C-358/22 – Bolloré logistics

C-358/22 – Bolloré logistics

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2023:178

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

9. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Zollkodex der Gemeinschaften – Art. 195 – Art. 217 Abs. 1 – Art. 221 Abs. 1 – Gemeinsamer Zolltarif – Pflichten des Bürgen des Zollschuldners – Modalitäten der Mitteilung einer Zollschuld – Der Zollschuld entsprechende Abgaben, die dem Zollschuldner nicht ordnungsgemäß mitgeteilt wurden – Fälligkeit der Zollschuld gegenüber dem gesamtschuldnerischen Bürgen“

In der Rechtssache C‑358/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 25. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 2022, in dem Verfahren

Bolloré logistics SA

gegen

Direction interrégionale des douanes et droits indirects de Caen,

Recette régionale des douanes et droits indirects de Caen,

Bolloré Ports de Cherbourg SAS

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen und J. Passer (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Bolloré logistics SA, vertreten durch H. Farge, H. Hazan und C. Waquet, avocats,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain und J.‑L. Carré als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und M. Salyková als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 195, 217 und 221 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bolloré Logistics SA auf der einen und der Direction interrégionale des douanes et droits indirects de Caen (Interregionale Direktion für Zölle und indirekte Steuern Caen, Frankreich) und der Recette régionale des douanes et droits indirects de Caen (Regionale Einnahmenstelle für Zölle und indirekte Steuern Caen, Frankreich) (im Folgenden zusammen: Zollverwaltung) sowie der Bolloré Ports de Cherbourg SAS (im Folgenden: BPC) auf der anderen Seite wegen der Zahlung einer Zollschuld, für die die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Bürgin für BPC in Anspruch genommen wird.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der Zollkodex wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, berichtigt in ABl. 2013, L 287, S. 90) aufgehoben und ersetzt. Allerdings blieb der Zollkodex gemäß Art. 286 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 2 der zuletzt genannten Verordnung bis zum 30. April 2016 anwendbar.

4        In Art. 4 des Zollkodex heißt es:

„Im Sinne dieses Zollkodex ist oder sind

9.      Zollschuld: die Verpflichtung einer Person, die für eine bestimmte Ware im geltenden Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Einfuhrabgaben (Einfuhrzollschuld) oder Ausfuhrabgaben (Ausfuhrzollschuld) zu entrichten;

12.      Zollschuldner: eine zur Erfüllung der Zollschuld verpflichtete Person;

…“

5        Art. 88 des Zollkodex lautet:

„Die Zollbehörden können die Überführung von Waren in ein Nichterhebungsverfahren von einer Sicherheitsleistung abhängig machen, um die Erfüllung der Zollschuld zu sichern, die für die Waren entstehen kann.

Besondere Bestimmungen über die Sicherheitsleistung können im Rahmen eines bestimmten Nichterhebungsverfahrens vorgesehen werden.“

6        Art. 104 des Zollkodex lautet:

„Unbeschadet des Artikels 88 können die Zollbehörden vom Lagerhalter im Zusammenhang mit den Verantwortlichkeiten im Sinne des Artikels 101 eine Sicherheitsleistung verlangen.“

7        In Art. 189 des Zollkodex heißt es:

„(1)      Eine Sicherheit, die von den Zollbehörden nach dem Zollrecht verlangt wird, um die Erfüllung einer Zollschuld zu gewährleisten, ist von dem Zollschuldner oder von der Person zu leisten, die Zollschuldner werden kann.

(3)      Die Zollbehörden können zulassen, dass die Sicherheit von einer dritten Person anstelle der Person geleistet wird, von der die Sicherheitsleistung verlangt worden war.

…“

8        In Art. 190 des Zollkodex heißt es:

„(1)      Ist die Sicherheitsleistung nach dem Zollrecht nicht zwingend vorgeschrieben, so steht es im Ermessen der Zollbehörden, eine Sicherheit zu verlangen, wenn die fristgerechte Erfüllung einer entstandenen oder möglicherweise entstehenden Zollschuld nicht sicher gewährleistet ist.

…“

9        Art. 193 des Zollkodex lautet:

„Die Sicherheit kann geleistet werden durch

–        Hinterlegung einer Barsicherheit;

–        Stellung eines Bürgen.“

10      Art. 195 des Zollkodex bestimmt:

„Der Bürge muss sich schriftlich verpflichten, gesamtschuldnerisch mit dem Schuldner den gesicherten Betrag der Zollschuld bei Fälligkeit zu entrichten.

…“

11      Art. 217 Abs. 1 Unterabs. 1 in Titel VII Kapitel 3 („Erhebung des Zollschuldbetrags“) Abschnitt 1 („Buchmäßige Erfassung des Zollschuldbetrags und Mitteilung an den Zollschuldner“) des Zollkodex bestimmt:

„Jeder einer Zollschuld entsprechende Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag – nachstehend ‚Abgabenbetrag‘ genannt – muss unmittelbar bei Vorliegen der erforderlichen Angaben von den Zollbehörden berechnet und in die Bücher oder in sonstige statt dessen verwendete Unterlagen eingetragen werden (buchmäßige Erfassung).“

12      Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt:

„Der Abgabenbetrag ist dem Zollschuldner in geeigneter Form mitzuteilen, sobald der Betrag buchmäßig erfasst worden ist.“

 Französisches Recht

13      Kapitel V („Verfahren vor Erlass einer Entscheidung: Anspruch auf rechtliches Gehör“) des Titels II („Organisation und Arbeitsweise der Zolldienststellen“) des französischen Zollkodex besteht aus den Art. 67 A bis 67 D.

14      Art. 67 A des französischen Zollkodex in der Fassung von Art. 25 des Gesetzes Nr. 2009-1674 vom 30. Dezember 2009 (JORF Nr. 303 vom 31. Dezember 2009, Text Nr. 2) bestimmt:

„Vorbehaltlich der Bestimmungen des Art. 67 B geht jeder Entscheidung, die zur Durchführung des [Zollkodex] und seiner Durchführungsvorschriften erlassen wird, wenn sie nachteilig ist oder eine Zollschuld im Sinne des Art. 4 Abs. 9 des [Zollkodex] mitteilt, die Übersendung oder Aushändigung eines Dokuments an die betreffende Person voraus, in dem die Zollverwaltung die beabsichtigte Entscheidung, die Begründung für diese Entscheidung, den Verweis auf die Dokumente und Informationen, auf die sie sich stützen wird, sowie die Möglichkeit des Betroffenen, innerhalb von 30 Tagen nach der Mitteilung oder Aushändigung dieses Dokuments Stellung zu nehmen, bekannt gibt.“

15      Art. 67 D Buchst. e des französischen Zollkodex in der Fassung des Gesetzes Nr. 2009-1674 bestimmt:

„Dieses Kapitel gilt nicht für

e)      gemäß Art. 345 dieses Zollkodex zugestellte Nacherhebungsbescheide zur Nacherhebung von bei Fälligkeit nicht beglichenen Forderungen, mit Ausnahme von Forderungen, die infolge eines Verstoßes gegen diesen Zollkodex festgestellt wurden“.

16      Art. 345 des französischen Zollkodex in der Fassung von Art. 44 der Loi no 2002-1576 du 30 décembre 2002 de finances rectificative pour 2002 (Gesetz Nr. 2002-1576 vom 30. Dezember 2002 über den Nachtragshaushalt 2002) (JORF Nr. 304 vom 31. Dezember 2002, Text Nr. 2) bestimmt:

„Die von der Zollverwaltung festgestellten und nacherhobenen Forderungen jeglicher Art sind Gegenstand eines Nacherhebungsbescheids, es sei denn, es wird gegebenenfalls ein Gericht angerufen.

…“

17      Art. 405 des französischen Zollkodex in der Fassung von Art. 44 des Gesetzes Nr. 2002-1576 bestimmt:

„Die Bürgen sind in derselben Weise wie die Hauptschuldner verpflichtet, die von den Abgabenschuldnern, für die sie gebürgt haben, geschuldeten Zölle und Steuern, Geldstrafen und sonstigen geschuldeten Beträge zu zahlen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

18      Am 25. August 2011 importierte und löschte das Unternehmen Alpha Commodities im Hafen von Cherbourg (Frankreich) 46 000 Tonnen Salz aus Australien. In Erwartung der Wiederausfuhr dieser Waren schloss sie mit BPC, einem Transport- und Logistikunternehmen, einen Lagervertrag.

19      Am 21. Oktober 2011 schloss BPC mit dem Hafen von Cherbourg eine Vereinbarung über eine vorübergehende Nutzung für diese Lagerung ab. Diese mehrfach verlängerte Vereinbarung über eine vorübergehende Nutzung blieb bis zum 30. Juni 2015 in Kraft.

20      Am 8. Dezember 2011 erhielt BPC von der Zollverwaltung eine Bewilligung für das Zolllagerverfahren – das die Aussetzung von Zöllen und Steuern ermöglicht – mit der gleichen Geltungsdauer wie die Vereinbarung über eine vorübergehende Nutzung. Am 9. Dezember 2011 überführte BPC die Waren in das Zolllagerverfahren.

21      Am 8. Februar 2016 teilte die Zollverwaltung BPC in der Erwägung, dass dieses Unternehmen nicht mehr über eine gültige Vereinbarung über eine vorübergehende Nutzung verfüge, mit, dass die Bewilligung des Zolllagerverfahrens mit sofortiger Wirkung aufgehoben werde und dass sie beabsichtige, ihr die sich aus der Unwirksamkeit dieses Verfahrens ergebende Zollschuld förmlich mitzuteilen.

22      Am 9. März 2016 stellte die Zollverwaltung BPC einen endgültigen Bescheid über die Feststellung einer Zollschuld sowie eine Zahlungsaufforderung zu.

23      Am 21. März 2016 erfasste die Zollverwaltung den Betrag dieser Zollschuld buchmäßig und erließ gegen BPC einen Nacherhebungsbescheid über einen Betrag von 454 807 Euro (104 265 Euro Zoll und 350 542 Euro Mehrwertsteuer).

24      Am 21. März und am 21. Juni 2016 stellte die Zollverwaltung der Klägerin des Ausgangsverfahrens – in ihrer Eigenschaft als Bürgin von BPC – zwei Nacherhebungsbescheide über einen Gesamtbetrag von 104 265 Euro zu, der dem gesicherten Zoll entsprach.

25      Mit Urteil vom 1. Oktober 2018 wies das Tribunal de grande instance de Caen (Regionalgericht Caen, Frankreich) die Anträge von BPC und der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf Aufhebung sowohl der gegen sie ergangenen Nacherhebungsbescheide als auch der von der Zollverwaltung zugestellten Entscheidungen über die Ablehnung ihrer Einsprüche gegen diese Nacherhebungsbescheide zurück.

26      Mit Urteil vom 10. September 2019 hob die Cour d’appel de Caen (Berufungsgericht Caen, Frankreich) unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Urteils in Bezug auf BPC den dieser am 21. März 2016 zugestellten Nacherhebungsbescheid auf und erklärte sämtliche Forderungen der Zollverwaltung gegen dieses Unternehmen für gegenstandslos. Dieses Gericht wies u. a. darauf hin, dass gemäß den Art. 217 und 221 des Zollkodex sowie Art. 345 des französischen Zollkodex die Mitteilung des Abgabenbetrags nur dann ordnungsgemäß sein könne, wenn dieser Betrag zuvor buchmäßig erfasst worden sei, und die Abgaben nur dann im Wege eines Nacherhebungsbescheids eingezogen werden könnten, wenn sie dem Zollschuldner ordnungsgemäß mitgeteilt worden seien, was ihre Feststellung voraussetze. Da dies hier nicht der Fall gewesen sei, sei die an BPC erfolgte Mitteilung der Abgaben nicht ordnungsgemäß gewesen.

27      In Bezug auf die Klägerin des Ausgangsverfahrens bestätigte die Cour d’appel de Caen (Berufungsgericht Caen) mit demselben Urteil das Urteil, mit dem die Klägerin des Ausgangsverfahrens dazu verurteilt worden war, im Rahmen ihrer Bürgschaftsverpflichtung der Zollverwaltung den von BPC geforderten Zoll zu zahlen. Nach Ansicht dieses Gerichts gelten sowohl Art. 221 des Zollkodex als auch Art. 67 A des französischen Zollkodex nicht für den Bürgen, sondern nur für den Zollschuldner.

28      Das vorlegende Gericht, die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich), weist darauf hin, dass die fraglichen Zölle zum Zeitpunkt der Zustellung der Nacherhebungsbescheide an die Klägerin des Ausgangsverfahrens im Sinne von Art. 217 des Zollkodex buchmäßig erfasst gewesen seien, sie aber BPC, der Zollschuldnerin, nicht im Sinne von Art. 221 des Zollkodex ordnungsgemäß mitgeteilt worden seien. Es weist darauf hin, dass es somit um den Begriff der „Fälligkeit einer Zollschuld“ gehe, und wirft die Frage auf, ob der die Nacherhebung der Abgaben beim Schuldner verbietende Umstand, dass die Mitteilung der Abgaben an den Schuldner mangels vorheriger buchmäßiger Erfassung nicht ordnungsgemäß sei, nicht eine persönliche Einrede des Schuldners darstelle, auf die sich der Bürge nicht berufen könne, oder ob die Zollschuld gegenüber dem Bürgen vielmehr nur dann fällig sei, wenn sie auch gegenüber dem Zollschuldner fällig sei.

29      Außerdem wirft die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) die Frage auf, ob der Umstand, dass gemäß Art. 67 D des französischen Zollkodex der Zustellung eines Nacherhebungsbescheids gemäß Art. 345 dieses Zollkodex keine Phase des kontradiktorischen Austauschs vorausgehe, nicht die Verteidigungsrechte des Bürgen beeinträchtige.

30      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 195, 217 und 221 des Zollkodex dahin auszulegen, dass die Zollverwaltung von einem gesamtschuldnerischen Bürgen die Zahlung einer Zollschuld nicht verlangen kann, solange dem Schuldner die Abgaben nicht ordnungsgemäß mitgeteilt worden sind?

2.      a)      Bedeutet die Wahrung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Rechts, vor jeder beschwerenden Maßnahme eine Stellungnahme abzugeben, das ein Grundprinzip des Unionsrechts darstellt, dass die Zollverwaltung, wenn die Nacherhebung der Zollschuld beim Bürgen fortgesetzt wird, weil der Zollschuldner sie nicht innerhalb der gesetzten Frist entrichtet hat, dem Bürgen zuvor Gelegenheit geben muss, seinen Standpunkt zu den Einzelheiten sachdienlich vorzutragen, auf die sie ihre Entscheidung, den Bürgen auf Zahlung in Anspruch zu nehmen, zu stützen beabsichtigt?

b)      Vermag die Tatsache, dass der Zollschuldner selbst vor der Mitteilung der Abgabenansprüche in die Lage versetzt wurde, seinen Standpunkt sachdienlich darzulegen, die Beantwortung der Frage 2 a) zu beeinflussen?

c)      Falls Frage 2 a) bejaht wird: Welcher Entscheidung, die den Bürgen beschwert, muss eine Phase des kontradiktorischen Austauschs vorausgehen: Der Entscheidung der Zollverwaltung, die Abgaben buchmäßig zu erfassen und sie dem Zollschuldner mitzuteilen, oder der Entscheidung, den Bürgen auf Zahlung in Anspruch zu nehmen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

31      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 195, Art. 217 Abs. 1 und Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen sind, dass die Zollbehörden vom Bürgen im Sinne des genannten Art. 195 die Zahlung einer Zollschuld nicht verlangen können, solange dem Zollschuldner der Abgabenbetrag nicht ordnungsgemäß mitgeteilt worden ist.

32      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex ergibt, dass die „buchmäßige Erfassung“, die nach Art. 217 Abs. 1 des Zollkodex in der Eintragung des Abgabenbetrags in die Bücher oder in sonstige stattdessen verwendete Unterlagen durch die Zollbehörden besteht, notwendig der Mitteilung des Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags an den Schuldner vorausgehen muss (Urteil vom 28. Januar 2010, Direct Parcel Distribution Belgium, C‑264/08, EU:C:2010:43, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Wie der Gerichtshof festgestellt hat, ist dieser chronologische Ablauf der buchmäßigen Erfassung und der Mitteilung des Abgabenbetrags, der bereits in der Überschrift des Abschnitts 1 des Kapitels 3 des Titels VII des Zollkodex, „Buchmäßige Erfassung des Zollschuldbetrags und Mitteilung an den Zollschuldner“, zum Ausdruck kommt, nämlich zu beachten, soll es nicht zu Ungleichbehandlungen zwischen den Zollschuldnern kommen und das harmonische Funktionieren der Zollunion nicht beeinträchtigt werden (Urteil vom 28. Januar 2010, Direct Parcel Distribution Belgium, C‑264/08, EU:C:2010:43, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass die Mitteilung des Betrags der zu entrichtenden Ein- oder Ausfuhrabgaben durch die Zollbehörden an den Zollschuldner nur dann rechtsgültig erfolgen kann, wenn der Betrag dieser Abgaben von diesen Behörden zuvor buchmäßig erfasst worden ist (Urteil vom 28. Januar 2010, Direct Parcel Distribution Belgium, C‑264/08, EU:C:2010:43, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Daraus folgt, dass, wenn dem Zollschuldner der Abgabenbetrag nicht ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, weil dieser nicht zuvor buchmäßig erfasst wurde – dieser Fall entspricht dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, da aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass die buchmäßige Erfassung nach der Mitteilung des Abgabenbetrags an BPC erfolgte –, die Zollschuld gegenüber dem Zollschuldner nicht fällig wird.

36      Im Übrigen wurden die Forderungen, die die Zollverwaltung gegen BPC geltend machte, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, im Ausgangsverfahren aus diesem Grund für gegenstandslos erklärt.

37      Sodann ist, was die Frage anbelangt, ob die Zahlung einer beim Zollschuldner nicht fälligen Zollschuld gleichwohl vom Bürgen verlangt werden kann, erstens festzustellen, dass das Unionsrecht zwar den Bürgschaftsvertrag nicht regelt, der Gerichtshof aber festgestellt hat, dass der Bürge eines Schuldners nur in Anspruch genommen werden kann, wenn eine Schuld dieses Schuldners besteht.

38      Der Gerichtshof hat nämlich im Kern festgestellt, dass es sich nach den allgemeinen Grundsätzen, die sich aus den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten ergeben, bei einem Bürgschaftsvertrag um ein Dreiecksverhältnis handelt, in dem der Bürge sich gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, die vom Schuldner eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen, sofern dieser sie nicht selbst erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 2003, Préservatrice foncière TIARD, C‑266/01, EU:C:2003:282, Rn. 27).

39      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass ein solcher Vertrag für den Bürgen eine neue Verpflichtung begründet, nämlich für die Erfüllung der Hauptpflicht, die dem Schuldner obliegt, einzustehen, und dass der Bürge nicht an die Stelle des Schuldners tritt, sondern lediglich für die Zahlung von dessen Schuld einsteht, entsprechend den im Bürgschaftsvertrag aufgestellten oder gesetzlich vorgesehenen Bedingungen (Urteil vom 15. Mai 2003, Préservatrice foncière TIARD, C‑266/01, EU:C:2003:282, Rn. 28).

40      Die so begründete Verpflichtung hat akzessorischen Charakter in dem Sinne, dass der Bürge vom Gläubiger nur in Anspruch genommen werden kann, wenn die Hauptschuld fällig ist, und dass die vom Bürgen übernommene Verpflichtung nicht über diejenige des Schuldners hinausgehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 2003, Préservatrice foncière TIARD, C‑266/01, EU:C:2003:282, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Der Gerichtshof hat jüngst nochmals bestätigt, dass der Bürgschaftsvertrag ein Vertrag ist, der sich von dem unterscheidet, der den Gläubiger und den Schuldner miteinander verbindet, und in dem dem Bürgen, der zu diesem letztgenannten Vertragsverhältnis ein Dritter ist, die Rolle zukommt, dem Gläubiger die Zahlung dessen zu sichern, was der Schuldner diesem aufgrund der verbürgten Verbindlichkeit, die aus der Schuld des Schuldners gegenüber dem Gläubiger besteht, schulden kann (Urteil vom 2. September 2021, CRCAM, C‑337/20, EU:C:2021:671, Rn. 58).

42      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 195 des Zollkodex im Einklang mit den Feststellungen des Gerichtshofs zum Bürgschaftsvertrag vorsieht, dass sich der Bürge schriftlich verpflichten muss, gesamtschuldnerisch mit dem Schuldner den gesicherten Betrag der Zollschuld „bei Fälligkeit“ zu entrichten.

43      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich somit zum einen, dass die Zollschuld gegenüber dem Zollschuldner ohne vorherige buchmäßige Erfassung des Zollbetrags, ohne die die Mitteilung dieses Betrags an den Zollschuldner nicht ordnungsgemäß ist, nicht fällig ist, und zum anderen, dass der Bürge nicht verpflichtet sein kann, für die Zahlung der Zollschuld einzustehen, solange diese gegenüber dem Zollschuldner nicht fällig geworden ist.

44      Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 195, Art. 217 Abs. 1 und Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen sind, dass die Zollbehörden vom Bürgen im Sinne des genannten Art. 195 die Zahlung einer Zollschuld nicht verlangen können, solange dem Zollschuldner der Abgabenbetrag nicht ordnungsgemäß mitgeteilt worden ist.

 Zur zweiten Frage

45      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sowie des Umstands, dass sämtliche Forderungen, die die Zollverwaltung gegen BPC geltend machte, für gegenstandslos erklärt wurden und dieses Unternehmen somit nicht mit der Zahlung einer Zollschuld im Rückstand ist, die die Zollverwaltung bei der Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihrer Eigenschaft als Bürgin nachzuerheben versuchen könnte, erscheint die zweite Frage in ihren verschiedenen Teilen offensichtlich hypothetisch. Der Gerichtshof kann aber nicht über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts entscheiden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (Urteil vom 19. Januar 2023, Unilever Italia Mkt. Operations, C‑680/20, EU:C:2023:33, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich ist die zweite Frage unzulässig.

 Kosten

46      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 195, Art. 217 Abs. 1 und Art. 221 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

die Zollbehörden vom Bürgen im Sinne des genannten Art. 195 die Zahlung einer Zollschuld nicht verlangen können, solange dem Zollschuldner der Abgabenbetrag nicht ordnungsgemäß mitgeteilt worden ist.

Unterschriften



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