Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 17. September 2020(1 )
Rechtssache C ‑387/19
RTS infra BVBA,
Aannemingsbedrijf Norré-Behaegel
gegen
Vlaams Gewest
(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Belgien])
„Vorabentscheidungsverfahren – Öffentliche Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge – Ablauf des Verfahrens – Ausschlussgründe – Nachweis der Selbstreinigungsmaßnahmen – Modalitäten“
1. Art. 57 der Richtlinie 2014/24/EU(2 ) regelt die Gründe für den Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern von der Teilnahme an Vergabeverfahren.
2. Die Wirtschaftsteilnehmer können aber Nachweise dafür erbringen, dass sie Maßnahmen ergriffen haben, die ausreichen, um trotz des Vorliegens eines dieser Ausschlussgründe ihre Zuverlässigkeit nachzuweisen. Die Selbstreinigung , die nach Art. 57 Abs. 6 zulässig ist, stellt eine der Neuheiten der Richtlinie 2014/24 gegenüber der ihr vorangegangenen Richtlinie 2004/18/EG(3 ) dar.
3. Der Gerichtshof hat Art. 57 der Richtlinie 2014/24 bereits wiederholt geprüft, auch in Bezug auf seinen Abs. 6(4 ). Über die Möglichkeit, dass der öffentliche Auftraggeber wie im vorliegenden Fall verlangt, dass der Wirtschaftsteilnehmer die Initiative ergreift, wenn er in den Genuss der Selbstreinigung kommen will, hat er hingegen noch nicht entschieden.
I. Anwendbares Recht
A. Unionsrecht
1. Richtlinie 2014/24
4. Die Erwägungsgründe 101 und 102 lauten:
„(101) Öffentliche Auftraggeber sollten ferner die Möglichkeit erhalten, Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, die sich als unzuverlässig erwiesen haben, beispielsweise wegen Verstoßes gegen umwelt- oder sozialrechtliche Verpflichtungen, einschließlich Vorschriften zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen, oder wegen anderer Formen schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens wie der Verletzung von Wettbewerbsregeln oder Rechten des geistigen Eigentums. …
Unter Berücksichtigung dessen, dass der öffentliche Auftraggeber für die Folgen seiner möglicherweise falschen Entscheidung die Verantwortung zu tragen hat, sollte es öffentlichen Auftraggebern … möglich sein, Bewerber oder Bieter auszuschließen, deren Leistung bei früheren öffentlichen Aufträgen im Hinblick auf wesentliche Anforderungen erhebliche Mängel aufwies, zum Beispiel Lieferungsausfall oder Leistungsausfall, erhebliche Defizite der gelieferten Waren oder Dienstleistungen, die sie für den beabsichtigten Zweck unbrauchbar machen, oder Fehlverhalten, das ernste Zweifel an der Zuverlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers aufkommen lässt. In den nationalen Rechtsvorschriften sollte eine Höchstdauer für solche Ausschlüsse vorgesehen sein.
Bei der Anwendung fakultativer Ausschlussgründe sollten die öffentlichen Auftraggeber insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. …
(102) Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass Wirtschaftsteilnehmer Compliance-Maßnahmen treffen können, um die Folgen etwaiger strafrechtlicher Verstöße oder eines Fehlverhaltens zu beheben und weiteres Fehlverhalten wirksam zu verhindern. … Soweit derartige Maßnahmen ausreichende Garantien bieten, sollte der jeweilige Wirtschaftsteilnehmer nicht länger alleine aus diesen Gründen ausgeschlossen werden. Wirtschaftsteilnehmer sollten beantragen können, dass die im Hinblick auf ihre etwaige Zulassung zum Vergabeverfahren getroffenen Compliance-Maßnahmen geprüft werden. Es sollte jedoch den Mitgliedstaaten überlassen werden, die genauen verfahrenstechnischen und inhaltlichen Bedingungen zu bestimmen, die in diesem Fall gelten. Es sollte ihnen insbesondere freistehen zu entscheiden, es den jeweiligen öffentlichen Auftraggebern zu überlassen, die einschlägigen Bewertungen vorzunehmen, oder sie anderen Behörden auf zentraler oder dezentraler Ebene zu übertragen.“
5. Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) Abs. 1 sieht vor:
„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nichtdiskriminierender Weise und handeln transparent und verhältnismäßig.
…“
6. Art. 56 („Allgemeine Grundsätze“) Abs. 1 lautet:
„Die Aufträge werden auf der Grundlage von in Einklang mit den Artikeln 67 bis 69 festgelegten Kriterien vergeben, sofern der öffentliche Auftraggeber gemäß den Artikeln 59 bis 61 überprüft hat, dass sämtliche nachfolgenden Bedingungen erfüllt sind:
…
b) das Angebot kommt von einem Bieter, der nicht gemäß Artikel 57 ausgeschlossen ist …“
7. Art. 57 („Ausschlussgründe“) bestimmt:
„…
(4) Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden:
…
c) der öffentliche Auftraggeber kann auf geeignete Weise nachweisen, dass der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die seine Integrität in Frage stellt;
…
g) der Wirtschaftsteilnehmer hat bei der Erfüllung einer wesentlichen Anforderung im Rahmen eines früheren öffentlichen Auftrags, eines früheren Auftrags mit einem Auftraggeber oder eines früheren Konzessionsvertrags erhebliche oder dauerhafte Mängel erkennen lassen, die die vorzeitige Beendigung dieses früheren Auftrags, Schadenersatz oder andere vergleichbare Sanktionen nach sich gezogen haben;
h) der Wirtschaftsteilnehmer hat sich bei seinen Auskünften zur Überprüfung des Fehlens von Ausschlussgründen und der Einhaltung der Eignungskriterien einer schwerwiegenden Täuschung schuldig gemacht, derartige Auskünfte zurückgehalten oder ist nicht in der Lage, die gemäß Artikel 59 erforderlichen zusätzlichen Unterlagen einzureichen, oder
i) der Wirtschaftsteilnehmer hat versucht, die Entscheidungsfindung des öffentlichen Auftraggebers in unzulässiger Weise zu beeinflussen, vertrauliche Informationen zu erhalten, durch die er unzulässige Vorteile beim Vergabeverfahren erlangen könnte, oder fahrlässig irreführende Informationen zu übermitteln, die die Entscheidungen über Ausschluss, Auswahl oder Auftragszuschlag erheblich beeinflussen könnten.
…
(6) Jeder Wirtschaftsteilnehmer, der sich in einer der in den Absätzen 1 und 4 genannten Situationen befindet, kann Nachweise dafür erbringen, dass die Maßnahmen des Wirtschaftsteilnehmers ausreichen, um trotz des Vorliegens eines einschlägigen Ausschlussgrundes seine Zuverlässigkeit nachzuweisen. Werden solche Nachweise für ausreichend befunden, so wird der betreffende Wirtschaftsteilnehmer nicht von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen.
…
Die von den Wirtschaftsteilnehmern ergriffenen Maßnahmen werden unter Berücksichtigung der Schwere und besonderen Umstände der Straftat oder des Fehlverhaltens bewertet. …
…
(7) Die Mitgliedstaaten legen durch Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsvorschrift und unter Beachtung des Unionsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Artikels fest. …“
8. Art. 59 („Einheitliche Europäische Eigenerklärung“) sieht vor:
„(1) Zum Zeitpunkt der Übermittlung von Teilnahmeanträgen und Angeboten akzeptieren die öffentlichen Auftraggeber die Einheitliche Europäische Eigenerklärung in Form einer aktualisierten Eigenerklärung anstelle von Bescheinigungen von Behörden oder Dritten als vorläufigen Nachweis dafür, dass der jeweilige Wirtschaftsteilnehmer alle nachfolgend genannten Bedingungen erfüllt:
a) Er befindet sich in keiner der in Artikel 57 genannten Situationen, in der Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden oder ausgeschlossen werden können;
…
(4) Ein öffentlicher Auftraggeber kann Bieter und Bewerber jederzeit während des Verfahrens auffordern, sämtliche oder einen Teil der zusätzlichen Unterlagen beizubringen, wenn dies zur angemessenen Durchführung des Verfahrens erforderlich ist.
…“
2. Durchführungsverordnung (EU) 2016/7 (5 )
9. Art. 1 bestimmt:
„Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie [2014/24] und spätestens ab dem 18. April 2016 ist das dieser Verordnung als Anhang 2 beigefügte Standardformular zur Erstellung der Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung im Sinne des Artikels 59 der Richtlinie [2014/24] zu verwenden. Eine Anleitung zu ihrer Verwendung ist dieser Verordnung als Anhang 1 beigefügt.“
B. Belgisches Recht
10. Art. 61 § 2 Nr. 4 des Koninklijk besluit van 15 juli 2011 plaatsing overheidsopdrachten klassieke sectoren(6 ) regelt:
„Gemäß Artikel 20 des Gesetzes können vom Auftragszugang in gleich welchem Stadium des Verfahrens Bewerber oder Bieter ausgeschlossen werden: … die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben“.
11. Art. 70 der Wet van 17 juni 2016 inzake overheidsopdrachten(7 ) sieht vor:
„Bewerber und Bieter, die sich in einer der in den Artikeln 67 oder 69 genannten Situationen befinden, können Nachweise dafür erbringen, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen ausreichen, um trotz des Vorliegens eines einschlägigen Ausschlussgrundes ihre Zuverlässigkeit nachzuweisen. Befindet der öffentliche Auftraggeber die Nachweise für ausreichend, so wird der betreffende Bewerber oder Bieter nicht von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen.
Zu diesem Zweck weist der Bewerber oder Bieter aus eigenem Antrieb nach, dass er einen Ausgleich für jeglichen durch eine Straftat oder ein Fehlverhalten verursachten Schaden gezahlt oder sich zur Zahlung eines Ausgleichs verpflichtet hat, die Tatsachen und Umstände umfassend durch eine aktive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden geklärt und konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen ergriffen hat, die geeignet sind, weitere Straftaten oder Verfehlungen zu vermeiden.
…“
II. Sachverhalt und Vorlagefragen
12. Im Mai 2016 veröffentlichte die flämische Verwaltung(8 ) eine öffentliche Ausschreibung für die Vergabe des Bauauftrags X40/N60/54 für den Ausbau des Knotenpunkts Nieuwe Steenweg (N60) und der Auf- und Abfahrten zur E17 in De Pinte(9 ).
13. In der Ausschreibung wurde förmlich auf die Anwendbarkeit der Ausschlussgründe nach Art. 61 §§ 1 und 2 des Königlichen Erlasses vom 15. Juli 2011 Bezug genommen, zu denen eine vorangegangene schwere berufliche Verfehlung gehört(10 ).
14. Mit Entscheidung vom 13. Oktober 2016 schloss der öffentliche Auftraggeber einen der Bieter, die Gelegenheitsgesellschaft der Unternehmen Norré Behaegel-RTS infra BVBA (im Folgenden: RTS-Norré) vom Verfahren aus, weil ihre Gesellschafter zuvor schwere berufliche Verfehlungen begangen hätten(11 ).
15. Der Auftrag wurde an einen anderen Bieter, der das wirtschaftlich günstigste Angebot abgegeben hatte, vergeben.
16. Die Unternehmen, die RTS-Norré bildeten, fochten die Entscheidung vom 13. Oktober 2016 beim Raad van State (Staatsrat, Belgien) an. Sie machten geltend, vor ihrem Ausschluss hätte man ihnen die Möglichkeit geben müssen, nachzuweisen, dass sie gemäß Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 Selbstreinigungsmaßnahmen ergriffen hätten, um ihre Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen. Sie vertraten die Ansicht, dass diese Bestimmung unmittelbar anwendbar sei.
17. Ferner habe die beklagte Verwaltung ihre Sorgfaltspflicht verletzt und gegen mehrere Grundsätze verstoßen: den Grundsatz der Anhörung der betroffenen Partei (audi et alteram partem ), den Transparenzgrundsatz, den Grundsatz des lauteren Wettbewerbs und den Gleichheitsgrundsatz (da sie anders behandelt worden seien als ihre „europäischen Kollegen“).
18. Der öffentliche Auftraggeber stellte in Abrede, dass Art. 57 der Richtlinie 2014/24 unmittelbare Wirkung habe. Insbesondere sei sein Abs. 6 nicht unbedingt, klar und bestimmt. Zu den Abhilfemaßnahmen führte er aus, dass die Mitgliedstaaten die Bedingungen für die Anwendung dieser Bestimmung festlegten.
19. Hilfsweise trug er vor, die angefochtene Entscheidung verstoße nicht gegen die Regelung über das Ergreifen der in der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen Selbstreinigungsmaßnahmen aus eigener Initiative(12 ).
20. Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Auslegung von Art. 57 Abs. 4 Buchst. c und g in Verbindung mit den Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24. Konkret möchte es wissen, ob diese Vorschriften
– den Ausschluss eines Bieters ermöglichen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, seine Zuverlässigkeit nachzuweisen, wenn er nach Ansicht des öffentlichen Auftraggebers eine schwere berufliche Verfehlung begangen und etwaige Abhilfemaßnahmen nicht von sich aus angezeigt hat,
– unmittelbare Wirkung haben, sofern sie dem entgegenstehen sollten, dass vom Bieter verlangt wird, von sich aus den Nachweis zu liefern.
21. Vor diesem Hintergrund hat der Raad van State (Staatsrat, Belgien) dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 57 Abs. 4 Buchst. c und g in Verbindung mit den Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG dahin auszulegen, dass er einer Anwendung entgegensteht, bei der ein Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet wird, von sich aus den Nachweis über die Maßnahmen zu liefern, die er ergriffen hat, um seine Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen?
Falls ja: Hat der so ausgelegte Art. 57 Abs. 4 Buchst. c und g in Verbindung mit den Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24 unmittelbare Wirkung?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
22. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 17. Mai 2019 beim Gerichtshof eingegangen.
23. RTS-Norré, die österreichische, die belgische, die ungarische und die estnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
IV. Würdigung
A. Einleitende Klarstellungen
24. Zur Beantwortung der beiden Fragen ist zunächst einmal zu klären, welche Richtlinie im vorliegenden Fall gilt.
25. Aus den Akten ergibt sich, dass nicht die (im Vorabentscheidungsersuchen behandelte) Richtlinie 2014/24, sondern die davor geltende (Richtlinie 2004/18), auf die in den Auftragsbekanntmachungen Bezug genommen wurde, anzuwenden ist.
26. Die Ausschreibung fand in zwei Abschnitten statt:
– Die „Bekanntmachung von Vorinformationen“ wurde am 17. Oktober 2015 veröffentlicht(13 ); darin wurde die Richtlinie 2004/18 als Rechtsgrundlage für das Verfahren angegeben.
– Die „Auftragsbekanntmachung“ wurde am 13. Mai 2016(14 ) veröffentlicht. In ihr heißt es ebenfalls, dass die Richtlinie 2004/18 anwendbar sei, und gleichzeitig werden die Beteiligten in ihr auf die Ausschlussgründe hingewiesen, die im Königlichen Erlass vom 15. Juli 2011, durch den die Richtlinie 2004/18 umgesetzt wurde, geregelt sind.
27. Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2014/24 endete gemäß ihrem Art. 90 am 18. April 2016, dem Tag des Außerkrafttretens der Richtlinie 2004/18.
28. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs „gilt für Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge jedoch grundsätzlich die Richtlinie, die zu dem Zeitpunkt in Kraft ist, zu dem der öffentliche Auftraggeber [die Art des Verfahrens auswählt]. Unanwendbar sind hingegen die Bestimmungen einer Richtlinie, deren Umsetzungsfrist nach diesem Zeitpunkt abgelaufen ist“(15 ).
29. Da im vorliegenden Fall die Auftragsbekanntmachung „zwangsläufig nach dem [Zeitpunkt lag], zu dem die öffentliche Auftraggeberin die Art des Verfahrens auswählte und endgültig entschied, ob die Verpflichtung zu einem vorherigen Aufruf zum Wettbewerb für die Vergabe des betreffenden öffentlichen Auftrags besteht“(16 ), was vor dem 18. April 2016 geschah, war in zeitlicher Hinsicht die Richtlinie 2004/18 anzuwenden.
30. Sowohl aus der Rechtsprechung als auch spezifisch aus der Bekanntmachung von Vorinformationen und der Auftragsbekanntmachung ergibt sich somit, dass sich das öffentliche Vergabeverfahren in diesem Fall nach den Bestimmungen der Richtlinie 2004/18 richten musste. Demzufolge betreffen die Vorlagefragen die Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts (die Richtlinie 2014/24), die nicht entscheidungserheblich sind(17 ).
31. Meine nachstehend wiedergegebenen Überlegungen erfolgen daher nur hilfsweise für den Fall, dass der Raad van State (Staatsrat) zu dem Ergebnis kommt, dass er aus Gründen des innerstaatlichen Rechts trotz allem die Richtlinie 2014/24 anwenden muss.
B. Zur ersten Vorlagefrage
1. Wörtliche und kontextbezogene Auslegungskriterien
a) Wortlaut von Art. 57 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24
32. In der Richtlinie 2004/18 war die Möglichkeit, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, bei dem ein Ausschlussgrund vorliegt, den Nachweis erbringt, dass er Selbstreinigungsmaßnahmen ergriffen hat, nicht vorgesehen. Ihr Art. 51 gestattete es jedoch dem öffentlichen Auftraggeber, die Unternehmen aufzufordern, Dokumente über ihre persönliche Lage vorzulegen(18 ).
33. Die Richtlinie 2014/24 hingegen widmet diesen Maßnahmen(19 ) eine Vorschrift (Art. 57 Abs. 6), die jedoch nur einige Vorgaben enthält, wie beispielsweise ihr Ziel(20 ) oder die Notwendigkeit, eine negative Bewertung zu begründen(21 ). Im Übrigen verweist sie auf die Bedingungen für die Anwendung , die von den Mitgliedstaaten festgelegt werden.
34. Art. 57 Abs. 7 der Richtlinie 2014/24 bestimmt nämlich: „Die Mitgliedstaaten legen durch Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsvorschrift und unter Beachtung des Unionsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Artikels fest“.
35. Die Freiheit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet kommt auf zwei Ebenen zum Ausdruck:
– der allgemeinen, auf der sie über einen gewissen Ermessensspielraum bei „der Festlegung der Bedingungen für die Anwendung der in Art. 57 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen fakultativen Ausschlussgründe“ verfügen(22 );
– der spezifischen, die sich auf die Frist und die Form für die Vorlage der Nachweise für die Selbstreinigung bezieht. Insoweit bestimmt der 102. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24, dass es „den Mitgliedstaaten überlassen werden [sollte], die genauen verfahrenstechnischen und inhaltlichen Bedingungen zu bestimmen, die in diesem Fall gelten“.
36. Ein Mitgliedstaat ist somit durch nichts daran gehindert, dem Betroffenen die Verpflichtung aufzuerlegen, auf diesem Gebiet die Initiative zu ergreifen. Der 102. Erwägungsgrund nimmt gerade auf den Antrag des Wirtschaftsteilnehmers, die von ihm getroffenen Maßnahmen zu prüfen, Bezug(23 ).
37. Ich habe bereits an anderer Stelle(24 ) ausgeführt, dass Art. 57 Abs. 6 darauf abzielt, dass der öffentliche Auftraggeber „die Beweismittel würdigt, die derjenige vorlegt, der sich auf seine Rehabilitierung beruft“. Die Aufgabe des öffentlichen Auftraggebers „im Rahmen dieser Beweiswürdigung ist … passiv , während die des Wirtschaftsteilnehmers aktiv ist“.
38. Zusammenfassend hindert der Wortlaut von Art. 57 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24 einen Mitgliedstaat nicht daran, vorzusehen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der sich an einem öffentlichen Vergabeverfahren beteiligen möchte, obwohl bei ihm Ausschlussgründe vorliegen, von sich aus den Nachweis über die von ihm ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen erbringen muss, um seine Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen.
b) Kontext von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24
39. Die systematische oder kontextbezogene Auslegung von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 führt zu demselben Ergebnis.
40. Zum einen können nach Art. 56 Abs. 3 dieser Richtlinie die öffentlichen Auftraggeber die Wirtschaftsteilnehmer auffordern, die jeweiligen Informationen oder Unterlagen (sei es zum Angebot, sei es zum Bewerber) innerhalb einer angemessenen Frist zu übermitteln, zu ergänzen, zu erläutern oder zu vervollständigen.
41. Die derart formulierte Bestimmung begründet keine Pflicht , also keine positive Verpflichtung zur Anforderung der Informationen, auf die sich Art. 56 Abs. 1 Buchst. b bezieht. Tatsächlich gestattet es dieser Artikel selbst, in der nationalen Umsetzungsvorschrift eine andere Regelung zu treffen.
42. Zum anderen sieht Art. 59 der Richtlinie 2014/24 vor, dass der Betroffene selbst in der Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung (im Folgenden: EEE) bestätigt, dass er sich in keiner Situation befindet, in der er ausgeschlossen werden kann.
43. Die EEE ist demnach eine förmliche Erklärung des Wirtschaftsteilnehmers, in der er angeben muss, dass bei ihm keine einschlägigen Ausschlussgründe vorliegen oder dass er, wenn sie vorliegen, sein Verhalten korrigiert hat, um die verlorene Zuverlässigkeit wiederzuerlangen.
44. Durch die EEE, die in der Durchführungsverordnung 2016/7 geregelt ist,
– wird der Wirtschaftsteilnehmer, der sie unterzeichnet, in die Lage versetzt, selbst anzugeben, ob bei ihm zwingende oder andere, im nationalen Recht vorgesehene oder in der Bekanntmachung oder den Auftragsunterlagen bezeichnete Ausschlussgründe vorliegen,
– wird dieser Wirtschaftsteilnehmer, sofern dies der Fall ist, verpflichtet, anzugeben, welche Selbstreinigungsmaßnahmen er ergriffen hat, und hierzu die hierfür vorgesehenen Felder des „Standardformulars“ auszufüllen(25 ).
45. Die Verwendung der EEE entbindet den Bieter nicht von der Verpflichtung, weitere Nachweise zu erbringen. Dies ist eine der Verpflichtungen, die er eingehen muss. Art. 59 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 sieht vor, dass in der EEE „eine förmliche Erklärung enthalten [ist], dass der Wirtschaftsteilnehmer in der Lage sein wird, auf Anfrage und unverzüglich diese zusätzlichen Unterlagen beizubringen“.
46. Art. 59 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 ermächtigt den öffentlichen Auftraggeber somit, Bieter jederzeit während des Verfahrens aufzufordern, sämtliche oder einen Teil der zusätzlichen Unterlagen (die genannt wurden oder auf die in der EEE Bezug genommen wird) beizubringen, wenn dies zur angemessenen Durchführung des Verfahrens erforderlich ist.
47. Gegenüber dem Bieter, an den er den Auftrag vergeben will, wird diese Befugnis nach derselben Vorschrift zur Pflicht: Der öffentliche Auftraggeber muss ihn dann auffordern, aktualisierte zusätzliche Unterlagen (gemäß Art. 60 sowie gegebenenfalls gemäß Art. 62) beizubringen.
48. Nach alledem komme ich nach Prüfung ihrer Bestimmungen aus systematischer Sicht und in ihrem Kontext zu dem Ergebnis, dass in der Richtlinie 2014/24 und der Durchführungsverordnung 2016/7 in Bezug auf die Frist und die Form, in denen der Wirtschaftsteilnehmer erklären muss, dass er Selbstreinigungsmaßnahmen ergriffen hat, eine deutliche Präferenz deutlich wird: Er muss dies unter Verwendung der EEE oder auf andere Weise, aber jedenfalls immer bei Abgabe seines Angebots tun.
49. Verlangt ein nationaler Gesetzgeber oder öffentlicher Auftraggeber von einem Wirtschaftsteilnehmer, dass er von Anfang an erklärt (und gegebenenfalls die zusätzlichen Unterlagen beibringt(26 )), Selbstreinigungsmaßnahmen ergriffen zu haben, entspricht diese Forderung in Übereinstimmung mit dieser Regel der Richtlinie 2014/24.
c) Insbesondere Art. 69
50. RTS-Norré schlägt vor, Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 analog zu der Regelung betreffend ungewöhnlich niedrige Angebote (Art. 69) auszulegen. Auch das vorlegende Gericht nimmt in seinem Beschluss auf dieses Auslegungskriterium Bezug(27 ).
51. Ich schließe mich diesem Vorschlag nicht an, denn Art. 69 der Richtlinie 2014/24 regelt Angebote, die in anderen Bestimmungen der Richtlinie als „unregelmäßig“ bzw. „nicht ordnungsgemäß“(28 ) bezeichnet werden, aber zulässig sein können. Hier geht es nicht um die Zuverlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers, sondern um die tatsächliche Durchführbarkeit seines Angebots.
52. Eine Analogie ist nicht zulässig, wenn die anwendbare Vorschrift – wie es hier meiner Ansicht nach der Fall ist – bereits für sich hinreichende Elemente für ihre Auslegung enthält, ohne dass auf eine andere (vermeintlich analoge) Bestimmung zurückgegriffen werden muss. Dies umso weniger, weil diese einen anderen Zweck verfolgt: Art. 69 der Richtlinie 2014/24 ist auf den Schutz der Bewerber vor willkürlichen Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers in einem ganz anderen Kontext als dem von Art. 57 Abs. 6 gerichtet.
2. Ziel von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24
53. Die Regel, die es Wirtschaftsteilnehmern ermöglicht, trotz des Vorliegens von Ausschlussgründen ihre Zuverlässigkeit geltend zu machen und nachzuweisen, nützt auf den ersten Blick vor allem ihnen selbst. Es ist daher logisch, dass derjenige, der an der Teilnahme an einem Vergabeverfahren interessiert ist, sich auf die Selbstreinigungsmaßnahmen berufen und sie nachweisen muss.
54. Diese Regel weist zudem einen weiteren Aspekt auf, der den öffentlichen Auftraggeber betrifft. Dieser muss gemäß Art. 56 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/24 den Auftrag vergeben, nachdem er überprüft hat, dass das Angebot von einem geeigneten (also nicht gemäß Art. 57 ausgeschlossenen) Bieter eingereicht worden ist.
55. Der öffentliche Auftraggeber muss prüfen, ob Ausschlussgründe vorliegen(29 ) und, wenn dies der Fall ist, ob der unzuverlässige Wirtschaftsteilnehmer geltend gemacht hat, trotz allem wegen der von ihm ergriffenen Maßnahmen vertrauenswürdig zu sein(30 ).
56. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe muss sich der öffentliche Auftraggeber zunächst auf die Angaben der Bieter stützen. Art. 57 Abs. 4 Buchst. h der Richtlinie 2014/24 regelt den Fall, dass der Wirtschaftsteilnehmer die von ihm zur Überprüfung des Fehlens von Ausschlussgründen verlangten Auskünfte zurückgehalten hat oder nicht in der Lage ist, die gemäß Art. 59 erforderlichen zusätzlichen Unterlagen einzureichen. Beide Umstände reichen aus, um seine Teilnahme am Vergabeverfahren abzulehnen(31 ).
57. Von den Teilnehmern eines Vergabeverfahrens zu verlangen, in ihrem Angebot von sich aus anhand der entsprechenden Bescheinigungen sämtliche in Art. 59 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 genannten Aspekte urkundlich nachzuweisen, könnte zu weit gehen. Außerdem wäre es für die Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens unnötig und stünde nicht im Einklang mit der Einführung der EEE im europäischen Vergaberecht.
58. Das Erfordernis, dass dem Angebot des Bieters die Mitteilung und die Beschreibung der Selbstreinigungsmaßnahmen beigefügt sein müssen, wenn er sich zu seinen Gunsten darauf berufen möchte, halte ich hingegen nicht für übertrieben. Dieses Erfordernis hat für ihn den Charakter einer Obliegenheit im verfahrensrechtlichen Sinn(32 ).
59. Der öffentliche Auftraggeber muss, wie gesagt, diese Maßnahmen kennen, um sie beurteilen und sich von der Zuverlässigkeit eines anfänglich unzuverlässigen Auftragnehmers überzeugen zu können. Dies bedeutet aber nicht, dass er mangels Angaben des Bieters von Amts wegen prüfen muss, ob dieser diese Maßnahmen ergriffen hat oder nicht.
60. Im Urteil Vossloh hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Wirtschaftsteilnehmer
– „dem öffentlichen Auftraggeber den Nachweis dafür erbringen muss, dass diese [Selbstreinigungs‑]Maßnahmen für seine Zulassung zum Vergabeverfahren ausreichend sind“,
– und wenn er „trotz des Vorliegens eines einschlägigen Ausschlussgrundes seine Zuverlässigkeit nachweisen möchte, wirksam mit den Stellen zusammenarbeiten [muss], denen diese jeweiligen Funktionen übertragen worden sind, ganz gleich, ob es sich um den öffentlichen Auftraggeber oder um die Ermittlungsbehörde handelt“(33 ).
61. Allerdings wird in dem Urteil die Pflicht zur Zusammenarbeit abgeschwächt: Sie ist „auf die Maßnahmen beschränkt …, die unbedingt erforderlich sind, damit das Ziel wirksam verfolgt werden kann, das der Prüfung der Zuverlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers, um die es in Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 geht, innewohnt“(34 ).
62. Diesem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit wende ich mich gleich zu, nachdem ich auf die Erfordernisse eingegangen bin, die sich aus den Grundsätzen der Transparenz und der Gleichheit ergeben.
3. Grenzen für die Regelung, den Nachweis von sich aus erbringen zu müssen
63. Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die die Mitgliedstaaten im Rahmen von Art. 57 Abs. 7 erlassen, müssen aufgrund dieser Vorschrift das Unionsrecht beachten. Diese Pflicht beinhaltet die Einhaltung der Rechtsgrundsätze der Union, die für die öffentliche Auftragsvergabe maßgeblich sind. Außerdem weist Abs. 6 dieses Artikels für die Beurteilung der Selbstreinigungsmaßnahmen ausdrücklich auf die Verhältnismäßigkeit hin.
a) Transparenz und Gleichheit
64. Der Transparenzgrundsatz, der in der Pflicht zum Ausdruck kommt, die Anforderungen an die Eignung von Bietern klar zu formulieren, knüpft an das Gebot der Gleichbehandlung der Bieter an, was so weit geht, dass sie dem Gerichtshof zufolge miteinander einhergehen(35 ).
65. Jeder Bieter muss daher in der Lage sein, unter den gleichen Voraussetzungen Kenntnis von den Ausschreibungsbedingungen zu erlangen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Ausschlussgründe, insbesondere die fakultativen, klar zum Ausdruck kommen, denn ihre einheitliche Regelung und ihre einheitliche Anwendung sind nicht im Unionsrecht, sondern in den Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats detailliert geregelt(36 ).
66. Ist in der Bekanntmachung ein Ausschlussgrund angegeben, stellen die Grundsätze der Transparenz und der Gleichheit kein Hindernis dafür dar, einen Wirtschaftsteilnehmer aufgrund einer nationalen Vorschrift zu verpflichten, mit seinem Angebot (also von sich aus) den Nachweis der Selbstreinigungsmaßnahmen vorzulegen, um diesen Ausschlussgrund zu entkräften.
67. Auf diese Weise können alle Bewerber unter gleichen Bedingungen erkennen, ob sie, weil bei ihnen ein angegebener Ausschlussgrund vorliegt, von Anfang an gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber, der einen von ihnen auswählen muss, ihre wiedererlangte Zuverlässigkeit gelten machen müssen.
68. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass den Bietern nicht vorgeschrieben werden kann, von sich aus bei ihnen vorliegende Umstände offenzulegen, wenn eine solche Verpflichtung „weder im anwendbaren nationalen Recht noch in der Ausschreibung oder den Verdingungsunterlangen enthalten ist“. In diesem Fall wäre die Verpflichtung keine eindeutig festgelegte Bedingung, und es läge ein Verstoß gegen die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung vor(37 ).
69. Im Umkehrschluss ist die Verpflichtung zur Offenlegung der genannten Umstände rechtmäßig, wenn sie „im anwendbaren nationalen Recht [oder] in der Ausschreibung oder den Verdingungsunterlangen enthalten ist“.
70. Diese Rechtsprechung steht mithin einem Modell der Beziehung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Wirtschaftsteilnehmer nicht entgegen, nach dem der Wirtschaftsteilnehmer allgemein die von ihm ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen geltend machen und gegebenenfalls nachweisen muss, wenn er sie in Anspruch nehmen will, um den in der Bekanntmachung genannten Ausschlussgrund zu entkräften.
71. Hypothetisch könnte sich ein „durchschnittlich fachkundiger Bieter“(38 ) materieller Anforderungen des Angebots, die nicht veröffentlicht wurden, nicht bewusst sein. Ist er aber in der Bekanntmachung erst einmal auf die konkreten Ausschlussgründe hingewiesen worden, verstößt es nicht gegen die Grundsätze der Transparenz und der Publizität, wenn ein solcher Wirtschaftsteilnehmer angeben (und gegebenenfalls nachweisen) muss, dass er, auch wenn einer von ihnen auf ihn zutrifft, seiner fehlenden Zuverlässigkeit abgeholfen hat.
72. Diesem Wirtschaftsteilnehmer kann es nicht verborgen bleiben, dass er selbst dann, wenn in der Bekanntmachung nicht ausdrücklich auf Selbstreinigungsmaßnahmen Bezug genommen wird, nach der Richtlinie 2014/24 die Möglichkeit hat, sich auf sie zu berufen.
73. Dies ist seit der Einführung der EEE umso mehr gerechtfertigt, die, wie ich bereits ausgeführt habe, spezifische Felder für die Angabe (und Beschreibung) von Selbstreinigungsmaßnahmen enthält. Ich möchte darauf hinweisen, dass die EEE in fast allen Verfahren, die unter die Richtlinie 2014/24 fallen, praktisch zwingend zu verwenden ist(39 ).
b) Verhältnismäßigkeit
74. Aus dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 ergibt sich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf Vergabeverfahren anwendbar ist. Dies wird im 101. Erwägungsgrund bei der Bezugnahme auf die fakultativen Ausschlussgründe spezifisch wiederholt.
75. Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie nimmt ausdrücklich auf die Verhältnismäßigkeit bei der Bewertung der Selbstreinigungsmaßnahmen, die die Wirtschaftsteilnehmer ergriffen haben wollen, Bezug.
76. Es ist daher logisch, dass der Gerichtshof ausgeführt hat, dass „die Regeln zur Festlegung der Bedingungen für die Anwendung von Art. 57 der Richtlinie … nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele erforderlich ist“(40 ).
77. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt daher maßgeblich ins Spiel, wenn der öffentliche Auftraggeber das Ausreichen der Selbstreinigungsmaßnahmen und die Ausschlussgründe als solche bewerten und in Bezug auf Letztere ausschließen muss, dass leichte und nicht wiederholte Unregelmäßigkeiten – außer in Ausnahmefällen – Ausschlusswirkung haben(41 ).
78. Kann vom öffentlichen Auftraggeber verlangt werden, dass er denselben Grundsatz auf das Erfordernis, dass ein Bieter in seinem Angebot angeben muss, dass bei ihm zwar ein fakultativer Ausschlussgrund vorliegt, er aber sein Verhalten später korrigiert und demzufolge seine Zuverlässigkeit wiedererlangt hat, anwendet?
79. Unter normalen Umständen muss der öffentliche Auftraggeber sich auf die Prüfung beschränken, ob der Bieter dieses Erfordernis erfüllt hat. Eine Entscheidung, mit der die Bewerbung eines Wirtschaftsteilnehmers, der unter Verstoß gegen seine Pflicht in seinem Angebot verschwiegen hat, dass er von einem Ausschlussgrund betroffen ist, ausgeschlossen wird, kann nicht als unverhältnismäßig bezeichnet werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn er eine schwere berufliche Verfehlung begangen hat und sie nicht angibt.
80. In einem solchen Fall ist für den Ausschluss weniger die unterbliebene Angabe entscheidend als das Vorliegen des Ausschlussgrundes selbst (beispielsweise die schwere Verfehlung im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit), ohne dass der Wirtschaftsteilnehmer mitgeteilt hat, dass ihm in Form einer geeigneten Selbstreinigungsmaßnahme abgeholfen worden ist.
81. Hingegen wird es Situationen geben, in denen man unter Anwendung der Kriterien, die der Gerichtshof im Urteil Pizzo für Bieter, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, entwickelt hat, „da ihre Kenntnis vom nationalen Recht und seiner Auslegung sowie von der Praxis der nationalen Behörden nicht mit der der nationalen Bieter verglichen werden kann“(42 ), flexibler sein kann.
82. In diesen Situationen sind „[d]ie Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit … dahin auszulegen, dass sie es nicht verwehren, dem Wirtschaftsteilnehmer zu gestatten, seine Situation zu bereinigen und dieser Verpflichtung innerhalb einer vom Auftraggeber festgelegten Frist nachzukommen“(43 ).
83. Im Urteil vom 14. Dezember 2016, Conexxion Taxi Services, hat der Gerichtshof diesen Gedanken auf der Grundlage, dass Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten mit dem Wortlaut und den Durchführungsbestimmungen der einschlägigen nationalen Regelung weniger vertraut sind, weil sie Ausländer sind, wieder aufgenommen(44 ).
84. Meines Erachtens ist dieses Kriterium ebenfalls anwendbar, wenn der Ausschlussgrund, von dem der Wirtschaftsteilnehmer betroffen ist, sich nicht eindeutig aus den Verfahrensunterlagen ergibt. Es steht mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Verhältnismäßigkeit im Einklang, dass einem Wirtschaftsteilnehmer unter diesen Umständen die Möglichkeit gegeben wird, dem anfänglichen Fehlen von Angaben zu diesem Ausschlussgrund (und zu den daraufhin ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen) abzuhelfen.
c) Verteidigungsrecht
85. Im Vorlagebeschluss führt der Raad van State (Staatsrat, Belgien) aus, dass es als „Selbstanzeige“ eingestuft werden könne, wenn ein Bieter von sich aus seine schweren Verfehlungen und die darauf folgenden Selbstreinigungsmaßnahmen mitteilen müsse(45 ).
86. Ein Wirtschaftsteilnehmer ist zur Teilnahme an einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge in keiner Weise verpflichtet. Tut er es allerdings, muss er dessen Regeln einhalten. In der Richtlinie 2014/24 muss das Verhältnis zwischen den Bietern und dem öffentlichen Auftraggeber vom guten Glauben geleitet sein, so dass die Bieter gerade wegen der Zuverlässigkeit, die von ihnen verlangt wird, keine Informationen über Ausschlussgründe, die bei ihnen vorliegen, zurückhalten dürfen.
87. Der Bieter muss nämlich die Auskünfte geben, die zur Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von Ausschlussgründen erforderlich sind, und es ist ihm nicht gestattet, sie zurückzuhalten (dieser Begriff wird in Art. 57 Abs. 4 Buchst. h der Richtlinie 2014/24 verwendet) oder zu verfälschen.
88. Von jemandem, der freiwillig an einem öffentlichen Vergabeverfahren teilnimmt, zu verlangen, über schwere Verfehlungen (und gegebenenfalls spätere Selbstreinigungsmaßnahmen) Auskunft zu geben, um nicht ausgeschlossen zu werden, ist nicht dasselbe wie das Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen bzw. sich nicht selbst belasten zu müssen, das in anderen Bereichen der Rechtsordnung gilt, außer Acht zu lassen.
89. Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der öffentliche Auftraggeber auch dann vom Bieter verlangen kann, dass er eine Selbstreinigungsmaßnahme anhand von Dokumenten nachweist, wenn dies für ihn möglicherweise nachteilige Folgen hat(46 ).
90. Etwas anderes ist es, wenn der Wirtschaftsteilnehmer wegen der Weite des Begriffs „schwere [berufliche] Verfehlung, die seine Integrität in Frage stellt“, nicht mit Sicherheit erkennen kann, ob eine seiner in der Vergangenheit liegenden Verhaltensweisen als solche bezeichnet werden kann. An diesem Punkt hat das vorlegende Gericht recht, wenn es ausführt, dass es in Anbetracht des weiten Ermessensspielraums der öffentlichen Auftraggeber bei der betreffenden Feststellung (101. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24) nicht immer einfach ist, zu erkennen, ob dieser Ausschlussgrund vorliegt.
91. In einem solchen Fall – wenn die Einstufung seines Verhaltens als schwere Verfehlung für den betroffenen Bieter nicht vorhersehbar ist – kann von ihm nicht verlangt werden, dass er es in seinem Angebot oder der EEE angibt. Daher muss der öffentliche Auftraggeber, der letztendlich „auf geeignete Weise nachweisen [muss], dass der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat“, dem Bieter die Möglichkeit geben, zu dieser Verfehlung vorzubringen, was er für erheblich hält.
92. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Ausschlussgründe nach dem Grundsatz der Transparenz in einer Weise anzugeben sind, dass der Wirtschaftsteilnehmer sie auf sich beziehen und gegebenenfalls geltend machen kann, ihnen abgeholfen zu haben.
93. In diesem Sinne erinnere ich daran, dass der nach Art. 57 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 zulässige Ausschluss sowohl auf Mängel bei der Ausführung früherer Aufträge (Buchst. g) als auch auf schwere berufliche Verfehlungen gestützt werden kann (Buchst. c). Im vorliegenden Fall lagen diese beiden Gründe nach der Einschätzung des öffentlichen Auftraggebers in materieller Hinsicht vor, und auf beide wird in der ersten Vorlagefrage spezifisch Bezug genommen(47 ).
94. In der auf der Richtlinie 2004/18 beruhenden Bekanntmachung, die dem Streit zugrunde liegt, war nämlich der Ausschlussgrund der schweren beruflichen Verfehlung, der auch im Königlichen Erlass vom 15. Juli 2011 geregelt ist, aufgeführt. So verstand es der öffentliche Auftraggeber, der diesen Grund anführte, um die klagenden Unternehmen vom Vergabeverfahren auszuschließen.
95. Letztendlich bin ich der Ansicht, dass Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 dem nicht entgegensteht, dass ein Wirtschaftsteilnehmer von sich aus die von ihm ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen angeben (und gegebenenfalls nachweisen) muss, wenn sich der Ausschlussgrund klar aus der Bekanntmachung ergibt.
C. Zur zweiten Vorlagefrage
96. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Wirtschaftsteilnehmer sich gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber unmittelbar auf Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 berufen kann(48 ).
97. Sollte meinem Vorschlag zur vorhergehenden Frage gefolgt werden, wäre es nicht erforderlich, diese Frage zu beantworten. Die nachstehenden Überlegungen stelle ich daher in doppelter Hinsicht hilfsweise an (ich habe bereits dargelegt, weshalb die Richtlinie 2014/24 in dieser Rechtssache nicht gilt)(49 ).
98. Wäre sie anwendbar, könnte Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 für die Zwecke des Begehrens, über das der Raad van State (Staatsrat, Belgien) zu entscheiden hat(50 ), meines Erachtens unmittelbare Wirkung zugestanden werden.
99. Dieser Artikel gibt den Bietern ein Recht (sich gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber auf die Selbstreinigungsmaßnahmen zu berufen), das sie vor den nationalen Gerichten geltend machen können und das diese schützen müssen.
100. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Beteiligten des Vorabentscheidungsverfahrens beschränken sich darauf, ob diese Bestimmung unbedingt und hinreichend genau ist, wobei es sich um Anforderungen handelt, die sich aus der Rechtsprechung ergeben(51 ).
101. Was die Unbedingtheit betrifft, hängt das in Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 verankerte Recht weder von den Mitgliedstaaten ab noch unterliegt es im Hinblick auf seinen wesentlichen Inhalt deren Regelungen.
102. Bezüglich der Genauigkeit gibt die Bestimmung bereits selbst Hinweise zu dem, was mindestens nachgewiesen und mithin beurteilt werden muss(52 ). Aus ihr ergibt sich auch, welche Kriterien (Schwere und besondere Umstände) bei der Beurteilung gelten(53 ) und welche Folgen eine positive und eine negative Bewertung haben(54 ). Sie regelt auch, wann das Recht, Selbstreinigungsmaßnahmen vorzutragen, nicht besteht(55 ). Sie legt letztendlich die grundlegenden Aspekte der Regelung und des Inhalts dieses Rechts fest.
103. Zwar bleiben nach der allgemeinen Regel des Art. 57 der Richtlinie 2014/24 andere materielle und verfahrensrechtliche Aspekte, beispielsweise in Bezug auf den höchstzulässigen Zeitraum des Ausschlusses oder den Zeitpunkt und die Art und Weise des Nachweises der Selbstreinigung, Sache der Mitgliedstaaten.
104. Die Regelung, wie und wann der Bieter die Selbstreinigungsmaßnahmen angeben und gegebenenfalls nachweisen muss, bleibt im Ermessen der Mitgliedstaaten. Die Alternative zwischen einer Prüfung von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten stellt ebenfalls keine wesentliche Bedingung des Rechts dar, das Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 den Bietern verleiht.
105. Das Fehlen einer nationalen (Rechts- oder Verwaltungs‑) Vorschrift über die formalen und zeitlichen Modalitäten darf jedoch nicht so weit zulasten der Bieter gehen, dass ihr Recht, sich vor einem nationalen Gericht auf die Vorteile zu berufen, die ihnen auf dem Gebiet der Selbstreinigungsmaßnahmen zustehen, beseitigt wird.
V. Ergebnis
106. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Raad van State (Staatsrat, Belgien) wie folgt zu antworten:
Die Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG ist auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, wie er sich aus dem Vorlagebeschluss ergibt, in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar.
Hilfsweise:
– Art. 57 Abs. 4 Buchst. c und g in Verbindung mit den Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24 steht dem nicht entgegen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer von sich aus vortragen und gegebenenfalls nachweisen muss, dass die von ihm ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen trotz eines bei ihm vorliegenden Ausschlussgrundes für den Nachweis seiner Zuverlässigkeit ausreichen.
– Wirtschaftsteilnehmer, die sich in einer der in Art. 57 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2014/24 genannten Situationen befinden, können sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf das Recht berufen, das ihnen Abs. 6 dieses Artikels verleiht.