URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. Februar 2024(* )
„Rechtsmittel – Geistiges Eigentum – Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (PCT) – Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums – Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums – Art. 4 – Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Art. 41 – Anmeldung eines Geschmacksmusters – Prioritätsrecht – Inanspruchnahme der Priorität aufgrund einer gemäß dem PCT eingereichten internationalen Anmeldung – Frist – Auslegung im Einklang mit Art. 4 der Übereinkunft – Grenzen“
In der Rechtssache C‑382/21 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 23. Juni 2021,
Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch D. Gája, D. Hanf, E. Markakis und V. Ruzek als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführer,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch P. Němečková, J. Samnadda und G. von Rintelen als Bevollmächtigte,
Streithelferin im Rechtsmittelverfahren,
andere Partei des Verfahrens:
The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR mit Sitz in München (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwältin J. Hellmann-Cordner im Beistand der Patentanwälte T. Lachmann und F. Steinbach,
Klägerin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Piçarra, der Richter M. Ilešič und P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2023,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Juli 2023
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel begehrt das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 14. April 2021, The KaiKai Company Jaeger Wichmann/EUIPO (Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel) (T‑579/19, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2021:186), mit dem das Gericht die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des EUIPO vom 13. Juni 2019 (Sache R 573/2019-3) aufgehoben hat.
Rechtlicher Rahmen
Völkerr echt
Pariser Verbandsübereinkunft
2 Die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums wurde am 20. März 1883 in Paris unterzeichnet, zuletzt in Stockholm am 14. Juli 1967 revidiert und am 28. September 1979 geändert (United Nations Treaty Series , Bd. 828, Nr. 11851, S. 305, im Folgenden: Pariser Verbandsübereinkunft). Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien dieser Übereinkunft.
3 Art. 1 Abs. 1 und 2 der Pariser Verbandsübereinkunft bestimmt:
„(1) Die Länder, auf die diese Übereinkunft Anwendung findet, bilden einen Verband zum Schutz des gewerblichen Eigentums.
(2) Der Schutz des gewerblichen Eigentums hat zum Gegenstand die Erfindungspatente, die Gebrauchsmuster, die gewerblichen Muster oder Modelle, die Fabrik- oder Handelsmarken, die Dienstleistungsmarken, den Handelsnamen und die Herkunftsangaben oder Ursprungsbezeichnungen sowie die Unterdrückung des unlauteren Wettbewerbs.“
4 In Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft heißt es:
„A.
(1) Wer in einem der [Länder des Verbands zum Schutz des gewerblichen Eigentums] die Anmeldung für ein Erfindungspatent, ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Fabrik- oder Handelsmarke vorschriftsmäßig hinterlegt hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Hinterlegung in den anderen Ländern während der unten bestimmten Fristen ein Prioritätsrecht.
(2) Als prioritätsbegründend wird jede Hinterlegung anerkannt, der nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften jedes [Landes des Verbands zum Schutz des gewerblichen Eigentums] oder nach den zwischen [Ländern des Verbands zum Schutz des gewerblichen Eigentums] abgeschlossenen zwei- oder mehrseitigen Verträgen die Bedeutung einer vorschriftsmäßigen nationalen Hinterlegung zukommt.
…
C.
(1) Die oben erwähnten Prioritätsfristen betragen zwölf Monate für die Erfindungspatente und die Gebrauchsmuster und sechs Monate für die gewerblichen Muster oder Modelle und für die Fabrik- oder Handelsmarken.
(2) Diese Fristen laufen vom Zeitpunkt der Hinterlegung der ersten Anmeldung an; der Tag der Hinterlegung wird nicht in die Frist eingerechnet.
…
(4) Als erste Anmeldung, von deren Hinterlegungszeitpunkt an die Prioritätsfrist läuft, wird auch eine jüngere Anmeldung angesehen, die denselben Gegenstand betrifft wie eine erste ältere im Sinn des Absatzes 2 in demselben [Land des Verbands zum Schutz des gewerblichen Eigentums] eingereichte Anmeldung, sofern diese ältere Anmeldung bis zum Zeitpunkt der Hinterlegung der jüngeren Anmeldung zurückgezogen, fallen gelassen oder zurückgewiesen worden ist, und zwar bevor sie öffentlich ausgelegt worden ist und ohne dass Rechte bestehen geblieben sind; ebenso wenig darf diese ältere Anmeldung schon Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen sein. Die ältere Anmeldung kann in diesem Fall nicht mehr als Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts dienen.
…
E.
(1) Wird in einem Land ein gewerbliches Muster oder Modell unter Inanspruchnahme eines auf die Anmeldung eines Gebrauchsmusters gegründeten Prioritätsrechts hinterlegt, so ist nur die für gewerbliche Muster oder Modelle bestimmte Prioritätsfrist maßgebend.
(2) Im Übrigen ist es zulässig, in einem Land ein Gebrauchsmuster unter Inanspruchnahme eines auf die Hinterlegung einer Patentanmeldung gegründeten Prioritätsrechts zu hinterlegen und umgekehrt.
…“
5 Art. 19 der Pariser Verbandsübereinkunft lautet:
„Es besteht Einverständnis darüber, dass die [Länder des Verbands zum Schutz des gewerblichen Eigentums] sich das Recht vorbehalten, einzeln untereinander Sonderabkommen zum Schutz des gewerblichen Eigentums zu treffen, sofern diese Abkommen den Bestimmungen dieser Übereinkunft nicht zuwiderlaufen.“
6 Art. 25 Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft bestimmt:
„Jedes Vertragsland dieser Übereinkunft verpflichtet sich, entsprechend seiner Verfassung die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung dieser Übereinkunft zu gewährleisten.“
TRIPS-Übereinkommen
7 Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen) in Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) wurde am 15. April 1994 in Marrakesch (Marokko) unterzeichnet und durch den Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986‑1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994, L 336, S. 1) genehmigt. Vertragsparteien des TRIPS-Übereinkommens sind die Mitglieder der WTO, zu denen alle Mitgliedstaaten der Union sowie die Union selbst gehören.
8 Art. 2 des TRIPS-Übereinkommens, der zu dessen Teil I gehört, bestimmt in Abs. 1:
„In Bezug auf die Teile II, III und IV dieses Übereinkommens befolgen die Mitglieder die Artikel 1 bis 12 sowie Artikel 19 der Pariser Verbandsübereinkunft …“
9 Nach Art. 25 des TRIPS-Übereinkommens, der zu dessen Teil II gehört, sind die Mitglieder der WTO verpflichtet, den Schutz unabhängig geschaffener gewerblicher Muster und Modelle vorzusehen, die neu sind oder Eigenart haben.
10 Art. 62 des TRIPS-Übereinkommens, der dessen Teil IV bildet, betrifft u. a. den Erwerb von Rechten des geistigen Eigentums.
PCT
11 Der Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens wurde am 19. Juni 1970 in Washington geschlossen und zuletzt am 3. Oktober 2001 geändert (United Nations Treaty Series , Bd. 1160, Nr. 18336, S. 231, im Folgenden: PCT). Alle Mitgliedstaaten der Union sind Vertragsparteien des PCT.
12 Art 1 Abs. 2 des PCT sieht vor:
„Keine Bestimmung dieses Vertrags ist so auszulegen, dass sie die Rechte aus der [Pariser Verbandsübereinkunft] der Personen beeinträchtigt, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedlands dieser Übereinkunft besitzen oder in einem solchen Land ihren Sitz oder Wohnsitz haben.“
13 Art. 2 des PCT bestimmt:
„Im Sinne dieses Vertrags und der Ausführungsordnung und sofern nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt wird:
i) bedeutet ‚Anmeldung‘ eine Anmeldung für den Schutz einer Erfindung; Bezugnahmen auf eine ‚Anmeldung‘ sind zu verstehen als Bezugnahme auf Anmeldungen für Erfindungspatente, für Erfinderscheine, für Gebrauchszertifikate, für Gebrauchsmuster, für Zusatzpatente oder ‑zertifikate, für Zusatzerfinderscheine und Zusatzgebrauchszertifikate;
ii) sind Bezugnahmen auf ein ‚Patent‘ zu verstehen als Bezugnahmen auf Erfindungspatente, auf Erfinderscheine, auf Gebrauchszertifikate, auf Gebrauchsmuster, auf Zusatzpatente oder ‑zertifikate, auf Zusatzerfinderscheine und auf Zusatzgebrauchszertifikate;
…
vii) bedeutet ‚internationale Anmeldung‘ eine nach diesem Vertrag eingereichte Anmeldung;
…“
Unionsrecht
14 Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) sieht in Abs. 1 vor:
„Ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster kann nur dann für nichtig erklärt werden:
…
g) wenn das Geschmacksmuster eine missbräuchliche Verwendung eines der in Artikel 6b der [Pariser Verbandsübereinkunft] genannten Gegenstände und Zeichen oder anderer als der in Artikel 6b aufgezählten Stempel, Kennzeichen und Wappen, die für einen Mitgliedstaat von besonderem öffentlichen Interesse sind, darstellt.“
15 Art. 41 dieser Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft oder des Übereinkommens zur Errichtung der [WTO] ein Geschmacksmuster oder ein Gebrauchsmuster vorschriftsmäßig angemeldet hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt hinsichtlich der Anmeldung als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster für dieses Muster oder Gebrauchsmuster ein Prioritätsrecht von sechs Monaten nach Einreichung der ersten Anmeldung.
(2) Als prioritätsbegründend wird jede Anmeldung anerkannt, der nach dem innerstaatlichen Recht des Staates, in dem sie eingereicht worden ist, oder nach zwei- oder mehrseitigen Verträgen die Bedeutung einer vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldung zukommt.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
16 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist vom Gericht in den Rn. 12 bis 22 des angefochtenen Urteils dargestellt worden und kann für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens wie folgt zusammengefasst werden.
17 Am 24. Oktober 2018 beantragte The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR (im Folgenden: KaiKai) beim EUIPO in Form einer Sammelanmeldung die Eintragung von zwölf Gemeinschaftsgeschmacksmustern (im Folgenden: fragliche Anmeldung), wobei sie für alle diese Geschmacksmuster eine Priorität beanspruchte, die sich auf die am 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT beim Europäischen Patentamt eingereichte internationale Anmeldung PCT/EP2017/077469 stützte (im Folgenden: internationale Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT).
18 Mit Schreiben vom 31. Oktober 2018 informierte der Prüfer des EUIPO KaiKai darüber, dass die fragliche Anmeldung vollständig zur Eintragung freigegeben worden sei, das beanspruchte Prioritätsrecht aber für alle in Rede stehenden Geschmacksmuster zurückgewiesen werde, weil der Anmeldetag der internationalen Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT mehr als sechs Monate vor dem Anmeldetag der fraglichen Anmeldung liege.
19 Da KaiKai an ihrer Inanspruchnahme der Priorität festhielt und um eine beschwerdefähige Entscheidung bat, wies der Prüfer das Prioritätsrecht für alle in Rede stehenden Gemeinschaftsgeschmacksmuster mit Entscheidung vom 16. Januar 2019 zurück (im Folgenden: Entscheidung des Prüfers).
20 Zur Begründung dieser Entscheidung führte der Prüfer aus, eine internationale Anmeldung gemäß dem PCT könne zwar grundsätzlich ein Prioritätsrecht nach Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 begründen, da die weite Definition des Begriffs „Patent“ in Art. 2 des PCT auch Gebrauchsmuster im Sinne von Art. 41 Abs. 1 umfasse; die Inanspruchnahme eines solchen Prioritätsrechts unterliege jedoch ebenfalls einer Frist von sechs Monaten, die im vorliegenden Fall nicht gewahrt worden sei.
21 Am 14. März 2019 legte KaiKai beim EUIPO Beschwerde gegen die Entscheidung des Prüfers ein.
22 Mit Entscheidung vom 13. Juni 2019 (im Folgenden: streitige Entscheidung) wies die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO die Beschwerde zurück. Sie war im Wesentlichen der Auffassung, dass der Prüfer Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, der die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft inhaltsgleich wiedergebe, korrekt angewandt habe.
23 Daher habe die Klägerin ein auf die internationale Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT gestütztes Prioritätsrecht nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab dem Datum der Anmeldung, d. h. bis zum 26. April 2018, in Anspruch nehmen können.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
24 Mit Klageschrift, die am 20. August 2019 beim Gericht einging, erhob KaiKai Klage gegen die streitige Entscheidung, wobei sie beantragte,
– die streitige Entscheidung aufzuheben und dem EUIPO die Kosten des Verfahrens vor der Beschwerdekammer und vor dem Gericht aufzuerlegen (erster, dritter und vierter Antrag),
– die Entscheidung des Prüfers aufzuheben und das beanspruchte Prioritätsrecht anzuerkennen (zweiter Antrag) sowie,
– hilfsweise, eine mündliche Verhandlung durchzuführen (fünfter Antrag).
25 KaiKai stützte ihre Klage auf zwei Gründe, mit denen sie erstens eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften durch die Beschwerdekammer des EUIPO und zweitens eine falsche Auslegung und Anwendung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 durch die Beschwerdekammer rügte.
26 Im angefochtenen Urteil hat das Gericht zunächst den zweiten und den fünften Antrag von KaiKai als unzulässig zurückgewiesen (Rn. 25 bis 33) und sodann die Begründetheit des zweiten Klagegrundes geprüft.
27 Erstens hat das Gericht in den Rn. 41 bis 50 des angefochtenen Urteils den ersten Teil dieses Klagegrundes zurückgewiesen, mit dem ein Rechtsfehler bei der Auslegung des Begriffs „Gebrauchsmuster“ im Sinne von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 gerügt wurde.
28 Hierzu hat das Gericht in Rn. 44 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Argumentation von KaiKai ambivalent sei und ihr keinen Vorteil verschaffe. In den Rn. 45 bis 47 des Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass die gemäß dem PCT eingereichten „internationalen Patentanmeldungen“ jedenfalls Gebrauchsmuster umfassten und dass der PCT nicht nach den verschiedenen Rechten unterscheide, mit denen die diversen Vertragsstaaten der Erfindung Schutz gewährten. In den Rn. 49 und 50 des Urteils hat es hinzugefügt, die Beschwerdekammer des EUIPO habe, obwohl sich der Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht ausdrücklich auf die Beanspruchung eines Prioritätsrechts aus einem Patent beziehe, keinen Rechtsfehler begangen, als es diese Bestimmung angesichts der Schutzrichtung des PCT weit ausgelegt und die Beanspruchung des Prioritätsrechts aufgrund der internationalen Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT hinsichtlich der Frage, ob auf eine solche Anmeldung ein Prioritätsrecht gestützt werden könne, als von der Bestimmung erfasst angesehen habe.
29 Zweitens hat das Gericht in den Rn. 51 bis 87 des angefochtenen Urteils dem zweiten Teil des zweiten Klagegrundes stattgegeben, mit dem gerügt wurde, dass Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft bei der Bestimmung der Frist, innerhalb deren ein solches Prioritätsrecht beansprucht werden könne, nicht berücksichtigt worden sei.
30 Dabei hat das Gericht zunächst in den Rn. 56 bis 66 des Urteils ausgeführt, da Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht regele, innerhalb welcher Frist die Priorität einer „internationalen Patentanmeldung“ im Rahmen der späteren Anmeldung eines Geschmacksmusters in Anspruch genommen werden könne und da diese Bestimmung darauf abziele, die Verordnung mit den Verpflichtungen der Union aus der Pariser Verbandsübereinkunft in Einklang zu bringen, müsse auf deren Art. 4 zurückgegriffen werden, um die Lücke in der Verordnung zu schließen. Sodann hat das Gericht in den Rn. 72 und 77 bis 85 des Urteils ausgeführt, die Übereinkunft enthalte zwar ebenfalls keine ausdrücklichen Regeln in Bezug auf die Prioritätsfrist in einem solchen Fall, doch ergebe sich aus der dem Prioritätensystem innewohnenden Logik und den Materialien der Übereinkunft, dass die Dauer der Prioritätsfrist im Allgemeinen durch die Art des früheren Rechts bestimmt werde. Schließlich ist das Gericht in Rn. 86 des Urteils zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beschwerdekammer des EUIPO mit ihrer Annahme, die für die Inanspruchnahme der Priorität der internationalen Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT durch KaiKai geltende Frist habe sechs Monate betragen, einen Fehler begangen habe.
31 Infolgedessen hat das Gericht, ohne den ersten Klagegrund zu prüfen, in Rn. 88 des angefochtenen Urteils der Klage stattgegeben, soweit sie auf die Aufhebung der streitigen Entscheidung gerichtet war, und hat diese Entscheidung daher aufgehoben.
Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien
32 Mit Rechtsmittelschrift, die am 23. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das EUIPO das vorliegende Rechtsmittel gegen das angefochtene Urteil eingelegt.
33 Mit Schriftsatz, der am selben Tag eingegangen ist, hat das EUIPO gemäß Art. 170a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, sein Rechtsmittel im Einklang mit Art. 58a Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zuzulassen.
34 Durch Beschluss vom 10. Dezember 2021, EUIPO/The KaiKai Company Jaeger Wichmann (C‑382/21 P, EU:C:2021:1050), ist das Rechtsmittel zugelassen worden.
35 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. April 2022 ist die Europäische Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des EUIPO zugelassen worden.
36 Das EUIPO beantragt,
– das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufzuheben,
– die gegen die streitige Entscheidung gerichtete Klage vollumfänglich abzuweisen und
– KaiKai die dem EUIPO im vorliegenden Verfahren sowie im erstinstanzlichen Verfahren entstandenen Kosten aufzuerlegen.
37 KaiKai beantragt,
– das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen und
– dem EUIPO die ihr entstandenen Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens, des erstinstanzlichen Verfahrens sowie des Beschwerdeverfahrens vor der Beschwerdekammer des EUIPO aufzuerlegen.
38 Die Kommission beantragt,
– das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufzuheben,
– die Klage vollumfänglich abzuweisen und
– KaiKai die Kosten des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
Vorbringen der Parteien
39 Das EUIPO stützt sein Rechtsmittel auf einen einzigen Rechtsmittelgrund, mit dem es einen Verstoß gegen Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 rügt. Dieser Rechtsmittelgrund besteht aus drei Teilen.
40 Mit dem ersten Teil wirft das EUIPO dem Gericht vor, in den Rn. 56, 57 und 64 bis 66 des angefochtenen Urteils zu Unrecht in dem Umstand, dass nach dieser Bestimmung eine frühere Patentanmeldung nicht als Prioritätsgrundlage für die spätere Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters dienen könne und dass sie daher keine Frist für die Inanspruchnahme einer solchen Priorität vorsehe, eine Gesetzeslücke gesehen zu haben.
41 Eine solche Auslegung stehe in offenkundigem Widerspruch zum klaren Wortlaut der genannten Bestimmung, aus der eindeutig hervorgehe, auf welche Arten von gewerblichen Schutzrechten ein Prioritätsanspruch allein gestützt werden könne – und zwar auf ein älteres Geschmacks- oder Gebrauchsmuster, also nicht auf ein Patent – und innerhalb welcher Frist eine solche Priorität in Anspruch genommen werden könne, nämlich sechs Monate lang ab dem Tag der älteren Anmeldung.
42 Mit dem zweiten Teil des einzigen Rechtsmittelgrundes macht das EUIPO geltend, das Gericht habe durch die Anerkennung einer Frist von zwölf Monaten für die Inanspruchnahme der Priorität (Rn. 75 bis 86 des angefochtenen Urteils) Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht lediglich im Einklang mit Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft ausgelegt, sondern Art. 4 anstelle von Art. 41 Abs. 1 angewandt. Dadurch habe das Gericht Art. 4 unmittelbare Wirkung in der Rechtsordnung der Union beigemessen.
43 Zum einen laufe die Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft aber der auf das Urteil vom 25. Oktober 2007, Develey/HABM (C‑238/06 P, EU:C:2007:635, Rn. 37 bis 44), zurückgehenden Rechtsprechung zuwider, wonach sowohl die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft als auch die des TRIPS-Übereinkommens, aufgrund dessen die Union an die Pariser Verbandsübereinkunft gebunden sei, keine unmittelbare Wirkung hätten. Die fehlende unmittelbare Wirkung der Pariser Verbandsübereinkunft ergebe sich überdies aus deren Art. 25, wie analog aus dem Urteil vom 15. März 2012, SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 47 und 48), hervorgehe. Zum anderen lasse sich die vom Gericht im angefochtenen Urteil aufgestellte Regel jedenfalls nicht aus dem Wortlaut von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft ableiten, so dass die in der Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Völkerrechts im Unionsrecht, die u. a. auf das Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 45), zurückgehe, aufgestellten Anforderungen an Klarheit, Genauigkeit und Unbedingtheit nicht erfüllt seien.
44 Im gleichen Sinne fügt die Kommission hinzu, an die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Pflicht zu unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts, die u. a. auf das Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 25), zurückgehe, angesprochenen Schranken müsse sich auch das Gericht halten, wenn es Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 im Licht der Pariser Verbandsübereinkunft auslege. Da die Auslegung des Gerichts gegen den klaren Wortlaut dieser Bestimmung verstoße, habe das Gericht in Wirklichkeit unmittelbar die Übereinkunft angewandt, obwohl sie keine unmittelbare Wirkung habe, auch nicht über das TRIPS-Übereinkommen.
45 Insbesondere sei die u. a. auf die Urteile vom 23. November 1999, Portugal/Rat (C‑149/96, EU:C:1999:574, Rn. 49), und vom 16. Juli 2015, Kommission/Rusal Armenal (C‑21/14 P, EU:C:2015:494, Rn. 40 und 41), zurückgehende Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach einige Bestimmungen des Übereinkommens zur Errichtung der WTO sowie der Übereinkünfte in dessen Anhängen 1 bis 4 (im Folgenden: WTO-Übereinkünfte) in Ausnahmefällen unmittelbar anwendbar seien, im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Da Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 keine ausdrückliche Bezugnahme auf eine bestimmte Vorschrift der Pariser Verbandsübereinkunft enthalte, lasse sich ihm nämlich nicht die Absicht des Unionsgesetzgebers entnehmen, Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft unmittelbare Wirkung zu verleihen. Dies zeige auch ein Vergleich von Art. 41 Abs. 1 mit Art. 25 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung, der im Gegensatz dazu mit einer konkreten und ausdrücklichen Bezugnahme auf Art. 6b der Pariser Verbandsübereinkunft eine solche Absicht belege.
46 Mit dem dritten Teil seines einzigen Rechtsmittelgrundes wirft das EUIPO dem Gericht vor, die fiktive Gesetzeslücke, mit der Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 behaftet sein solle, durch eine falsche Auslegung von Art. 2 des PCT und Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft ausgefüllt zu haben.
47 Im Einzelnen macht das EUIPO geltend, durch die Nennung des Ausdrucks „internationale Patentanmeldung“ in den Rn. 15, 18, 20, 22, 39, 40, 44 bis 50, 56, 64, 66, 70, 72, 74, 79, 83, 84 und 86 des angefochtenen Urteils habe das Gericht den Begriff „internationale Anmeldung“ im Sinne von Art. 2 Ziff. i, ii und vii des PCT verkannt und außer Acht gelassen, dass nach Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft und Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nur die vorherige Hinterlegung einer „internationalen Anmeldung“ des „Gebrauchsmusters“ im Sinne der genannten Bestimmung zu einem Prioritätsrecht für die spätere Anmeldung eines „Gemeinschaftsgeschmacksmusters“ führen könne.
48 Das EUIPO hebt insoweit hervor, dass im vorliegenden Fall sowohl in der Entscheidung des Prüfers als auch in der streitigen Entscheidung die internationale Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT korrekt als „internationale Anmeldung“ eines „Gebrauchsmusters“ eingestuft worden sei und nicht als „internationale Patentanmeldung“, wie das Gericht fälschlich angenommen habe. In diesem Kontext sei darauf hinzuweisen, dass sich der mittels einer „internationalen Anmeldung“ im Sinne von Art. 2 Ziff. vii des PCT beanspruchte Schutz, sofern im Text dieser Anmeldung der Schutz des „Gebrauchsmusters“ im Sinne von Art. 2 Ziff. i nicht ausdrücklich ausgeschlossen werde, wie bei der von KaiKai hinterlegten Anmeldung standardmäßig auf ein Gebrauchsmuster erstrecke. Nur dank des Umstands, dass die internationale Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT in Anwendung dieser Regel als „internationale Anmeldung“ eines „Gebrauchsmusters“ eingestuft worden sei, habe sie grundsätzlich ein Prioritätsrecht für eine Anmeldung als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster begründen können.
49 Wie sich insbesondere aus Art. 4 Abschnitt C Abs. 2 und 4 der Pariser Verbandsübereinkunft ergebe, könne in der Regel nur eine spätere Anmeldung, die „denselben Gegenstand“ betreffe wie eine frühere Anmeldung, in den Genuss des Prioritätsrechts kommen. Nach dieser Regel begründe jede Art von gewerblichem Schutzrecht ein Prioritätsrecht allein für dieselbe Art gewerblicher Schutzrechte, innerhalb der in Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 vorgesehenen Fristen. Nur als Ausnahme sehe Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Übereinkunft vor, dass die Anmeldung eines Gebrauchsmusters ein Prioritätsrecht für eine spätere Anmeldung begründen könne, die nicht ebenfalls ein Gebrauchsmuster betreffe, sondern ein Geschmacksmuster; Voraussetzung dafür sei jedoch, dass dieses „heterogene Paar von Gegenständen“ dasselbe Produktdesign umfasse, und die Frist betrage nur sechs Monate. Die in Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 vorgesehene Ausnahme beziehe sich somit auf die allgemeine Regel für „denselben Gegenstand“ in Art. 4 Abschnitt C Abs. 2 und 4 und nicht, wie das Gericht in den Rn. 77 bis 85 des angefochtenen Urteils fälschlich angenommen habe, auf eine angebliche allgemeine Regel, wonach die Art des älteren Rechts für die Dauer des daran anknüpfenden Prioritätsrechts maßgebend sei.
50 Aus einer Zusammenschau der allgemeinen Regel für „denselben Gegenstand“ in Art. 4 Abschnitt C Abs. 2 und 4 der Pariser Verbandsübereinkunft und der Ausnahme von dieser Regel in Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Übereinkunft ergebe sich somit, dass nur zwei Arten von gewerblichen Schutzrechten – ein älteres Geschmacksmuster und ein älteres Gebrauchsmuster – nach der Übereinkunft für die Begründung eines Prioritätsrechts für ein später eingetragenes Geschmacksmuster in Betracht kämen. Folglich könne ein älteres Patent kein Prioritätsrecht für ein später eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster begründen. Die Schlussfolgerung des Gerichts, dass die Frist für die Inanspruchnahme der Priorität einer Patentanmeldung im Fall der späteren Anmeldung eines Geschmacksmusters zwölf Monate betrage, entbehre daher einer Rechtsgrundlage in der Übereinkunft.
51 Die Kommission führt zur Stützung der Argumentation des EUIPO aus, wie sich insbesondere aus den von der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) ausgearbeiteten Auslegungshilfen zur Pariser Verbandsübereinkunft – die zwar nicht rechtlich bindend seien, aber vor den Unionsgerichten gleichwohl zu Zwecken der Auslegung der Übereinkunft herangezogen werden könnten – ergebe, hätten sich die Vertragsparteien der Übereinkunft bewusst dafür entschieden, Patente nicht in die in ihrem Art. 4 Abschnitt E vorgesehene Ausnahme einzubeziehen, weil es keine Möglichkeit einer Überschneidung von Patenten und Geschmacksmustern gebe. Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 stehe mit diesem Ansatz voll und ganz im Einklang, indem er eine gewisse Durchlässigkeit zwischen bloßen Gebrauchsmustern einerseits und Geschmacksmustern andererseits anerkenne, die nach den Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM (C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 24 bis 29), daraus resultiere, dass beide die technische Funktion eines bestimmten Erzeugnisses schützen könnten.
52 KaiKai hält dem zunächst entgegen, Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 gebe lediglich die in Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft vorgesehene Sonderregel wieder, die nur für die Inanspruchnahme der Priorität auf der Basis eines Gebrauchsmusters gelte und weder den Zweck noch die Wirkung habe, die für die Inanspruchnahme der Priorität aufgrund einer internationalen Patentanmeldung geltende Frist festzulegen. Da Art. 25 der Pariser Verbandsübereinkunft den Unionsgesetzgeber nicht ermächtige, die dem Anmelder gewährten Prioritätsrechte zu beschränken, stelle das Fehlen einer Bestimmung, die es ermögliche, die Priorität einer früheren Patentanmeldung in Anspruch zu nehmen, eine Lücke in der Verordnung dar.
53 Sodann trägt KaiKai vor, mit der Schließung dieser Lücke unter Bezugnahme auf die Pariser Verbandsübereinkunft habe das Gericht die Übereinkunft nicht unmittelbar angewandt und infolgedessen Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 unangewendet gelassen, sondern diese Bestimmung im Licht der Übereinkunft ausgelegt, im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, auf die u. a. im Urteil vom 15. März 2012, SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 51), hingewiesen werde. Die Existenz dieser Lücke schließe daher jeden Widerspruch zu der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs aus, wonach die Übereinkunft keine unmittelbare Wirkung habe.
54 Schließlich macht KaiKai geltend, eine internationale Anmeldung gemäß dem PCT stelle sowohl eine Patentanmeldung als auch die Anmeldung eines Gebrauchsmusters dar, so dass die beiden Anmeldungen denselben Gegenstand beträfen, da sie beide eine technische Erfindung beschrieben. Folglich könne sowohl die Priorität der Anmeldung eines Gebrauchsmusters als auch die Priorität einer Patentanmeldung bei der Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters in Anspruch genommen werden. Dass die Pariser Verbandsübereinkunft in diesen beiden Fällen verschiedene Prioritätsfristen vorsehe, liege daher nicht an der Verschiedenheit der geschützten Gegenstände des Rechts des gewerblichen Eigentums, sondern daran, dass sich die jeweiligen für sie geltenden Eintragungsverfahren unterschieden.
55 Überdies würde der Ausschluss von Patenten als Prioritätsgrundlage für Gemeinschaftsgeschmacksmuster zu einer Diskriminierung der Anmelder aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit führen. Während es in einigen Mitgliedstaaten möglich sei, von einem nationalen Patent ein nationales Gebrauchsmuster abzuzweigen, um es anschließend als Prioritätsgrundlage für ein Geschmacksmuster zu nutzen, sei dies dem Anmelder in anderen Mitgliedstaaten, die wie das Königreich Belgien, die Republik Zypern und das Königreich der Niederlande kein nationales Gebrauchsmuster vorsähen, verwehrt.
Würdigung durch den Gerichtshof
56 Mit den drei Teilen seines einzigen Rechtsmittelgrundes, die zusammen zu prüfen sind, wirft das EUIPO dem Gericht im Wesentlichen vor, es habe Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft unmittelbar angewandt und falsch ausgelegt, statt die klare und erschöpfende Bestimmung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 anzuwenden.
Zu den Wirkungen der Pariser Verbandsübereinkunft in der Unionsrechtsordnung
57 Wie sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus Art. 216 Abs. 2 AEUV ergibt, sind internationale Übereinkünfte, die von der Union geschlossen wurden, für die Union verbindlich und ab ihrem Inkrafttreten integraler Bestandteil der Rechtsordnung der Union (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 1974, Haegeman, 181/73, EU:C:1974:41, Rn. 5, und vom 1. August 2022, Sea Watch, C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2022:604, Rn. 94).
58 Überdies kann die Union in die internationalen Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten eintreten, wenn die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse hinsichtlich dieser Verpflichtungen durch einen der Gründungsverträge der Union auf diese übertragen haben. Das ist der Fall, wenn die Union für einen Bereich, der durch die Bestimmungen einer von allen Mitgliedstaaten geschlossenen internationalen Übereinkunft geregelt wird, ausschließlich zuständig geworden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 1972, International Fruit Company u. a., 21/72 bis 24/72, EU:C:1972:115, Rn. 10 bis 18, und Gutachten 2/15 [Freihandelsabkommen mit Singapur] vom 16. Mai 2017, EU:C:2017:376, Rn. 248).
59 Im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels braucht jedoch nicht geprüft zu werden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Union für die von der Pariser Verbandsübereinkunft, die von allen Mitgliedstaaten geschlossen wurde, nicht aber von der Union, geregelten Bereiche ausschließlich zuständig geworden ist. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, sind die in einigen Artikeln der Übereinkunft, zu denen ihr Art. 4 gehört, aufgestellten Regeln nämlich in das von der Union geschlossene TRIPS-Übereinkommen aufgenommen worden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 91).
60 Genauer gesagt sieht das TRIPS‑Übereinkommen in Art. 2 Abs. 1 vor, dass die Mitglieder der WTO, zu denen die Union gehört, in Bezug auf die Teile II bis IV dieses Übereinkommens, die dessen Art. 9 bis 62 umfassen, die Art. 1 bis 12 sowie Art. 19 der Pariser Verbandsübereinkunft befolgen.
61 Was insbesondere den von Art. 25 des TRIPS-Übereinkommens erfassten Schutz gewerblicher Muster oder Modelle und den von seinem Art. 62 erfassten Erwerb dieses Schutzes angeht, sind die in den genannten Artikeln der Pariser Verbandsübereinkunft, zu denen ihr Art. 4 gehört, aufgestellten Regeln somit als Bestandteil des TRIPS‑Übereinkommens anzusehen.
62 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die in Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft aufgestellten Regeln die gleichen Wirkungen haben wie das TRIPS‑Übereinkommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 96).
63 Nach ständiger Rechtsprechung haben die Bestimmungen des TRIPS-Übereinkommens in Anbetracht der Natur und der Systematik dieses Übereinkommens keine unmittelbare Wirkung. Sie gehören daher grundsätzlich nicht zu den Vorschriften, an denen der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Rechtsakten der Unionsorgane misst, und sind auch nicht geeignet, Rechte für den Einzelnen zu schaffen, auf die er sich nach dem Unionsrecht vor den Gerichten unmittelbar berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2000, Dior u. a., C‑300/98 und C‑392/98, EU:C:2000:688, Rn. 43 bis 45, vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 54, und vom 28. September 2023, Changmao Biochemical Engineering/Kommission, C‑123/21 P, EU:C:2023:708, Rn. 70 und 71).
64 Zudem gehört Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft auch nicht zu den beiden Ausnahmefällen, in denen der Gerichtshof anerkannt hat, dass sich der Einzelne vor den Unionsgerichten unmittelbar auf Bestimmungen der WTO-Übereinkünfte berufen kann; dabei handelt es sich zum einen um den Fall, dass der Rechtsakt der Union ausdrücklich auf ganz bestimmte Vorschriften der WTO-Übereinkünfte verweist, und zum anderen um den Fall, dass die Union eine bestimmte Verpflichtung umsetzen wollte, die sie im Rahmen dieser Übereinkünfte übernommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 1989, Fediol/Kommission, 70/87, EU:C:1989:254, Rn. 19 bis 22, vom 7. Mai 1991, Nakajima/Rat, C‑69/89, EU:C:1991:186, Rn. 29 bis 31, und vom 28. September 2023, Changmao Biochemical Engineering/Kommission, C‑123/21 P, EU:C:2023:708, Rn. 74 und 75).
65 Zum einen wird nämlich in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht ausdrücklich auf Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft verwiesen.
66 Zum anderen hat der Gerichtshof im Wesentlichen bereits entschieden, dass es für den Nachweis des Willens des Unionsgesetzgebers, eine ganz bestimmte im Rahmen der WTO-Übereinkünfte übernommene Verpflichtung in das Unionsrecht umzusetzen, nicht ausreicht, dass sich den Erwägungsgründen des betreffenden Rechtsakts der Union allgemein entnehmen lässt, dass er unter Berücksichtigung internationaler Verpflichtungen der Union erlassen wurde. Vielmehr muss sich der in Rede stehenden konkreten Vorschrift des Unionsrechts entnehmen lassen, dass mit ihr eine bestimmte Verpflichtung, die sich aus den WTO-Übereinkünften ergibt, in der Unionsrechtsordnung umgesetzt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2015, Kommission/Rusal Armenal, C‑21/14 P, EU:C:2015:494, Rn. 45, 46 und 48, sowie vom 28. September 2023, Changmao Biochemical Engineering/Kommission, C‑123/21 P, EU:C:2023:708, Rn. 76, 78 und 79).
67 Ein solcher Wille des Unionsgesetzgebers kann Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 aber nicht allein aufgrund einer Übereinstimmung zwischen seinem Wortlaut und dem Wortlaut von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft entnommen werden. In dieser Verordnung kommt nämlich der Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, für eines der von der Übereinkunft erfassten gewerblichen Schutzrechte einen spezifisch unionsrechtlichen Ansatz in Form einer speziellen Regelung für den einheitlichen und unteilbaren Schutz der Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Unionsgebiet zu wählen, zu deren Bestandteilen das in Art. 41 vorgesehene Prioritätsrecht gehört.
68 Folglich haben die in Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft aufgestellten Regeln keine unmittelbare Wirkung und sind somit nicht geeignet, Rechte für den Einzelnen zu begründen, auf die er sich nach dem Unionsrecht unmittelbar berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2007, Develey/HABM, C‑238/06 P, EU:C:2007:635, Rn. 39 und 43).
69 Infolgedessen ist das Prioritätsrecht hinsichtlich der Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters in Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 geregelt, ohne dass sich die Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar auf Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft berufen können.
70 Da das TRIPS-Übereinkommen für die Union verbindlich ist und somit Vorrang vor den Akten des abgeleiteten Unionsrechts hat, sind Letztere allerdings so weit wie möglich im Einklang mit den Bestimmungen dieses Übereinkommens auszulegen (v gl. entsprechend Urteile vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C‑61/94, EU:C:1996:313, Rn. 52, und vom 1. August 2022, Sea Watch, C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2022:604, Rn. 92 und 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass die Verordnung Nr. 6/2002 so weit wie möglich im Einklang mit dem TRIPS-Übereinkommen und demnach mit den in der Pariser Verbandsübereinkunft aufgestellten Regeln, die wie ihr Art. 4 in das TRIPS‑Übereinkommen aufgenommen wurden, auszulegen ist (vgl. entsprechend Urteile vom 15. November 2012, Bericap Záródástechnikai, C‑180/11, EU:C:2012:717, Rn. 70 und 82, sowie vom 11. November 2020, EUIPO/John Mills, C‑809/18 P, EU:C:2020:902, Rn. 64 und 65).
71 Bei der Auslegung von Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 im Einklang mit Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft sind ferner die Bestimmungen des PCT zu berücksichtigen, aufgrund dessen die frühere Anmeldung eingereicht wurde, auf die KaiKai die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts stützt. Da alle Mitgliedstaaten der Union Vertragsparteien des PCT sind, können dessen Bestimmungen nämlich im Rahmen der Auslegung von Bestimmungen des abgeleiteten Unionsrechts, die in seinen Anwendungsbereich fallen, berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Sea Watch, C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2022:604, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Kontext ist überdies festzustellen, dass der PCT nach seinem Art. 1 Abs. 2 unbeschadet der Rechte aus der Pariser Verbandsübereinkunft anzuwenden ist.
72 In Anbetracht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob das Gericht, wie das EUIPO im Wesentlichen geltend macht, anstelle von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 unmittelbar Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft angewandt hat.
Zur Einstufung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 als klar und abschließend
73 Zum einen hat das Gericht in den Rn. 56 bis 66 des angefochtenen Urteils auf der Grundlage einer mit seiner eigenen Auslegung von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft im Einklang stehenden Auslegung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ausgeführt, Art. 41 Abs. 1 enthalte eine Lücke, da er nicht festlege, innerhalb welcher Frist das auf der vom Gericht als „internationale Patentanmeldung“ eingestuften internationalen Anmeldung vom 26. Oktober 2017 gemäß dem PCT beruhende Prioritätsrecht in Anspruch genommen werden könne, und diese Lücke sei unter Heranziehung von Art. 4 zu schließen. Zum anderen ist das Gericht in den Rn. 70 bis 86 des angefochtenen Urteils auf der Grundlage seiner Auslegung von Art. 4 im Wesentlichen zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Frist zwölf Monate betrage, so dass die Beschwerdekammer des EUIPO zu Unrecht von der in Art. 41 Abs. 1 vorgesehenen Frist von sechs Monaten ausgegangen sei.
74 Unabhängig von der Stichhaltigkeit der vom Gericht vorgenommenen Auslegung von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft ist festzustellen, dass es dadurch einen Rechtsfehler begangen hat, dass es die Grenzen einer mit der Übereinkunft konformen Auslegung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 offensichtlich überschritten und de facto Art. 4 in dessen von ihm vorgenommener Auslegung unmittelbar angewandt hat, wobei es ihn unter Missachtung des klaren Wortlauts von Art. 41 Abs. 1 und unter Verstoß gegen dessen abschließenden Charakter ausgelegt hat.
75 In Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es nämlich: „Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft oder des Übereinkommens zur Errichtung der [WTO] ein Geschmacksmuster oder ein Gebrauchsmuster vorschriftsmäßig angemeldet hat, … genießt hinsichtlich der Anmeldung als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster … ein Prioritätsrecht von sechs Monaten nach Einreichung der ersten Anmeldung.“
76 Aus dem klaren Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 geht somit eindeutig hervor, dass nach dieser Bestimmung nur zwei Kategorien früherer Anmeldungen, und zwar zum einen die Anmeldung eines Geschmacksmusters und zum anderen die Anmeldung eines Gebrauchsmusters, hinsichtlich der späteren Anmeldung als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein Prioritätsrecht begründen können, das aber nur für sechs Monate nach Einreichung der früheren Anmeldung gilt.
77 Aus ihm geht ferner hervor, dass Art. 41 Abs. 1 abschließenden Charakter hat und dass das Fehlen einer Frist, innerhalb deren das auf einer Patentanmeldung beruhende Prioritätsrecht in Anspruch genommen werden kann, keine Lücke in dieser Bestimmung darstellt, sondern die Konsequenz daraus ist, dass sie es nicht gestattet, ein solches Recht auf diese Kategorie früherer Anmeldungen zu stützen.
78 Somit kann zum einen eine internationale Anmeldung gemäß dem PCT ein Prioritätsrecht in Anwendung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nur begründen, sofern die fragliche internationale Anmeldung ein Gebrauchsmuster zum Gegenstand hat, und zum anderen beträgt die Frist für die Inanspruchnahme dieses Rechts auf der Grundlage einer solchen Anmeldung sechs Monate, wie in Art. 41 Abs. 1 ausdrücklich festgelegt wird.
Zu der vom Gericht vorgenommenen Auslegung der Pariser Verbandsübereinkunft
79 Die vom Gericht in den Rn. 70 bis 86 des angefochtenen Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft, wonach diese Bestimmung es ermöglicht, die Priorität einer früheren „internationalen Patentanmeldung“ bei der späteren Anmeldung eines Geschmacksmusters innerhalb von zwölf Monaten in Anspruch zu nehmen, ist ebenfalls mit Rechtsfehlern behaftet.
80 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in bestimmten Artikeln der Pariser Verbandsübereinkunft, u. a. in ihrem Art. 4, aufgestellten Regeln in das TRIPS‑Übereinkommen aufgenommen worden sind, das von der Union geschlossen wurde und integraler Bestandteil ihrer Rechtsordnung ist, so dass der Gerichtshof für die Auslegung dieser Regeln zuständig ist (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Dezember 2000, Dior u. a., C‑300/98 und C‑392/98, EU:C:2000:688, Rn. 33 bis 35 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
81 Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft das Prioritätsrecht demjenigen zusteht, der in einem der Verbandsländer der Übereinkunft die Anmeldung für ein Erfindungspatent, ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Fabrik- oder Handelsmarke vorschriftsmäßig hinterlegt hat, und dass das Prioritätsrecht anerkannt wird, damit sein Inhaber in den anderen Ländern, in denen die Übereinkunft gilt, die Hinterlegung vornehmen kann.
82 Ferner geht aus Art. 4 Abschnitt C Abs. 1, 2 und 4 der Pariser Verbandsübereinkunft hervor, dass grundsätzlich nur eine jüngere Anmeldung, die „denselben Gegenstand“ betrifft wie eine ältere Anmeldung, in den Genuss des Prioritätsrechts kommen kann und dass sich die Fristen, innerhalb deren dieses Recht ausgeübt werden kann, nach der Art des betreffenden gewerblichen Schutzrechts richten; für Patente und Gebrauchsmuster betragen sie zwölf Monate und für gewerbliche Muster oder Modelle sechs Monate.
83 Wie auch dem Leitfaden zur Pariser Verbandsübereinkunft – einem von der WIPO ausgearbeiteten Auslegungsdokument, das zwar keine normative Geltung hat, aber zur Auslegung der Übereinkunft beiträgt (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Dezember 2006, SGAE, C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 41) – zu entnehmen ist, ergibt sich somit aus einer Gesamtbetrachtung der Abschnitte A und C von Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft, dass die spätere Anmeldung „denselben Gegenstand“ betreffen muss wie die frühere Anmeldung, auf der das Prioritätsrecht beruht.
84 Schließlich kann nach Art. 4 Abschnitt E der Pariser Verbandsübereinkunft derselbe Gegenstand zwar bisweilen in den Genuss mehr als einer Schutzform kommen, so dass ein Prioritätsrecht für eine andere als die zuvor angemeldete Schutzform beansprucht werden kann, doch werden die Fallgruppen, bei denen dies möglich ist, in dieser Bestimmung abschließend aufgezählt. Genauer gesagt sieht Art. 4 Abschnitt E in Abs. 1 vor, dass die Anmeldung eines Gebrauchsmusters zu einem Prioritätsrecht für Geschmacksmuster innerhalb der für Letztere geltenden Frist von sechs Monaten führen kann, und nach Abs. 2 kann eine Patentanmeldung zu einem Prioritätsrecht für die Anmeldung eines Gebrauchsmusters führen und umgekehrt.
85 Unter diesen Umständen gestattet Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft es nicht, die Priorität einer früheren Patentanmeldung bei der späteren Anmeldung eines Geschmacksmusters in Anspruch zu nehmen und enthält somit erst recht keine Regeln für die Frist, die dabei für den Anmelder gilt. Somit kann nur eine internationale Anmeldung eines Gebrauchsmusters gemäß dem PCT zu einem Prioritätsrecht für die Anmeldung eines Geschmacksmusters gemäß Art. 4 führen, und dafür gilt die in dessen Abschnitt E Abs. 1 vorgesehene Frist von sechs Monaten.
86 Nach alledem ist dem einzigen Rechtsmittelgrund stattzugeben, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben ist, soweit mit ihm dem zweiten Teil des zweiten Klagegrundes stattgegeben und die streitige Entscheidung aufgehoben wird.
Zur Klage vor dem Gericht
87 Nach Art. 61 Abs. 1 Satz 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof, sofern er die Entscheidung des Gerichts aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
88 Im vorliegenden Fall ist angesichts des Umstands, dass sich die Aufhebungsklage von KaiKai in der Rechtssache T‑579/19 auf Klagegründe stützt, die vor dem Gericht streitig erörtert wurden und deren Prüfung keine weitere prozessleitende Maßnahme oder Beweisaufnahme erfordert, davon auszugehen, dass die Klage entscheidungsreif ist und dass endgültig über sie zu entscheiden ist, soweit der Rechtsstreit noch beim Gerichtshof anhängig ist (vgl. entsprechend Urteile vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros u. a., C‑119/19 P und C‑126/19 P, EU:C:2020:676, Rn. 130, und vom 4. März 2021, Kommission/Fútbol Club Barcelona, C‑362/19 P, EU:C:2021:169, Rn. 108).
89 Die Klage stützt sich auf die beiden oben in Rn. 25 erwähnten Klagegründe. Wie oben in Rn. 27 ausgeführt, wurde der erste Teil des zweiten Klagegrundes vom Gericht zurückgewiesen, ohne dass KaiKai im Rahmen eines Anschlussrechtsmittels die Begründetheit dieses Teils des angefochtenen Urteils in Abrede stellt. Die teilweise Aufhebung des angefochtenen Urteils durch den Gerichtshof lässt das Urteil somit insoweit unberührt. Unter diesen Umständen ist es rechtskräftig, soweit das Gericht den ersten Teil des zweiten Klagegrundes zurückgewiesen hat.
90 Das Gleiche gilt aus den genannten Erwägungen für die oben in Rn. 26 erwähnten Gründe, aus denen das Gericht den zweiten und den fünften Klageantrag als unzulässig zurückgewiesen hat.
91 Infolgedessen sind nur der erste Klagegrund und der zweite Teil des zweiten Klagegrundes, auf die KaiKai ihre Aufhebungsklage gestützt hat, zu prüfen, und nur insoweit, als sie darauf abzielen, dass die streitige Entscheidung aufgehoben und das EUIPO zur Tragung der im Verfahren vor der Beschwerdekammer und vor dem Gericht entstandenen Kosten verurteilt wird.
Vorbringen der Parteien
92 Mit ihrem ersten Klagegrund wirft KaiKai der Beschwerdekammer des EUIPO vor, wesentliche Formvorschriften verletzt zu haben.
93 Mit dem zweiten Teil ihres zweiten Klagegrundes macht KaiKai geltend, mangels einer eindeutigen Regelung in der Verordnung Nr. 6/2002 in Bezug auf die Frist für die Inanspruchnahme der Priorität aufgrund einer internationalen Patentanmeldung gemäß dem PCT hätte die Beschwerdekammer des EUIPO zur Ermittlung dieser Frist Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft heranziehen müssen.
94 Hierzu führt KaiKai zunächst aus, da zum einen der jeweilige materielle Inhalt einer Patentanmeldung und der Anmeldung eines Gebrauchsmusters im Wesentlichen identisch seien, so dass auf die ältere von ihnen bei der anderen Anmeldung ein Prioritätsrecht gestützt werden könne, und zum anderen der Inhalt der Anmeldung eines Gebrauchsmusters ausreiche, um sie als Prioritätsgrundlage für die spätere Anmeldung eines Geschmacksmusters heranziehen zu können, ergebe sich aus Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft, dass der Inhalt einer Patentanmeldung zwangsläufig ausreiche, um zu einem Prioritätsrecht für die spätere Anmeldung eines Geschmacksmusters führen zu können. Sodann trägt KaiKai vor, die Übereinkunft beruhe auf dem Grundsatz, dass die sachgerechte Frist für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts von der Art des gewerblichen Schutzrechts abhänge, das Gegenstand der früheren Anmeldung sei, unabhängig von der Art des Rechts, das Gegenstand der späteren Anmeldung sei. Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft sehe eine Frist von zwölf Monaten für die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts aufgrund einer früheren Patentanmeldung vor. Daraus sei, da eine internationale Anmeldung gemäß dem PCT als „Patentanmeldung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung anzusehen sei, zu schließen, dass für diese Anmeldung die Prioritätsfrist von zwölf Monaten gelte.
95 Das EUIPO tritt diesem Vorbringen entgegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
96 Zum ersten Klagegrund ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß Art. 53 Abs. 1 dieser Satzung auf das Gericht anwendbar ist, und nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts die Klageschrift u. a. den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss. Diese Angaben müssen hinreichend klar und genau sein, damit der Beklagte seine Verteidigung vorbereiten und das Gericht über die Klage entscheiden kann. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage vor dem Gericht insbesondere erforderlich, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sie sich stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich, unmittelbar aus der Klageschrift ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. März 2012, Kommission/Estland, C‑505/09 P, EU:C:2012:179, Rn. 34, und vom 3. März 2022, WV/EAD, C‑162/20 P, EU:C:2022:153, Rn. 67 und 68).
97 Im vorliegenden Fall ergeben sich die rechtlichen Umstände, auf die sich der mit dem ersten Klagegrund erhobene Vorwurf der Verletzung wesentlicher Formvorschriften stützt, nicht unmittelbar aus der Klageschrift, da KaiKai sich darauf beschränkt hat, eine solche Verletzung zu rügen, ohne das geringste Argument zur Stützung dieses Vorwurfs vorzubringen. Daraus folgt, dass der erste Klagegrund als unzulässig zurückzuweisen ist.
98 Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes genügt die Feststellung, dass dieser Teil aus den oben in den Rn. 57 bis 85 dargelegten Gründen als unbegründet zurückzuweisen ist. Weder Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 noch Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft – der überdies in der Rechtsordnung der Union keine unmittelbare Wirkung hat – gestattet nämlich die Inanspruchnahme der Priorität einer internationalen Anmeldung gemäß dem PCT bei der späteren Anmeldung eines Geschmacksmusters innerhalb einer Frist von zwölf Monaten; dies gilt unabhängig davon, ob die internationale Anmeldung ein Gebrauchsmuster oder ein Patent betrifft. Nach diesen Bestimmungen beträgt im erstgenannten Fall die Frist für die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts auf der Grundlage einer internationalen Anmeldung sechs Monate, während im letztgenannten Fall die Existenz eines solchen Rechts von vornherein ausgeschlossen ist.
99 In Anbetracht der Zurückweisung des ersten Klagegrundes und des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes ist die Klage abzuweisen.
Kosten
100 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist oder wenn es begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.
101 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
102 Da KaiKai sowohl im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels als auch im Rahmen des Verfahrens im ersten Rechtszug unterlegen ist, sind ihr im vorliegenden Fall gemäß den Anträgen des EUIPO und der Kommission neben ihren eigenen Kosten die dem EUIPO im Rahmen dieser beiden Verfahren entstandenen Kosten aufzuerlegen.
103 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
104 Folglich trägt die Kommission als Streithelferin im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 14. April 2021, The KaiKai Company Jaeger Wichmann/EUIPO (Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel) (T ‑579/19, EU:T:2021:186), wird aufgehoben, soweit mit ihm dem zweiten Teil des zweiten Klagegrundes stattgegeben und die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 13. Juni 2019 (Sache R 573/2019-3) aufgehoben wird.
2. Die von The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR in der Rechtssache T ‑579/19 erhobene Klage wird abgewiesen.
3. The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten, die dem Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels und im Rahmen des Verfahrens im ersten Rechtszug entstanden sind.
4. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Lenaerts
Bay Larsen
Jürimäe
Jarukaitis
Kumin
Jääskinen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. Februar 2024.
Der Kanzler
Der Präsident
A. Calot Escobar
K. Lenaerts