der ein Richter, der mit einer klar unter das Unionsrecht im klassischen Sinne fallenden Rechtssache befasst ist, allgemeinere strukturelle Fragen zu den nationalen Verfahren oder Institutionen aufwirft, weil er glaubt, dass sich daraus Probleme hinsichtlich seiner richterlichen Unabhängigkeit ergeben(11). Dies wäre nämlich eine sehr abrupte Abwendung von der Praxis des Gerichtshofs, der stets recht großzügig solche allgemeinen Fragestellungen, die über den konkreten Fall hinausgehen, als zulässig anerkannt hat und sich bei den von seinen Ansprechpartnern in den Mitgliedstaaten vorgelegten Fragen traditionell auf die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit stützt(12).

35.      Vor dem Hintergrund der obigen Erläuterungen schlage ich vor, die sechste Frage des vorlegenden Gerichts für zulässig zu erklären, und zwar im Wesentlichen aus drei Gründen.

36.      Erstens besteht ein innerer Zusammenhang. Die erste Phase, die das Verfahren gegen den Staat – einschließlich der Definition des Justizirrtums – betrifft, bildet die Schleuse und die conditio sine qua non für die zweite Phase, in der es um die persönliche Verantwortlichkeit des Richters geht. Außerdem scheint die in Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 enthaltene Definition des Justizirrtums für beide Phasen des Verfahrens maßgeblich zu sein. In der zweiten Phase ist dann nur noch zu prüfen, ob bei dem betreffenden Richter die in Art. 991 des Gesetzes Nr. 303/2004 vorgesehenen subjektiven Merkmale (böser Glaube oder grobe Fahrlässigkeit) vorliegen.

37.      Abgesehen von der materiell-rechtlichen Überschneidung bezüglich des verwendeten Schlüsselbegriffs scheinen zweitens die vom vorlegenden Gericht geäußerten Bedenken gerade auf dem Zusammenhang zwischen dem Staatshaftungsverfahren und dem sich anschließenden Regressverfahren zu beruhen, das vom Ministerium für öffentliche Finanzen möglicherweise gegen den Richter angestrengt wird, der für den Justizirrtum verantwortlich sein soll. Ob ein erfolgreiches Haftungsverfahren gegen den Staat „automatisch“ ein Verfahren gegen den Richter auslöst, ist darüber hinaus eine Frage, die zwischen den Parteien erörtert wurde und ungeklärt scheint.

38.      Drittens ist gerade diese materiell- und prozessrechtliche Verbindung zwischen den beiden Phasen entscheidend für die ganzheitliche Prüfung der Rechtssache. Schließlich ist es in erster Linie die Möglichkeit einer späteren Regressklage des Staates gegen den einzelnen Richter, die unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Problems im Zusammenhang mit der richterlichen Unabhängigkeit erörtert werden kann. Dagegen wäre es – in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Staatshaftung (bei Verletzungen von Unionsrecht) – nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie die strukturelle Frage, ob für eine natürliche Person die Möglichkeit besteht, den Staat für Justizirrtümer in Haftung zu nehmen, eine unmittelbare Bedrohung für die Unabhängigkeit des einzelnen Richters darstellen soll(13).

39.      Schließlich stimme ich mit der Kommission und der rumänischen Regierung darin überein, dass die siebte Frage für unzulässig zu erklären ist.

40.      Die siebte Frage geht dahin, ob das Unionsrecht einer Vorschrift wie Art. 539 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 541 Abs. 2 und 3 der Strafprozessordnung entgegensteht, wenn darin – dem vorlegenden Gericht zufolge – einer in der Sache freigesprochenen Person die Möglichkeit eingeräumt wird, einen außerordentlichen und zeitlich unbegrenzten Rechtsbehelf bezüglich der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft bei einem Zivilgericht einzulegen, wobei die Rechtswidrigkeit der Untersuchungshaft nicht durch eine strafgerichtliche Entscheidung festgestellt wird. Das vorlegende Gericht sieht darin einen Verstoß gegen den Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der Rechtsvorschrift, den Grundsatz der Spezialisierung des Richters und den Grundsatz der Rechtssicherheit.

41.      Im Vorabentscheidungsersuchen wird jedoch nicht erläutert, aus welchen spezifischen Gründen das vorlegende Gericht diese Frage stellt und weshalb es sie für entscheidungserheblich hält. Der Vorlagebeschluss verweist lediglich auf Art. 539 Abs. 2 und Art. 541 Abs. 2 und 3 der Strafprozessordnung. Die Vorlagefrage enthält eine bewertende Auslegung dieser Vorschriften ohne jegliche Erläuterung oder Darstellung des Sachzusammenhangs. Diese Auslegung ist nicht sehr klar und ergibt sich nicht aus dem Wortlaut der einschlägigen nationalen Bestimmungen. Im Ergebnis fordert die Frage den Gerichtshof auf, einer bestimmten Auslegung des nationalen Rechts(14) beizupflichten, ohne dass die erforderlichen Angaben zur Relevanz der fraglichen Vorschriften im Rahmen des Ausgangsverfahrens gemacht würden.

42.      Die siebte Frage erfüllt daher nicht die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

2.      Umformulierung der Vorlagefragen

43.      In den Fragen 4 bis 6 geht es im Wesentlichen um die Auslegung der Art. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV im Rahmen der Prüfung, ob diese Vorschriften der in Rede stehenden nationalen Regelung entgegenstehen. Während die Frage 4 und 5 die verschiedenen Tatbestandsmerkmale der Definition des Justizirrtums im Rahmen von Staatshaftungsverfahren betreffen, betrifft die sechste Frage die Regressklage, mit der das Ministerium für öffentliche Finanzen vor einem Zivilgericht die zivilrechtliche Haftung des Richters geltend machen kann, der den Justizirrtum begangen hat.

44.      Erstens sollten diese Fragen meiner Ansicht nach zusammen geprüft werden. Sie betreffen verschiedene Aspekte und Phasen einer Regelung, die letztendlich zur zivilrechtlichen Haftung eines einzelnen Richters für einen Justizirrtum führen kann. Dieser letztere Punkt ist tatsächlich derjenige, der aus ähnlichen wie den oben im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung genannten Gründen(15) hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit als möglicherweise problematisch angesehen werden kann.

45.      Zweitens halte ich es für notwendig, die Fragen umzuformulieren, um eine zweckdienliche Antwort geben zu können. Was das einschlägige Unionsrecht angeht, beziehen sich die Fragen ausschließlich auf Art. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV. Sie müssen meines Erachtens aber so verstanden werden, dass sie auf Art. 47 Abs. 2 der Charta, möglicherweise in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, verweisen.

46.      Der Vorlagebeschluss verweist in der Begründung im weiteren Sinne auf Art. 19 Abs. 1 EUV, auch wenn die Vorschrift in den Fragen selbst nicht genannt wird. Darüber hinaus liegen allen Vorlagefragen Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen zugrunde, die ein Staatshaftungsverfahren auf die Unabhängigkeit der Justiz haben könnte, wenn sich daran eine Regressklage gegen den einzelnen Richter anschließt. Dieser Grundsatz ist sowohl in Art. 47 Abs. 2 der Charta als auch in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert. Daher sind diese beiden Bestimmungen der spezifischere rechtliche Bezugsrahmen, der den in Art. 2 EUV proklamierten Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert(16).

47.      Zum Verhältnis zwischen Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in einem Fall wie dem vorliegenden habe ich bereits im Einzelnen ausgeführt, weshalb ich in erster Linie Art. 47 Abs. 2 der Charta – der gemäß der VZÜ-Entscheidung und der Beitrittsakte auf einige Aspekte der Organisation des rumänischen Justizwesens Anwendung findet – für den geeigneten Bewertungsmaßstab halte(17). Diese Erwägungen gelten meiner Ansicht nach ebenso für die vorliegende Rechtssache. In den von den VZÜ-Kriterien erfassten Bereichen wird davon ausgegangen, dass Rumänien im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta Unionsrecht umsetzt, so dass Art. 47 Abs. 2 der Charta Anwendung findet(18).

48.      Darüber hinaus betreffen die Vorlagefragen die Unabhängigkeit der Justiz als Ganzes. Sie zeigen deutlich ein übergreifendes Problem auf, das für die Unabhängigkeit der Gerichte, die über die Anwendung oder Auslegung von Unionsrecht zu entscheiden haben, von Bedeutung ist(19). Während ich mich weiterhin frage, welchen Mehrwert hinsichtlich Rechtsgrundlage oder analytischer Schärfe der parallele – um nicht zu sagen ausschließliche – Verweis auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in einem Fall wie dem vorliegenden bietet(20), lässt sich nicht leugnen, dass die vorliegende Rechtssache – jedenfalls bezüglich der Fragen 4 und 5(21) – ebenfalls von dieser Vorschrift erfasst wird.

49.      Vor diesem Hintergrund sei daran erinnert, dass es Aufgabe des Gerichtshofs ist, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind(22).

50.      Ich schlage daher vor, die Vorlagefragen so umzuformulieren, dass die Frage lautet, ob Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Bestimmungen über das Verfahren zur Feststellung der Staatshaftung für Justizirrtümer wie Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 entgegenstehen, wenn man die Definition des Justizirrtums für die Zwecke des Staatshaftungsverfahrens und die möglichen Auswirkungen auf ein sich anschließendes Zivilverfahren berücksichtigt, in dem der Staat gegen den für den Justizirrtum verantwortlichen Richter eine Regressklage anstrengt.

B.      Beantwortung der Frage

51.      Ich beginne mit der Darstellung des rechtlichen und – derzeit größtenteils unbekannten – praktischen Hintergrundes der fraglichen nationalen Bestimmungen (1). Dann werde ich mich den umstrittenen Aspekten der neuen rechtlichen Regelung zuwenden (2), d. h. der beanstandeten ungenauen Formulierung der Tatbestandsmerkmale eines Justizirrtums im Rahmen der Staatshaftung (a) und danach den geltend gemachten Defiziten in der prozessrechtlichen Regelung des sich anschließenden Verfahrens über die zivilrechtliche Haftung der Richter (b).

1.      Hintergrund

52.      Drei Punkte sind anzumerken: der allgemeine rechtliche Rahmen, in dem die streitigen Änderungen vorgenommen wurden (a), deren Beurteilung und die von verschiedenen internationalen Gremien aufgezeigten Probleme und ausgesprochenen Empfehlungen (b) sowie die fehlende praktische Anwendung des neuen Verfahrens und der neuen Regelung auf nationaler Ebene (c).

a)      Allgemeiner rechtlicher Rahmen

53.      Die nationale Vorschrift, die Gegenstand der Vorlagefrage des nationalen Gerichts ist, also Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004, wurde im Jahr 2018 durch das Gesetz Nr. 242/2018 geändert.

54.      Wie die Kommission und die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Stellungnahmen dargelegt haben, geht der derzeitige Wortlaut der Definition des Justizirrtums auf Überarbeitungen des ursprünglichen Entwurfs zurück, dessen frühere Fassungen in zwei aufeinander folgenden Entscheidungen der Curtea Constituțională România (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) für verfassungswidrig erklärt wurden(23). Die rumänische Regierung bestätigte, dass im Gegensatz zu den ersten beiden Entwürfen die dritte Fassung des Gesetzes vom Verfassungsgericht für verfassungsgemäß erklärt wurde(24).

55.      Zusätzlich zu den erwähnten Änderungen des Gesetzes Nr. 303/2004 wurde das Gesetz Nr. 317/2004 über den Consiliul Superior al Magistraturii (Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte, im Folgenden: Oberster Richterrat) durch das Gesetz Nr. 234/2018(25) geändert, indem ein neuer Artikel – Art. 741 – eingefügt wurde, der das Verfahren regelt, in dem die Justizinspektion nach Aufforderung durch das Ministerium für öffentliche Finanzen prüft, ob der Richter oder Staatsanwalt, der den Justizirrtum begangen hat, in bösem Glauben oder grob fahrlässig gehandelt hat(26).

56.      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass die Staatshaftung für einen Justizirrtum gemäß dem Gesetz Nr. 303/2004 vor der Gesetzesänderung 2018 nur dann festgestellt werden konnte, wenn die straf- oder disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit des Richters zuvor durch eine endgültige Entscheidung festgestellt worden war(27). Dann hatte der Staat in Fällen grober Fahrlässigkeit oder bösen Glaubens die Möglichkeit, eine Regressklage gegen den Richter zu erheben, ohne dass aber die dafür zuständige Behörde oder das Verfahren näher geregelt waren(28).

57.      Im Gesetz Nr. 303/2004 wurden also gegenüber der älteren Regelung der Haftung von Richtern zwei wichtige strukturelle Änderungen eingeführt. Zum einen wurden die Voraussetzungen für die Staatshaftungsklage bei einem Justizirrtum geändert. Für die Erhebung einer Klage auf staatliche Haftung ist eine endgültige straf- oder disziplinarrechtliche Entscheidung, mit der der Justizirrtum festgestellt wird, nicht länger erforderlich. Ob ein Justizirrtum vorliegt, wird unmittelbar in dem Verfahren gegen den Staat anhand der Kriterien in Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 geprüft.

58.      Zum anderen liegt die Möglichkeit einer Regressklage gegen den Richter, für dessen Entscheidung der Staat haftet, nicht länger nur im freien Ermessen des Staates ohne jegliche Vorgaben, wie es zuvor der Fall gewesen zu sein scheint. In Art. 96 Abs. 7 bis 10 wurde ein neues Verfahren eingeführt, in dem das Ministerium für öffentliche Finanzen als zuständige Behörde benannt wird. Das Ministerium muss die Angelegenheit binnen zwei Monaten an die Justizinspektion weiterleiten, die wiederum prüfen muss, ob der Justizirrtum von einem Richter in Ausübung seines Amts in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde. Im Anschluss an diesen nicht verbindlichen Bericht und nach eigener Prüfung hat das Ministerium für öffentliche Finanzen, wenn es den Justizirrtum für in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht hält, eine Regressklage gegen den Richter vor der Zivilkammer des Appellationsgerichts des Gerichtsbezirks, in dem der beklagte Richter seinen Wohnsitz hat (oder vor einem benachbarten Appellationsgericht, wenn der Beklagte Mitglied des Appellationsgerichts seines Gerichtsbezirks ist), zu erheben.

59.      In der mündlichen Verhandlung hat die rumänische Regierung bekräftigt, dass Zweck der Änderungen des Gesetzes Nr. 303/2004 sei, einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz für die Geschädigten zu gewährleisten. Betrachtet man das frühere Verfahren, könnte man sich in der Tat fragen, ob ein Geschädigter eine solche Regelung für einen fairen und effektiven Schutz seiner Rechte hielte. Wenn ich die frühere Regelung richtig verstehe, musste zunächst eine endgültige straf- oder disziplinarrechtliche Verurteilung des betreffenden Richters vorliegen, bevor der Geschädigte eine Staatshaftungsklage erheben konnte (was nun die erste Phase ist). Wenn dies tatsächlich so geregelt war, wäre es ziemlich überraschend, wenn ein Geschädigter überhaupt jemals Schadensersatz vom Staat erhalten hätte. Eine vorherige Verurteilung des Richters, die natürlich auch den Nachweis subjektiver Elemente von Betrug und/oder grober Fahrlässigkeit erfordert, stellt eine sehr hohe Hürde für die staatliche Haftung dar. Diese nähert sich – wenn sie Teil des Gesamtsystems der Haftung des Staates für Fehler bei der Ausübung hoheitlicher Gewalt ist – einer objektiven Haftung für ein bestimmtes Ergebnis an(29). Im Übrigen liegt es auch auf der Hand, dass eine solche Klage (straf- oder disziplinarrechtlich), ihre Erhebung und Betreibung, wohl kaum in Reichweite einer mutmaßlich geschädigten Person liegt, deren Rechtsschutzmöglichkeiten insoweit gänzlich vom Tätigwerden der staatlichen Behörde abhängen würden.

60.      Auch scheint die Möglichkeit für den Staat, eine Regressklage gegen einen Einzelnen zu erheben, stets Teil des geltenden Rechts gewesen zu sein. Auch wenn sie, wie ich vermute, ähnlich wie in einigen anderen Mitgliedstaaten auf dem Dachboden des Verfassungsrechts einstaubte, nur selten erforscht und in der Praxis nie in Anspruch genommen wurde. Die einzige Änderung scheint zu sein, dass – im Unterschied zur früheren Regelung, die die Möglichkeit, aber kein bestimmtes Verfahren vorsah – nunmehr ein Verfahren eingeführt wurde.

b)      Bewertung durch die internationalen Institutionen und deren Empfehlungen

61.      Der Bericht der Kommission im Rahmen des VZÜ enthielt insoweit zwar keine bestimmte Empfehlung, nannte aber unter den problematischen Aspekten der Reformen der Justizgesetze auch die neuen Vorschriften über die materiell-rechtliche Haftung von Richtern(30) und griff damit die Bedenken der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) und der Staatengruppe des Europarats gegen Korruption (GRECO) auf(31). Die durch das Gesetz Nr. 242/2018 eingeführten Vorschriften über die zivilrechtliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten stießen nämlich sowohl bei der Venedig-Kommission als auch bei der GRECO und beim Beirat der Europäischen Richter (CCJE) des Europarats auf Kritik.

62.      Die Venedig-Kommission gelangte zu dem Schluss, dass der jetzige Wortlaut von Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 die Hauptanforderungen an eine zufriedenstellende Definition des Justizirrtums erfülle(32). Problematisch ist in ihren Augen jedoch, dass das Plenum des Obersten Richterrats an dem Verfahren nicht beteiligt(33) und dem Ministerium für öffentliche Finanzen die zentrale Rolle zugewiesen ist. Denn zum einen sei das Ministerium für öffentliche Finanzen nicht Teil der Justiz und zum anderen gebe es keine Kriterien für die „eigene Prüfung“, auf die – zusammen mit dem Bericht der Justizinspektion – das Ministerium seine Entscheidung über die Erhebung der Regressklage gegen den Richter stützen solle. Die Venedig-Kommission stellt zwar fest, dass „das Ministerium für öffentliche Finanzen, da es um öffentliche Gelder aus dem Staatshaushalt geht, insoweit tatsächlich der Kläger sein kann“, hebt jedoch hervor, dass das Ministerium indes „an der Prüfung der Frage, ob ein Justizirrtum vorliegt und worauf er zurückzuführen ist, nicht beteiligt sein“ solle(34).

63.      Die Venedig-Kommission wies außerdem darauf hin, dass die Nichtbeteiligung des Obersten Richterrats im Zusammenhang mit anderen Vorschriften wie z. B. der Errichtung der Secția pentru investigarea infracțiunilor din justiție (Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz) zu sehen sei. Zusammengenommen könnten diese verschiedenen Aspekte dazu führen, dass Richter unter Druck stünden und die Unabhängigkeit der Justiz unterlaufen würde(35). Die Venedig-Kommission stellte daher fest, dass es zu bevorzugen wäre, wenn die auf die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung des Richters gerichtete Regressklage erst nach Abschluss des disziplinarrechtlichen Verfahrens vor dem Obersten Richterrat erhoben werden dürfte(36).

64.      In ihrem ersten Bericht empfahl die GRECO, dass die die Haftung von Richtern für Justizirrtümer betreffenden Änderungen „überarbeitet werden sollten, um eine hinreichende Klarheit und Vorhersehbarkeit dieser Regelung zu gewährleisten und zu vermeiden, dass sie zu einer Bedrohung für die Justiz wird“(37). Bei der Prüfung des endgültigen Wortlauts von Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004 in einem zweiten Bericht kam die GRECO zu dem Schluss, dass ihre Empfehlung nicht umgesetzt worden sei. Die mit dieser Vorschrift eingeführte Regelung über die persönliche Haftung sei bedenklich, weil sie aufgrund ihrer Einschüchterungswirkung die Unabhängigkeit der Richter gegenüber der Exekutive bedrohe. Unter Berufung auf die von ihr vertretene Auffassung, dass Richter „funktionale Immunität“ genießen sollten, führte die GRECO aus, dass Justizirrtümer idealerweise im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens von einer höheren Instanz oder als Disziplinarsache innerhalb der Justiz behandelt werden sollten. Für problematisch hielt die GRECO, dass die Regressklage des Staates verpflichtend sei, dass die Behörden keine weiteren Mechanismen zum Schutz der Richter vor politischem Druck vorgesehen hätten, dass der Oberste Richterrat nicht am Verfahren beteiligt sei und dass das Ministerium für öffentliche Finanzen bei der Prüfung der Frage, ob ein Justizirrtum vorliege und worauf er zurückzuführen sei, eine zentrale Rolle spiele(38).

65.      Neben den bereits von der Venedig-Kommission und der GRECO festgestellten Punkten betonte schließlich der CCJE seine Befürwortung einer vollständigen funktionalen Immunität der Richter. Seiner Ansicht nach sollte ausschließlich böser Glaube eine Haftung des Richters für einen Justizirrtum begründen, während grobe Fahrlässigkeit nicht zu einer materiell-rechtlichen Haftung von Richtern führen sollte, da die Auslegung und Anwendung dieses Begriffs in der Praxis Schwierigkeiten bereitet(39). Der CCJE empfahl, die Definition des Justizirrtums durch eine eindeutige Erklärung zu ergänzen, wonach die Richter nur dann hafteten, wenn in einem ordnungsgemäßen Verfahren festgestellt worden sei, dass sie in bösem Glauben oder grob fahrlässig gehandelt hätten.

c)      Wie funktioniert die Regelung (in der Praxis)?

66.      Ich habe den nationalen und den internationalen Kontext recht ausführlich dargestellt, um zwei wichtige Aspekte herauszustellen und einen weiteren Aspekt hinzuzufügen.

67.      Erstens der nationale Kontext: Die Änderungen des Gesetzes Nr. 303/2004 erfolgten während einer – wie es scheint – allgemein recht schwierigen Phase für die rumänische Justiz(40). Wenn ein Gericht sein Urteil nicht nur auf den zeitlichen Zusammenhang stützen will, muss stets eingehend geprüft werden, was genau geändert wurde und warum. Bei näherer Betrachtung wird zum einen deutlich, dass die Absicht bestand, die Staatshaftung von der Notwendigkeit einer vorherigen – straf- oder disziplinarrechtlichen – Verurteilung eines Richters zu trennen. Dies leuchtet in Anbetracht der unterschiedlichen Ziele und Zwecke der beiden Verfahren durchaus ein, vor allem wenn man der Überzeugung ist, dass es möglich sein sollte, dass Einzelne wenigstens hin und wieder eine Entschädigung aufgrund staatlicher Haftung erhalten. Zum anderen wurde ein vorhersehbarer Rahmen für die Regressklage geschaffen, die immer möglich war, für die es aber bisher kein bestimmtes Verfahren und damit keine Kontrolle gegeben zu haben scheint.

68.      Zweitens: Welche Probleme werfen diese Änderungen auf? Bei sorgfältiger Auswertung der wertvollen Empfehlungen der verschiedenen internationalen Institutionen, die im vorherigen Abschnitt zitiert sind, zeigt sich, dass diese Empfehlungen normativ, prospektiv und in diesem Sinne politisch sind. Insbesondere scheint der CCJE eine eindeutig anerkannte normative Idee davon zu haben, welchen Inhalt Gesetze, die von Staaten in diesem Bereich erlassen werden, aufweisen sollten. So wird in diesen Berichten ein Staat im Wesentlichen dafür gerügt, dass sein Regelungsmodell nicht den Hoffnungen und Erwartungen eines internationalen Gremiums entspricht, und darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit des Missbrauchs bestehe.

69.      Damit soll gewiss nicht in Abrede gestellt werden, dass solche Berichte eine wertvolle Unterstützung für einen Staat sein können, der nach geeigneten Regelungsmodellen sucht. Vielmehr soll betont werden, dass der Gerichtshof eine andere Art von Prüfung vorzunehmen hat und sich nicht auf bereits im Vorfeld vertretene normative Vorstellungen, die die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats übernehmen soll, stützen darf. Die Prüfung des Gerichtshofs darf nur auf nachträglich festgestellte Tatsachen oder zumindest auf bei vernünftiger Betrachtung plausibles Vorbringen zur tatsächlichen Anwendung und Funktionsweise einer Regelung gestützt werden, was dann zu der – wenn auch abstrakten, jedoch klar begründeten – Feststellung rechtlicher Unvereinbarkeit wegen Verletzung einer Rechtspflicht führen kann.

70.      Gerade wenn es darum geht, konkret auf die spezifischen Probleme eines solchen Modells der Staatshaftung einzugehen, an die sich eine Regressklage gegen einen einzelnen Richter anschließen kann, sind die zitierten Berichte der internationalen Gremien auffallend dünn. Was sich stattdessen zeigt, bringt vielleicht die Empfehlung des CCJE am besten zum Ausdruck, die im Wesentlichen besagt, dass eine Regelung, die die „funktionale Immunität“ der Richter und Staatsanwälte nicht vollumfänglich anerkennt, problematisch sei. Dies ist in der Tat eine eindeutig formulierte normative Vorstellung davon, wie Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit in ein Gleichgewicht zu bringen sind(41). Daran lässt sich jedoch nicht festmachen, inwiefern ein Modell wie das des hier betroffenen Mitgliedstaats – soll das Standardprinzip der nationalen verfahrensrechtlichen und institutionellen Autonomie nicht zu einer leeren Beschwörungsformel werden – im Einzelnen mit den Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit unvereinbar ist.

71.      Drittens ist schließlich außerdem von Bedeutung, dass die streitigen nationalen Vorschriften – wie von der rumänischen Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt – in der Praxis bisher noch nicht angewandt wurden. Nach meiner Kenntnis gibt es bisher keine Fälle, die in die zweite Phase vorgerückt sind, in denen also, nachdem ein Geschädigter erfolgreich Schadensersatz vom Staat eingeklagt hat, das Ministerium für öffentliche Finanzen im Anschluss an einen Bericht der Justizinspektion eine Regressklage gegen einen einzelnen Richter erhoben hätte.

72.      Bei einer im Jahr 2018 eingeführten Regelung ist das nachvollziehbar. Dies hat jedoch zwei weitere Konsequenzen. Zum einen können bei der Prüfung in der Sache, die ich im folgenden Abschnitt vornehmen werde, in Bezug auf einige Aspekte der Regelung nur Vermutungen angestellt werden, da es keine praktische Anwendung gibt.

73.      Zum anderen schränkt dies die Art der im vorliegenden Fall möglichen Vereinbarkeitsprüfung in struktureller Hinsicht ein, da dem Gerichtshof nichts anderes übrig bleibt, als das Konzept – ein Modell, das nur auf dem Papier existiert – zu untersuchen. Wie in meinen parallelen Schlussanträgen ausgeführt(42), kann ein Gericht eine im Wesentlichen abstrakte Vereinbarkeitsprüfung auf drei Arten vornehmen: (i) anhand des Konzepts oder des „reinen Textes“, (ii) anhand einer Kombination von Texten oder anhand des Textes in seiner Anwendung, wobei das Verständnis bestimmter Elemente des abstrakten Modells korrigiert wird, wenn sie mit anderen problematischen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats kombiniert oder durch ihre Anwendung in der Praxis nuanciert werden, oder schließlich (iii) nur anhand der Praxis.

74.      Da es keine Praxis (iii) gibt und so gut wie keine Information zu (ii), kann die nachstehende Würdigung nur aus (i) bestehen, wobei gelegentlich (ii) gestreift wird, wenn mögliche Elemente des Konzepts mit anderen Elementen nationaler Regelungen oder Verfahren kombiniert werden. Es bleibt jedoch dabei, dass, wenn es keine Anwendungspraxis gibt und – auch im Vorlagebeschluss des nationalen Gerichts in dieser Rechtssache – keine sich darauf beziehenden Argumente, im Wesentlichen kein fassbarer Kontext existiert, der die Funktionsweise des Modells, wie sie „auf dem Papier“ beschrieben ist, widerlegen könnte.

2.      Würdigung

75.      Abgesehen von der grundsätzlichen Vorgabe, dass es eine Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch von einem Gericht begangene Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, geben muss, und von der effektiven Angleichung der Haftungsvoraussetzungen(43) enthält das Unionsrecht keine weiteren Regeln zur staatlichen Haftung für Justizirrtümer im Allgemeinen oder zur zivilrechtlichen Haftung von Richtern.

76.      Ausgangspunkt ist daher der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und deren Zuständigkeit für die Organisation der Justiz, einschließlich der Regeln zur Haftung bei Justizirrtümern. Dies befreit die Mitgliedstaaten allerdings nicht davon, ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht erfüllen zu müssen, insbesondere diejenigen aus Art. 47 Abs. 2 der Charta (wenn ihr Handeln in deren Anwendungsbereich fällt) und in jedem Fall aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV(44).

77.      Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werde ich zunächst auf die mit der Definition des Justizirrtums in Staatshaftungsverfahren verbundenen Probleme eingehen (a). Danach werde prüfen, welche Folgen die Feststellung eines solchen Justizirrtums auf ein sich eventuell anschließendes Verfahren hat, in dem der Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit auf Feststellung der zivilrechtlichen Haftung eines einzelnen Richters klagt (b).

a)      Definition des Justizirrtums im Rahmen der Staatshaftung

78.      Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004 in der geänderten Fassung sieht in Abs. 1 den Grundsatz einer staatlichen Haftung für Justizirrtümer als Ausgangspunkt vor. In Abs. 2 ist geregelt, dass die staatliche Haftung die (darauf gründende) Haftung des Richters, der sein Amt in bösem Glauben oder grob fahrlässig ausgeübt hat, nicht ausschließt, auch wenn der Richter nicht im Amt ist. Gemäß Abs. 5 kann der Geschädigte nur gegen den Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, Klage erheben.

79.      Darüber hinaus enthält Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 eine Definition des Justizirrtums, der in zwei verschiedenen Fällen auftreten kann: (a) bei Prozesshandlungen im Rahmen von Gerichtsverfahren und (b) beim Erlass einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung. In beiden Fällen ist der Justizirrtum durch drei Merkmale gekennzeichnet: (i) die Prozesshandlung wurde unter offensichtlichem Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften des materiellen oder des Verfahrensrechts vorgenommen oder die endgültige Entscheidung steht in offensichtlichem Widerspruch zum Gesetz oder zum Sachverhalt, wie er sich aus der Beweiserhebung in der Rechtssache ergibt; (ii) die Prozesshandlung oder die endgültige Entscheidung führt zu einer schwerwiegenden Verletzung der Rechte, Freiheiten oder berechtigten Interessen einer Person, und (iii) verursacht einen Schaden, der nicht durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelf wiedergutgemacht werden konnte.

80.      Nach dieser Definition ist eine staatliche Haftung für Justizirrtümer sowohl als Folge von Prozesshandlungen als auch aufgrund des Inhalts einer endgültigen Gerichtsentscheidung, einschließlich der Rechtsauslegung und der Beweiswürdigung, vorgesehen. Wie die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zur Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ausgeführt hat, lässt sich die Staatshaftungsregelung, bei der es nicht auf das Verhalten (subjektiver Tatbestand) des Richters (böser Glauben oder grobe Fahrlässigkeit) ankommt, als „unmittelbar und objektiv“ einstufen.

81.      In diesem Zusammenhang, also in der ersten Phase betreffend die Staatshaftung, stellt das vorlegende Gericht die Frage nach der Vereinbarkeit der vorstehend dargestellten Definition des Justizirrtums mit dem Unionsrecht. Auch wenn der Vorlagebeschluss keinerlei Gründe für die diesbezüglichen Zweifel des vorlegenden Gerichts enthält, geht aus der Formulierung der vierten Vorlagefrage hervor, dass das vorlegende Gericht die Definition in Art. 96 Abs. 3 Buchst. a des Gesetzes Nr. 303/2004 für zu lapidar und abstrakt hält. Insbesondere führt das vorlegende Gericht in dieser Vorlagefrage aus, dass die Vorschrift weder die Art und den Anwendungsbereich der Rechtsvorschriften, gegen die verstoßen worden sei und die dem Justizirrtum zugrunde lägen, näher umschreibe, noch die Modalitäten, die Frist und das Verfahren zur Feststellung eines Verstoßes gegen die gesetzlichen Vorschriften sowie die für die Feststellung eines solchen Verstoßes zuständige Stelle festlege. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts begründet dies die Gefahr, dass mittelbar Druck auf die Justiz ausgeübt werde.

82.      Die aus dem Wortlaut der fünften Vorlagefrage hervorgehenden Bedenken des vorlegenden Gerichts in Bezug auf Art. 96 Abs. 3 Buchst. b des Gesetzes Nr. 303/2004 beruhen darauf, dass die Vorschrift nicht im Einzelnen definiert, was unter „Widerspruch“ zu den einschlägigen Bestimmungen oder dem Sachverhalt zu verstehen ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts begründet dies die Gefahr, dass die Auslegung der Gesetze und die Beweisaufnahme durch das Gericht blockiert würden.

83.      Ich stimme der von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vertretenen Ansicht zu, dass die genannte Definition als solche nicht problematisch erscheint. Für sich allein betrachtet, kann ich nicht erkennen, wie diese Definition des Justizirrtums dazu geeignet sein könnte, die Gefahr einer Ausübung mittelbaren Drucks zu erzeugen. Das einzige potenzielle Problem bei der abstrakten Definition des Justizirrtums in dieser (eher engen) Formulierung für die Zwecke der Staatshaftung wäre eher das Gegenteil von dem, was das vorlegende Gericht angedeutet hat.

84.      Erstens ist in den Mitgliedstaaten – trotz nationaler Unterschiede auf diesem Gebiet – eine staatliche Haftung für das Handeln der Justiz grundsätzlich allgemein anerkannt(45). Das Unionsrecht schließt nicht aus, dass der Staat für Schäden haftbar gemacht wird, die die Justiz in Wahrnehmung ihrer Aufgaben verursacht(46). Ganz im Gegenteil fordert das Unionsrecht eine Staatshaftung für Verletzungen von (zumindest) Unionsrecht durch justizielles Handeln. Wie der Gerichtshof im Urteil Köbler festgestellt hat, kann „das Bestehen eines Rechtswegs, der unter bestimmten Voraussetzungen die Wiedergutmachung der nachteiligen Auswirkungen einer fehlerhaften Gerichtsentscheidung ermöglicht, auch als Bekräftigung der Qualität einer Rechtsordnung und damit schließlich auch der Autorität der Judikative angesehen werden“(47).

85.      Zweitens enthält die hier in Rede stehende Definition verschiedene Elemente, die den Anwendungsbereich eines zur Staatshaftung führenden Justizirrtums begrenzen(48). Nur offensichtliche Fehler scheinen nach dieser Definition als Justizirrtum eingestuft zu werden („offensichtlicher Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften des materiellen oder des Verfahrensrechts“ bzw. eine Entscheidung, die „offensichtlich mit dem Gesetz oder dem Sachverhalt in Widerspruch steht“). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bei anderer Gelegenheit festgestellt, dass die Beschränkung der staatlichen Haftung auf den Ausnahmefall, dass das Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat, gewährleistet, dass die Besonderheit der richterlichen Funktion sowie die berechtigten Belange der Rechtssicherheit berücksichtigt werden(49). Zusätzlich wird der Begriff des Justizirrtums in der Definition durch das Merkmal der Schwere des entstandenen Schadens eingeschränkt („wodurch die Rechte, Freiheiten oder berechtigten Interessen einer Person schwerwiegend verletzt werden“). Außerdem ist ein Kausalzusammenhang erforderlich („Verursachung eines Schadens“). Ferner ist eine zusätzlich einschränkende Anforderung eingefügt, nämlich dass der Schaden „durch einen ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsbehelf“ nicht wiedergutgemacht werden konnte.

86.      Legt man diese Kriterien nach ihrem Wortlaut aus, scheinen die Voraussetzungen für die staatliche Haftung in der Praxis auf letztinstanzliche Entscheidungen beschränkt zu sein, bei denen die begangenen offensichtlichen Fehler unmittelbar zu einem schwerwiegenden Schaden für den Einzelnen geführt haben. Wäre dies der Fall, wäre die Frage, die zu stellen wäre, nicht zwangsläufig, ob diese Voraussetzungen zu weit sind und damit möglicherweise dazu missbraucht werden könnten, Druck auf den einzelnen Richter bei dessen einzelnen Entscheidungen auszuüben, sondern in Bezug auf die staatliche Haftung, ob diese tatsächlich eher strengen Haftungsvoraussetzungen es nicht für den Einzelnen außerordentlich erschweren oder in der Praxis unmöglich machen, vom Staat Schadensersatz zu erlangen.

87.      Die Existenz einer Haftung für Schäden, die bei der Ausübung justizieller Aufgaben entstehen, steht zwangsläufig im Zusammenhang mit dem Zugang zu den Gerichten und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf(50). Angesichts dessen können – in Ermangelung der Möglichkeit einer unmittelbaren zivilrechtlichen Haftungsklage gegen den Richter – zu strenge Staatshaftungsvoraussetzungen als solche problematisch werden.

88.      So hat der Gerichtshof im Urteil Traghetti del Mediterraneo festgestellt, dass „zwar nicht ausgeschlossen werden kann, dass das nationale Recht die Kriterien hinsichtlich der Natur oder des Grades des Verstoßes festlegt, die erfüllt sein müssen, damit der Staat für einen einem letztinstanzlichen nationalen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das [Unions]recht haftet, doch können mit diesen Kriterien auf keinen Fall strengere Anforderungen aufgestellt werden, als sie sich aus der Voraussetzung eines offenkundigen Verstoßes gegen das geltende Recht ergeben“(51).

89.      Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass der unionsrechtliche Grundsatz der staatlichen Haftung für Schäden, die dem Einzelnen durch einen einem letztinstanzlichen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden sind, nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die Staatshaftung für Schäden ausschließen, wenn sich der Verstoß aus einer gerichtlichen Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung ergibt, und nationalen Rechtsvorschriften, die diese Haftung auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzen, sofern diese Begrenzung dazu führt, dass die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats in weiteren Fällen ausgeschlossen ist, in denen ein offenkundiger Verstoß gegen das anwendbare Recht begangen wurde(52). Dieser Grundsatz steht auch nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils des Gerichts verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist(53).

90.      Drittens wird vom nationalen Gericht der lapidare und abstrakte Charakter der Definition des Justizirrtums kritisiert. Ich muss zugeben, dass mich das etwas verwundert. Wie anders kann der Justizirrtum in seiner unüberschaubaren Vielfalt definiert werden? Doch wohl nicht durch eine abschließende Aufzählung von Handlungen, die als Justizirrtum gelten sollen. Eine solche Vorschrift würde sich bald in ein Telefonbuch verwandeln – ständig würden neue Handlungen entdeckt, die noch nicht in der Liste enthalten sind. Daher kann die Definition des Justizirrtums – ähnlich wie z. B. die Definition des Disziplinarvergehens eines Richters – strukturell nur eine allgemeine und recht abstrakte Definition unter Rückgriff auf unbestimmte Rechtsbegriffe sein(54). Dies unterstreicht wiederum die Bedeutung der Auslegung durch die zuständigen nationalen Gerichte und Behörden und die Kenntnis davon. Eine solche Auslegungspraxis gibt es bisher jedoch nicht oder sie ist dem Gerichtshof jedenfalls nicht zur Kenntnis gebracht worden.

91.      Demzufolge bin ich nicht der Ansicht, dass der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 47 Abs. 2 der Charta und in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert ist, grundsätzlich einer Definition des Justizirrtums entgegensteht, die für die Zwecke der Staatshaftung aus den in dem vorliegenden Verfahren geschilderten Tatbestandsmerkmalen besteht.

b)      Auswirkungen auf die zivilrechtliche Haftung der Richter

1)      Allgemeine Erwägungen

92.      Die Trennung der Regelung für die Staatshaftung einerseits von der persönlichen – zivil- oder disziplinarrechtlichen – Haftung der Richter andererseits ist aus Sicht des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit von entscheidender Bedeutung. Die Einführung eines Systems der staatlichen Haftung bei Justizirrtümern stellt einen Kompromiss zwischen dem Gebot effektiver Rechtsbehelfe bei Justizirrtümern und der Unabhängigkeit der Justiz dar. Es ermöglicht den Geschädigten, Schadensersatz zu erlangen, und schützt die Richter davor, dass die Geschädigten gerichtlich unmittelbar gegen sie persönlich vorgehen.

93.      In der Rechtssache Köbler sah sich der Gerichtshof bereits mit Argumenten der Mitgliedstaaten konfrontiert, wonach die Ausweitung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Staatshaftung auf Schäden, die durch Handlungen oder Unterlassungen der Justiz verursacht werden, die richterliche Unabhängigkeit gefährden könnte. In Erwiderung auf diese Argumente hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „es bei dem genannten Haftungsgrundsatz nicht um die persönliche Haftung des Richters [geht], sondern um die des Staates. Es ist nicht ersichtlich, dass die Unabhängigkeit eines letztinstanzlichen Gerichts durch die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung des Staates für [union]srechtswidrige Gerichtsentscheidungen feststellen zu lassen, gefährdet würde“(55). Wie Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache festgestellt hat, sollte sich die Frage der richterlichen Unabhängigkeit nicht im Zusammenhang mit der Regelung über die Staatshaftung stellen, sondern im Zusammenhang mit der Einführung einer Regelung über die persönliche Haftung von Richtern(56).

94.      Erst die zweite Phase, in der es um eine etwaige persönliche Haftung der Richter geht, ist nämlich für die Frage der richterlichen Unabhängigkeit entscheidend. Dies soll nicht heißen, dass der ersten Phase betreffend die staatliche Haftung keinerlei Bedeutung zukommt. Aber die Bedrohung ist hier weniger direkt. Bei der Prüfung der zweiten Phase verlangt der externe Aspekt des unionsrechtlichen Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit, dass die Regelung über die zivilrechtliche Haftung von Richtern, über die der Staat den einem Geschädigten gezahlten Schadensersatz unmittelbar zurückfordern kann, sicherstellt, dass die Richter vor Druck geschützt sind, der die Unabhängigkeit des Urteils gefährden und ihre Entscheidungen beeinflussen könnte(57). In Anbetracht der elementaren Verbindung zwischen den beiden Verfahren – das zweite kann nicht ohne das erste existieren – müssen auch der Grad des Zusammenhangs zwischen ihnen sowie die spezifischen Modalitäten hinsichtlich der materiell-rechtlichen Voraussetzungen und der Verfahrensgarantien für die Richter im Rahmen des Verfahrens gegen den Staat berücksichtigt werden.

95.      Grundsätzlich bedeutet die richterliche Unabhängigkeit nicht, dass die Richter Immunität vor zivil- oder disziplinarrechtlicher Haftung genießen. Dass der Staat in bestimmten Fällen Regress nehmen kann, wird meiner Ansicht nach durch den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht ausgeschlossen. Diese Möglichkeit führt ein Element der richterlichen Rechenschaftspflicht ein, das auch für das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz von entscheidender Bedeutung ist.

96.      Dieser Ansatz findet breite Unterstützung im vergleichenden Recht. Mit Ausnahme der Mitgliedstaaten aus dem Rechtskreis des Common Law, in denen tatsächlich traditionell eine richterliche Immunität zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit existiert(58), ist – wie bereits ausgeführt – eine staatliche Haftung für durch die Justiz verursachte Schäden weithin anerkannt. Insbesondere geben mehrere Mitgliedstaaten, in denen eine solche Staatshaftung vorgesehen ist, (wenn auch nicht alle) dem Staat die Möglichkeit, die gezahlten Beträge bei dem jeweiligen Richter einzufordern, und zwar in Fällen, in denen erschwerende Umstände wie böser Glaube oder grobe Fahrlässigkeit hinzukommen.

97.      Die nationalen Lösungen für die zivilrechtliche und persönliche Haftung der Richter weisen große Unterschiede auf. In einigen (kontinentaleuropäischen) Rechtsordnungen wird auf die Richter die allgemeine Regelung über den Regress bei Beamten angewandt. In anderen sind zusätzliche Anforderungen und Garantien, wie z. B. ein straf- oder disziplinarrechtliches Urteil, oder Obergrenzen für den vom Richter zu tragenden Schadensersatzbetrag vorgesehen. In wieder anderen Rechtsordnungen kann in den straf- oder disziplinarrechtlichen Verfahren ein anteiliger Regress für den vom Staat gezahlten Schadensersatz vorgenommen werden(59). Diese Unterschiede zeigen, dass das Gleichgewicht zwischen Verantwortlichkeit und richterlicher Unabhängigkeit in den verschiedenen Rechtsordnungen sehr unterschiedlich aufgefasst wird – abhängig von rechtsgeschichtlichen Traditionen und verfassungsrechtlichen Konzepten im Zusammenhang mit den Grundsatz der Gewaltenteilung und den entsprechenden Kontrollmechanismen. Der vielleicht einzige gemeinsame Nenner ist, dass solche Fälle in der Praxis nicht häufig vorkommen und die nationalen Regeln zur persönlichen Haftung der Richter tatsächlich auf dem Dachboden des Verfassungsrechts einstauben.

98.      Angesichts dieser großen Vielfalt haben verschiedene internationale Gremien insoweit bestimmte Standards vorgeschlagen. Abhängig von Art und Charakter des jeweiligen internationalen Gremiums unterscheiden sich diese Empfehlungen jedoch. Die Trennlinie scheint, vereinfacht gesagt, zwischen den Standards, die von Richtern selbst auf internationaler Ebene entworfen wurden, und den Standards zu verlaufen, die von Gremien oder Institutionen vorgeschlagen wurden, die mit Mitgliedern besetzt sind, die bezüglich des beruflichen Hintergrunds mehr Diversität aufweisen. Auf der einen Seite steht z. B. die klare Position des CCJE, der für eine weitreichende oder sogar vollständige funktionale Immunität eintritt(60). Auf der anderen Seite hat die Venedig-Kommission ihre Ansicht in der Stellungnahme Nr. 924/2018 dahin zusammengefasst, dass „Richter, wenn sie ihr Richteramt gemäß den gesetzlich festgelegten beruflichen Standards ausüben, grundsätzlich keinem Regress ausgesetzt werden sollten (funktionelle Immunität)“ und dass „eine Haftung der Richter nur dann zulässig ist, wenn Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit seitens des Richters vorliegt“(61).

99.      Allerdings sollten, was diesen spezifischen Punkt angeht, die Positionen einiger internationaler Gremien, insbesondere derjenigen, bei denen es keine Kontrolle durch politische Prozesse gibt, in denen die anderen staatlichen Gewalten auf internationaler Ebene repräsentiert sind und ein wirksames Mitspracherecht haben, mit (gehöriger) Vorsicht betrachtet werden. Ein gesundes Gleichgewicht zwischen richterlicher Unabhängigkeit und richterlicher Verantwortlichkeit dürfte sich wohl eher aus einem häufig schmerzhaften und langwierigen Dialog oder „Multilog“ im Rahmen der Gewaltenteilung ergeben, bei dem die bisweilen einseitigen Vorstellungen einer Gewalt von den anderen Gewalten kontrolliert und ausgeglichen werden.

100. Im Ergebnis steht nach meiner Auffassung der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit für sich genommen nicht der Möglichkeit entgegen, dass der Staat, wenn er für Schäden haftet, die in Ausübung des Richteramts verursacht wurden, in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit die gezahlten Beträge von dem betreffenden Richter zurückfordert. Darüber hinaus lässt sich angesichts der Vielfalt der nationalen Haftungsmodelle in den Mitgliedstaaten schlichtweg nicht vertreten, dass der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit eine bestimmte Haftungsregelung vorschreibt, die z. B. an eine bereits erfolgte strafrechtliche Verurteilung oder verhängte disziplinarrechtliche Sanktion anknüpfen oder sogar vorsehen würde, dass eine richterliche Haftung nur als eine Art der Sanktion in diesen Verfahren ausgelöst werden kann.

101. Stattdessen kommt es darauf an, wie die gewählte Regelung beschaffen ist und welche Garantien sie enthält. Unabhängig von der Art des Modells müssen die Regeln über die zivilrechtliche Haftung von Richtern im Zusammenhang mit dem Regress des Staates für Zahlungen an den Geschädigten sicherstellen, dass die Richter vor Druck geschützt sind, der die Unabhängigkeit des Urteils gefährden und ihre Entscheidungen beeinflussen könnte. Aus den genannten Gründen und mangels einer Anwendungspraxis auf nationaler Ebene, die auf einen Missbrauch hindeuten könnte, konzentriere ich mich im Folgenden allein auf eine abstrakte Prüfung des Regelungskonzepts verbunden mit dem angesprochenen Zusammenspiel der Regelung über die richterliche Haftung mit anderen jüngst im Zuge der Reform der Justizgesetze von 2018 erlassenen Regelungen(62).

2)      Die streitigen Elemente

102. Wie bereits im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Vorlagefragen festgestellt, fehlt es im Vorlagebeschluss an Angaben zu den Gründen, die zur Vorlage der Fragen geführt haben. So hat das vorlegende Gericht, obwohl das Ausgangsverfahren die staatliche Haftung für eine mutmaßlich rechtswidrige Freiheitsentziehung betrifft, nicht erläutert, in welchem Verhältnis die in Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 enthaltene allgemeine Definition des Justizirrtums zu den besonderen Bestimmungen über die Staatshaftung in strafrechtlichen Verfahren in den Art. 539 und 541 der Strafprozessordnung steht.

103. Dies ist der Grund für meinen Vorschlag, die siebte Vorlagefrage für unzulässig zu erklären, und ist auch für die Beantwortung der Fragen 4 bis 6 von Belang. Daher beruht meine nachstehende Analyse auf der Prämisse, dass Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 für das Ausgangsverfahren tatsächlich relevant ist.

104. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind drei verschiedene Fragenkomplexe zu untersuchen, die sich aus den Erklärungen der Parteien sowie aus der mündlichen Verhandlung ergeben haben, und zwar, ob die subjektiven Elemente der zivilrechtlichen Haftung von Richtern rechtmäßig an den bösen Glauben oder grobe Fahrlässigkeit anknüpfen dürfen (i), ob das Verfahren, in dem über die Erhebung einer Regressklage entschieden wird, spezifischen Garantien unterliegt (ii) und ob in diesem Verfahren – angesichts der engen Verbindung zum Verfahren, in dem über die Staatshaftung entschieden wird – die Verteidigungsrechte der betroffenen Richter gewahrt werden (iii).

i)      Böser Glauben oder grobe Fahrlässigkeit

105. Art. 96 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 303/2004 beschränkt eine Regressklage des Staates gegen den Richter, der den Justizirrtum begangen hat, auf Fälle von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit. Diese Begriffe werden in Art. 991 des Gesetzes Nr. 303/2004 definiert, einer Vorschrift, die sich in dem Abschnitt des Gesetzes findet, der die disziplinarrechtliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten betrifft. Nach meinem Verständnis muss für eine Haftung des Staates in der ersten Phase ein Justizirrtum vorliegen, der alle in Art. 96 Abs. 3 Buchst. a oder in Art. 96 Abs. 3 Buchst. b des Gesetzes Nr. 303/2004 festgelegten Kriterien erfüllt. Im Anschluss daran muss für eine erfolgreiche Regressklage gegen den Richter in der zweiten Phase zusätzlich zu diesen Voraussetzungen ein subjektives Element bei dem betreffenden Richter vorliegen, nämlich entweder böser Glaube oder grobe Fahrlässigkeit.

106. Trifft dies so zu, muss ich den Vorbringen der Kommission und der rumänischen Regierung zu diesem Punkt zustimmen. Dass eine Regressklage in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit möglich ist, stellt wiederum für sich genommen kein Problem dar. Diese Begriffe sind gesetzlich definiert, und diese Definitionen scheinen von den allgemein anerkannten Definitionen dieser Begriffe nicht abzuweichen. Gemäß Art. 991 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 303/2004 liegt böser Glaube vor, wenn der Richter „Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts wissentlich verletzt und dabei beabsichtigt oder in Kauf nimmt, einer Person Schaden zuzufügen“. Gemäß Art. 991 Abs. 2 liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn der Richter „die Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts in fahrlässiger, schwerwiegender, unbestreitbarer und unentschuldbarer Weise missachtet“. Darüber hinaus scheint die Ausübung des Amtes in bösem Glauben oder auf grob fahrlässige Weise – unabhängig von einer möglichen strafrechtlichen Verantwortung ein Disziplinarvergehen nach Art. 99(t) des Gesetzes darzustellen, auch wenn die Handlung nicht die Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt.

107. Vor dem Gerichtshof ist weder erläutert worden, was genau an dieser Definition falsch sein soll, noch ist gezeigt worden, dass die richterliche Auslegung dieser Begriffe Zweifel hinsichtlich der praktischen Anwendung weckt oder auf einen Missbrauch hindeutet. Nochmals: Wenn das Argument, dass eine „echte richterliche Unabhängigkeit“ eine vollumfängliche funktionelle Immunität verlangt, nicht verfängt, steht die Anerkennung einer Haftung für in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursachte Schäden im Einklang mit dem, was der allgemein anerkannte Standard zu sein scheint, wie auch von der Venedig-Kommission betont(63).

108. Ich kann außerdem nicht erkennen, weshalb die nach dem unionsrechtlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gebotenen Anforderungen von diesem Gleichgewicht abweichen sollten. Sind Richter wirksam vor direkten Haftungsklagen geschützt, weil die Geschädigten nur über den Weg der Feststellung der Staatshaftung Schadensersatz erlangen können, führt die noch strengeren Voraussetzungen unterliegende Möglichkeit eines Regresses durch den Staat in eklatanten Fällen einer missbräuchlichen Machtausübung durch den Richter(64) und bei grober Fahrlässigkeit dazu, dass für die Haftung der Justiz ein Sorgfaltsmaßstab gilt, bei dem nur schwere Verstöße eine zivilrechtliche Haftung des Richters begründen.

109. Indes scheint im Großen und Ganzen der Streitpunkt nicht so sehr bei den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine zivilrechtliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten zu liegen, sondern bei dem Verfahren, das es dem Ministerium für öffentliche Finanzen ermöglicht, als Kläger in der zweiten Phase Klage zu erheben. Zu diesem Punkt komme ich im Folgenden.

ii)    Das Ministerium für öffentliche Finanzen als Kläger?

110. Das vorlegende Gericht hat ausgeführt, dass die in Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 festgelegten Regeln in der zweiten Phase, in der festzustellen sei, ob der Richter oder Staatsanwalt den Justizirrtum in bösem Glauben oder grob fahrlässig begangen habe, offensichtlich willkürlich seien, da allein der Staat darüber bestimme, ob der Richter oder Staatsanwalt hafte.

111. Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass die neue Regelung der zivilrechtlichen Haftung von Richtern und Staatsanwälten problematisch sei, wenn der Exekutive in Bezug auf die Erhebung der Regressklage ein Ermessen und damit die entscheidende Rolle zukomme. Außerdem sei die Regelung vor dem Hintergrund der Gesamtbewertung der Justizreform in Rumänien zu betrachten.

112. Die Kommission hat ihrerseits geltend gemacht, dass, auch wenn die Haftung von Richtern in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit für sich genommen nicht problematisch sei, dennoch einige Verfahrensgarantien vorzusehen seien. Dass die Regressklage von einem unabhängigen Gericht geprüft werde, sei bereits eine Verfahrensgarantie. Außerdem sei erforderlich, dass die Voraussetzungen, unter denen die Regressklage erhoben werden könne, bestimmte Garantien böten. Insoweit bestünden verschiedene Möglichkeiten. So könnte die Möglichkeit einer Regressklage auf Fälle beschränkt werden, in denen eine straf- oder disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit des Richters bereits durch eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt worden sei. Eine andere mögliche Garantie wäre, dass die Erhebung der Regressklage einer unabhängigen Organisation der Judikative übertragen würde, wie z. B. dem Obersten Richterrat. Diese Garantien würden von den vorliegenden Vorschriften jedoch nicht erfüllt, da das Ministerium für öffentliche Finanzen nach eigenem Ermessen Regressklage erheben könne und der Bericht der Justizinspektion rein beratenden Charakter habe. In diesem Punkt stimmt der Standpunkt der Kommission mit einigen der Bemerkungen der GRECO und der Venedig-Kommission überein(65).

113. Aus diesen Erwägungen geht hervor, dass die Bedenken bezüglich der neuen Vorschriften über die zivilrechtliche Haftung von Richtern hauptsächlich die Beteiligung von zwei Stellen an der Entscheidung über eine Regressklage betreffen, nämlich des Ministeriums für öffentliche Finanzen und der Justizinspektion.

114. Gemäß Art. 96 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 303/2004 muss das Ministerium für öffentliche Finanzen innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung über die staatliche Haftung für einen Justizirrtum die Sache an die Justizinspektion weiterleiten. Diese kann nach dem in Art. 741 des Gesetzes Nr. 317/2004 geregelten Verfahren feststellen, ob der Justizirrtum von einem Richter begangen wurde, der in bösem Glauben oder grob fahrlässig gehandelt hat. Innerhalb von sechs Monaten nach dem Tag der Übermittlung des Berichts muss der Staat, vertreten durch das Ministerium für öffentliche Finanzen, gemäß Art. 96 Abs. 8 des Gesetzes Nr. 303/2004 Regressklage erheben, wenn er nach dem vorstehend genannten beratenden Bericht der Justizinspektion und nach „eigener Beurteilung“ der Ansicht ist, dass der Justizirrtum vom Richter in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht wurde.

115. Ein Aspekt sollte meines Erachtens gleich zu Beginn betont werden: Wenn ich die nationale Regelung richtig verstehe, beschränkt sich die Rolle des Ministeriums für öffentliche Finanzen auf die Entscheidung, ob eine Regressklage erhoben und damit die zweite Phase eingeleitet wird. Demnach ist das Ministerium unter praktischen Gesichtspunkten nur der potenzielle Kläger in einem Verfahren, das vor einem unabhängigen Gericht stattfinden soll. Darüber hinaus kann das Ministerium nur dann handeln, wenn nach einem Verfahren vor einem anderen unabhängigen Gericht eine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, in der festgestellt wird, dass ein Justizirrtum vorliegt und der Staat dafür haftet.

116. Demnach ist unter praktischen Gesichtspunkten das Ermessen des Ministeriums für öffentliche Finanzen bei seiner Entscheidung zwischen zwei Entscheidungen unabhängiger Zivilgerichte „eingeklemmt“. In diesem Zusammenhang bereitet es mir erneut einige Schwierigkeit, zu erkennen, was genau an einer Lösung als solcher unvereinbar sein soll, bei der der öffentlichen Hand, die einem Geschädigten aufgrund einer unabhängigen Bewertung eines Zivilgerichts Geld zu zahlen hat, die Möglichkeit eingeräumt wird, als Kläger Regress beim Richter zu nehmen, der den Schaden womöglich in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht hat(66). Zudem kann das Ministerium nicht selbst über die zivilrechtliche Haftung entscheiden – es entscheidet lediglich, ob die Sache vor ein anderes (unabhängiges) Gericht zu bringen ist.

117. Welche weiteren Schutzmechanismen gegen einen möglichen Missbrauch durch die staatliche Macht, die Druck auf Richter ausübt, sollte es bei einer solchen Regelung geben? Zunächst impliziert die Forderung nach zusätzlichen Schutzmechanismen, dass zwei unabhängige Gerichte mit all den verfügbaren Rechtsbehelfen(67) in diesem Mitgliedstaat nicht ausreichen, um strukturellen Missbrauch zu verhindern. Wenn dies jedoch tatsächlich die Ausgangsthese ist, welche richterliche Unabhängigkeit soll dann bei einer solchen Regelung noch geschützt werden? Zwei Gerichtsverfahren sind anfällig für Missbrauch, aber wenn ein drittes, vielleicht in Form eines Disziplinarverfahrens, hinzugefügt würde, wäre alles gut? In struktureller Hinsicht beruht die Annahme, dass das erste, die Staatshaftung betreffende Verfahren beeinflusst werden könnte, um Druck auf einen einzelnen Richter auszuüben, indem selektiv über die Erhebung einer Regressklage entschieden wird, ferner auf der ziemlich sonderbaren Vorstellung von einem Kamikaze-Mitgliedstaat, der bereit wäre, seine eigenen Gerichte zu seinem Nachteil zu beeinflussen und sie zu veranlassen, ihn zur Zahlung von Schadensersatz zu verpflichten, damit er dann in der zweiten Phase Druck auf einzelne Richter ausüben könnte.

118. Wie dem auch sei, für mich ist auch hier nicht ersichtlich, wie in einer Unionsrechtsordnung, die die Verfahrensautonomie und institutionelle Vielfalt in den Mitgliedstaaten respektiert, ein nationales System, bei dem die mögliche zivilrechtliche Haftung von Richtern erst nach zwei gesonderten gerichtlichen Verfahren vor (unabhängigen) Zivilgerichten, deren Entscheidungen überprüft und mit den in der nationalen Rechtsordnung zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen angegriffen werden können, für sich genommen mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar sein soll.

119. Selbstverständlich sind andere institutionelle oder prozessuale Regelungen denkbar. Eine zivil- oder disziplinarrechtliche Haftung eines Richters könnte ausschließlich von der endgültigen Entscheidung des Gremiums abhängig gemacht werden, das für Disziplinarverfahren innerhalb der Justiz zuständig ist. Dies scheint tatsächlich unter bestimmten Umständen ein logischerer, empfehlenswerterer institutioneller Ansatz zu sein, der die Kohärenz zwischen disziplinar- und zivilrechtlichem Verfahren gewährleisten würde(68). Diese Überlegungen, die für ein vermutlich besseres institutionelles Modell sprechen, bedeuten jedoch nicht automatisch, dass die Anforderungen des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit nicht erfüllt sind, nur weil andere institutionelle Modelle gewählt werden(69). Im Hinblick auf die Erfordernisse des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit kommt es nämlich nicht so sehr darauf an, ob die endgültige Entscheidung von einem Disziplinar‑, Zivil- oder Strafgericht gefällt wird, sondern auf dessen Unabhängigkeit.

120. Bei näherer Betrachtung des spezifischen Aspekts der Rolle des Ministeriums für öffentliche Finanzen bei der Entscheidung über die Erhebung der Regressklage scheint es an Klarheit darüber zu fehlen, was diese Regeln genau sind. Ich gehe davon aus, dass dies teilweise darauf zurückzuführen ist, dass es insoweit an der praktischen Anwendung fehlt. Zunächst hat die rumänische Regierung erklärt, dass die Klage kein Automatismus sei. In der mündlichen Verhandlung hat sie jedoch erläutert, dass die Erhebung einer Regressklage einen Bericht der Justizinspektion voraussetze, in dem festgestellt werde, dass der Justizirrtum in bösem Glauben oder grob fahrlässig verursacht worden sei.

121. Statt dem Ministerium für öffentliche Finanzen eine Pflicht zur Erhebung der Klage aufzuerlegen, scheint Art. 96 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 303/2004 eher ein systematisches Verfahren einzuführen, das das Ministerium für öffentliche Finanzen einleiten muss, indem es, sobald eine Klage gegen den Staat wegen eines Justizirrtums erfolgreich ist, die Sache der Justizinspektion vorlegt. Dies bedeutet, dass eine staatliche Haftung automatisch eine Untersuchung hinsichtlich der Frage, ob böser Glaube oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt, nach sich zieht, deren Ergebnisse dann in einem Bericht dargestellt werden.

122. Meiner Ansicht nach ist es für sich genommen eine ausreichende Garantie, wenn eine Entscheidung über die staatliche Haftung oder über die sich in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit möglicherweise daraus ergebende zivilrechtliche Haftung eines Richters nur von einem unabhängigen Gericht gefällt werden kann. Berücksichtigt man die eindeutige Absicht des nationalen Gesetzgebers, das Ermessen des Klägers vor der zweiten Phase durch weitere Garantien einzugrenzen, stellt die Beteiligung der Justizinspektion als unabhängiges Gremium innerhalb des Obersten Richterrats, das für disziplinarrechtliche Untersuchungen innerhalb der Justiz verantwortlich ist, jedoch ein Element dar, das geeignet ist, die Garantien des Systems zu stärken. Dafür müssen allerdings zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss die Justizinspektion selbst unabhängig sein, und zweitens muss ihr Bericht, sollte er zu einem abschlägigen Ergebnis kommen, für das Ministerium für öffentliche Finanzen verbindlich sein.

123. Hinsichtlich der ersten Bedingung ist es, wie in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. ausgeführt, ziemlich offensichtlich, dass, auch wenn die Justizinspektion nicht in Disziplinarsachen entscheidet, bereits ihre Untersuchungsbefugnisse – unabhängig von den Garantien, die die im Disziplinarverfahren endgültig entscheidende Stelle bietet – Druck auf die Personen ausüben können, die zur Entscheidung in einem Rechtsstreit berufen sind(70). Daher ist es meines Erachtens bei einem System wie dem hier vorliegenden zwingend erforderlich, dass das Gremium, das ein Sachverständigengutachten zur Frage erstellt, ob böser Glaube oder grobe Fahrlässigkeit vorliegt, selbst bis zu einem gewissen Grad unparteiisch ist. Weder im Vorlagebeschluss noch von den Parteien wurden jedoch Argumente vorgebracht, die die Unparteilichkeit der Justizinspektion insoweit in Zweifel ziehen könnten(71).

124. Hinsichtlich der zweiten Bedingung bleibt unklar – obwohl der Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich um Aufklärung gebeten hat –, ob das Ministerium für öffentliche Finanzen die Regressklage auch dann erheben kann, wenn der Bericht der Justizinspektion zu dem Ergebnis kommt, dass weder böser Glaube noch grobe Fahrlässigkeit vorlag. Die rumänische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass die Feststellung des Vorliegens von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit im Bericht der Justizinspektion eine Voraussetzung für die Regressklage des Ministeriums für öffentliche Finanzen sei – auch wenn dies aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht hervorgehe.

125. Sollte dies tatsächlich der Fall sein – was letztendlich das nationale Gericht entscheiden muss –, dann sieht die Regelung nicht nur die notwendigen Garantien vor (nämlich dass die persönliche Haftung eines Richters eher enger Voraussetzungen unterliegt und nur durch ein unabhängiges Gericht festgestellt werden kann), sondern sogar noch über das unbedingt notwendige Maß hinausgehende Garantien (z. B., dass das Ministerium als Kläger in der zweiten Phase bestimmte Anforderungen beachten muss, um eine Regressklage vor einem solchen unabhängigen Gericht erheben zu können).

iii) Verteidigungsrechte

126. Das vorlegende Gericht hat im Vorlagebeschluss ausgeführt, dass der Richter nicht die Möglichkeit habe, seine Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrzunehmen. Zunächst sei in der ersten Phase, in der es nur um den Geschädigten als Kläger und den Staat als Beklagten gehe, der Richter oder Staatsanwalt, den das Verfahren eigentlich betreffe, ausgeschlossen. Dies könne dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und den Verteidigungsrechten des Richters in dem sich anschließenden Verfahren, in dem der Staat dann unmittelbar den Richter in Anspruch nimmt, insoweit zuwiderlaufen, als über die Rechtsfrage, ob ein Justizirrtum vorliege, bereits in der ersten Phase entschieden werde.

127. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass die Feststellung eines Justizirrtums die Haftung eines Richters nicht begründen könne, wenn dieser Richter in dem zu dieser Feststellung führenden Verfahren nicht Stellung nehmen könne. Der Richter müsse auch in dem Verfahren zur Feststellung der Haftung des Staates für einen Justizirrtum angehört werden.

128. Die rumänische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass der beklagte Richter im Verfahren über seine persönliche Haftung sämtliche Feststellungen zum Vorliegen eines Justizirrtums im Urteil, in dem über die Haftung des Staates befunden werde, in Frage stellen könne. Außerdem könne er sich auch als Streithelfer am Verfahren gegen den Staat beteiligen.

129. Leider liegen dem Gerichtshof zu dieser konkreten Frage so gut wie keine Informationen vor. Es ist unklar, ob das Gericht, das in der ersten Phase über das Vorliegen des Justizirrtums entscheidet, einem Antrag auf Streitbeitritt stattgeben muss. Auch die verfahrensrechtliche Stellung des Richters in diesem Verfahren ist unklar. Schließlich mangelt es, da das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht in der ersten und nicht in der zweiten Phase steckt, an Klarheit darüber, inwieweit die endgültige Feststellung des Zivilgerichts zum Vorliegen eines Justizirrtums in der ersten Phase in der zweiten Phase berücksichtigt werden wird. Denn die materiell-rechtliche Definition des Justizirrtums scheint ja in beiden Phasen dieselbe zu sein: In der zweiten Phase kommt das subjektive Element (böser Glaube oder grobe Fahrlässigkeit) hinzu, aber hinsichtlich desselben Justizirrtums.

130. Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass ein Richter in der zweiten Phase, in der er mit einer zivilrechtlichen Haftungsklage konfrontiert wird, alle Elemente des Falles angreifen können muss: alle Elemente der Definition, anhand deren sein mutmaßlicher Justizirrtum gemäß Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 festgestellt wird, sowie seinen (fehlenden) Vorsatz hinsichtlich dieses Irrtums gemäß Art. 991 des Gesetzes Nr. 303/2004. Wie ein solch vollumfängliches Verteidigungsrecht innerhalb der Struktur der beiden Verfahren im Einzelnen ausgestaltet ist, ist Sache des nationalen Rechts. Klar ist nur, was nicht geschehen darf, nämlich dass ein Richter, der in der ersten Phase in keiner nennenswerten Art und Weise am Verfahren beteiligt war, in der zweiten Phase mit der bereits in der ersten Phase getroffenen Feststellung, dass ein Justizirrtum vorliegt, konfrontiert wird, mit der damit seine persönliche Haftung bereits präjudiziert ist.

131. Es ist Sache des nationalen Gerichts festzustellen, ob die nationalen Verfahrensvorschriften, die für die Regressklage des Staates gelten, dem betroffenen Richter solche umfänglichen Verteidigungsrechte gewähren. Sollte dies nicht der Fall sein, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die nationalen Verfahrensvorschriften im Einklang mit den Anforderungen der in Art. 47 der Charta verankerten Verteidigungsrechte auszulegen, um dem Richter in dem Verfahren zwischen dem Geschädigten und dem Staat oder jedenfalls spätestens in dem Verfahren zwischen dem Staat und ihm selbst die Möglichkeit zu geben, umfassend zu allen ihm gegenüber geltend gemachten Elementen Stellung zu nehmen.

c)      Ergebnis und eine Warnung

132. Meiner Ansicht nach stehen Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV weder nationalen Vorschriften über die Staatshaftung für Justizirrtümer wie Art. 96 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 303/2004 noch der Möglichkeit für den Staat, anschließend in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit des betreffenden Richters gegen diesen eine Regressklage wegen zivilrechtlicher Haftung zu erheben, entgegen, wenn diese Verfahren ausreichende Garantien bieten, um sicherzustellen, dass Richter und Staatsanwälte bei ihren Entscheidungen weder unmittelbarem noch mittelbarem Druck ausgesetzt sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts, anhand aller relevanten Faktoren zu prüfen, ob Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004, andere einschlägige nationale Vorschriften und die Anwendungspraxis diese Voraussetzungen erfüllen.

133. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache und der dem Gerichtshof unterbreiteten Informationen käme jedes andere Ergebnis meines Erachtens dem Punkt gefährlich nahe, an dem entweder angedeutet wird, dass das Unionsrecht eine vollständige funktionale Immunität für nationale Richter fordert, oder der Gerichtshof effektiv die Umgestaltung nationaler Institutionen und Verfahren vornimmt, indem er einer Institution (Zivilgerichte) bestimmte Kompetenzen nimmt und sie einer anderen zuschiebt (Disziplinarausschüsse oder andere Gremien des Obersten Richterrats), ohne dass dafür ein konkreter Grund vorliegt, außer einer vorgefertigten Vorstellung von einer bestimmten Struktur richterlicher Rechenschaftspflicht. Es muss nicht erwähnt werden, dass dies nicht nur dem Grundsatz der nationalen institutionellen und Verfahrensautonomie widerspräche, sondern auch zur Unvereinbarkeit einer Reihe anderer nationaler Lösungen in anderen Mitgliedstaaten mit dem Unionsrecht führen würde.

134. Wie bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a.(72), aber auch in Entscheidungen des Gerichtshofs zur Unabhängigkeit der polnischen Justiz aus jüngster Zeit(73) hervorgehoben, steht die Prüfung der Vorschriften, die die Organisation der Justiz und die Gewaltenteilung berühren, in einem weiteren rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang. Sofern es nicht nur um die abstrakte Vereinbarkeit eines institutionellen Regelungskonzepts geht, die geprüft werden soll, kann die Prüfung dieser Vorschriften nicht losgelöst von den tatsächlichen Umständen und Beispielen ihrer praktischen Anwendung erfolgen. In diesem Sinne sind nationale Vorschriften, die die Rechenschaftspflicht der Justiz stärken sollen, in der Praxis gewiss nicht immun gegen internen oder externen Druck – wie perfekt sie auch immer auf dem Papier erscheinen mögen.

135. Indes ist, wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen wiederholt herausgestellt habe, in der vorliegenden Rechtssache nichts vorgebracht worden, was zeigen würde, wie die hier in Rede stehenden Vorschriften in Verbindung mit anderen Vorschriften missbräuchlich angewandt werden könnten oder in der Praxis tatsächlich missbräuchlich angewandt werden.

136. Das Ergebnis, zu dem ich vorstehend gelangt bin, bezieht sich daher auf den dem Gerichtshof vorgelegten abstrakten Zusammenhang, in dem die Parteien ausdrücklich anerkannt haben, dass es weder eine Anwendungspraxis gibt noch Hinweise auf eine praktische (missbräuchliche) Anwendung der neuen Regelung als Maßnahme zur Ausübung von Druck auf Richter existieren. Dieses Ergebnis schließt selbstredend nicht aus, dass ein nationales Gericht oder sogar der Gerichtshof angesichts künftiger Entwicklungen in der praktischen Anwendung der soeben geprüften Regelung zu einem anderen Schluss gelangt.

V.      Ergebnis

137. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof die Vorlagefragen wie folgt beantworten sollte:

Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV stehen weder nationalen Vorschriften über die Staatshaftung für Justizirrtümer wie Art. 96 Abs. 3 der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) noch der Möglichkeit für den Staat, anschließend in Fällen von bösem Glauben oder grober Fahrlässigkeit des betreffenden Richters gegen diesen eine Regressklage wegen zivilrechtlicher Haftung zu erheben, entgegen, wenn diese Verfahren ausreichende Garantien bieten, um sicherzustellen, dass Richter und Staatsanwälte bei ihren Entscheidungen weder unmittelbarem noch mittelbarem Druck ausgesetzt sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts, anhand aller relevanten Faktoren zu prüfen, ob Art. 96 des Gesetzes Nr. 303/2004, andere einschlägige nationale Vorschriften und die Anwendungspraxis diese Voraussetzungen erfüllen.











































































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