C-355/19 – Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ und Asociaţia Mişcarea Pentru Apărarea Statutului Procurorilor“

C-355/19 – Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ und Asociaţia Mişcarea Pentru Apărarea Statutului Procurorilor“

CURIA – Documents

Language of document : ECLI:EU:C:2020:746

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 23. September 2020(1)

Verbundene Rechtssachen C83/19, C127/19 und C195/19

Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“

gegen

Inspecţia Judiciară

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Mehedinţi [Landgericht Mehedinţi, Rumänien])

und

Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“,

Asociaţia „Mişcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“

gegen

Consiliul Superior al Magistraturii

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Alba Iulia [Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien])

und

PJ

gegen

QK

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti [Berufungsgericht Bukarest, Rumänien])

Rechtssache C291/19

SO

gegen

TP u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Braşov [Berufungsgericht Braşov, Rumänien])

Rechtssache C355/19

Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“,

Asociaţia „Mişcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“,

OL

gegen

Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Procurorul General al României

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Piteşti [Berufungsgericht Piteşti, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union – Entscheidung 2006/928/EG der Kommission zur Einrichtung eines Verfahrens für Zusammenarbeit und Überprüfung (VZÜ) – Natur und Rechtswirkungen des VZÜ und der von der Kommission auf dessen Grundlage erstellten Berichte – Ernennung der vorläufigen Leitung der Justizinspektion – Nationale Vorschriften über die Errichtung und Organisation einer Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit“

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Primärrecht

2. Die VZÜ-Entscheidung

B. Rumänisches Recht

1. Rumänische Verfassung

2. Bestimmungen bezüglich der Justizinspektion

a) Gesetz Nr. 317/2004

b) Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018

3. Bestimmungen über die Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz

a) Gesetz Nr. 207/2018

b) Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018

c) Dringlichkeitsverordnung Nr. 92/2018

d) Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019

e) Dringlichkeitsverordnung Nr. 12/2019

III. Sachverhalte, nationale Verfahren und Vorlagefragen

A. Rechtssache C83/19

B. Rechtssache C127/19

C. Rechtssache C195/19

D. Rechtssache C291/19

E. Rechtssache C355/19

F. Verfahren vor dem Gerichtshof

IV. Würdigung

A. Zulässigkeit der Vorlagefragen

1. C83/19

2. C127/19 und C355/19

3. C195/19 und C291/19

4. Zwischenergebnis zur Zulässigkeit

B. Maßgebliches Unionsrecht und Maßstäbe

1. VZÜ

a) Stellen die VZÜ-Entscheidung und die VZÜ-Berichte Handlungen der Europäischen Union dar?

b) Ist der Beitrittsvertrag die richtige Rechtsgrundlage?

1) Formale Rechtsgrundlage

2) Inhalt und Ziele

3) Zeitlicher Geltungsbereich des VZÜ

4) Zwischenergebnis

c) Rechtliche Wirkungen des VZÜ

1) Rechtswirkungen der VZÜ-Entscheidung

2) Rechtswirkungen der VZÜ-Berichte

d) Fallen die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen in den Anwendungsbereich des VZÜ?

2. Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit: Art. 47 der Charta und/oder Art. 19 Abs. 1 EUV

a) Art. 47 der Charta

b) Art. 19 Abs. 1 EUV

c) Art. 19 Abs. 1 EUV und die Gefahren der zu weit geöffneten Tore

3. Maßstäbe und Charakter der Beurteilung

a) Maßstäbe: äußere Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit und Anscheinslehre

b) Charakter der Beurteilung: was zu ermitteln ist

C. Beurteilung der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen

1. Allgemeiner Kontext

2. Vorläufige Ernennung der Leitung der Justizinspektion

a) Vorlageentscheidung und Standpunkt der Beteiligten

b) Würdigung

c) Zwischenergebnis

3. Abteilung für die Untersuchung von Straftaten in der Justiz

a) Vorlageentscheidungen und Standpunkte der Beteiligten

b) Würdigung

i) Rechtfertigung

– Unzweideutige und zugängliche Rechtfertigung?

– Echte Rechtfertigung?

ii) Garantien

iii) Kontext und praktische Arbeitsweise

iv) Angemessene Frist

c) Zwischenergebnis

V. Ergebnis

I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Rechtssachen betreffen zwei institutionelle Aspekte des rumänischen Justizsystems, die in diesem Mitgliedstaat jüngst durch die Reform der sogenannten „Justizgesetze“(2) geändert worden sind. Im Wesentlichen betreffen die fünf in diesen Schlussanträgen zusammen geprüften Vorabentscheidungsersuchen zum einen die vorläufige Ernennung des Leiters der Inspecția Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) und zum anderen die Errichtung einer besonderen Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft, die für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz zuständig ist(3).

2.        Es gibt jedoch zwei Vorfragen, die all diesen Rechtssachen gemeinsam und eingangs zu behandeln sind. Erstens: Welche Rechtsnatur und ‑wirkungen hat das „Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung“ (im Folgenden: VZÜ)(4), das mit der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission eingerichtet wurde(5)?

3.        Auf der Grundlage des VZÜ erstellt die Europäische Kommission in regelmäßigen Zeitabständen Berichte. In ihrem 2018 veröffentlichten Bericht(6) hat die Kommission mehrere problematische Aspekte im Hinblick auf die jüngeren Reformen des Justizsystems benannt, die den Gegenstand der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen bilden. Vor diesem Hintergrund ersuchen die vorlegenden Gerichte um Klärung bezüglich des rechtlichen Status des VZÜ und der Kommissionsberichte, um insbesondere zu ermitteln, ob die in den Berichten der Kommission enthaltenen Empfehlungen für die rumänischen Behörden verbindlich sind.

4.        Darüber hinaus verweisen die Vorlagefragen, indem damit die Vereinbarkeit der nationalen Gesetzesänderungen mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes und der Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt wird, auf eine Reihe von Vorschriften des Primärrechts, insbesondere auf Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Die zweite zu klärende Vorfrage lautet daher, welche dieser Vorschriften in den vorliegenden Rechtssachen, insbesondere im Kontext der Zeit nach dem Beitritt Rumäniens, in dem das VZÜ weiterhin anwendbar ist, Anwendung finden.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Primärrecht

5.        Gemäß Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (im Folgenden: Beitrittsvertrag)(7), können die Organe der Union vor dem Beitritt u. a. die Maßnahmen erlassen, die in den Art. 37 und 38 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens (im Folgenden: Beitrittsakte)(8) vorgesehen sind.

6.        Art. 2 der Beitrittsakte sieht vor, dass ab dem Tag des Beitritts die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe für Rumänien verbindlich sind und nach Maßgabe der genannten Verträge und der Beitrittsakte gelten.

7.        Art. 37 der Beitrittsakte bestimmt: „Hat Bulgarien oder Rumänien seine im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine ernste Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorgerufen, einschließlich der Verpflichtungen in allen sektorbezogenen Politiken, die wirtschaftliche Tätigkeiten mit grenzüberschreitender Wirkung betreffen, oder besteht die unmittelbare Gefahr einer solchen Beeinträchtigung, so kann die Kommission für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative geeignete Maßnahmen erlassen.

Diese Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, wobei vorrangig Maßnahmen, die das Funktionieren des Binnenmarkts am wenigsten stören, zu wählen und gegebenenfalls bestehende sektorale Schutzmechanismen anzuwenden sind. Solche Schutzmaßnahmen dürfen nicht als willkürliche Diskriminierung oder als versteckte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten angewandt werden. Die Schutzklausel kann schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden, und die Maßnahmen treten am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist. Die Maßnahmen werden nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und werden auf jeden Fall aufgehoben, sobald die einschlägige Verpflichtung erfüllt ist. Sie können jedoch über den in Absatz 1 genannten Zeitraum hinaus angewandt werden, solange die einschlägigen Verpflichtungen nicht erfüllt sind. Aufgrund von Fortschritten der betreffenden neuen Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen kann die Kommission die Maßnahmen in geeigneter Weise anpassen. Die Kommission unterrichtet den Rat rechtzeitig, bevor sie die Schutzmaßnahmen aufhebt, und trägt allen Bemerkungen des Rates in dieser Hinsicht gebührend Rechnung.“

8.        Art. 38 der Beitrittsakte bestimmt: „Treten bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rahmenbeschlüssen oder anderen einschlägigen Verpflichtungen, Instrumenten der Zusammenarbeit oder Beschlüssen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Strafrechts im Rahmen des Titels VI des EU-Vertrags und von Richtlinien und Verordnungen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Zivilrechts im Rahmen des Titels IV des EG-Vertrags in Bulgarien oder Rumänien ernste Mängel auf oder besteht die Gefahr ernster Mängel, so kann die Kommission für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative und nach Konsultation der Mitgliedstaaten angemessene Maßnahmen treffen und die Bedingungen und Einzelheiten ihrer Anwendung festlegen.

Diese Maßnahmen können in Form einer vorübergehenden Aussetzung der Anwendung einschlägiger Bestimmungen und Beschlüsse in den Beziehungen zwischen Bulgarien oder Rumänien und einem oder mehreren anderen Mitgliedstaat(en) erfolgen; die Fortsetzung einer engen justiziellen Zusammenarbeit bleibt hiervon unberührt. Die Schutzklausel kann schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden und die Maßnahmen treten am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist. Die Maßnahmen werden nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und werden auf jeden Fall aufgehoben, sobald die Mängel beseitigt sind. Sie können jedoch über den in Absatz 1 genannten Zeitraum hinaus angewandt werden, solange die Mängel weiter bestehen. Aufgrund von Fortschritten des betreffenden neuen Mitgliedstaats bei der Beseitigung der festgestellten Mängel kann die Kommission die Maßnahmen nach Konsultation der Mitgliedstaaten in geeigneter Weise anpassen. Die Kommission unterrichtet den Rat rechtzeitig, bevor sie die Schutzmaßnahmen aufhebt, und trägt allen Bemerkungen des Rates in dieser Hinsicht gebührend Rechnung.“

2.      Die VZÜ-Entscheidung

9.        Die VZÜ-Entscheidung wurde gemäß ihrem fünften Erwägungsgrund auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen.

10.      Gemäß dem sechsten Erwägungsgrund der VZÜ-Entscheidung „[erfordern] [d]ie noch unerledigten Fragen im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden … die Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption“.

11.      Art. 1 der VZÜ-Entscheidung bestimmt, dass Rumänien der Kommission jährlich über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang dieser Entscheidung aufgeführten Vorgaben Bericht erstattet. Gemäß Art. 2 übermittelt die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens zum ersten Mal im Juni 2007 und danach nach Bedarf, mindestens jedoch alle sechs Monate. Art. 3 sieht vor, dass die VZÜ-Entscheidung „nur vorbehaltlich des Inkrafttretens des Beitrittsvertrags am Tag seines Inkrafttretens in Kraft [tritt]“. Gemäß Art. 4 ist die VZÜ-Entscheidung an alle Mitgliedstaaten gerichtet.

12.      Der Anhang der VZÜ-Entscheidung enthält die „Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1“. Die Vorgaben eins, drei und vier sind die „Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, …“, die „Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene“ bzw. die „Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“.

B.      Rumänisches Recht

1.      Rumänische Verfassung

13.      Art. 115 Abs. 4 der Constituția României (rumänische Verfassung) sieht vor, dass „[d]ie Regierung … Dringlichkeitsverordnungen nur in Ausnahmefällen erlassen [kann], deren Regelung nicht aufgeschoben werden kann, und … die Verpflichtung [hat], in ihrem Inhalt die Gründe für ihre Dringlichkeit anzugeben“.

14.      Gemäß Art. 133 Abs. 1 der rumänischen Verfassung, ist „[d]er Oberste Richterrat … der Garant der richterlichen Unabhängigkeit“.

15.      Art. 132 Abs. 1 der rumänischen Verfassung bestimmt, dass „[d]ie Staatsanwälte … ihre Aufgaben in Einklang mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, der Unparteilichkeit und der hierarchischen Kontrolle wahr[nehmen] und … dem Justizminister [unterstehen]“.

2.      Bestimmungen bezüglich der Justizinspektion

a)      Gesetz Nr. 317/2004

16.      Art. 65 des Gesetzes Nr. 317/2004 über den ORR sieht vor:

„(1)      Durch die Umstrukturierung der Justizinspektion wird die Justizinspektion als Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit innerhalb des [ORR] mit Sitz in Bukarest errichtet.

(2)      Die Justizinspektion wird von einem Chefinspekteur geleitet, der von einem stellvertretenden Chefinspekteur unterstützt wird, die beide nach einem Auswahlverfahren ernannt werden, das vom [ORR] ausgerichtet wird.

(3)      Die Justizinspektion handelt im Einklang mit dem Grundsatz der operativen Unabhängigkeit und führt durch nach gesetzlich festgelegten Bedingungen ernannte Justizinspekteure Analyse‑, Überprüfungs- und Kontrollaufgaben in bestimmten Tätigkeitsbereichen durch.“

17.      Art. 67 des Gesetzes Nr. 317/2004 sieht vor:

„(1)      Der Chefinspekteur und der stellvertretende Chefinspekteur werden vom Plenum des [ORR] unter den im Amt befindlichen Justizinspekteuren nach einem Auswahlverfahren ernannt, das in der Vorstellung eines Projekts bezüglich der Wahrnehmung der spezifischen Aufgaben der betreffenden Leitungsposition sowie in einer schriftlichen Prüfung im Hinblick auf das Management, die Kommunikation, das Personalwesen, die Fähigkeit des Bewerbers, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, und die Stressresistenz sowie in einer psychologischen Prüfung besteht.

(2)      Das Auswahlverfahren wird vom [ORR] gemäß dem durch Beschluss des Plenums des [ORR], der im Monitorul Oficial al României, Teil I, veröffentlicht wird, genehmigten Reglement ausgerichtet.

(3)      Die Organisation der Auswahlverfahren zur Besetzung der Ämter des Chefinspekteurs und des stellvertretenden Chefinspekteurs wird mindestens drei Monate im Voraus angekündigt.

(4)      Die Dauer des Mandats des Chefinspekteurs und des stellvertretenden Chefinspekteurs beträgt drei Jahre und kann unter Beachtung der Bestimmungen des Abs. 1 einmal verlängert werden.

(5)      Der Chefinspekteur und der stellvertretende Chefinspekteur können im Fall der Nichterfüllung oder der unzureichenden Erfüllung ihrer Managementaufgaben vom Plenum des [ORR] abberufen werden. Die Abberufung aus dem Amt wird auf der Grundlage des jährlichen Prüfberichts gemäß Art. 68 angeordnet.

(6)      Gegen den Beschluss des Plenums des [ORR], mit dem die Abberufung angeordnet wird, kann innerhalb von 15 Tagen nach Bekanntgabe beim Senat für Verwaltungs- und Abgabenstreitsachen der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) Klage erhoben werden. Die Klage hat hinsichtlich der Vollstreckung des Beschlusses des [ORR] aufschiebende Wirkung. Die Entscheidung, mit der über die Klage entschieden wird, ist unwiderruflich.“

b)      Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018

18.      Mit Art. I der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 der Regierung zur Ergänzung des Art. 67 des Gesetzes Nr. 317/2004 über den ORR (im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018)(9) wurden nach Art. 67 Abs. 6 der Gesetzes Nr. 317/2004 zwei neue Absätze eingefügt:

„(7)      Im Fall einer Vakanz des Amtes des Chefinspekteurs oder gegebenenfalls des stellvertretenden Chefinspekteurs der Justizinspektion infolge des Ablaufs des Mandats wird das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung dieses Amtes nach Maßgabe des Gesetzes vom Chefinspekteur oder gegebenenfalls vom stellvertretenden Chefinspekteur, deren Mandate abgelaufen sind, besetzt.

(8)      Im Fall der Beendigung des Mandats des Chefinspekteurs infolge anderer Situationen als dem Ablauf des Mandats wird das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung des Amtes nach Maßgabe des Gesetzes durch den stellvertretenden Chefinspekteur besetzt, und im Fall der Beendigung des Mandats des stellvertretenden Chefinspekteurs infolge anderer Situationen als dem Ablauf des Mandats wird das Amt vorläufig bis zum Zeitpunkt der Besetzung des Amtes nach Maßgabe des Gesetzes durch einen vom Chefinspekteur ernannten Justizinspekteur besetzt.“

19.      Gemäß Art. II der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 gilt Art. 67 Abs. 7 des Gesetzes Nr. 317/2004 „auch für die Fälle, in denen die Stelle des Chefinspekteurs oder gegebenenfalls des stellvertretenden Chefinspekteurs der Justizinspektion zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Dringlichkeitsverordnung vakant ist“.

3.      Bestimmungen über die Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz

a)      Gesetz Nr. 207/2018

20.      Durch Art. I Abs. 45 des Gesetzes Nr. 207/2018 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens (im Folgenden: Gesetz Nr. 207/2018)(10) wurde nach Art. 88 des Gesetzes Nr. 304/2004 ein neuer Abschnitt zur Regelung der Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz (im Folgenden: AUSJ) eingefügt, der die Art. 881 bis 889 enthält.

21.      Art. 881 des Gesetzes Nr. 304/2004 lautet in geänderter Fassung wie folgt:

„(1)      Innerhalb des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) wird [die AUSJ] eingerichtet, die dort tätig ist und ausschließlich für die Strafverfolgung bei von Richtern und Staatsanwälten – einschließlich Militärrichtern und Militärstaatsanwälten und solchen, die Mitglieder des [ORR] sind – begangenen Straftaten zuständig ist.

(2)      Die [AUSJ] behält ihre Zuständigkeit für die Strafverfolgung auch dann, wenn neben den in Abs. 1 genannten Personen auch gegen andere Personen ermittelt wird.

(4)      Die [AUSJ] wird von einem leitenden Staatsanwalt (Abteilungsleiter), dem ein stellvertretender leitender Staatsanwalt zur Seite steht, geleitet, die vom Plenum des [ORR] nach Maßgabe dieses Gesetzes in ihr Amt ernannt werden.

(5)      Der Generalstaatsanwalt des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) entscheidet bei Zuständigkeitskonflikten, die zwischen der [AUSJ] und den anderen Strukturen und Einheiten der Staatsanwaltschaft auftreten.

…“

22.      Art. 882 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung sieht vor:

„(1)      Die [AUSJ] arbeitet nach den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Unparteilichkeit und hierarchischen Kontrolle.

(2)      Die Delegierung oder Abordnung von Staatsanwälten an die [AUSJ] ist untersagt.

(3)      Die [AUSJ] arbeitet mit höchstens 15 Staatsanwälten.

(4)      Die Zahl der Stellen der [AUSJ] kann entsprechend dem Umfang der Tätigkeit durch Beschluss des Generalstaatsanwalts des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) auf Antrag des leitenden Staatsanwalts (Abteilungsleiters) mit Zustimmung des Plenums des [ORR] geändert werden.“

23.      Die Art. 883 und 884 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung regeln das Verfahren für die Ernennung des Leitenden Staatsanwalts bzw. des stellvertretenden Leitenden Staatsanwalts der AUSJ einschließlich der Zusammensetzung des Ausschusses für die Auswahl des Leitenden Staatsanwalts und der Voraussetzungen für die Teilnahme am Auswahlverfahren. Insbesondere sieht Art. 883 Abs. 1 vor, dass „[d]er Leitende Staatsanwalt der [AUSJ] … vom Plenum des [ORR] nach einem Auswahlverfahren in sein Amt ernannt [wird]; das Auswahlverfahren besteht in der Vorstellung eines Projekts bezüglich der Wahrnehmung der spezifischen Aufgaben der entsprechenden Leitungsposition zur Feststellung der Managementfähigkeiten, der effizienten Verwaltung von Ressourcen, der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, der Kommunikationsfähigkeiten und der Stressresistenz sowie der Integrität des Bewerbers, der Bewertung seiner Tätigkeit als Staatsanwalt und seiner Einstellung zu spezifischen Werten des Berufs wie der Unabhängigkeit der Justiz und der Wahrung der Grundrechte und Grundfreiheiten“. Des Weiteren sieht Art. 883 Abs. 7 vor: „Die Abberufung des Leitenden Staatsanwalts der [AUSJ] erfolgt durch das Plenum des [ORR] im Fall der Nichterfüllung der spezifischen Aufgaben seines Amtes oder in dem Fall, dass er in den letzten drei Jahren disziplinarisch sanktioniert worden ist, auf Vorschlag des in Abs. 2 vorgesehenen Ausschusses.“ Gemäß Art. 883 Abs. 8 „[wird] [d]er Leitende Staatsanwalt der [AUSJ] … für einen Zeitraum von drei Jahren ernannt und kann einmal wiederernannt werden“.

24.      Art. 885 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung legt das Verfahren für die Auswahl der Staatsanwälte der AUSJ und die Regeln des Auswahlverfahrens fest, das ein Bewerbungsgespräch vor dem Plenum des ORR und eine Bewertung der Tätigkeit der Bewerber umfasst. Gemäß Abs. 1 werden die Staatsanwälte vom Plenum des ORR nach einem Auswahlverfahren für einen Zeitraum von drei Jahren mit der Möglichkeit der Fortführung der Tätigkeit für einen Zeitraum von insgesamt höchstens neun Jahren ernannt. Gemäß Abs. 3 müssen Staatsanwälte, um an diesem Auswahlverfahren teilnehmen zu dürfen, kumulativ die folgenden Voraussetzungen erfüllen: „a)  sie wurden in den letzten drei Jahren nicht disziplinarisch sanktioniert; b) sie haben mindestens den Grad eines Staatsanwalts der Staatsanwaltschaft bei einem Berufungsgericht; c) sie haben ein effektives Dienstalter von mindestens 18 Jahren als Staatsanwalt; d) sie haben eine gute berufliche Vorbereitung; e) sie haben ein untadeliges moralisches Verhalten“.

25.      Art. 888 Abs. 1 legt fest, dass die Befugnisse der AUSJ Folgendes umfassen: a) die strafrechtliche Verfolgung von Straftaten, die in ihre Zuständigkeit fallen, b) die Anrufung der Gerichte betreffend Straftaten nach Buchst. a, c) die Einrichtung und Aktualisierung der Datenbank im Bereich der in ihre Zuständigkeit fallenden Straftaten und d) die Wahrnehmung anderer ihr gesetzlich zugewiesener Befugnisse. Gemäß Art. 888 Abs. 2, „[wird] [d]ie Teilnahme an Gerichtsverhandlungen in den Sachen, die in die Zuständigkeit der Abteilung fallen, … durch die Staatsanwälte der Justizabteilung des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) oder durch die Staatsanwälte der Staatsanwaltschaft bei dem mit der Entscheidung über die Sache betrauten Gericht sichergestellt“.

26.      Art. III des Gesetzes Nr. 207/2018 sieht vor:

„(1)      Die [AUSJ] nimmt ihre Arbeit innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes auf.

(2)      In die Zuständigkeit der [AUSJ] fallende Angelegenheiten, die bei einer Staatsanwaltschaft anhängig sind und über die bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Abteilung einsatzfähig ist, nicht entschieden worden ist, sind an die [AUSJ] weiterzuleiten, sobald diese einsatzfähig ist.“

b)      Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018

27.      Die Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 der Regierung über Maßnahmen zur Herstellung der Einsatzfähigkeit der [AUSJ] (im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018)(11) wurde erlassen, um die AUSJ bis zum Ende der nach Art. III Abs. 1 des Gesetzes Nr. 207/2018 festgelegten Frist einsatzfähig zu machen. Gemäß ihrer Präambel sah es die Regierung in Anbetracht dessen, dass am Tag ihres Erlasses der ORR das Verfahren zur Herstellung der Einsatzfähigkeit der AUSJ nicht abgeschlossen hatte, als erforderlich an, dringend unter Abweichung von den neuen Art. 883 bis 885 des Gesetzes Nr. 304/2004 Gesetzgebungsmaßnahmen zur Festlegung eines einfachen Verfahrens für die vorläufige Ernennung des Leitenden Staatsanwalts, des stellvertretenden Leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der Staatsanwälte der Abteilung zu erlassen.

28.      Art. 882 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 304/2004 wurde durch Art. I der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2019 wie folgt geändert: „Die [AUSJ] nimmt ihre Aufgaben mit 15 Staatsanwaltsstellen wahr.“

29.      Art. II der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 legt zur vorläufigen Ernennung des Leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der Staatsanwälte der AUSJ ein von den Art. 883 bis 885 des Gesetzes Nr. 304/2004 abweichendes Verfahren fest. Gemäß Abs. 1 dieser Vorschrift werden bis zum Abschluss der Auswahlverfahren für die Ernennung des Leitenden Staatsanwalts der AUSJ und der Staatsanwälte in Exekutivpositionen dieser Abteilung die Funktionen des Leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der Staatsanwälte in Exekutivfunktionen vorläufig von Staatsanwälten wahrgenommen, die die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ernennung auf diese Stellen erfüllen und von dem für die Ausrichtung des Auswahlverfahrens zuständigen und in Einklang mit Art. 883 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 304/2004 gebildeten Ausschuss ausgewählt werden. Gemäß Abs. 2 werden die Bewerber von dem für die Ausrichtung des Auswahlverfahrens zuständigen Ausschuss, der seine Aufgaben in Anwesenheit von mindestens drei Mitgliedern wahrnimmt, gemäß einem Verfahren, das innerhalb von fünf Kalendertagen ab dem Tag seiner Einleitung durch den Präsidenten des ORR durchgeführt wird, ausgewählt. Abs. 11 lautet: „Ab dem Zeitpunkt der Herstellung der Einsatzfähigkeit der [AUSJ] werden in deren Zuständigkeit fallende Sachen, die bei der Direcţia Naţională Anticorupţie (Nationale Antikorruptionsdirektion, Rumänien, im Folgenden: DNA) und anderen Einheiten der Staatsanwaltschaft bearbeitet werden, sowie Akten der Sachen betreffend Straftaten nach Art. 881 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 in neu bekannt gemachter Fassung mit späteren Änderungen, über die bis zum Zeitpunkt dieser Herstellung der Einsatzfähigkeit bereits entschieden wurde, von der Abteilung übernommen.“

c)      Dringlichkeitsverordnung Nr. 92/2018

30.      Mit der Dringlichkeitsverordnung Nr. 92 der Regierung vom 15. Oktober 2018 zur Änderung und Ergänzung von Gesetzgebungsakten im Bereich der Justiz (im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 92/2018)(12) wurde u. a. das Gesetz Nr. 304/2018 geändert, indem in Art. 882 ein neuer Abs. 5 eingefügt wurde, der besagt, dass die Staatsanwälte der AUSJ für die Dauer ihres Dienstes in dieser Abteilung den Status abgeordneter Staatsanwälte haben. Art. 885 Abs. 5 wurde dahin geändert, dass er vorsieht, dass das Bewerbungsgespräch im Auswahlverfahren der Staatsanwälte der AUSJ vor dem Auswahlausschuss und nicht vor dem Plenum des ORR stattfindet.

d)      Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019

31.      Die Dringlichkeitsverordnung Nr. 7 der Regierung vom 20. Februar 2019 über vorläufige Maßnahmen betreffend das Auswahlverfahren für die Zulassung zum Institutul Național al Magistraturii (Nationalen Richterinstitut, Rumänien), die Anfangsausbildung der Richter und Staatsanwälte, die Abschlussprüfung des nationalen Richterinstituts, das Referendariat und die Befähigungsprüfung der Richter- und Staatsanwaltsreferendare sowie zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 303/2004, des Gesetzes Nr. 304/2004 und des Gesetzes Nr. 317/2004(13) änderte und ergänzte u. a. das Gesetz Nr. 304/2004. Mit ihr wurde Art. 881 dieses Gesetzes ein neuer Abs. 6 hinzugefügt, gemäß dem der Verweis des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) oder eines anderen Spezialgesetzes auf den „hierarchisch vorgesetzten Staatsanwalt“ in Sachen, die Straftaten in der Zuständigkeit der AUSJ betreffen, dahin zu verstehen ist, dass dieser Ausdruck auf den Leitenden Staatsanwalt der AUSJ verweist, und zwar auch dann, wenn es um Entscheidungen geht, die getroffen wurden, bevor die Abteilung einsatzfähig wurde.

32.      Außerdem wurden mit ihr in Art. 885 nach Abs. 11 zwei neue Absätze – Abs. 111 und 112 – eingefügt, mit denen das in dieser Vorschrift festgelegte Ernennungsverfahren geändert wurde. Gemäß Abs. 111 behalten die Mitglieder des in Art. 885 genannten Auswahlausschusses ihr Stimmrecht im Plenum des ORR. Abs. 112 sieht vor, dass die jeweiligen Auswahlausschüsse der Art. 883 und 885 ihre Aufgaben rechtmäßig wahrnehmen, wenn mindestens drei ihrer Mitglieder anwesend sind.

33.      Mit dieser Verordnung wurde auch Art. 888 geändert, indem in Abs. 1 Buchst. d eine neue Befugnis der AUSJ aufgenommen wurde, die in der Einlegung und Rücknahme von Rechtsmitteln in Sachen besteht, die in die Zuständigkeit der Abteilung fallen, einschließlich solcher Sachen, die bereits vor Erreichung ihrer Einsatzfähigkeit bei Gerichten anhängig oder endgültig entschieden waren.

e)      Dringlichkeitsverordnung Nr. 12/2019

34.      Mit der Dringlichkeitsverordnung Nr. 12 der Regierung vom 5. März 2019 zur Änderung und Ergänzung von Gesetzgebungsakten im Bereich der Justiz (im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 12/2019)(14) wurde das Gesetz Nr. 303/2004 über den Status der Richter und Staatsanwälte geändert und in das Gesetz Nr. 304/2004 die Art. 8810 und 8811 eingefügt. Art. 8810 sieht die Abordnung von Beamten der Kriminalpolizei zur AUSJ auf Antrag des Leitenden Staatsanwalts dieser Abteilung durch Entscheidung des Innenministers vor. Die Dauer solcher Abordnungen beträgt bis zu drei Jahre und kann für denselben Zeitraum verlängert werden.

III. Sachverhalte, nationale Verfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C83/19

35.      Am 27. August 2018 reichte die Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ (Vereinigung „Forum der Richter Rumäniens“, im Folgenden: Forum Richtervereinigung oder Klägerin) bei der Justizinspektion (im Folgenden: Beklagte) einen Antrag auf Offenlegung von Informationen von öffentlichem Interesse ein. Die begehrten Informationen bezogen sich auf die Tätigkeit der Justizinspektion während des Zeitraums 2014 bis 2018. Sie betrafen insbesondere statistische Informationen über die von dieser Einrichtung behandelten Fälle, den Ursprung und das Ergebnis von Disziplinarklagen sowie Informationen betreffend den Abschluss eines Protokolls zwischen dem Serviciul Român de Informații (Rumänischer Nachrichtendienst) und der Justizinspektion und die Teilnahme dieses Dienstes an Untersuchungen.

36.      Am 24. September 2018 erhob die Klägerin, da sie der Auffassung war, die Antwort der Beklagten entspreche diesem Antrag nur teilweise, beim Tribunalul Olt (Landgericht Olt, Rumänien) Klage gegen die Beklagte. Die Klägerin beantragte, die Beklagte zur Offenlegung bestimmter Informationen zu verurteilen, die Gegenstand des Antrags vom 27. August 2018 gewesen waren.

37.      In ihrer am 26. Oktober 2018 eingereichten Klageerwiderung trug die Beklagte vor, die Klägerin sei nicht in ihren individuellen Rechten verletzt und die Klage sei als unbegründet abzuweisen. Die Klageerwiderung trug die Unterschrift des Richters Lucian Netejoru.

38.      Herr Netejoru war durch die Entscheidung Nr. 702/2015 des Plenums des ORR vom 30. Juni 2015 mit einem Mandat für drei Jahre (vom 1. September 2015 bis zum 1. September 2018) zum Chefinspekteur der Justizinspektion ernannt worden. Zum Zeitpunkt der Einreichung der Klageerwiderung im Ausgangsverfahren handelte Herr Netejoru auf der Grundlage der am 5. September 2018 erlassenen Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 in seiner Funktion als vorläufiger Chefinspekteur.

39.      In ihrer Replik brachte die Klägerin einen Einwand vor, demgemäß zwei Gründe dafür bestünden, dass nicht nachgewiesen worden sei, dass der Unterzeichner der Klageerwiderung, Herr Netejoru, zur Vertretung der Beklagten befugt sei. Erstens fehle es an einem von der für die Ernennung des Chefinspekteurs der Justizinspektion zuständigen Behörde, dem Plenum des ORR, erlassenen Verwaltungsakt, der bestätige, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Handeln in diesem Amt ad interim erfüllt seien.

40.      Zweitens seien die Bestimmungen der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 verfassungswidrig. Die Klägerin machte geltend, die Regierung habe durch die Verlängerung des Mandats der Leitung der Justizinspektion durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 in die verfassungsmäßigen Befugnisse des ORR eingegriffen. Die Klägerin stützte ihren Einwand auf die im VZÜ-Bericht der Kommission von 2018 getroffenen Feststellungen, wonach „[d]er Umstand, dass der Justizminister beschlossen hat, einzugreifen und die Mandate der derzeitigen Leiter zu verlängern, … als Eingriff in die Kompetenzen des Obersten Richterrats angesehen werden [könnte]“, und macht geltend, die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 verletze die in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankerte Unabhängigkeitsgarantie. Die Klägerin brachte vor, dass, sollte festgestellt werden, dass das VZÜ und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Rumänien verbindliche Verpflichtungen auferlegten und dass Rumänien es versäumt habe, diesen Verpflichtungen nachzukommen, dies bedeute, dass Herr Netejoru nicht berechtigt sei, als rechtlicher Vertreter zu handeln, was die Nichtigerklärung der in die Verfahrensakte eingebrachten Klageerwiderung (einschließlich der Verteidigungsschriftsätze, vorgebrachten Beweise und Einreden) zur Folge habe.

41.      Die Beklagte brachte vor, die Entscheidung Nr. 702/2015 des ORR, mit der Herr Netejoru zum Chefinspekteur ernannt worden sei, erscheine auf der Internetseite der Justizinspektion. Darüber hinaus berief sich die Beklagte auf die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018. Auf dieser Grundlage machte die Beklagte geltend, der Einwand der Klägerin sei als unbegründet zurückzuweisen.

42.      Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Olt (Landgericht Olt) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?

2.      Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ unter den Beitrittsvertrag? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?

3.      Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Maßnahmen, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den durch das Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlich sind, festzulegen, d. h. Garantien für ein unabhängiges Disziplinarverfahren für Richter in Rumänien, indem jegliche Gefahr, die mit dem politischen Einfluss auf die Durchführung von Disziplinarverfahren verbunden ist, wie etwa die unmittelbare Ernennung, sei es auch nur vorläufig, der Leitung der Inspecția Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) durch die Regierung, beseitigt wird?

4.      Ist Art. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall von Verfahren zur unmittelbaren Ernennung, sei es auch nur vorläufig, der Leitung der Inspecția Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) durch die Regierung die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, die auch in den Berichten im Rahmen des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ gefordert werden?

B.      Rechtssache C127/19

43.      Die Kläger in dieser Rechtssache sind das Forum Richtervereinigung und die Asociația „Mișcarea pentru Apărarea Statutului Procurorilor“ (Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“). Am 13. Dezember 2018 erhoben die Kläger bei der Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești, Rumänien) Klage auf Nichtigerklärung zweier Entscheidungen des Plenums des ORR: der Entscheidung Nr. 910/19.09.2018 zur Genehmigung der Verordnung über die Ernennung und Abberufung von Staatsanwälten mit Leitungsaufgaben innerhalb der AUSJ(15) und der Entscheidung Nr. 911/19.09.2018 zur Genehmigung der Verordnung über die Ernennung, Fortführung der Tätigkeit und Abberufung von Staatsanwälten mit Exekutivaufgaben innerhalb der AUSJ(16).

44.      Diese Entscheidungen wurden auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 207/2018 erlassen. Mit Art. 1 Abs. 45 dieses Gesetzes wurden nach Art. 88 des Gesetzes Nr. 304/2004 die Art. 881 bis 889 zur Schaffung und Festlegung der Arbeitsweise der AUSJ eingefügt. Gemäß dem neuen Art. 885 Abs. 12 „[werden] [d]ie Verfahren für die Ernennung, die Fortführung der Tätigkeit bei der Abteilung und die Abberufung aus Leitungs- und Exekutivfunktionen … in einer vom Plenum des [ORR] genehmigten Verordnung festgelegt“. Die beiden Entscheidungen, deren Nichtigerklärung in der vorliegenden Rechtssache begehrt wird, wurden auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen.

45.      Die Kläger machen geltend, die beiden Verwaltungsentscheidungen seien verfassungswidrig, und verweisen auf die Bestimmungen der Verfassung Rumäniens, gemäß denen dieser Mitgliedstaat verpflichtet sei, seinen Verpflichtungen aus den Verträgen, bei denen er Partei sei, nachzukommen (Art. 11 und Art. 148 Abs. 2 der rumänischen Verfassung). Die Kläger machen ferner geltend, gewisse Bestimmungen der angefochtenen Rechtsakte verstießen gegen höherrangiges Recht, einschließlich des Gesetzes, der Verfassung und des AEUV. Die Kläger verweisen auch auf das VZÜ. Sie sind der Ansicht, die Schaffung der AUSJ berühre unmittelbar die Zuständigkeiten der DNA, einer Einheit, die gemäß den Berichten der Kommission nach dem VZÜ beachtliche Ergebnisse erzielt habe. Die Schaffung der AUSJ bedeute, dass Dutzende bei der DNA anhängiger prominenter Korruptionsfälle aufgrund der bloßen Einlegung fiktiver Beschwerden gegen einen Richter oder Staatsanwalt an die AUSJ verwiesen werden könnten, was die klare Abschaffung eines erheblichen Teils der Tätigkeit der DNA bewirke.

46.      Im Urteil Nr. 33 vom 23. Januar 2018 prüfte die Curtea Constituțională a României (Verfassungsgericht Rumäniens) die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 207/2018 im Rahmen einer Vorabentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit. Sie entschied, dass die die Auswirkungen der Schaffung der AUSJ auf die Zuständigkeiten der DNA betreffenden Rügen unbegründet seien und keine verbindlichen Unionsrechtsakte bestünden, die zur Stützung der auf Art. 148 Abs. 2 und 4 der Verfassung gestützten Rügen der Verfassungswidrigkeit dienen könnten.

47.      Das vorlegende Gericht führt aus, die Schaffung der AUSJ sei von der von der Staatengruppe gegen Korruption (im Folgenden: GRECO) und der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (im Folgenden: Venedig-Kommission) kritisiert worden. Die Kommission habe im Rahmen ihrer VZÜ-Berichte auf diese Berichte verwiesen. Da das VZÜ und die in dessen Zusammenhang erstellten Berichte eine Einhaltungsverpflichtung für den Staat begründeten, gelte eine solche Verpflichtung nicht nur für den Gesetzgeber des Staates, sondern auch für die Verwaltungsbehörden – in der vorliegenden Rechtssache den ORR, der die sekundären Umsetzungsrechtsvorschriften erlasse – und die Gerichte.

48.      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, die Curtea Constituțională (Verfassungsgericht) habe in ihrem Urteil Nr. 104 vom 6. März 2018 festgestellt, dass die Bedeutung der VZÜ-Entscheidung vom Gerichtshof nicht „hinsichtlich ihres Inhalts, Charakters und zeitlichen Geltungsbereichs und hinsichtlich dessen, ob diese Aspekte … unter den Beitrittsvertrag fallen“, ausgelegt worden sei. Daher ist es der Ansicht, eine Entscheidung über den Rechtsstreit erfordere eine Klärung des Charakters und der Rechtskraft dieser Rechtsakte.

49.      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?

2.      Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ unter die Bestimmungen des Beitrittsvertrags? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?

3.      Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt?

4.      Steht Art. 2 EUV, insbesondere das Erfordernis, die Werte der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, Rechtsvorschriften entgegen, mit denen die AUSJ im Rahmen der Staatsanwaltschaft beim Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) eingerichtet und organisiert wird, da die Möglichkeit besteht, dass mittelbar Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt wird?

5.      Steht der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankert ist, in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) der Errichtung der AUSJ im Rahmen des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) entgegen, wenn man die Modalitäten der Ernennung/Abberufung der Staatsanwälte, die dieser Abteilung angehören, die Modalitäten der Ausübung der Tätigkeit in deren Rahmen und die Art und Weise der Festlegung der Zuständigkeit bezogen auf die geringe Anzahl von Stellen dieser Abteilung berücksichtigt?

C.      Rechtssache C195/19

50.      Der Beschwerdeführer, PJ, hatte in einem Steuerrechtsstreit eine Klage erhoben, die vom Beschwerdegegner, der ein Richter in dieser Sache war, als unbegründet abgewiesen wurde. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, der Beschwerdegegner sei seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Begründung seiner Entscheidung innerhalb des gesetzlichen Zeitraums von 30 Tagen nicht nachgekommen und habe dadurch den Geschädigten daran gehindert, Rechtsmittel einzulegen. Der Beschwerdeführer erstattete daher beim Parchetul de pe lângă Curtea de Apel București (Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) Strafanzeige und beantragte, den Beschwerdegegner wegen der Straftat des Amtsmissbrauchs strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

51.      Der sachbearbeitende Staatsanwalt des Parchetul de pe lângă Curtea de Apel București (Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Bukarest) entschied, ein Strafverfahren einzuleiten, das später mit der Begründung eingestellt wurde, der dem Richter vorgeworfene Missbrauch sei nicht gegeben. Der Beschwerdeführer legte gegen die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens beim vorgesetzten Staatsanwalt Beschwerde ein.

52.      Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 207/2018 verwies das Parchetul de pe lângă Curtea de Apel București (Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Bukarest) die Beschwerde gemäß Art. III dieses Gesetzes und in Einklang mit dem neuen Art. 881 des Gesetzes Nr. 304/2004 an die AUSJ, da sie sich auf einen Richter bezog. Auch der stellvertretende Leitende Staatsanwalt der AUSJ wies die Beschwerde als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer erhob bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) – dem vorlegenden Gericht – Beschwerde gegen den ursprünglichen Beschluss der Staatsanwaltschaft bei diesem Gericht, der durch den Beschluss des stellvertretenden Leitenden Staatsanwalts der AUSJ bestätigt worden war.

53.      Das vorlegende Gericht erläutert, es könne die Beschwerde entweder zurückweisen oder ihr stattgeben. In letzterem Fall habe seine Entscheidung die Wirkung, die Beschlüsse der Staatsanwälte aufzuheben und die Sache an den Staatsanwalt zurückzuverweisen. Der vorgesetzte Staatsanwalt, der die Rechtmäßigkeit und die Begründetheit des Beschlusses des sachbearbeitenden Staatsanwalts geprüft habe, sei gemäß Abschnitt 21 des Gesetzes Nr. 304/2004 Mitglied der AUSJ. Daher seien, wenn der Beschwerde stattgegeben werde, sowohl der sachbearbeitende Staatsanwalt als auch der vorgesetzte Staatsanwalt Mitglieder derselben Sonderabteilung AUSJ.

54.      Unter diesen Umständen sieht sich das vorlegende Gericht zu der Prüfung verpflichtet, ob das Unionsrecht den nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ entgegensteht. Das nationale Gericht weist darauf hin, dass im VZÜ-Bericht 2018 der Kommission empfohlen worden sei, „[d]ie Umsetzung der Justizgesetze und nachfolgender Dringlichkeitsanordnungen unverzüglich auszusetzen“ und „die Justizgesetze unter umfassender Berücksichtigung der Empfehlungen im Zuge des [VZÜ] und von der Venedig-Kommission und der GRECO herausgegeben zu überarbeiten“.

55.      Das nationale Gericht legt dar, dass, sollte festgestellt werden, dass Art. 67 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Satz 1 EUV und Art. 9 Satz 1 EUV den in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, dies zur Nichtigerklärung aller von der AUSJ vorgenommenen Verfahrenshandlungen führen würde, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens seien. Falls der Beschwerde stattgegeben werde, müsste das vorlegende Gericht die Antwort des Gerichtshofs auch bei der Benennung der zuständigen Staatsanwaltschaft berücksichtigen.

56.      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ und die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?

2.      Stehen Art. 67 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Satz 1 EUV und Art. 9 Satz 1 EUV einer innerstaatlichen Regelung entgegen, mit der eine staatsanwaltschaftliche Abteilung eingerichtet wird, die ausschließlich für die Ermittlung jeder Art von Straftaten zuständig ist, die von Richtern oder Staatsanwälten begangen werden?

3.      Steht der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, wie er im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, EU:C:1964:66), und der späteren ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verankert ist, einer innerstaatlichen Regelung entgegen, die es einer politisch-rechtsprechenden Institution wie der Curtea Constituțională a României (Verfassungsgericht Rumäniens) erlaubt, durch Entscheidungen, gegen die kein Rechtsweg eröffnet ist, gegen den vorgenannten Grundsatz zu verstoßen?

D.      Rechtssache C291/19

57.      Mit vier im Dezember 2015 und im Februar 2016 gestellten Strafanzeigen gab SO, die Beschwerdeführerin, an, vier Staatsanwälte hätten die Straftat des Amtsmissbrauchs und ein Rechtsanwalt, ein Mitglied der Rechtsanwaltskammer Brașov, habe die Straftat der unerlaubten Einflussnahme begangen. Nachfolgend stellte die Beschwerdeführerin eine Strafanzeige gegen zwei Richter der Judecătoria Brașov (Amtsgericht Brașov, Rumänien) und des Tribunalul Brașov (Landgericht Brașov, Rumänien) und machte geltend, sie seien Mitglieder einer kriminellen Vereinigung und hätten in verschiedenen Verfahren für sie nachteilige Entscheidungen erlassen.

58.      Durch Beschluss vom 8. September 2017 ordnete die Abteilung für die Bekämpfung von Korruptionsdelikten gleichgestellten Straftaten der DNA die Einstellung des Verfahrens an.

59.      Die Beschwerdeführerin legte gegen den Beschluss vom 8. September 2017 beim hierarchisch vorgesetzten Staatsanwalt, dem Leitenden Staatsanwalt der Abteilung für die Bekämpfung von Korruptionsdelikten gleichgestellten Straftaten bei der DNA, Beschwerde ein. Letzterer wies diese Beschwerde mit Beschluss vom 20. Oktober 2017 als unbegründet zurück.

60.      Am 11. September 2018 legte die Beschwerdeführerin gegen den ursprünglichen Beschluss, wie er durch den Beschluss vom 20. Oktober 2017 bestätigt worden war, Beschwerde bei der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, ein.

61.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass, da das bei ihm anhängige Verfahren die Teilnahme eines Staatsanwalts an den mündlichen Verhandlungen erfordere, anfangs ein Staatsanwalt der DNA an den mündlichen Verhandlungen teilgenommen habe. Nach dem Inkrafttreten der Änderungen des Gesetzes Nr. 304/2004 und dem Urteil Nr. 3 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) vom 26. Februar 2019 sei der Staatsanwalt der DNA in den mündlichen Verhandlungen durch einen Staatsanwalt des Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Brașov (Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Brașov, Rumänien) ersetzt worden.

62.      Das vorlegende Gericht erläutert, die Fortführung des Ausgangsverfahrens bedeute die Teilnahme der Staatsanwälte der AUSJ. Auch wenn festgestellt werde, dass die Beschwerde der Beschwerdeführerin begründet sei, habe das vorlegende Gericht die Sache zur Strafverfolgung an die AUSJ zu verweisen. Unter diesen Umständen hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, festzustellen, ob das Unionsrecht unter Berücksichtigung des VZÜ-Berichts von 2018 der Kommission den nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ entgegensteht. Konkret fragt das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Gerichtshof die VZÜ-Berichte als verbindlich ansehen sollte, nach der Tragweite dieser Verpflichtung und möchte wissen, ob diese nur die Ergebnisse dieser Berichte erfasse oder ob das nationale Gericht auch die Feststellungen des Berichts einschließlich derjenigen, die aus den Dokumenten der Venedig-Kommission und der GRECO stammten, zu berücksichtigen habe.

63.      Aus diesen Gründen hat die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?

2.      Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich, insbesondere (aber nicht nur) hinsichtlich der Notwendigkeit legislativer Änderungen im Einklang mit den Schlussfolgerungen des VZÜ sowie den Empfehlungen der Venedig-Kommission und der GRECO?

3.      Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt?

4.      Steht der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil der Großen Kammer vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) der Errichtung der AUSJ im Rahmen des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) entgegen, wenn man die Modalitäten der Ernennung/Abberufung der Staatsanwälte, die dieser Abteilung angehören, die Modalitäten der Ausübung der Tätigkeit in deren Rahmen und die Art und Weise der Festlegung der Zuständigkeit bezogen auf die geringe Anzahl von Stellen dieser Abteilung berücksichtigt?

5.      Steht Art. 47 Abs. 2 der Charta betreffend das Recht auf ein faires Verfahren durch Verhandlung der Sache innerhalb einer angemessenen Frist der Errichtung der AUSJ im Rahmen des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) entgegen, wenn man die Modalitäten der Ausübung der Tätigkeit im Rahmen dieser Abteilung und die Art und Weise der Festlegung der Zuständigkeit bezogen auf die geringe Anzahl von Stellen dieser Abteilung berücksichtigt?

E.      Rechtssache C355/19

64.      Bei den Klägern in dieser Rechtssache handelt es sich um das Forum Richtervereinigung, die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ und OL, eine natürliche Person (im Folgenden: Kläger).

65.      Am 23. Januar 2019 erhoben die Kläger bei der Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești) Klage auf Nichtigerklärung des Erlasses Nr. 252 vom 23. Oktober 2018, der vom Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Procurorul General al României (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof – Generalstaatsanwalt Rumäniens, im Folgenden: Beklagter) erlassen worden war(17). Dieser Erlass betrifft die Organisation und die Arbeitsweise der AUSJ. Er wurde auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 207/2018, mit dem die AUSJ errichtet worden war, gemäß Art. II Abs. 10 und Abs. 11 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 verabschiedet.

66.      Die Kläger machten erstens unter Verweis auf die Bestimmung der rumänischen Verfassung, wonach dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, seinen Verpflichtungen nach den Verträgen, deren Partei er ist, nachzukommen (Art. 11 und Art. 148 Abs. 2 der rumänischen Verfassung), geltend, dieser Erlass sei verfassungswidrig. Zweitens beanstandeten sie den Text des Erlasses mit der Begründung, einige seiner Bestimmungen verstießen gegen höherrangiges Recht (das Gesetz, die Verfassung, den EU-Vertrag). Die Kläger machten insbesondere geltend, dieser Erlass lasse die Empfehlungen unberücksichtigt, die die Kommission in den im Zusammenhang mit dem VZÜ erstellten Berichten dargelegt habe.

67.      Unter diesen Umständen und aufgrund von Erwägungen, die denen ähnlich sind, die vom vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑127/19 vorgetragen worden sind, hat die Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das mit der VZÜ-Entscheidung eingeführte VZÜ als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann?

2.      Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ unter den Beitrittsvertrag? Sind die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich?

3.      Ist Art. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall der dringlichen Errichtung einer Abteilung der Staatsanwaltschaft zur ausschließlichen Ermittlung von Straftaten, die von Richtern oder Staatsanwälten begangen worden sind – was mit Blick auf die Korruptionsbekämpfung besondere Besorgnis auslöst und als zusätzliches Instrument dienen könnte, um Richter und Staatsanwälte einzuschüchtern und unter Druck zu setzen –, die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, die auch in den im Rahmen des mit der VZÜ-Entscheidung eingeführten VZÜ erstellten Berichten gefordert werden?

4.      Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Fall der dringlichen Errichtung einer Abteilung der Staatsanwaltschaft zur ausschließlichen Ermittlung von Straftaten, die von Richtern oder Staatsanwälten begangen worden sind – was mit Blick auf die Korruptionsbekämpfung besondere Besorgnis auslöst und als zusätzliches Instrument dienen könnte, um Richter und Staatsanwälte einzuschüchtern und unter Druck zu setzen –, die Maßnahmen, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den durch das Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlich sind, festzulegen, indem jegliche Gefahr einer politischen Einflussnahme auf strafrechtliche Ermittlungen gegen Richter ausgeschlossen wird?

F.      Verfahren vor dem Gerichtshof

68.      Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. März 2019 sind die Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑195/19 verbunden worden. Mit diesem Beschluss wurde der Antrag der vorlegenden Gerichte in diesen Rechtssachen, diese nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückgewiesen; allen drei Rechtssachen wurde jedoch gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung Vorrang eingeräumt.

69.      Mit Schreiben vom 11. bzw. vom 20. Februar 2019 haben die jeweiligen Kläger in den Rechtssachen C‑83/19 und C‑127/19 den Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß Art. 279 AEUV und Art. 160 Abs. 2 und 7 der Verfahrensordnung beantragt. Der Gerichtshof hat darauf geantwortet, dass er in Vorabentscheidungsverfahren keine Zuständigkeit für den Erlass solcher Anordnungen habe.

70.      Im Anschluss an die Entscheidung der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) vom 8. Februar 2019 hat das Tribunalul Olt (Landgericht Olt) das Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑83/19 mit Beschluss vom 12. Februar 2019 an das Tribunalul Mehedinţi (Landgericht Mehedinţi, Rumänien) verwiesen. Gleichwohl hat das Tribunalul Olt (Landgericht Olt) den Gerichtshof davon unterrichtet, dass alle Verfahrenshandlungen einschließlich des Vorabentscheidungsersuchens aufrechterhalten worden seien. Im Anschluss an die Entscheidung der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) vom 10. Juni 2020 hat die Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești) das Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑127/19 an die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) verwiesen. Die Curtea de Apel Pitești (Berufungsgericht Pitești) hat den Gerichtshof davon unterrichtet, dass alle Verfahrenshandlungen aufrechterhalten worden sind.

71.      Auch in der Rechtssache C‑355/19 hat das vorlegende Gericht die Anwendung des beschleunigten Verfahrens beantragt. Dies wurde mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. Juni 2019 abgelehnt. Dieser Rechtssache sowie der Rechtssache C‑291/19 wurde mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. September 2019 Vorrang eingeräumt.

72.      In den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑195/19 haben die Justizinspektion, die Regierungen Belgiens, der Niederlande, Polens und Rumäniens sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. Die schwedische Regierung hat in den Rechtssachen C‑83/19 und C‑127/19 schriftliche Erklärungen eingereicht. Der ORR und die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ haben in der Rechtssache C‑127/19 schriftliche Erklärungen eingereicht.

73.      In der Rechtssache C‑291/19 haben die Regierungen der Niederlande, Polens, Rumäniens und Schwedens sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht.

74.      In der Rechtssache C‑355/19 haben das Forum Richtervereinigung, der Generalstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof (im Folgenden: Generalstaatsanwalt), die Regierungen der Niederlande, Polens, Rumäniens und Schwedens sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht.

75.      Am 20. und am 21. Januar 2020 hat eine gemeinsame mündliche Verhandlung stattgefunden, in der die folgenden Parteien mündliche Ausführungen gemacht haben: das Forum Richtervereinigung, die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“, der Oberste Richterrat (ORR), OL, der Generalstaatsanwalt, die Regierungen Belgiens, Dänemarks, der Niederlande, Rumäniens und Schwedens sowie die Europäische Kommission.

IV.    Würdigung

76.      Diese Schlussanträge sind wie folgt gegliedert: Ich beginne mit der Prüfung der in den verschiedenen Rechtssachen vor dem Gerichtshof gegen die Zulässigkeit vorgebrachten Einwände (A). Dann werde ich den anwendbaren Unionsrechtsrahmen und die Maßstäbe festlegen, anhand deren die Prüfung in den vorliegenden Rechtssachen vorzunehmen ist (B). Schließlich werde ich die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen beurteilen (C).

A.      Zulässigkeit der Vorlagefragen

77.      Mehrere Beteiligte, die in verschiedenen Rechtssachen Erklärungen abgegeben haben, bringen vor, der Gerichtshof sollte einige oder alle der in den vorliegenden Rechtssachen vorgelegten Fragen nicht beantworten. Die hauptsächlichen „Themen“, die im Hinblick auf die verschiedenen Rechtssachen aufgebracht worden sind, lassen sich im Wesentlichen dahin „umgruppieren“, dass sie Einwände erfassen, die sich auf eine mangelnde Zuständigkeit der Union in den von den Vorlagefragen erfassten Bereichen beziehen, insbesondere i) die interne Organisation des Justizsystems, ii) die mangelnde Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung der VZÜ-Entscheidung, iii) die fehlende Erheblichkeit der vom Gerichtshof zu gebenden Antworten für die Entscheidungen in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren und iv) den Umstand, dass einige der Vorlagefragen gegenstandslos geworden seien.

78.      All diese Einwände sind als Einreden gegen die Zulässigkeit der Vorlagefragen vorgebracht worden. Mir scheint jedoch, dass die Argumente, die sich auf i) den Mangel der Zuständigkeiten der Union im Bereich der Organisation des Justizwesens der Mitgliedstaaten und ii) die Rechtsnatur des VZÜ beziehen, in Wirklichkeit die Beurteilung der Zuständigkeit des Gerichtshofs betreffen.

79.      Außerdem überschneiden sich diese Gesichtspunkte der Zuständigkeit weitgehend mit der materiellen Prüfung der betreffenden Bestimmungen. Die Frage, ob die in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden nationalen Bestimmungen, die die Organisation der Justiz betreffen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, ist untrennbar mit den Antworten verbunden, die auf die Vorlagefragen zu geben sind, die sich speziell auf den Anwendungsbereich, die Voraussetzungen und die Wirkungen von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie von Art. 47 der Charta beziehen(18). Wie der Gerichtshof in der Rechtssache A. K. u. a. im Hinblick auf ähnliche Argumente festgestellt hat, betreffen diese Fragen die Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen und fallen daher in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV(19).

80.      Aus diesen Gründen werde ich diese beiden Einwände gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs unten in Abschnitt B dieser Schlussanträge behandeln, wo ich die Bestimmungen, die in den vorliegenden Rechtssachen tatsächlich anwendbar sind, und die erforderliche Art der Prüfung darlegen werde. In diesem Abschnitt, Abschnitt A der vorliegenden Schlussanträge, werde ich nur das behandeln, was tatsächlich als Einreden der Unzulässigkeit erscheint, die in jeder der Rechtssachen von mehreren Parteien im Hinblick auf einzelne Vorlagefragen vorgebracht werden.

81.      Es ist festzustellen, dass die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen hat, die Vorlagefragen seien in allen Rechtssachen vor dem Gerichtshof größtenteils unzulässig(20). In der mündlichen Verhandlung hat diese Regierung ihren Standpunkt jedoch erheblich geändert, was nach meinem Verständnis dem Umstand geschuldet ist, dass sich nach dem zwischenzeitlichen Regierungswechsel auf nationaler Ebene auch die Politik der neuen Regierung geändert hat(21).

82.      Allerdings hat die rumänische Regierung ihre schriftlichen Erklärungen und die darin vorgebrachten, die Zulässigkeit betreffenden Argumente in der mündlichen Verhandlung nicht ausdrücklich zurückgenommen. Daher gehe ich davon aus, dass der Gerichtshof weiterhin verpflichtet ist, auf diese von der rumänischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen im Hinblick auf die Zuständigkeit vorgebrachten Argumente einzugehen.

83.      Als gemeinsame Einleitung zu den einzelnen Rechtssachen ist es in diesem Abschnitt zweckmäßig, daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung im Ausgangsverfahren fällt, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der Vorlagefragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden. Es besteht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit von zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen. Daher verweigert der Gerichtshof eine Entscheidung nur unter engen Voraussetzungen, beispielsweise dann, wenn die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung nicht erfüllt sind, oder wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung des betreffenden Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität steht oder wenn die Fragen hypothetischer Natur sind(22). Ich werde die die Zulässigkeit betreffenden Einwände in den vorliegenden Rechtssachen im Licht dieser Grundsätze beurteilen.

1.      C83/19

84.      Gegen die Zulässigkeit dieser Rechtssache sind zwei verschiedene Einwände vorgebracht worden. Der erste Einwand betrifft die fehlende Erforderlichkeit oder Entscheidungserheblichkeit der Fragen für das Ausgangsverfahren. Der zweite Einwand bezieht sich auf die Behauptung, die Rechtssache sei gegenstandslos geworden.

85.      Erstens hat die Justizinspektion geltend gemacht, die in der Rechtssache C‑83/19 gestellten Fragen seien für die Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht erheblich. Dieses Argument ist auch von der rumänischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen im Hinblick auf die erste und die zweite Frage zusätzlich zu dem Hinweis vorgebracht worden, das vorlegende Gericht habe nicht die Gründe erläutert, aus denen es die Vorlage zur Vorabentscheidung für erforderlich angesehen habe.

86.      Zweitens hat die Kommission vorgetragen, das Ausgangsverfahren sei gegenstandslos geworden und die Fragen seien daher nicht mehr erheblich. Sie trägt vor, Herr Netejoru sei am 15. Mai 2019 auf der Grundlage der Bestimmungen des Gesetzes Nr. 317/2004 vom Plenum des ORR für ein neues dreijähriges Mandat zum Chefinspekteur der Justizinspektion ernannt worden. Die Vorlagefragen hätten daher ihre Erheblichkeit verloren. Die nachträgliche Ernennung derselben Person nach einem rechtmäßig ausgerichteten Auswahlverfahren beende jede Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der Justiz durch die ausführende Gewalt.

87.      Hinsichtlich der mangelnden Befugnis, die Justizinspektion vor dem 15. Mai 2019 – einschließlich des Zeitpunkts, zu dem Herr Netejoru die Erklärungen im Namen der Justizinspektion abgab – zu vertreten, ist die Kommission der Auffassung, die Situation könne durch Art. 82 Abs. 1 des Codul de procedură civilă al României (rumänische Zivilprozessordnung) geheilt werden. Diese Bestimmung sehe vor, dass wenn „ein Nachweis für die Vertretereigenschaft dessen [fehlt], der im Namen einer Partei gehandelt hat, … das Gericht eine kurze Frist zur Behebung des Mangels [setzt]“. Folglich seien die Vorlagefragen hypothetischer Natur und sollten als unzulässig zurückgewiesen werden.

88.      Meines Erachtens überzeugt keine dieser Einreden der Unzulässigkeit.

89.      Erstens hat das vorlegende Gericht die Erheblichkeit der Vorlagefragen für die Zwecke des Ausgangsverfahrens erläutert. Gemäß der Vorlageentscheidung muss das nationale Gericht als Vorfrage gemäß nationalen Verfahrensbestimmungen über die prozessualen Einreden entscheiden, die eine Beweiserhebung oder die Prüfung in der Sache entbehrlich machen(23). Gegenwärtig ist das Ausgangsverfahren genau wegen dieser prozessualen Einrede ausgesetzt, die auf die fehlende Vertretungsbefugnis von Herrn Netejoru gestützt wird, der die Klageerwiderung als Vertreter der Justizinspektion in seiner Funktion als Chefinspekteur gemäß der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 unterzeichnet hat.

90.      Es ist ziemlich offensichtlich, welchen „Dominoeffekt“ jede Antwort, die der Gerichtshof geben könnte, auf das nationale Verfahren haben könnte. Gäbe das vorlegende Gericht der vorab erhobenen Einrede statt, hätte dies den Ausschluss der Klageerwiderung und implizit der darin vorgebrachten Beweise und Einreden zur Folge. Diese Entscheidung hätte ganz klar Auswirkungen auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits im nationalen Verfahren, der den Antrag des Forums Richtervereinigung betrifft, die Justizinspektion zur Offenlegung von Informationen zu verpflichten.

91.      Ich räume ein, dass der Inhalt der Vorlagefragen in dieser Rechtssache dem Hauptgegenstand des Ausgangsrechtsstreits, der nach wie vor in der den Antrag auf Informationen betreffenden Klage besteht, einigermaßen fernliegt. Außerdem mag es einigermaßen gekünstelt erscheinen, innerhalb eines solchen Ausgangsrechtsstreits inhaltlich die gesamte Frage einer möglicherweise problematischen Ernennung des Chefjustizinspekteurs zu eröffnen.

92.      Jedoch besteht der Rechtsstreit, bezüglich dessen der Gerichtshof um seine Auffassung ersucht wird, in der Vorfrage betreffend Herrn Netejorus Vertretereigenschaft, die sich im Ausgangsrechtsstreit stellt. Der Umstand, dass dieses Verfahren eine Vorfrage betrifft, bedeutet nicht, dass die Erheblichkeit fehlen würde und die Vorlage zur Vorabentscheidung deshalb unzulässig wäre. Der Gerichtshof hat nämlich bei der Beurteilung, ob eine Vorlagefrage zum „Erlass eines Urteils“ im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV erforderlich ist, diesen Begriff weit ausgelegt. Er umfasst insbesondere „das gesamte Verfahren, das zur Entscheidung des vorlegenden Gerichts führt, … damit der Gerichtshof über die Auslegung aller Verfahrensvorschriften des Unionsrechts entscheiden kann, die das vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden muss“(24). Diese Auslegung hat es ermöglicht, Verfahrensfragen, die das gesamte Verfahren zur Schaffung des Urteils einschließlich aller Fragen, die sich auf die Tragung der Verfahrenskosten oder die Beweisaufnahme beziehen, als zulässig anzusehen(25). Außerdem hat sich der Gerichtshof in der Vergangenheit traditionell eher großzügig gezeigt, indem er die inhaltliche Nähe der aufgeworfenen Fragen zum Ausgangsverfahren nicht zu genau geprüft hat(26).

93.      Zweitens ist auch die Einrede der Kommission zurückzuweisen. Zugegebenermaßen setzt das Verfahren der Vorabentscheidung nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass beim nationalen Gericht ein Rechtsstreit anhängig ist(27). Dies bedeutet, dass der Gerichtshof, wenn der Gegenstand des Rechtsstreits weggefallen ist, wodurch die vorgelegten Fragen hypothetisch werden oder ihren Bezug zu einem tatsächlichen Rechtsstreit verlieren, festzustellen hat, dass eine Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen nicht mehr erforderlich ist(28).

94.      In der vorliegenden Rechtssache ergibt sich jedoch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nichts, was darauf hindeuten würde, dass entweder der Vorabeinwand im Ausgangsverfahren oder das Ausgangsverfahren selbst gegenstandslos geworden wären. Es gibt keine Bestätigung dafür, dass die spätere rechtmäßige Ernennung von Herrn Netejoru auf die Stelle des Chefinspekteurs sich in irgendeiner Weise auf die Gültigkeit der vor dieser Ernennung vorgenommenen Vertretungshandlungen auswirken würde.

95.      Zwar wird die Unterstützung der Kommission bei der Ermittlung des möglicherweise anwendbaren einschlägigen nationalen Rechts geschätzt, doch ist es nicht Sache des Gerichtshofs, solche Bestimmungen auszulegen. Außerdem scheint das vorlegende Gericht nach der Vorlageentscheidung davon auszugehen, dass es verpflichtet sei, über die von der Klägerin erhobene prozessuale Einrede zu entscheiden und die Rechtmäßigkeit der Vertretung der Justizinspektion zur Zeit der Einreichung der Klageerwiderung zu beurteilen(29). Unter diesem Aspekt, dessen Richtigkeit allein von dem oder den nationalen Gericht(en) festzustellen ist, kann der Umstand, dass eine bestimmte Person nach diesem Zeitpunkt auf dieselbe Stelle ernannt worden ist, sich nicht dahin auswirken, dass das vorherige Fehlen der Vertretungsbefugnis geheilt würde.

96.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑83/19 in der Tat zulässig sind.

2.      C127/19 und C355/19

97.      In der Rechtssache C‑127/19 bringt die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vor, die Fragen eins bis drei, die die Rechtsnatur und die Wirkungen der VZÜ-Entscheidung beträfen, wiesen keine Verbindung zum Gegenstand des Ausgangsverfahrens auf. In ähnlicher Weise, jedoch die allgemeine Einrede der Unzulässigkeit sämtlicher Vorlagefragen in der Rechtssache C‑127/19 erhebend, vertritt der ORR die Auffassung, die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen beträfen nicht die Auslegung des Unionsrechts, vielmehr werde der Gerichtshof damit um die Anwendung des Unionsrechts auf den in Rede stehenden Fall und um eine beratende Stellungnahme zu nationalen Bestimmungen ersucht. In der mündlichen Verhandlung hat der ORR weiter ausgeführt, die Fragen seien für den Gegenstand des Ausgangsverfahrens, das die Rechtmäßigkeit zweier Verwaltungsakte des ORR und nicht das Gesetz betreffe, mit dem die AUSJ geschaffen worden sei, unerheblich. Da es dem vorlegenden Gericht an der Zuständigkeit für die Prüfung des nationalen Rechts fehle, die einen bei der Curtea Constituțională a României (Verfassungsgericht Rumäniens) anhängigen Gegenstand darstelle, seien die Fragen für unzulässig zu erklären.

98.      In der Rechtssache C‑355/19 hat die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebracht, das vorlegende Gericht habe nicht die Erheblichkeit der ersten, der zweiten und der vierten Frage für die Zwecke des Ausgangsverfahrens dargelegt.

99.      Die Rechtssache C‑127/19 betrifft die Nichtigerklärung der Entscheidungen Nrn. 910 und 911 des Plenums des ORR vom 19. September 2018. Das vorlegende Gericht erläutert, diese Rechtsakte seien im Hinblick darauf erlassen worden, die durch das Gesetz Nr. 207/2018 beschlossenen Änderungen umzusetzen, so dass diese Rechtsakte daher darauf abzielten, das Funktionieren der AUSJ zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, die Auslegung des VZÜ, von Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie von Art. 47 der Charta im Hinblick auf eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Errichtung der AUSJ durch das Gesetz Nr. 207/2018 mit diesen Bestimmungen zu klären. Dieses Gesetz stelle die Rechtsgrundlage der Rechtsakte dar, deren Nichtigerklärung im Ausgangsverfahren begehrt werde.

100. Diese Erläuterungen zeigen, dass eine klare funktionale Verbindung zwischen den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsakten und dem Gesetz Nr. 207/2018 zur Errichtung der AUSJ besteht. Eine Feststellung der Unvereinbarkeit der Errichtung der AUSJ mit dem Unionsrecht hätte eine unvermeidbare Auswirkung auf die Beurteilung der Verwaltungsakte, die in den Ausgangsverfahren in Frage stehen. Vereinfacht gesagt: Wird die Grundlage für unvereinbar befunden, gilt dies auch für die späteren Rechtsakte zur Umsetzung dieser Grundlage.

101. Dies zeigt meines Erachtens klar, dass die in der Rechtssache C‑127/19 aufgeworfenen Fragen für die Zwecke der Klage auf Nichtigerklärung vor dem vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren erheblich sind. Die in dieser Rechtssache erhobenen Einreden der Unzulässigkeit sind daher zurückzuweisen.

102. In ähnlicher Weise betrifft die Rechtssache C‑355/19 die Nichtigerklärung eines Verwaltungsakts, der im Hinblick darauf erlassen wurde, die durch das Gesetz Nr. 207/2018 eingeführten Änderungen umzusetzen und das Funktionieren der AUSJ zu fördern. In diesem Zusammenhang hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, die Auslegung des VZÜ, von Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie von Art. 47 der Charta im Hinblick auf eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Errichtung der AUSJ durch das Gesetz Nr. 207/2018, das den Ursprung für den Erlass der Rechtsakte darstellt, deren Nichtigerklärung im Ausgangsverfahren begehrt wird, mit diesen Bestimmungen zu klären.

103. Diese Fragen sind aus denselben Gründen wie die Fragen in der Rechtssache C‑127/19 zulässig: Es handelt sich wiederum um die Logik der Umsetzung. Denn würde die Grundlage, d. h. die Errichtung der AUSJ durch das Gesetz Nr. 207/2018 für unvereinbar erklärt, würde die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, zu seiner Umsetzung erlassenen Verwaltungsakte dasselbe Schicksal ereilen.

104. Im Ergebnis sind die erste, die zweite und die vierte Frage in der Rechtssache C‑355/19 ebenfalls zulässig.

3.      C195/19 und C291/19

105. In ihren schriftlichen Erklärungen stellt die rumänische Regierung die Zulässigkeit der ersten Frage in der Rechtssache C‑195/19 sowie der Fragen eins bis drei in der Rechtssache C‑291/19 in Abrede. Nach Ansicht dieser Regierung sind diese die Rechtsnatur der VZÜ-Entscheidung und der Kommissionsberichte betreffenden Fragen für die Zwecke der Ausgangsverfahren in diesen Rechtssachen nicht erheblich.

106. Die Rechtssache C‑195/19 betrifft eine anhängige Rechtssache, bei der es um die strafrechtliche Verantwortung eines Richters geht. Das vorlegende Gericht erläutert, dass, wenn der Beschwerde stattgegeben würde, sowohl der sachbearbeitende Staatsanwalt als auch der vorgesetzte, diesen Staatsanwalt beaufsichtigende Staatsanwalt derselben Sonderabteilung AUSJ angehörten. In diesem Zusammenhang sieht sich das vorlegende Gericht zu der Prüfung verpflichtet, ob das Unionsrecht den nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ entgegensteht. Zu diesem Zweck fragt es nach der Vereinbarkeit der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften mit dem VZÜ und in der zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19 auch mit Art. 2 EUV. Das nationale Gericht weist darauf hin, dass, sollte festgestellt werden, dass das Unionsrecht den nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ entgegenstehe, diese Feststellung zur Folge habe, dass es alle Verfahrenshandlungen der AUSJ im Ausgangsverfahren für nichtig erkläre. Werde der Beschwerde stattgegeben, werde das vorlegende Gericht die Antwort des Gerichtshofs auch bei der Bestimmung der Abteilung der zuständigen Staatsanwaltschaft berücksichtigen müssen.

107. Diese Gründe zeigen klar die Erheblichkeit der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19 für das Ausgangsverfahren, soweit die zweite Frage Art. 2 EUV betrifft.

108. Im Hinblick auf die Fragen eins bis drei in der Rechtssache C‑291/19 hat das vorlegende Gericht die Erheblichkeit seiner Vorlagefragen in dieser Rechtssache damit begründet, dass die Fortsetzung des Ausgangsverfahrens die Teilnahme der Staatsanwälte der AUSJ bedeute. Es sei daher erforderlich, festzustellen, ob das Unionsrecht den nationalen Rechtsvorschriften zur Errichtung der AUSJ entgegenstehe. Stelle das vorlegende Gericht fest, die Beschwerde der Beschwerdeführerin sei begründet, müsse es die Sache zur Strafverfolgung an die AUSJ verweisen.

109. Im Licht dieser Klarstellungen bin ich aus den soeben in Verbindung mit der ersten und teilweise der zweiten Frage in der Rechtssache C‑195/19 vorgebrachten Gründen der Auffassung, dass die Fragen eins bis drei in der Rechtssache C‑291/19 ebenfalls zulässig sind.

110. Allerdings stimme ich der rumänischen Regierung zu, dass die zweite Frage in der Rechtssache C‑195/19, soweit sie sich auf Art. 9 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV bezieht, sowie die dritte Frage in dieser Rechtssache für unzulässig zu erklären sind. Hinsichtlich der dritten Frage in der Rechtssache C‑195/19 hat die rumänische Regierung vorgebracht, dass eine Frage dahin, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die es der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht) gestatteten, diesen Grundsatz bei Entscheidungen außer Acht zu lassen, gegen die kein Rechtsmittel gegeben sei, „theoretischen und allgemeinen“ Charakter habe und als solche keine Verbindung zum Gegenstand des Ausgangsverfahrens aufweise.

111. Was die zweite Frage in der Rechtssache C‑195/19 betrifft, enthält die Vorlageentscheidung keine Erläuterung, die zeigen würde, wie speziell Art. 9 EUV (der den Grundsatz der Gleichheit der Unionsbürger proklamiert) und Art. 67 Abs. 1 AEUV (der bestimmt, dass die Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bildet) im vorliegenden Verfahren maßgeblich sein könnten. Diese Frage entspricht daher insoweit, als darin auf diese Vorschriften Bezug genommen wird, nicht den Erfordernissen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Nach ständiger Rechtsprechung ist es nämlich unerlässlich, dass das nationale Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt(30).

112. Die dritte Frage in der Rechtssache C‑195/19 leidet meines Erachtens an demselben Fehler und darüber hinaus noch an einem weiteren Fehler. Erstens ist diese Frage, wie die rumänische Regierung zu Recht anführt, ebenfalls weit davon entfernt, den Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung zu genügen. Mit dieser Frage soll im Wesentlichen in Erfahrung gebracht werden, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die es der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht) im Wesentlichen gestatten, diesen Grundsatz bei Entscheidungen, gegen die kein Rechtsmittel gegeben ist, außer Acht zu lassen. In der Vorlageentscheidung wird jedoch an keiner Stelle erwähnt, um welche speziellen Vorschriften es sich dabei handelt oder weshalb diese problematisch sind. Das vorlegende Gericht hat lediglich einige Auszüge aus Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht), in denen dieses Gericht in verschiedenen Verfahren einen Standpunkt zum VZÜ einnimmt, zitiert, ohne einen Zusammenhang oder eine Erläuterung dafür zu bieten, ob diese Urteile nationale Vorschriften betreffen, die eine Verbindung zum Ausgangsverfahren haben.

113. Zweitens enthält diese Frage, so wie sie formuliert ist, eine (tatsächlich wenig schmeichelhafte) implizite Bewertung der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht), wobei der Gerichtshof ersucht wird, eine bestimmte Lesart dieser Rechtsprechung in verschiedenen, in keinem Zusammenhang stehenden Verfahren, über die sehr wenig Informationen (selektiv) zur Verfügung gestellt werden, zu bestätigen, und stellt dabei die institutionelle Autorität eines hohen nationalen Gerichts in Frage. Dies ist jedoch sicher nicht die Rolle des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren(31).

114. Im Ergebnis bin ich der Auffassung, dass die zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C‑195/19, soweit sie sich auf Art. 9 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV bezieht, sowie die dritte Vorlagefrage in dieser Rechtssache unzulässig sind.

4.      Zwischenergebnis zur Zulässigkeit

115. Ich bin der Auffassung, dass die zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C‑195/19, soweit sie sich auf Art. 9 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV bezieht, sowie die dritte Vorlagefrage in dieser Rechtssache für unzulässig zu erklären sind. Alle anderen Fragen, die in den vorliegenden fünf Rechtssachen aufgeworfen werden, sind meines Erachtens zulässig.

116. Aus Gründen der Klarheit würde ich jedoch alle in den vorliegenden Rechtssachen gestellten Fragen in das anwendbare Recht betreffende Themen umgruppieren, die, einmal beantwortet, den Rahmen für die beiden inhaltlichen Gesichtspunkte bieten, die in den vorliegenden Rechtssachen angesprochen werden.

117. Erstens haben die vorlegenden Gerichte in den vorliegenden Rechtssachen ihre Fragen in Bezug auf eine Reihe verschiedener Unionsrechtsakte formuliert. Zum einen gibt es Fragen, die den Charakter, die rechtliche Bedeutung und die Wirkungen des VZÜ(32) sowie die Frage betreffen, ob die in Rede stehenden nationalen Regelungen in den Anwendungsbereich dieses Verfahrens fallen(33). Zum anderen beziehen sich die Fragen auch auf die Auslegung von Art. 47 der Charta sowie von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und von Art. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV(34).

118. Zweitens werden diese den geeigneten gesetzlichen Rahmen für die Prüfung betreffenden Fragen im Hinblick darauf gestellt, eine Auslegung des Unionsrechts zu erhalten, die die nationalen Gerichte in die Lage versetzen wird, die Vereinbarkeit der in Rede stehenden nationalen Vorschriften, die die vorläufige Ernennung der Leitung der Justizinspektion(35) und die Errichtung der AUSJ(36) betreffen, mit diesen Unionsregelungen zu beurteilen.

119. Im restlichen Teil dieser Schlussanträge werde ich daher zunächst die einschlägigen Unionsrechtsbestimmungen (die VZÜ-Entscheidung, Art. 47 der Charta sowie Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV) und die Maßstäbe prüfen, die damit für die Zwecke der vorliegenden Rechtssachen aufgestellt werden (B). Sodann werde ich die Anforderungen, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, im Zusammenhang mit den in Rede stehenden nationalen Vorschriften anwenden, um den vorlegenden Gerichten bei den bei ihnen anhängigen inhaltlichen Fragen Unterstützung zu bieten (C).

B.      Maßgebliches Unionsrecht und Maßstäbe

1.      VZÜ

120. Die verschiedenen in diesen Schlussanträgen geprüften Vorlageentscheidungen werfen in all diesen Rechtssachen mehrere, den Charakter, die rechtliche Bedeutung und die Wirkungen der VZÜ-Entscheidung und der auf deren Grundlage angenommenen Berichte betreffende Fragen auf.

121. Erstens: Stellen die VZÜ-Entscheidung und die auf ihrer Grundlage angenommenen Kommissionsberichte Handlungen der Unionsorgane im Sinne des Art. 267 AEUV dar, und kann der Gerichtshof diese auslegen(37)? Zweitens: Fallen Inhalt, Charakter und zeitlicher Anwendungsbereich des VZÜ unter den Beitrittsvertrag(38)? Drittens möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob die durch das VZÜ(39) und die Kommissionsberichte im Zusammenhang mit dem VZÜ festgelegten Anforderungen verbindlich sind(40). Viertens wird auch danach gefragt, ob Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass die Verpflichtung Rumäniens, den in den VZÜ-Berichten festgelegten Anforderungen zu entsprechen, Teil der Verpflichtung bildet, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren(41), und ob diese Verpflichtung die vorläufige Ernennung der Leitung der Justizinspektion(42) und die Errichtung der AUSJ(43) erfasst.

122. Ich werde auf all diese Fragen der Reihe nach in folgender Weise eingehen. Zuerst werde ich bestätigen, dass die VZÜ-Entscheidung und die auf ihrer Grundlage von der Kommission angenommenen Berichte tatsächlich Handlungen der Europäischen Union darstellen (a). Zweitens werde ich prüfen, ob der Beitrittsvertrag die richtige Rechtsgrundlage für die VZÜ-Entscheidung ist (b). Drittens werde ich mich der Frage der rechtlichen Bedeutung und der Wirkungen des VZÜ sowie der in seinem Rahmen angenommenen Kommissionsberichte zuwenden (c). Viertens werde ich diesen Abschnitt mit der Prüfung abschließen, ob die in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden nationalen Maßnahmen in den Anwendungsbereich des VZÜ fallen (d).

a)      Stellen die VZÜ-Entscheidung und die VZÜ-Berichte Handlungen der Europäischen Union dar?

123. Alle Beteiligten, die zu diesem Punkt Erklärungen abgegeben haben(44), mit Ausnahme des ORR, stimmen darin überein, dass diese Frage zu bejahen ist. Der ORR brachte in seinen schriftlichen Erklärungen vor, die VZÜ-Entscheidung sei ein Instrument der Zusammenarbeit der Kommission und kein Gesetzgebungsakt, der nach Art. 267 AEUV der Rechtsprechung des Gerichtshofs unterworfen wäre. In der mündlichen Verhandlung hat diese Einrichtung allerdings vorgetragen, dass die VZÜ-Entscheidung eine verpflichtende Handlung darstelle, auch wenn die darin enthaltenen Empfehlungen nicht verbindlich seien.

124. Meines Erachtens besteht kein Zweifel, dass es sich ungeachtet der Frage des möglicherweise verbindlichen Charakters der VZÜ-Entscheidung und der auf ihrer Grundlage angenommenen Berichte bei beiden um Unionsrechtsakte handelt, und der Gerichtshof für ihre Auslegung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zuständig ist.

125. Erstens stellt die VZÜ-Entscheidung einen Beschluss im Sinne von Art. 288 Abs. 4 AEUV dar. Sie wurde von der Kommission auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen. Ich sehe nicht, wie sie daher keine „Handlung… der Organe“ im Sinne des Art. 267 AEUV darstellen könnte.

126. Zweitens gilt dies auch für die von der Kommission auf der Grundlage der VZÜ-Entscheidung angenommenen Berichte. Lässt man auch hier die Frage ihres (un)verbindlichen Charakters außer Betracht, die eine andere Frage darstellt, verleiht Art. 267 AEUV dem Gerichtshof die Befugnis, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union ohne jede Ausnahme zu entscheiden(45). Die Zuständigkeit des Gerichtshofs ist daher nicht auf solche Handlungen beschränkt, die Bindungswirkung entfalten(46); dies wurde mehrfach bei verschiedenen Gelegenheiten bestätigt, bei denen der Gerichtshof in Vorabentscheidungen über die Auslegung von Empfehlungen oder anderen atypischen nicht rechtsverbindlichen Handlungen entschieden hat(47).

127. Im Ergebnis sollte auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19 und C‑355/19 daher geantwortet werden, dass die VZÜ-Entscheidung sowie die auf ihrer Grundlage von der Kommission erstellten Berichte Handlungen eines Organs der Union im Sinne des Art. 267 AEUV darstellen und daher gemäß dieser Vorschrift dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden können.

b)      Ist der Beitrittsvertrag die richtige Rechtsgrundlage?

128. Mit einigen der Vorlagefragen soll in Erfahrung gebracht werden, ob „Inhalt, Charakter und zeitlicher Geltungsbereich“ des VZÜ „unter den Beitrittsvertrag“ fallen(48). Meines Erachtens zielen diese Fragen im Wesentlichen auf eine Klarstellung ab, ob die VZÜ-Entscheidung nach ihrem gegenwärtigen Charakter und Anwendungsbereich sowie ihrer aktuellen Form rechtsgültig auf den Beitrittsvertrag gestützt wurde. In dieser Weise formuliert kommt die Auslegungsfrage einer nicht anerkannten Anfechtung der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts recht nahe(49).

129. Auf der Grundlage der im Lauf dieses Verfahrens vorgebrachten Argumente sehe ich keinen Grund, weshalb die aktuelle VZÜ-Entscheidung nicht auf der Grundlage des Beitrittsvertrags und der Akte über den Beitritt Rumäniens und Bulgariens hätte erlassen werden dürfen. Dies gilt im Hinblick auf ihre formale Rechtsgrundlage (1), ihren Inhalt und ihre Ziele (2) sowie ihren zeitlichen Geltungsbereich (3).

1)      Formale Rechtsgrundlage

130. Was ihre formale Rechtsgrundlage anbelangt, so wurde die VZÜ-Entscheidung als Schutzmaßnahme auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen. Art. 4 Abs. 3 des Beitrittsvertrags ermächtigt die Organe der Union, vor dem Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats die Maßnahmen zu erlassen, die u. a. in den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte vorgesehen sind. Gemäß diesen Bestimmungen, die als „Schutzklauseln“ bekannt sind, treten diese Maßnahmen nur vorbehaltlich des Inkrafttretens des Beitrittsvertrags und zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens in Kraft. Art. 2 Abs. 2 des Beitrittsvertrags bestimmt, dass die Bestimmungen dieser Akte Bestandteil dieses Vertrags sind.

2)      Inhalt und Ziele

131. Unter dem Gesichtspunkt des Inhalts der Maßnahmen, die auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen werden können, ermächtigen diese Vorschriften die Kommission, auf Antrag eines Mitgliedstaats bzw. auf eigene Initiative in zwei Situationen „geeignete Maßnahmen“ zu treffen.

132. Erstens kann Art. 37, die „Binnenmarkt-Schutzklausel“, zur Anwendung gelangen, wenn Rumänien seine im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine ernste Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorgerufen hat, oder die unmittelbare Gefahr einer solchen Beeinträchtigung besteht. Zweitens kann Art. 38 zur Anwendung gelangen, wenn bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Instrumenten der Zusammenarbeit oder Beschlüssen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ernste Mängel auftreten oder die unmittelbare Gefahr ernster Mängel besteht(50).

133. Eine Prüfung der Ziele und des Inhalts der VZÜ-Entscheidung ergibt, dass sie leicht unter die Art der Maßnahmen subsumiert werden kann, die in den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte vorgesehen sind.

134. Was die Ziele der VZÜ-Entscheidung anbelangt, verweist deren vierter Erwägungsgrund auf die Mängel, die einen Rückgriff auf die Schutzmaßnahmen der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte rechtfertigen. Unter Hinweis auf die Anstrengungen, die Rumänien unternimmt, um die Vorbereitungen auf die Unionsmitgliedschaft zum Abschluss zu bringen, zeigt dieser Erwägungsgrund auf, dass die Kommission in ihrem Bericht vom 26. September 2006(51) noch „unerledigte Fragen“ insbesondere im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden ermittelt hat. Weitere Fortschritte wurden als erforderlich angesehen, um zu gewährleisten, dass sie „die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden können“. Die Kommission hat zunächst im fünften Erwägungsgrund darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen der Art. 37 und 38 bei unmittelbarer Gefahr erlassen werden könnten, und sah eine solche Gefahr dann als gegeben an. Mit dem sechsten Erwägungsgrund wird sodann erläutert, dass die noch „unerledigten Fragen“ im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden die Einrichtung des VZÜ zur Beurteilung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption erfordern.

135. Der Grund für das VZÜ beruht somit auf dem Bestehen unmittelbarer Gefahren für das Funktionieren des Binnenmarkts und des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufgrund der im Justizsystem und bei der Bekämpfung der Korruption in Rumänien festgestellten Mängel. Dieses Ziel scheint den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte vollkommen zu entsprechen.

136. Zweitens ergibt sich unter dem Gesichtspunkt des Inhalts der Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Bestimmungen getroffen werden können, aus dem Wortlaut der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte, dass der Begriff „Maßnahmen“ hinreichend weit gefasst ist, um einen Rechtsakt wie die VZÜ-Entscheidung zu umfassen. Keine der Vorschriften enthält eine erschöpfende Auflistung der Art der Maßnahmen, die auf ihrer Grundlage getroffen werden können. Die einzige ausdrücklich erwähnte Maßnahme besteht in der Aussetzung der gegenseitigen Anerkennung gemäß Art. 38 der Beitrittsakte. Die Art. 37 und 38 der Beitrittsakte legen somit lediglich negative Grenzen fest, denen die Maßnahmen entsprechen müssen – die Maßnahmen müssen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren und dürfen nicht diskriminierend sein.

137. Wenn sowohl Art. 37 als auch Art. 38 der Beitrittsakte berechtigterweise dazu genutzt werden können, (letztlich) die gegenseitige Anerkennung oder bestimmte Gesichtspunkte des Binnenmarkts auszusetzen, und keine dieser Vorschriften eine abschließende Aufzählung der Art der Maßnahmen enthält, die auf ihrer Grundlage getroffen werden können, besteht nicht nur eine mögliche Maßnahme, sondern eher eine Skala von Maßnahmen. Anders ausgedrückt: Ist die Aussetzung möglich, muss es im Namen der ausdrücklich in dieser Bestimmung genannten Verhältnismäßigkeit erst recht möglich sein, eine viel leichtere und in diesem Sinne viel verhältnismäßigere Maßnahme in Form eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung einzurichten. Der Umstand, dass zur Umsetzung der Art. 37 und 38 zusätzliche, restriktivere Maßnahmen ergriffen werden können, kann nicht die Tatsache beeinträchtigen, dass bereits auf der Grundlage dieser Vorschriften im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weniger strenge Maßnahmen wie das VZÜ getroffen werden können.

3)      Zeitlicher Geltungsbereich des VZÜ

138. Die Art. 37 und 38 der Beitrittsakte enthalten dieselben zeitlichen Beschränkungen. Zunächst bestimmen beide Vorschriften, dass die Maßnahmen grundsätzlich für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt getroffen werden können. Beide Bestimmungen sehen jedoch auch vor, dass i)  die Schutzklauseln schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden können und die getroffenen Maßnahmen am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft treten, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist, und ii) die Maßnahmen über den Zeitraum von drei Jahren hinaus so lange angewendet werden können, wie die Mängel andauern. Ungeachtet der Möglichkeit, die Maßnahmen für einen unbestimmten Zeitraum aufrechtzuerhalten, wird sowohl in Art. 37 als auch in Art. 38 der Beitrittsakte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass iii) die Maßnahmen nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und auf jeden Fall aufgehoben werden, sobald die einschlägige Verpflichtung erfüllt ist.

139. Wiederum wurde im Lauf dieses Verfahrens nichts vorgebracht, demzufolge die VZÜ-Entscheidung diesen Anforderungen nicht entsprechen würde. Erstens wurde sie am 13. Dezember 2006 einige Tage vor dem Beitritt, wie im vierten Erwägungsgrund der VZÜ-Entscheidung festgestellt wird, auf der Grundlage der Ergebnisse des Berichts vom 26. September 2006 getroffen (i). Zweitens wurden die Maßnahmen auf der Grundlage der Feststellung, dass die Mängel, die zum Erlass der VZÜ-Entscheidung führten, andauerten, für einen längeren Zeitraum als den Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt aufrechterhalten (ii). Drittens wird im neunten Erwägungsgrund festgestellt, dass die Entscheidung aufzuheben sei, wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt seien. Insoweit ist erwähnenswert, dass die Aufhebung des VZÜ im Bericht von 2017 vorgesehen war und erst nach den negativen Ergebnissen des Berichts vom 13. November 2018 ausgesetzt wurde, auf den sich die vorliegenden Rechtssachen beziehen (iii).

140. Ich denke, die Prüfung unter dieser Überschrift sollte hier enden. Es besteht natürlich die zugrunde liegende tiefergehende Frage der Verhältnismäßigkeit, die gelegentlich innerhalb der Argumente in dem Maße an die Oberfläche tritt, in dem es angemessen und/oder erforderlich ist, das, was als vorübergehendes Nachbeitrittssystem vorgesehen war, dreizehn und mehr Jahre später aufrechtzuerhalten. Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren, in dem keine der Parteien vorgebracht hat, die materiellen Voraussetzungen für die fortgesetzte, in den beiden vorstehenden Nummern dargelegte Anwendbarkeit der VZÜ-Entscheidung seien nicht mehr erfüllt, kann dieses Wespennest gefahrlos unangetastet bleiben.

4)      Zwischenergebnis

141. Die Überlegungen zum ersten Teil der zweiten, in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑355/19 gestellten Frage hat nichts ergeben, was den Umstand in Zweifel ziehen könnte, dass die VZÜ-Entscheidung in ihrer aktuellen Form rechtsgültig auf der Grundlage des Beitrittsvertrags erlassen wurde und aufrechterhalten werden kann.

c)      Rechtliche Wirkungen des VZÜ

142. Eine weitere von den vorlegenden Gerichten in den vorliegenden Rechtssachen gestellte Frage lautet dahin, ob die VZÜ-Entscheidung (1) und die auf ihrer Grundlage von der Kommission angenommenen Berichte (2) für Rumänien verbindlich sind.

1)      Rechtswirkungen der VZÜ-Entscheidung

143. Die Regierungen Belgiens und der Niederlande haben geltend gemacht, die VZÜ-Entscheidung sei in all ihren Teilen verbindlich. In ähnlicher Weise haben die schwedische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen sowie das Forum Richtervereinigung und der Generalstaatsanwalt in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, die VZÜ-Entscheidung und die Vorgaben in deren Anhang seien für Rumänien rechtlich verbindlich.

144. Die rumänische Regierung brachte in ihren schriftlichen Erklärungen vor, die einzige Verpflichtung, die Rumänien durch die VZÜ-Entscheidung auferlegt worden sei, bestehe darin, der Kommission regelmäßig Bericht über die im Hinblick auf die Vorgaben im Anhang dieser Entscheidung erzielten Fortschritte zu erstatten. Diese Regierung hat ihren Standpunkt in der mündlichen Verhandlung geändert und vorgebracht, die Vorgaben im Anhang dieser Entscheidung verliehen den Bedingungen des Beitrittsvertrags in Einklang mit den Werten und Grundsätzen der Art. 2 und 19 EUV besonderen Ausdruck.

145. Die VZÜ-Entscheidung stellt einen Beschluss im Sinne von Art. 288 Unterabs. 4 AEUV dar. Wie diese Bestimmung festlegt, sind Beschlüsse für ihre Adressaten in allen ihren Teilen verbindlich. Gemäß Art. 4 der VZÜ-Entscheidung sind die Mitgliedstaaten deren Adressaten. Zum Zeitpunkt ihres Erlasses war Rumänien zwar noch nicht Mitglied, doch in diesem besonderen Kontext ergibt sich der verbindliche Charakter der vor dem Beitritt erlassenen Unionsrechtsakte (auch) aus Art. 2 der Beitrittsakte: „Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für Bulgarien und Rumänien verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“

146. Somit ist die VZÜ-Entscheidung klar verbindlich. Die eigentliche Frage lautet eher, worin genau die Rumänien durch die VZÜ-Entscheidung auferlegten Verpflichtungen bestehen.

147. Die unmissverständlich formulierte, Rumänien auferlegte rechtliche Verpflichtung ist in Art. 1 der VZÜ-Entscheidung enthalten: „Bis zum 31. März jedes Jahres … erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.“ Daher besteht eine Pflicht zur Berichterstattung.

148. Die Rumänien auf der Grundlage von Art. 1 der VZÜ-Entscheidung auferlegten Verpflichtungen erschöpfen sich jedoch sicherlich nicht darin, fristgerecht jährliche Berichte einzusenden. Die durch Art. 1 auferlegte Verpflichtung besteht nämlich nicht lediglich in der Berichterstattung, sondern darin, über die Fortschritte bei der Erfüllung jeder einzelnen der im Anhang der VZÜ-Entscheidung aufgeführten Vorgaben Bericht zu erstatten. Art. 1 der VZÜ-Entscheidung legt auch die Verpflichtung fest, die Ziele zu erreichen, die in den im Anhang dieser Entscheidung enthaltenen Vorgaben dargelegt sind. Außerdem wird in Art. 1 Unterabs. 2, der die Kommission berechtigt, mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe zu leisten oder Informationen zu den Vorgaben zu sammeln und auszutauschen und zu diesem Zweck Fachleute nach Rumänien zu entsenden, auch festgestellt, dass die rumänischen Behörden in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung leisten müssen.

149. Bericht über den erreichten Fortschritt zu erstatten erfordert somit, bestimmte Anstrengungen in eine bestimmte Richtung zu unternehmen. Der Logik dieser Bestimmung würde kaum dadurch Genüge getan, mechanisch jährlich zu berichten, die Lage sei so ziemlich die gleiche. In einem solchen Kontext würde ich dem aus dem Wortlaut des Anhangs der VZÜ-Entscheidung hergeleiteten Argument kein zu großes Gewicht beimessen. Der Anhang verweist nämlich in einigen Sprachfassungen auf eine gewissermaßen vage Weise auf die „Vorgaben, die Rumänien angehen muss“(52). Andererseits enthalten eine Reihe anderer Sprachfassungen Wendungen, die klar auf eine Verpflichtung zur Erreichung der Vorgaben hinweisen(53).

150. Des Weiteren wird der verbindliche Charakter der Verpflichtung, den im Anhang der VZÜ-Entscheidung aufgeführten Vorgaben nach und nach zu entsprechen, klar durch die Stellung der VZÜ-Entscheidung im Zusammenhang der aus dem Beitrittsvertrag entspringenden Verpflichtungen hervorgehoben. Die VZÜ-Entscheidung ermöglichte den Beitritt ungeachtet der fortbestehenden ernsten Bedenken wegen zentraler Mängel bezüglich der Justizreform und der Bekämpfung der Korruption in Rumänien. Es kann daher nicht überraschen, dass die VZÜ-Entscheidung eine besondere Verpflichtung Rumäniens mit sich bringt, die in den im Anhang enthaltenen Vorgaben festgelegten Ziele zu erreichen. Weit davon entfernt, lediglich als Empfehlung entworfen zu sein, ist die VZÜ-Entscheidung auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte als Schutzmaßnahme erlassen worden, die für die Ermöglichung des Beitritts zum 1. Januar 2007 wesentlich war.

151. Im Allgemeinen sind die Vorgaben des VZÜ mit dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit des Art. 2 EUV verbunden – auf die Art. 49 EUV als Beitrittsvoraussetzung verweist – und präzisieren diese. Gemäß Art. 49 EUV können nur Staaten, die die Werte des Art. 2 EUV achten und sich für ihre Förderung einsetzen, beantragen, Mitglied der Union zu werden. Die Erwägungsgrunde der VZÜ-Entscheidung betonen die zentrale Rolle des Rechtsstaatsprinzips für die Union und insbesondere für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie die implizite Notwendigkeit, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches und unabhängiges Justiz- und Verwaltungssystem verfügen, das ausgestattet ist, um die Korruption zu bekämpfen(54).

152. Die Rolle des VZÜ im Beitrittsverfahren war in diesem Zusammenhang entscheidend. Bedenken hinsichtlich des Justizsystems und der Bekämpfung der Korruption bestanden während der dem Beitritt vorangehenden Verhandlungen und wurden in Anhang IX der Beitrittsakte in der Aufstellung der besonderen Verpflichtungen und Anforderungen, die Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen bzw. akzeptiert hat, ausdrücklich erwähnt(55). Gemäß Art. 39 Abs. 2 der Beitrittsakte hätte die Nichterfüllung solcher Verpflichtungen den Rat veranlassen können, den Zeitpunkt des Beitritts um ein Jahr zu verschieben. Wie die belgische Regierung festgestellt hat, spiegeln – wie Anhang IX der Beitrittsakte veranschaulicht – die Vorgaben die von Rumänien in den Beitrittsverhandlungen übernommenen Verpflichtungen wider. Wie die dänische Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, kann daher davon ausgegangen werden, dass das VZÜ angesichts dessen, dass es nach wie vor erhebliche Mängel gab, eine wesentliche Voraussetzung für die Unterzeichnung des Beitrittsvertrags durch alle Mitgliedstaaten war. Diese Mängel, wie sie im letzten Bericht der Kommission über Rumänien vor dem Beitritt festgestellt worden sind, liegen dem Erlass der VZÜ-Entscheidung zugrunde.

153. In einem solchen historischen und legislativen Kontext würde eine Auslegung der VZÜ-Entscheidung dahin, dass die in ihrem Anhang enthaltenen Vorgaben für Rumänien nicht verbindlich sind, bedeuten, dass das gesamte VZÜ einen Freibrief dafür darstellt, die Erfüllung der Kernanforderungen des Beitritts aufzugeben.

154. Wie die schwedische Regierung ausgeführt hat, liegt ein weiterer Gesichtspunkt, der den verbindlichen Charakter der Verpflichtung, die in den VZÜ-Vorgaben festgelegten Ziele zu erreichen, hervorhebt, in den erheblichen Rechtsfolgen, die mit der Nichterfüllung verbunden sind. Wie im siebten Erwägungsgrund der VZÜ-Entscheidung ausgeführt wird, kann die Kommission bei Nichterfüllung der Vorgaben weitere und strengere Schutzmaßnahmen nach den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte, einschließlich der Aussetzung der gegenseitigen Anerkennung, treffen. Des Weiteren stehen die spezifischen Rechtsfolgen, die sich aus der besonderen VZÜ-Regelung ergeben können, als solche nicht einem Rückgriff auf die normalen Durchsetzungsinstrumente durch Vertragsverletzungsverfahren entgegen, sollte Rumänien seine Verpflichtungen nach der VZÜ-Entscheidung nicht erfüllen(56).

155. Insgesamt stellt die VZÜ-Entscheidung, obwohl darin der Begriff der Vorgaben verwendet wird, meines Erachtens ihrem Wesen und Inhalt nach verbindliches Unionsrecht dar. In einem Vorbeitrittskontext kann ein Benchmarking Teil der politischen Konditionalität darstellen, um den zum Beitritt führenden Fortschritt zu messen. In einem Vorbeitrittskontext wird es zu einer rechtlichen Regelung, die durch ein verbindliches Rechtsinstrument, einen Beschluss, erlassen wird und konkrete Verpflichtungen auferlegt, deren Verletzung Rechtsfolgen mit sich bringen kann. Die Folgen der Nichtbefolgung können sich über die Möglichkeit, einen etwaigen Verstoß mit den normalen Mitteln des Unionsrechts festzustellen und zu sanktionieren, hinaus auch erheblich auf die Teilnahme Rumäniens am Binnenmarkt sowie den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auswirken.

156. Was den Inhalt dieser Verpflichtungen betrifft, besteht über die Verpflichtung zur Berichterstattung hinaus klar die Verpflichtung, die größten Anstrengungen zur Erfüllung der im Anhang der VZÜ-Entscheidung festgelegten Vorgaben zu unternehmen.

2)      Rechtswirkungen der VZÜ-Berichte

157. Die vorlegenden Gerichte fragen auch nach der rechtlichen Bindungswirkung der von der Kommission auf der Grundlage der VZÜ-Entscheidung herausgegebenen Berichte sowie der Empfehlungen der Venedig-Kommission und der GRECO.

158. Das Forum Richtervereinigung und OL haben in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, dass den in den Kommissionsberichten enthaltenen Empfehlungen in Verbindung mit der VZÜ-Entscheidung verbindliche Rechtswirkungen zukämen. In ähnlicher Weise hat die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, die in den Berichten enthaltenen Empfehlungen könnten trotz ihres Charakters sui generis und ihrer Unverbindlichkeit nicht ignoriert werden, sondern seien unter Berücksichtigung der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV zu beachten und würden sogar verbindlich werden, wenn Rumänien in den von den Vorgaben im Anhang der VZÜ-Entscheidung erfassten Bereichen Gesetzgebungs- oder Verwaltungsmaßnahmen treffe.

159. Demgegenüber haben die Kommission und der Generalstaatsanwalt vorgebracht, die Rechtsnatur der Berichte der Kommission im Rahmen des VZÜ sei nicht die einer Empfehlung im Sinne von Art. 288 Abs. 5 und Art. 292 AEUV, da sie eher einen auf der Grundlage der VZÜ-Entscheidung erlassenen Rechtsakt sui generis darstellten.

160. Aus diesen Auffassungen folgt, dass die im VZÜ-Bericht enthaltenen Empfehlungen im Zusammenhang mit der besonderen Rolle, die sie im durch die VZÜ-Entscheidung geschaffenen System spielen, weit mehr als eine „traditionelle“ Empfehlung darstellen. Wie die niederländische und die schwedische Regierung festgestellt haben, stellen die VZÜ-Berichte Bewertungsinstrumente dar. Die Berichte werden auf der Grundlage des Art. 2 der VZÜ-Entscheidung angenommen und sind, wie die Kommission anführt, an das Parlament und den Rat gerichtet. Gemäß dieser Bestimmung übermittelt „[d]ie Kommission … dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens“. Die Berichte bilden daher den methodischen Rahmen zur Beurteilung dieser Fortschritte. Die in den Empfehlungen aus den Berichten enthaltenen Maßnahmen verleihen den Vorgaben auf eine Weise besonderen Ausdruck, die eine Bewertung der Fortschritte Rumäniens ermöglicht, die letztlich zur Beendigung des VZÜ insgesamt führen werden.

161. Die Rechtswirkungen, die die Berichte gegenüber Rumänien haben, entspringen daher den sich aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergebenden Verpflichtungen. Die Berichte bilden nämlich die Grundlage für die Beurteilung, ob Rumänien im Hinblick auf die VZÜ-Vorgaben seinen Verpflichtungen nachkommt. Diese Berichte enthalten spezifische Empfehlungen zur Anleitung der Anstrengungen Rumäniens. Wie die Kommission ausführt, bezwecken die Empfehlungen, eine Unterstützung für die Anstrengungen Rumäniens zur Erreichung der Ziele der VZÜ-Entscheidung zu bieten. Da die Vorgaben den Bedingungen des Beitrittsvertrags besonderen Ausdruck verleihen und die VZÜ-Entscheidung auf der Grundlage dieses Rechtsakts erlassen wurde, hat Rumänien eine verstärkte Verpflichtung zur Zusammenarbeit auf der Grundlage des VZÜ. Die loyale Zusammenarbeit ist daher nicht darauf beschränkt, lediglich über Fortschritte Bericht zu erstatten, sondern beinhaltet vielmehr die Verpflichtung, die Empfehlungen beim Erlass von Gesetzgebungs- oder Verwaltungsmaßnahmen in den von den Vorgaben dieser VZÜ-Entscheidung erfassten Bereichen zu berücksichtigen.

162. Wie die belgische Regierung vorbringt, kann Rumänien daher, um den Vorgaben der VZÜ-Entscheidung zu entsprechen, entweder die empfohlenen oder andere Maßnahmen erlassen, die geeignet sind, diese Ziele zu erreichen. Jedenfalls ist dieser Mitgliedstaat im Licht des Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, die Kommissionsberichte zu berücksichtigen. Die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit bedeutet auch die Verpflichtung, im Rahmen des VZÜ mit der Kommission zusammenzuarbeiten und von Maßnahmen abzusehen, die das Erreichen der in den Referenzvorgaben festgelegten Ziele gefährden könnten.

163. Meines Erachtens ist es vielleicht nicht wirklich hilfreich, die Rechtswirkungen der VZÜ-Berichte mit denen der Empfehlungen nach Art. 288 AEUV zu vergleichen und danach darüber zu diskutieren, welche von beiden mehr sui generis seien(57). Ich ziehe es daher vor, im Folgenden kurz darzustellen, worin die angemessene Rolle der VZÜ-Berichte meiner Ansicht nach bestehen sollte.

164. Erstens teile ich den Gesamtansatz der belgischen, der dänischen und der schwedischen Regierung. Auch aus meiner Sicht sind die von der Kommission herausgegebenen Berichte hinsichtlich ihres spezifischen Inhalts nicht verbindlich. Sie sollten gelesen und studiert und in diesem Sinne von Rumänien bei seinen Bemühungen, die in den VZÜ-Vorgaben festgelegten Ziele zu erreichen, berücksichtigt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle oder einige der darin enthaltenen spezifischen Empfehlungen zu befolgen sind. Es besteht eine Pflicht zur Kooperation, aber keine Verpflichtung zur wortgetreuen Kopie.

165. Zweitens beinhaltet dies natürlich die Möglichkeit der Nichtbefolgung. Rumänien behält wie jeder andere Mitgliedstaat das Recht, seine innerstaatlichen Organe und Verfahren nach seinem Ermessen zu gestalten. Jedoch muss Rumänien bei der Entwicklung dieser anderen Modelle und Verfahren in der Lage sein, nachzuweisen, wie diese anderen Modelle dazu beitragen, die im Anhang der VZÜ-Entscheidung enthaltenen Vorgaben zu erreichen, oder insoweit wenigstens eine plausible Hypothese vorzubringen.

166. Drittens sind entgegen dem, was bereits im Hinblick auf die VZÜ-Entscheidung festgestellt worden ist(58), die in den Berichten enthaltenen spezifischen Empfehlungen nicht als eigenständige rechtliche Verpflichtung durchsetzbar. Da die VZÜ-Berichte keinerlei verbindliche Verpflichtungen enthalten, können sie für sich genommen logischerweise nicht durchgesetzt werden, sei es vor den Unionsgerichten oder vor den nationalen Gerichten.

167. Dies schließt jedoch nicht aus, dass diese Berichte wie jede andere Art von Quelle berücksichtigt werden können und darauf Bezug genommen werden kann, wenn anzunehmen ist, dass sie Licht auf die Auslegung von Unions- oder nationalen Maßnahmen werfen. Dies könnte natürlich auf dieselbe Weise geschehen wie bei allen anderen rein überzeugenden (im Gegensatz zu verbindlichen) Quellen, die sich von den Protokollen des Europäischen Rates über die Werke Immanuel Kants bis – in den weitschweifigeren, um nicht zu sagen redseligen Rechtskulturen – hin zu den unvergesslichen Zitaten von Terry Pratchett oder Alice im Wunderland erstrecken.

168. Im Zusammenhang mit den vorliegenden Vorabentscheidungsfragen ist jedoch zu betonen, dass sich nationale Richter wegen des Fehlens eines rechtlich verbindlichen Charakters der VZÜ-Berichte nach Unionsrecht nicht auf die in diesen Berichten enthaltenen Empfehlungen stützen können, um nationale Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen, die sie als solchen Empfehlungen widersprechend ansehen.

169. Schließlich geht es im Zusammenhang damit in der zweiten Frage in der Rechtssache C‑291/19 um Rumäniens Verpflichtung, Gesetzesänderungen vorzunehmen, die den Empfehlungen der Venedig-Kommission und der GRECO entsprechen würden.

170. Die Berichte der Venedig-Kommission und der GRECO werden in den VZÜ-Berichten der Kommission häufig erwähnt. Nach Unionsrecht stellen diese Berichte in diesem Zusammenhang eine nützliche Informationsquelle dar und bieten eine überzeugende Anleitung im Hinblick auf die maßgeblichen Standards, um die Einhaltung der VZÜ-Vorgaben zu beurteilen. Beide internationale Einrichtungen bieten zuverlässige Berichte in Bereichen, die mit den Vorgaben im Zusammenhang mit der Effektivität des Justizsystems und der Bekämpfung der Korruption eng verbunden sind.

171. Jedoch können die VZÜ-Berichte – im Licht der vorstehenden Erwägungen zum Fehlen verbindlicher Rechtswirkungen der VZÜ-Berichte selbst – nicht die von diesen anderen internationalen Einrichtungen herausgegebenen Berichte durch eine Bezugnahme auf diese verbindlich machen. Ihre Feststellungen können, soweit darauf in den Berichten der Kommission speziell Bezug genommen wird, lediglich dieselbe Art von mit der loyalen Zusammenarbeit verbundenen Verpflichtungen auslösen wie die in den VZÜ-Berichten selbst enthaltenen Empfehlungen(59).

172. Allerdings bieten die vorstehenden Erwägungen die nach Unionsrecht zu gebende Antwort. Dies schließt die Möglichkeit, dass solchen Berichten bei der Erfüllung der von den Mitgliedstaaten unabhängig übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nach nationalem (Verfassungs‑)Recht ein anderer Status beigemessen wird, weder aus, noch beeinträchtigt es diese Möglichkeit.

d)      Fallen die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen in den Anwendungsbereich des VZÜ?

173. Schließlich gibt es, wie in Nr. 117 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, eine letzte Frage bezüglich der Rolle der VZÜ-Entscheidung in den vorliegenden Rechtssachen, die zu klären ist: Fallen die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen in den vorliegenden Rechtssachen in den Anwendungsbereich dieses Instruments des Unionsrechts?

174. In der mündlichen Verhandlung dazu befragt, hat die Kommission ihre Ansicht bestätigt, dass alle in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden Änderungen der Justizgesetze in den Anwendungsbereich der VZÜ-Entscheidung fielen.

175. Dem stimme ich zu.

176. Für die Beurteilung, ob die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen vom VZÜ erfasst werden, sind die erste, die dritte und die vierte der im Anhang der VZÜ-Entscheidung enthaltenen Vorgaben maßgeblich: 1. die „Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, …“, 3. die „Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene“ und 4. die „Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“.

177. Die Formulierung der ersten Vorgabe ist besonders weit. Nahezu alle Fragen, die mit der institutionellen Gestaltung der Justiz in Zusammenhang stehen, könnten unter die Formel der Gewährleistung „transparenterer und leistungsfähiger Gerichtsverfahren“ subsumiert werden. Die außerordentliche Reichweite dieser Vorgabe überrascht jedoch keineswegs, wenn sie im Licht der besonderen Situation des Mitgliedstaats betrachtet wird, für den das VZÜ gilt(60).

178. In diesem Zusammenhang und insbesondere im Licht der ersten Vorgabe kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden Bestimmungen betreffend die Ernennung auf die Leitungspositionen in der Justizinspektion sowie die Bestimmungen bezüglich der Errichtung und der Arbeitsweise der AUSJ in den Anwendungsbereich der VZÜ-Entscheidung fallen. Diese Bestimmungen wurden durch Änderung einiger zentraler institutioneller Aspekte der „Justizgesetze“ eingeführt, die zusammen den Kern des legislativen Rahmens der Organisation des Justizsystems in Rumänien bilden.

179. Erstens ist die Justizinspektion eine Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit innerhalb des ORR, dessen Rechenschaftspflicht und Transparenz in der ersten Vorgabe ausdrücklich als Ziel festgelegt wird. Zweitens spielt die Justizinspektion eine entscheidende Rolle in Disziplinarverfahren in der Justiz, die unmittelbar mit dem Ziel der Stärkung der Rechenschaftspflicht und daher der Effizienz der Justiz verbunden ist. Drittens ist die aktuelle institutionelle Aufstellung der Justizinspektion eng mit den Empfehlungen des VZÜ verbunden. Wie sich den dem Gerichtshof vorliegenden Akten entnehmen lässt, wurde die Justizinspektion 2012 im Zusammenhang mit den Informationen in den VZÜ-Berichten 2010 und 2011(61) umstrukturiert und als eine gesonderte Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit und operativer Unabhängigkeit innerhalb des ORR unter der Leitung eines Chefinspekteurs und eines stellvertretenden Chefinspekteurs, die nach einem Auswahlverfahren ernannt werden, eingerichtet(62).

180. Aus ähnlichen Gründen sehe ich auch die Errichtung der AUSJ als von der ersten Vorgabe des Anhangs der VZÜ-Entscheidung erfasst an. Die Errichtung der AUSJ berührt das System der strafrechtlichen Verantwortung der Richter, das zusammen mit den Disziplinarverfahren gegen Richter nicht nur untrennbar mit der Rechenschaftspflicht der Richter und Staatsanwälte, sondern wahrscheinlich auch mit der Effizienz der Gerichtsverfahren verbunden ist.

181. Des Weiteren ist die Errichtung der AUSJ auch mit der dritten und der vierten Vorgabe des Anhangs der VZÜ-Entscheidung verbunden, wonach Rumänien der Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung von Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene und der Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption zustimmt. Eines der in den Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/09 zum Ausdruck gebrachten Bedenken besteht nämlich gerade darin, dass die Schaffung der AUSJ strukturell bedeutende Auswirkungen auf die Zuständigkeiten der Antikorruptionsabteilung der Staatsanwaltschaft, der DNA, hat. In diesem Zusammenhang war die Konsolidierung der DNA, wie die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, eine Anforderung des VZÜ und seiner dritten Vorgabe.

182. Insgesamt bestehen kaum Zweifel, dass beide in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen angesprochenen inhaltlichen Fragen unter die VZÜ-Entscheidung fallen. Somit ist das Unionsrecht in den vorliegenden Rechtssachen anwendbar und die Zuständigkeit des Gerichtshofs gegeben. Jedoch wurden von den vorlegenden Gerichten auch eine Reihe anderer Unionsrechtsbestimmungen als möglicherweise in den vorliegenden Rechtssachen anwendbar angeführt. Dieser Frage werde ich mich nunmehr zuwenden.

2.      Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit: Art. 47 der Charta und/oder Art. 19 Abs. 1 EUV

183. Die verschiedenen Fragen in den fünf Vorabentscheidungsersuchen, die Gegenstand der vorliegenden Schlussanträge sind, haben dieselbe Struktur: Nachdem um Klärung des Charakters und der Rechtswirkungen der VZÜ-Entscheidung und der in deren Rahmen angenommenen Berichte ersucht wird, werden Fragen zur Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen mit verschiedenen Unionsrechtsbestimmungen gestellt. In der Mehrzahl der Vorlagefragen werden Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV als die maßgeblichen Unionsrechtsbestimmungen genannt(63), wobei nur wenige Fragen auf Art. 47 der Charta verweisen(64). Diese Fragen spiegeln die Unsicherheit hinsichtlich der unterschiedlichen Anwendungsbereiche und des Zusammenwirkens von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einerseits und Art. 47 der Charta andererseits wider.

184. Die Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, haben unterschiedliche Ansichten bezüglich der als Referenzpunkt heranzuziehenden Unionsrechtsbestimmungen zum Ausdruck gebracht. Die Meinungsunterschiede betreffen hauptsächlich die Anwendbarkeit von Art. 47 der Charta. Alle Beteiligten außer Polen stimmen in der Auffassung überein, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sei anwendbar.

185. Im Folgenden werde ich erläutern, warum ich der Ansicht bin, dass die Anwendbarkeit der Charta, einschließlich ihres Art. 47, durch die VZÜ-Entscheidung ausgelöst worden ist, was die Möglichkeit eröffnet, Art. 47 Abs. 2 der Charta als Hauptreferenzpunkt heranzuziehen (a). Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass die Art und Weise, in der Art. 19 Abs. 1 EUV bisher vom Gerichtshof ausgelegt und angewendet wurde, bedeutet, dass diese Bestimmung in den vorliegenden Rechtssachen ebenfalls anwendbar ist (b). Schließen werde ich jedoch mit einigen vorsichtigen Anregungen dazu, weshalb es nicht zwingend den besten Ansatz darstellt, die gesamte Beurteilung dieser Rechtssachen ausschließlich auf Art. 19 Abs. 1 EUV zu stützen (c).

a)      Art. 47 der Charta

186. Die Beteiligten haben unterschiedliche Standpunkte in Bezug auf die mögliche Anwendbarkeit der Charta und von deren Art. 47 vertreten. Die polnische Regierung und der ORR haben im Wesentlichen vorgetragen, die vorliegenden Rechtssachen beträfen Fragen der internen Organisation der Justiz, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle und bezüglich deren die Union keine Zuständigkeiten besitze(65). Daher sei Art. 47 der Charta bei gebotener Berücksichtigung von Art. 51 Abs. 1 und 2 der Charta sowie von Art. 6 Abs. 1 EUV nicht anwendbar.

187. Im Hinblick auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑291/19 hat die Kommission, ohne jedoch ausdrückliche Einreden gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs zu formulieren, festgestellt, Art. 47 der Charta wäre nur in dem Fall anwendbar, dass sich die Ausgangsverfahren auf eine Durchführung des Unionsrechts bezögen. Dies sei z. B. der Fall, wenn sie harmonisierte, nach Art. 83 Abs. 1 und 2 AEUV eingeführte Straftaten beträfen oder wenn der Anwendungsbereich des Art. 325 AEUV eröffnet sei.

188. Demgegenüber vertreten das Forum Richtervereinigung sowie die belgische und die schwedische Regierung die Ansicht, die VZÜ-Entscheidung begründe die Anwendbarkeit der Charta.

189. Ich teile letzteren Standpunkt.

190. Meines Erachtens war die Anwendbarkeit der Charta von dem Zeitpunkt an gegeben, zu dem die in den beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen in Rede stehenden Maßnahmen vom Anwendungsbereich der VZÜ-Entscheidung und der Beitrittsakte erfasst wurden. Daher stellt der Erlass solcher nationalen Maßnahmen, die, wie in Nr. 178 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, bestimmte zentrale institutionelle Aspekte des Kerns des legislativen Rahmens der Organisation des Justizsystems in Rumänien betreffen, einen Fall der „Durchführung“ des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar.

191. Wie die belgische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, beeinträchtigt der Umstand, dass Rumänien über ein weites Ermessen verfügt, um seinen Verpflichtungen nach dem VZÜ nachzukommen, nicht die Anwendbarkeit der Charta. Nach ständiger Rechtsprechung erfasst der in ihrem Art. 51 Abs. 1 bestimmte Anwendungsbereich der Charta auch Situationen, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten ein Ermessen einräumt, das integraler Bestandteil des von diesem Unionsrechtsakt eingerichteten Systems ist(66). Der Charakter des VZÜ, der auf der Überwachung von Vorgaben beruht, deren Erfüllung verbindlich ist, stellt einen Fall eines solchen „umrissenen Ermessens“ dar. Die jüngere Rechtsprechung hat nämlich die Auferlegung einer spezifischen Verpflichtung, die ihren Ursprung im Unionsrecht hat, als einen der relevanteren Gesichtspunkte betont, die zur Anwendung der Charta führen(67). Solche Verpflichtungen sind allerdings häufig in weiten und eher vagen Begriffen festgelegt(68).

192. Die vorliegenden Rechtssachen und die Anwendbarkeit der Charta darauf folgen jedoch einer etwas anderen Logik. Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Florescu ist insoweit recht anschaulich. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass der Erlass nationaler Regelungen im Rahmen der Erfüllung der Bedingungen, die in groben Zügen in einer Grundsatzvereinbarung hinsichtlich der Zahlung eines finanziellen Beistands der Europäischen Union an einen Mitgliedstaat festgelegt sind, für die Zwecke der Anwendung der Charta in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt(69).

193. Auf der Ebene der Spezifität der Verpflichtungen (wie etwa die Senkung der Lohnsumme im öffentlichen Dienst oder die Reform des Rentensystems zur langfristigen Verbesserung der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen, die in der Rechtssache Florescu ausschlaggebend für die Entscheidung über die Anwendbarkeit der Charta waren(70)) besteht tatsächlich kein großer Unterschied zwischen der Grundsatzvereinbarung in der Rechtssache Florescu und den in der VZÜ-Entscheidung enthaltenen Vorgaben.

194. Somit handelt ein Mitgliedstaat, wenn er Maßnahmen erlässt, die eng mit der Erfüllung der Vorgaben aus dem Anhang verbunden sind, in „Durchführung“ des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta. Der Umstand, dass die durch die VZÜ-Entscheidung auferlegten Verpflichtungen weit gefasst sind, stellt eine logische Folge des Charakters, der Ziele und des Inhalts des Rechtsinstruments selbst dar. Wenn nämlich die Charta den „Schatten“ des Unionsrechts darstellen soll(71), spiegelt dieser Schatten notwendigerweise den Umfang und die Form der Struktur wider, auf die er fällt.

195. Die Regierung der Niederlande hat gleichwohl vorgebracht, dass, selbst wenn die Charta nach den Kriterien ihres Art. 51 Abs. 1 allgemein anwendbar sei, dies nicht für Art. 47 der Charta gelte, da diese Bestimmung, um anwendbar zu sein, das Bestehen eines materiellen Rechts voraussetze, das Gegenstand des Gerichtsverfahrens sei. Dieses Erfordernis sei in den vorliegenden Rechtssachen nicht erfüllt.

196. Nach meinem Verständnis beruht dieses Argument auf dem Umstand, dass Art. 47 Abs. 1 der Charta bestimmt, dass das „Recht, … bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen“, für „[j]ede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind“, gilt. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache El Hassani vorgeschlagen habe, müssen nämlich, damit Art. 47 Abs. 1 der Charta auf einen einzelnen Antragsteller anwendbar ist, zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss der zugrunde liegende Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, damit die Charta insgesamt gemäß Art. 51 Abs. 1 anwendbar ist, und zweitens muss dem Antragsteller ein konkretes „Recht“ oder eine konkrete „Freiheit“ zustehen, das bzw. die durch das Recht der Union garantiert ist und die Anwendbarkeit der spezifischen Bestimmung des Art. 47 Abs. 1 bewirken kann(72).

197. Ich kann somit der Regierung der Niederlande nur darin zustimmen, dass einer bestimmten Einzelperson, wenn sie Art. 47 der Charta dazu nutzen möchte, ein durch diese Bestimmung garantiertes Verfahrensrecht zu begründen, ein konkretes „Recht“ oder eine konkrete „Freiheit“ zustehen muss, das bzw. die durch das Unionsrecht garantiert ist und das bzw. die sie vor einem Gericht durchzusetzen wünscht. Es ist nur schwer vorstellbar, wie Art. 47 der Charta angeführt werden könnte, um ein nicht bestehendes individuelles Recht durchzusetzen.

198. Die vorliegenden Rechtssachen sind jedoch strukturell völlig anders. Die Charta wird nicht als Quelle eines individuellen Rechts bestimmter Prozessparteien angeführt. Sie wird als objektiver Maßstab für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des zulässigen Bereichs normativer Lösungen angeführt, die ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung seiner der VZÜ-Entscheidung und der Beitrittsakte entstammenden Unionsrechtsverpflichtungen erlassen hat.

199. Die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen fallen dadurch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, dass sie die nationale Umsetzung in erster Linie der VZÜ-Entscheidung und in zweiter Linie auch der Beitrittsakte darstellen(73). Somit ist die Charta als Schatten und zur Überwachung der Ausübung nationaler öffentlicher Gewalt, die zur Erfüllung der mitgliedstaatlichen Unionsverpflichtungen erfolgt, anwendbar. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die VZÜ-Entscheidung oder die Beitrittsakte, selbst wenn sie gemäß Art. 51 Abs. 1 die Anwendbarkeit der Charta bewirkt haben, die Grundlage eines tatsächlichen „Rechts“ oder einer tatsächlichen „Freiheit“ von Privatpersonen bildet.

200. Innerhalb dieses durch die VZÜ-Entscheidung und die Beitrittsakte eröffneten Bereichs kann die Charta einschließlich ihres Art. 47 aber sicherlich als objektiver allgemeiner Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit auf Unionsebene genutzt werden. Die Rolle der Grundrechte als objektive Prüfungsparameter, die bei der in einer Reihe nationaler Rechtssysteme durchgeführten abstrakten Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eingesetzt werden, ist auch im Unionsrecht gegeben. Das Unionsrecht kann nicht nur als Maßstab in nationalen Verfahren angeführt werden, die die abstrakte Überprüfung nationaler Rechtsvorschriften betreffen(74), sondern die Rechte, die in der Charta verankert sind, die den Verträgen gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV gleichrangig ist, werden auch dann als Kontrollparameter bei Rechtsakten und Bestimmungen des Unionsrechts(75) eingesetzt, wenn es zur Beurteilung der Handlungen der Mitgliedstaaten in vom Unionsrecht erfassten Bereichen kommt(76).

201. Insgesamt bestehen mindestens zwei Arten von Fällen, in denen die Bestimmungen der Charta angeführt werden können. Dabei handelt es sich erstens um die klassische Durchsetzung eines einer bestimmten Einzelperson garantierten bestimmten Grundrechts von unten nach oben, die gewissermaßen widerspiegelt, was traditionell konkrete Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit genannt wird. Ist das Recht von Person X unter den Umständen eines bestimmten Falles verletzt worden? Zweitens handelt es sich dabei um die abstrakte Beurteilung von oben nach unten, in der die Vereinbarkeit bestimmter legislativer Lösungen weitgehend losgelöst von einem Einzelfall analysiert wird. Ist eine bestimmte Gesetzgebungslösung mit diesem oder jenem Grundrecht vereinbar? Dies kommt einer abstrakten Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit gleich.

202. Worum in den vorliegenden Rechtssachen im Wesentlichen ersucht wird, ist eine abstrakte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit auf Unionsebene zweier nationaler legislativer Lösungen im Hinblick auf die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit, die sich insbesondere aus dem Recht auf ein faires Verfahren ergeben, das in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankert ist. Da die VZÜ-Entscheidung und die Beitrittsakte – weil alle diese nationalen Lösungen klar in den Anwendungsbereich des letzteren Instruments fallen – die Anwendbarkeit des Unionsrechts bewirken und zur Anwendbarkeit der Charta – gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 – führen, bietet die Charta einen Maßstab für diese Beurteilung. Dies ergibt sich nicht unbedingt aus irgendwelchen individuellen Rechten bestimmter Personen, sondern eher daraus, dass die Charta der Schatten nationaler Gesetzgebungsentscheidungen ist, die in Durchführung des Unionsrechts erlassen wurden.

203. Sollte der Gerichtshof meinem Ansatz nicht folgen und entscheiden, dass Art. 47 der Charta in den vorliegenden Rechtssachen nicht anwendbar ist, ist jedenfalls Art. 19 Abs. 1 EUV im Licht der jüngeren Rechtsprechung anwendbar. Diesem Thema werde ich mich nun zuwenden.

b)      Art. 19 Abs. 1 EUV

204. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hat die polnische Regierung darauf beharrt, die vorliegenden Rechtssachen hätten, anders als die dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Associação Sindical dos Juízes Portugueses(77) zugrunde liegende, in der das nationale Gericht über eine Aufhebungsklage zu entscheiden hatte, die von Einzelpersonen mit der Behauptung erhoben worden war, bestimmte nationale Bestimmungen verstießen gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, rein innerstaatlichen Charakter. Ähnlich wird im Hinblick auf Art. 2 EUV mit der Feststellung argumentiert, die dieser Bestimmung entspringenden Grundsätze seien nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts anwendbar.

205. Dem Vorbringen der polnischen Regierung kann nicht gefolgt werden.

206. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass diese Bestimmung Anwendung findet, ohne dass es darauf ankommt, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen(78). Demzufolge findet Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Anwendung, wenn eine nationale Einrichtung als Gericht aufgerufen werden könnte, über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden(79).

207. Da es eher schwierig sein dürfte, ein nationales Gericht zu finden, das definitionsgemäß nie angerufen werden könnte, um über Gegenstände des Unionsrechts zu entscheiden(80), scheint es, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowohl institutionell (im Hinblick auf alle Gerichte oder sogar Einrichtungen, die möglicherweise Unionsrecht anwenden) als auch inhaltlich schrankenlos ist.

208. Soweit die inhaltliche Reichweite betroffen ist, erfasst der Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zumindest nach dem heutigen Stand der Rechtsprechung ausnahmslos alle nationalen Regelungen und Praktiken, die sich negativ auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auswirken können, wirksame Rechtsbehelfe einschließlich der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit dieser Justizsysteme einzurichten. Darüber hinaus scheint der Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV keine inneren quantitativen Schranken zu haben. Es gibt keine Bagatellregelung. Somit besteht keine bereichs- oder bedeutungsbezogene Ausnahme. Ausnahmslos alles, wie unbedeutend auch immer sich die Angelegenheit – gleich ob innerstaatliche Justizorganisation, ‑verfahren oder ‑praktiken – darstellen mag, fällt potenziell unter Art. 19 Abs. 1 EUV(81).

209. Derzeit betrifft die einzige einschränkende Voraussetzung die Zulässigkeit: Es muss eine funktionale Verbindung gegeben sein. Die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen müssen erforderlich sein, um dem vorlegenden Gericht den Erlass seines Urteils in dem spezifischen Fall zu ermöglichen(82). Es muss daher „ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat“(83).

210. Wie bereits oben in den vorliegenden Schlussanträgen im Hinblick auf die Zulässigkeit erwähnt(84), ist die Entscheidung der Ausgangsverfahren in den vorliegenden Rechtssachen inhaltlich mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verbunden, auf den sich die Vorlagefragen beziehen(85).

211. Daher bin ich, soweit der Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betroffen ist, der Ansicht, dass die vorliegenden Rechtssachen beide Prüfungen bestehen: die der Zulässigkeit sowie die (nicht existierende) Prüfung der Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Sie betreffen alle unterschiedliche Gesichtspunkte des rumänischen Justizsystems, die allgemein gelten und wohl Gefahren für die Unabhängigkeit der Justiz als Ganzes betrachtet mit sich bringen und daher Gerichte betreffen, die über Bereiche zu urteilen haben, die vom Unionsrecht erfasst werden. Die Ersuchen sind im Rahmen von Verfahren ergangen, in denen die Antwort des Gerichtshofs auf der Grundlage des Art. 19 Abs. 1 EUV für die Entscheidung des nationalen Gerichts in der Tat objektiv erforderlich ist.

c)      Art. 19 Abs. 1 EUV und die Gefahren der zu weit geöffneten Tore

212. Gleichwohl würde ich unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen dem Gerichtshof raten, sich nicht ausschließlich auf Art. 19 Abs. 1 EUV zu stützen. Es gäbe meiner Ansicht nach nämlich starke Argumente dafür, diese Rechtssachen eher auf der Grundlage der VZÜ-Entscheidung zusammen mit der Beitrittsakte in Verbindung mit der Charta zu entscheiden, wobei Art. 19 Abs. 1 EUV sozusagen, falls überhaupt erforderlich, lediglich in der Peripherie verbleibt.

213. Hinsichtlich der anwendbaren Standards mag diese Diskussion in Rechtssachen, die „strukturelle“ Gesichtspunkte betreffen, die die Unabhängigkeit der Justiz berühren, eher theoretisch erscheinen. Wie soeben festgestellt, fallen solche strukturellen Fälle, vorausgesetzt, sie erfüllen die Voraussetzung der Zulässigkeit und des Bezugs, jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Das Erfordernis, dass Gerichte unabhängig und Richter unparteiisch sein müssen, stellt schließlich ein wesentliches Element des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes dar, der sowohl in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als auch in Art. 47 der Charta verankert ist. Außerdem zeigt die jüngere Rechtsprechung, dass der Inhalt von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV mit den von Art. 47 Abs. 2 der Charta verlangten Garantien übereinstimmt, ausdrücklich zumindest insoweit, als die Faktoren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz betroffen sind(86). Dieser Grundsatz ist wiederum wesentlich für den Schutz aller durch das Unionsrecht gewährten Rechte sowie für die Wahrung der Werte des Art. 2 EUV und insbesondere der Rechtsstaatlichkeit(87).

214. Den Kontext der vorliegenden Rechtssachen betreffende Aspekte sowie die praktischen Folgen einer ausschließlichen Stützung auf Art. 19 Abs. 1 EUV sind jedoch wert, betont zu werden.

215. Erstens und vor allem sind die Mitgliedstaaten nach dem VZÜ in einer besonderen Position, die, was ihre Verpflichtungen bezüglich einer effektiven Organisation der Justiz und der Bekämpfung der Korruption angeht, durch ihre Unterwerfung unter einen recht weitreichenden und detaillierten rechtlichen Rahmen gekennzeichnet ist. Diese besondere Position bedeutet, dass umfangreiche, sowohl primärrechtliche als auch sekundärrechtliche Grundlagen gegeben sind, um alle Aspekte ihrer Justizstruktur zu prüfen, sofern sie als unmittelbar mit den in der VZÜ-Entscheidung und der Beitrittsakte festgelegten Maßstäben und Bedingungen zusammenhängend angesehen werden können.

216. In ähnlicher Weise stellt zweitens die Charta ein viel ausführlicheres und detaillierteres Instrument dar als Art. 19 Abs. 1 EUV. Art. 47 Abs. 2 der Charta hat einen soliden Inhalt, der ausdrücklich auf die Unabhängigkeit der Gerichte verweist. Dieser rechtliche Inhalt wird weiter gestärkt durch die zwingende Verbindung zu dem von der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gebotenen Schutz, da Art. 47 der Charta gemäß deren Art. 52 Abs. 3 ein Schutzniveau gewährleisten muss, das nicht hinter dem in den Art. 6 und 13 EMRK garantierten Schutzniveau zurückbleibt(88). Die entscheidende Rolle des Art. 47 der Charta im Hinblick auf das Erfordernis der Unabhängigkeit der Justiz wird darüber hinaus durch die jüngere Rechtsprechung bestätigt, der zufolge der normative Inhalt des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unter Bezugnahme auf diese Vorschrift bestimmt wird. Des Weiteren hat die Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der Rechtswirkungen von Art. 47 der Charta bestätigt, dass diese Vorschrift unmittelbare Wirkung hat(89).

217. Es scheint mir daher ein unnötiger Umweg zu sein, auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als hauptsächliche oder gar einzige Bezugsnorm für eine Prüfung zu bestehen, die letztlich zur Anwendung der Standards von Art. 47 Abs. 2 der Charta in einem Fall zurückführt, in dem diese Bestimmung in jedem Fall selbständig anwendbar ist.

218. Zwar hat die Anwendung von Art. 19 Abs. 1 EUV durch den Gerichtshof in der jüngeren Vergangenheit aus Gründen der Prozessökonomie zu der Feststellung geführt, dass eine Prüfung des Art. 47 der Charta unnötig sei(90). Dies ist meines Erachtens in den Fällen recht verständlich, die bereichsübergreifende horizontale Maßnahmen betreffen, die definitionsgemäß das gesamte Handeln der nationalen Judikative berühren und damit unionsrechtlich relevant sind(91).

219. Jedoch scheint die Prüfung der Anwendbarkeit von Art. 47 der Charta in den vorliegenden Rechtssachen im Gegensatz zu der Situation in der Rechtssache Associação Sindical dos Juízes Portugueses unumgänglich zu sein. Zum einen enthalten die vorliegenden Rechtssachen eine Frage zu einem spezifischen Aspekt des Art. 47 der Charta, wie etwa das Recht auf ein faires Verfahren durch eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist(92). Dies macht die Beurteilung der Frage, ob Art. 47 der Charta in den vorliegenden Rechtssachen anwendbar ist, auf jeden Fall unausweichlich. Zum anderen bietet bereits die aufgrund der Vorlagefragen bezüglich des Charakters, des Anwendungsbereichs und der Rechtswirkungen des VZÜ im Hinblick auf die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen erforderliche Prüfung eine solide Grundlage für die Bestätigung, dass die Charta in den vorliegenden Rechtssachen anwendbar ist(93).

220. Aus diesen Gründen spricht die Verfahrensökonomie im Kontext der vorliegenden Rechtssachen eher dafür, die Prüfung auf den spezielleren und solideren Rechtsrahmen zu gründen – den der VZÜ-Entscheidung und des Art. 47 der Charta. Wie die jüngere Rechtsprechung verdeutlicht, stellt Art. 47 der Charta, wenn eine positive Feststellung zur Anwendbarkeit der Charta unausweichlich ist, den maßgeblichen Maßstab dar, so dass es nicht erforderlich ist, eine eigenständige Prüfung auf der Grundlage von Art. 2 und von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durchzuführen(94).

221. Drittens schließlich steht zusätzlich zu dem doppelten Lex-specialis-Argument, das den (ausschließlichen) Rückgriff auf etwas viel Allgemeineres und Elementareres entbehrlich macht, die übergreifende Frage im Raum, ob der Weg, der als der einfachste erscheint, tatsächlich der sicherste ist, insbesondere, wenn das, was als der einfachste Weg erscheint, nicht sehr gut kartografiert ist.

222. Die derzeit offenbar unbeschränkte Reichweite des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist nicht nur eine Stärke dieser Bestimmung, sondern auch ihre Hauptschwäche. Wird der Gerichtshof künftig bereit sein, jegliche Fragen oder Aspekte zu prüfen, die ihm von seinen nationalen Richterkollegen zur Kenntnis gebracht werden, die vorbringen, dieser oder jener Gesichtspunkt der nationalen Justizstruktur oder des nationalen Verfahrens könne, jedenfalls aus ihrer subjektiven Sicht, Fragen hinsichtlich des Grades der Unabhängigkeit der Justiz aufwerfen, die sie für zweckdienlich halten? Die Bandbreite der Fragen ist endlos: von dem von der Justiz gewünschten Niveau der eigenverantwortlichen Führung oder Verwaltung über die Methode der Fallzuordnung in einem nationalen System bis hin zur Frage der Nichtbeförderung bestimmter Richter zu Kammerpräsidenten oder zu den seit je beliebtesten Fragen der Gehälter, Zuschläge, Zusatzleistungen und Weihnachtszulagen in der Justiz. Müssen alle diese Aspekte nur in „strukturellen“ Begriffen formuliert werden, um unter Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu fallen(95)? Das ist sicherlich möglich. Es ist schlicht eine Sache der Formulierung der richtigen Frage. Oder ist auch individuelle „justizielle Selbstverteidigung“(96) gegen eine konkrete Maßnahme oder gar gegen einen problematischen Gerichtspräsidenten zulässig? Falls nicht, wie genau ist ein solcher struktureller Mangel angesichts des Umstands festzustellen, dass der Gerichtshof zuvor befunden hat, dass solche formalisierten Verfahren wie das Verfahren nach Art. 7 EUV(97) keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung (systemischer) Mängel im Einzelfall darstellen?

223. Es ist eher wahrscheinlich, dass der Gerichtshof erneut einen Blick auf die unbeschränkte Reichweite des Art. 19 Abs. 1 EUV wird werfen müssen, dieses Mal vielleicht unter einem restriktiveren Blickwinkel. Dies unterstreicht jedoch nur den wahren Charakter von Art. 19 Abs. 1 EUV, der richtigerweise ein außerordentliches Hilfsmittel für außerordentliche Fälle bleiben sollte. Demgegenüber hat das VZÜ ausdrücklich einen weiten Bereich von (vielleicht nicht durchweg so außerordentlichen) Fragen eröffnet, der jegliche Frage der Effizienz der Gerichtsverfahren und der richterlichen Unabhängigkeit, freilich im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Korruption, betrifft.

224. Sich in einem solchen Kontext primär auf die VZÜ-Entscheidung und die Charta zu stützen, bietet eine solide Grundlage für eine detaillierte Betrachtung all dieser Fragen unter Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen. Zweifellos müssen alle Mitgliedstaaten ihre sich aus Art. 19 Abs. 1 EUV ergebenden Verpflichtungen einhalten. Einige werden jedoch wegen ihrer besonderen Beitrittsbedingungen den viel detaillierteren und anspruchsvolleren Regelungen des VZÜ unterworfen. Ungerechtigkeit soll nicht nur dann entstehen, wenn vergleichbare Situationen unterschiedlich behandelt werden, sondern auch, wenn objektiv unterschiedliche Situationen gleich behandelt werden(98). Die dem VZÜ unterliegenden Mitgliedstaaten befinden sich schlicht nicht objektiv in der gleichen Situation wie alle anderen Mitgliedstaaten.

225. Abschließend möchte ich aus Gründen der Vollständigkeit hinzufügen, dass es aus ähnlichen Gründen wie denen, die vorstehend im Hinblick auf das Zusammenwirken von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Charta dargelegt worden sind, nicht erforderlich erscheint, eine gesonderte Prüfung von Art. 2 EUV vorzunehmen. Die Rechtsstaatlichkeit als einer der Werte, auf denen die Union gründet, wird durch die Garantie des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und das Grundrecht auf ein faires Verfahren gewährleistet, denen ihrerseits der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte als einer ihrer wesentlichen Komponenten inhärent ist(99). Art. 47 der Charta sowie Art. 19 EUV verleihen daher dem Wert der in Art. 2 EUV festgelegten Rechtsstaatlichkeit genaueren Ausdruck(100).

3.      Maßstäbe und Charakter der Beurteilung

226. Nachdem die VZÜ-Entscheidung zusammen mit Art. 47 Abs. 2 der Charta, möglicherweise in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, als in den vorliegenden Rechtssachen maßgeblicher Rechtsrahmen ermittelt worden ist, steht noch die Klärung der sich aus diesen Bestimmungen ergebenden, als Maßstäbe zur Beurteilung der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen zu nutzenden inhaltlichen Gesichtspunkte sowie des Charakters dieser Beurteilung aus.

a)      Maßstäbe: äußere Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit und Anscheinslehre

227. Die interne Organisation der Justiz einschließlich der institutionellen Vorkehrungen für die Errichtung und das Verfahren von Disziplinareinrichtungen für Richter fällt gemäß dem Standardgrundsatz der institutionellen Autonomie in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten. Dies gilt auch für Mitgliedstaaten, die dem VZÜ unterworfen sind.

228. Rumänien ist gleichwohl verpflichtet, seinen Verpflichtungen nach der VZÜ-Entscheidung, insbesondere im Hinblick auf die Erfüllung der ersten, dritten und vierten Vorgabe des Anhangs dieser Entscheidung, nachzukommen, um transparentere und leistungsfähigere Gerichtsverfahren zu gewährleisten, Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene durchzuführen und Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption zu ergreifen.

229. Bei der Strukturierung seiner Rechtsprechungsorgane und ‑verfahren bezüglich der Erreichung dieser Ziele ist dieser Mitgliedstaat außerdem verpflichtet, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nach Art. 47 der Charta nachzukommen, dessen Anwendungsbereich und Inhalt im Licht des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auszulegen sind(101).

230. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, ein bestimmtes Verfassungsmodell zur Regelung des Verhältnisses und des Zusammenwirkens zwischen den verschiedenen Staatsgewalten einzuführen(102), vorausgesetzt natürlich, eine grundlegende Gewaltenteilung wird als Merkmal der Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalten(103). Es gibt kein vorgefasstes oder einzig gültiges Modell oder System, sondern eine Vielfalt an Systemen und Strukturen. Die Rechtsprechung ist bestrebt, die Mindestanforderungen zu bestimmen, denen nationale Systeme entsprechen müssen. Diese Anforderungen beziehen sich auf die inneren und die äußeren Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit sowie auf das Erfordernis der Unparteilichkeit, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) entnommen werden.

231. Insbesondere der äußere Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit ist eng mit dem Erfordernis der Unparteilichkeit verbunden, der erfordert, „dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten“(104). Dies beinhaltet nicht nur die unmittelbare Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch „die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten“(105).

232. Wie der Gerichtshof unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeführt hat, sind einige der maßgeblichen Aspekte, die bei der Feststellung des Aspekts der „Unabhängigkeit“ zu berücksichtigen sind, u. a. die Art und Weise der Ernennung und die Amtszeit der Richter, das Bestehen von Schutz gegen die Ausübung von Druck von außen sowie die Frage, ob die Einrichtung den „Anschein von Unabhängigkeit“ vermittelt, da es um das Vertrauen selbst geht, das jedes Gericht in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss(106). Auch der Anschein stellt einen wichtigen Aspekt des objektiven Kriteriums der Unparteilichkeit dar, nach dem zu ermitteln ist, ob unabhängig vom Verhalten eines bestimmten Richters feststellbare Umstände Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen können(107).

233. Der mit der Anscheinslehre verbundene äußere Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit bildet somit den festen Grund für die Beurteilung der Vereinbarkeit gewählter Justizmodelle mit diesen Anforderungen im Rahmen einer tatsächlich abstrakten Überprüfung. Diese Art der Prüfung wendet sich häufig der Frage zu, ob in ein System angemessene Schutzvorkehrungen eingebaut sind, die dann zumindest in einem gewissen Maß die Ausübung eines Drucks von außen und eines politischen Einflusses verhindern.

234. Der in der Tat eher vage Charakter solcher Maßstäbe verbunden mit dem abstrakten Charakter der vorzunehmenden Vereinbarkeitsprüfung erfordern jedoch Klarheit darüber, was genau mit welchem Grad an Detailliertheit und auf der Grundlage welcher Argumente zu prüfen ist. Dieser Frage werde ich mich nunmehr zuwenden.

b)      Charakter der Beurteilung: was zu ermitteln ist

235. Erstens muss Klarheit über die Art des Falles bestehen, mit der der Gerichtshof befasst wird. Eine erste Klarstellung betrifft daher die Unterscheidung zwischen zwei möglichen Arten von Fällen, in denen Fragen bezüglich der richterlichen Unabhängigkeit aufkommen können.

236. Zum einen kann eine Frage der richterlichen Unabhängigkeit von einer Einzelperson als eine inzidente Frage aufgeworfen werden, die in einer Situation aufkommt, die typischerweise eine Verletzung von durch das Unionsrecht geschützten Rechten in einem Einzelfall betrifft. In einem solchen Fall können Mängel der richterlichen Unabhängigkeit im Einzelfall zu einer Verletzung der in Art. 47 der Charta niedergelegten Rechte führen. Eine solche Situation kann auf den allgemein dysfunktionalen Charakter der Regelungen hinweisen(108); dies ist jedoch nicht zwingend der Fall: Sie kann auch einen individuellen Fehler eines ansonsten funktionalen Systems betreffen.

237. Zum anderen gibt es auch Fälle, die die strukturelle Beurteilung verschiedener Aspekte eines Justizsystems betreffen. Bei einer solchen Beurteilung wird im Wesentlichen die Vereinbarkeit bestimmter in den Mitgliedstaaten eingeführter gesetzgeberischer Lösungen mit den Anforderungen des Unionsrechts betrachtet. Diese Situation kann sich wie in den vorliegenden Rechtssachen ergeben, wenn sich die Ausgangsverfahren auf angebliche Mängel eines Justizsystems beziehen, aber nicht notwendigerweise, jedenfalls nicht alle von ihnen, mit einer bestimmten Verletzung des individuellen Rechts auf ein faires Verfahren im konkreten Fall verbunden sind. In einer solchen Situation erfordert die Prüfung eine abstrakte Beurteilung der Vereinbarkeit dieses Systems mit den Parametern des Unionsrechts(109).

238. Diese zweite Situation ist dem Gerichtshof jüngst in Form von Vertragsverletzungsverfahren vorgelegt worden(110). Sie ist auch in Rechtssachen aufgekommen, in denen mangels einer Verbindung mit der vom vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren zu behandelnden inhaltlichen Frage die Rechtssache letztlich für unzulässig erklärt wurde(111). Zugegebenermaßen ist es jedoch richtig, dass es in der Vergangenheit Rechtssachen gab, in denen eine solche abstrakte Prüfung struktureller Aspekte den Kern des Ausgangsverfahrens darstellte, für das eine Antwort des Gerichtshofs für erforderlich erachtet wurde(112).

239. Letztere Art von Fällen der abstrakten Prüfung der Vereinbarkeit bestimmter nationaler institutioneller oder verfahrensrechtlicher Lösungen mit den Anforderungen des Unionsrechts ist sicherlich im Rahmen des VZÜ möglich. Wie oben eingehend erläutert(113), gestattet dieses Verfahren eine abstrakte Prüfung bestimmter von Rumänien eingeführter Modelle, ohne dass notwendigerweise in jedem konkreten Fall eine angebliche Verletzung individueller auf dem Unionsrecht beruhender Rechte vorliegt. Wie genau sich die Situation insoweit im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 EUV nach der kürzlich ergangenen Entscheidung der Großen Kammer in der Rechtssache Miasto Łowicz nunmehr darstellt, bleibt abzuwarten(114).

240. Es mag vielleicht von bereichsübergreifendem Wert für die Zwecke der vorliegenden Rechtssachen sowie für andere mögliche Fragen betreffend den angemessenen Grad richterlicher Unabhängigkeit in den Mitgliedstaaten sein, zu klären, welche Arten von Argumenten von einer solchen abstrakten Art der Prüfung – sei es nach der VZÜ-Entscheidung und der Charta oder auch nach Art. 19 Abs. 1 EUV – erfasst sein können. In dieser Hinsicht würde ich drei verschiedene Szenarien unterscheiden.

241. Erstens: Die institutionelle oder verfahrensrechtliche Gestaltung ist bereits bei allgemeiner und abstrakter Betrachtung problematisch. Das „Konzept“ selbst erscheint, für sich allein und sogar ohne ein bestimmtes Beispiel seiner Anwendung betrachtet, fehlerhaft. Es wäre missbrauchsanfällig, da klar ist, dass es nicht, wie von Art. 47 Abs. 2 der Charta oder Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gefordert, den angemessenen Grad externer Unabhängigkeit garantieren kann oder mit den Anforderungen der Anscheinslehre vereinbar ist. Diese erste Möglichkeit könnte man „Beurteilung rein anhand des Textes“ nennen.

242. Zweitens gibt es die Situation, in der die institutionelle Gestaltung vielleicht nicht als solche problematisch ist, in der jedoch einem Gericht oder dem Gerichtshof klare Argumente oder gar Beweise vorgelegt werden, die zeigen, dass solche Probleme oder Möglichkeiten für einen Missbrauch in der Praxis bestehen. Dies kann in zwei Szenarien geschehen: zum einen das Szenario, bei dem das Konzept in den Kontext anderer Konzepte gestellt wird. Dies wäre der Fall, wenn eine nationale Regelung bei isolierter Betrachtung und auf dem Papier nicht als problematisch erscheint, jedoch in Verbindung mit anderen Regelungen innerhalb dieses Systems höchst problematisch wird. Zum anderen das Szenario, bei dem die Schwächen eines bestimmten Modells nicht notwendigerweise auf dem Papier sichtbar sein könnten, sondern eher bei seiner realen Anwendung. Der rote Faden des zweiten Szenarios besteht somit darin, dass es über das bloße Konzept hinausgeht, indem dabei auf die „Texte in ihrer Kombination“ oder auf den „Text in seiner Anwendung“ geblickt wird.

243. Drittens könnte auch eine Situation vorliegen, in der die institutionelle Gestaltung, wie sie „auf dem Papier“ geplant ist, den rechtlichen Anforderungen von Art. 47 Abs. 2 der Charta oder Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu entsprechen scheint. Gleichwohl aber liegen Anzeichen dafür vor, dass ein ansonsten solides Modell in einer bestimmten Umgebung und in Verbindung mit dem besonderen rechtlichen und institutionellen Kontext eines Mitgliedstaats tatsächlich bereits missbraucht wird. Dieses Szenario, das für die Beurteilung durch ein internationales Gericht oder eine andere internationale Einrichtung freilich das problematischste darstellt, verweist auf die „Praxis allein“ bzw. leider eher darauf, dass „Papier wertlos ist“.

244. Es sei betont, dass dem nationalen Kontext und der Anwendungsrealität im zweiten und im dritten Szenario in zweierlei Hinsicht besondere Bedeutung zukommt. Erstens müssen die in Rede stehenden Bestimmungen im Kontext der institutionellen Landschaft eines Mitgliedstaats geprüft werden. Es ist daher erforderlich, so weit wie möglich den institutionellen und strukturellen Gesamtkontext zu berücksichtigen und zu berücksichtigen, wie die betreffenden Regelungen mit anderen verbundenen Regelungen zusammenwirken. Denn selbst wenn eine bestimmte Vorschrift bei isolierter Betrachtung als richtig angesehen werden kann, kann sie hoch problematisch sein, wenn sie in Verbindung mit anderen maßgeblichen Gesichtspunkten des Systems betrachtet wird(115).

245. Zweitens existiert natürlich die heikle Frage der Überprüfung der Aussagen betreffend die tatsächliche Anwendung und die tatsächliche nationale Praxis auf der Grundlage der Verfahrensakte und der vor dem Gerichtshof vorgebrachten Argumente. Es ist sicherlich möglich und erforderlich, die nationale Praxis zu berücksichtigen. Tatsächlich hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs immer wieder bestätigt, dass für die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht allgemein nicht nur die nationalen Rechtsvorschriften, sondern auch die Rechtsprechung und die Praxis maßgeblich sind(116).

246. Werden solche den Kontext betreffenden und auf die Praxis gestützten Umstände vor Gerichten und insbesondere vor dem Gerichtshof angeführt, müssen sie hinreichend erläutert, belegt und erörtert werden, sei es durch das nationale Gericht oder die Parteien und Streithelfer vor dem Gerichtshof. Mit anderen Worten: Wird geltend gemacht, ein bestimmtes System oder eine institutionelle Gestaltung funktioniere in Wahrheit auf eine andere Weise als im Gesetz „auf dem Papier“ angegeben, ist es erforderlich, diese Argumente in angemessenem Maße hinreichend zu begründen.

247. Ich möchte betonen: in „angemessenem“ Maße. Zum einen wäre es nämlich völlig unangemessen, von einem nationalen Gericht, das z. B. in seiner Vorlageentscheidung vorträgt, das nationale System der Disziplinarverfahren werde dazu missbraucht, politischen Druck auf Richter auszuüben, zu verlangen, erschöpfende Statistiken zu allen Disziplinarverfahren, die in diesem Mitgliedstaat durchgeführt werden, sowie Unterlagen zum Nachweis dafür vorzulegen, wie genau dieser Druck ausgeübt wird und wie genau er die richterliche Entscheidungsfindung in Einzelfällen beeinflusst. Zum anderen wäre es aber auch problematisch, nur auf das nationale Modell hinzuweisen und abstrakt vorzutragen, dieses Modell könnte missbraucht werden, wenn es nicht in ein anderes Modell umgewandelt werde.

248. Alles kann missbräuchlich verwendet werden. Die bloße Möglichkeit eines Missbrauchs stellt kein hinreichendes Argument für die Abschaffung einer gesamten Struktur oder eines gesamten Modells dar. Auch der Gebrauch von Messern oder Fahrzeugen wird nicht untersagt, obwohl sie in weniger verantwortungsbewussten Händen zu einer Reihe anderer Zwecke benutzt werden können als Brot zu schneiden oder zur Arbeit zu fahren. Somit müssen dem Gerichtshof selbst in der Welt der externen richterlichen Unabhängigkeit und des Anscheins einige überzeugende Argumente dafür vorgetragen werden, wie ein bestimmtes Modell im Einzelnen konkret und speziell missbrauchsanfällig ist, zumindest aber veranschaulichende Beispiele dafür, wie dies bereits in der Praxis geschieht, so dass es einem strukturellen Problem gleichkommt.

C.      Beurteilung der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen

249. Mit Blick auf diesen recht detaillierten Fahrplan wende ich mich nun endlich der Beurteilung der zwei umstrittenen institutionellen Fragen zu. Ich werde mit einem allgemeinen Überblick über den nationalen rechtlichen Kontext beginnen (1). Sodann werde ich die in der Rechtssache C‑83/19 gestellten Fragen bezüglich der Ernennung der Leitung der Justizinspektion behandeln (2), bevor ich die Vorlagefragen in den Rechtssachen C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19 angehe, die die Errichtung der AUSJ betreffen (3).

1.      Allgemeiner Kontext

250. Alle vorliegenden Rechtssachen betreffen unterschiedliche Aspekte der sogenannten Justizgesetze: das Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten, das Gesetz Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens und das Gesetz Nr. 317/2004 über den ORR. Diese Gesetze wurden innerhalb des Rahmens der Verhandlungen über den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union mit dem Ziel erlassen, die Unabhängigkeit und die Effektivität der Justiz zu verbessern(117).

251. Diese Gesetze und ihre nachfolgenden Änderungen wurden nach dem Beitritt mit dem VZÜ genau überwacht. Auf der Grundlage dieser Gesetze und ihrer nachfolgenden Änderungen erstattete die Kommission regelmäßig über Rumäniens Fortschritte im Hinblick auf die Unabhängigkeit und die effiziente Arbeitsweise der Justiz sowie den Fortschritt bei der Bekämpfung der Korruption Bericht. Diese Fortschritte führten die Kommission dazu, in ihrem VZÜ-Bericht 2017 einige letzte Empfehlungen auszusprechen, die zur Beendigung des VZÜ hätten führen können(118). Jedoch wurde dieser Fortschritt im Zeitraum 2017 bis 2018 rückgängig gemacht, als alle Justizgesetze durch verschiedene Gesetze(119) geändert wurden, die vom Parlament im Wege eines beschleunigten Verfahrens angenommen wurden, das eine beschränkte Debatte in den beiden Kammern des Parlaments mit sich brachte(120). Die Einführung dieser Gesetze erfolgte inmitten einer großen politischen Auseinandersetzung und unter öffentlichen Protesten(121). Nachfolgend erließ die rumänische Regierung zwischen September 2018 und März 2019 fünf Dringlichkeitsverordnungen, mit denen die Justizgesetze geändert und um neue Bestimmungen ergänzt wurden(122).

252. Die Änderungen umfassen weitere Aspekte, die nicht Gegenstand der vorliegenden Rechtssachen sind, wie etwa ein neues System der Frühpensionierung, Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung der Richter und erweiterte Gründe für die Abberufung der Mitglieder des ORR aus dem Amt(123). Mit ihnen wurden auch Änderungen eingeführt, die die Grundlage der beim Gerichtshof anhängig gemachten Rechtssachen bilden, wie etwa das Verfahren für die vorläufige Ernennung der Leitung der Justizinspektion und die Errichtung der AUSJ sowie Änderungen bei Bestimmungen über die materiell-rechtliche Haftung der Richter, die ich in gesonderten Schlussanträgen in der Rechtssache C‑397/19 analysiere.

253. Diese Änderungen wurden in den VZÜ-Berichten von 2018 und 2019 negativ bewertet. Über einige davon wurde auch von verschiedenen internationalen Einrichtung einschließlich der Venedig-Kommission(124) und der GRECO(125) berichtet, die vor den Gefahren namentlich der Unterminierung der Unabhängigkeit sowie der Effizienz und Qualität der Justiz warnten, die diese Gesichtspunkte darstellen könnten. Die Venedig-Kommission brachte auch hinsichtlich der umfangreichen Nutzung von Dringlichkeitsverordnungen ihre Besorgnis zum Ausdruck(126).

254. Eine wichtige Gemeinsamkeit, die es wert ist, als Gegenstand des allgemeinen Kontexts erwähnt zu werden, ist die prominente Rolle der von der rumänischen Regierung zur Änderung wichtiger Punkte der verschiedenen Justizgesetze erlassenen Dringlichkeitsverordnungen. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, sondern vielmehr der nationalen Gerichte oder des nationalen Verfassungsgerichts bzw. der nationalen Verfassungsgerichte, zu prüfen, ob der Gebrauch eines solchen – zumindest dem Anschein nach außerordentlichen – Instruments nach nationalem Verfassungsrecht zulässig ist.

255. Jedoch stellt der Umstand, dass, wie die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, die Gesetzgebungstechnik der Dringlichkeitsverordnungen im Bereich der Justizreform ausgiebig genutzt wurde, ohne dass für diese Praxis tatsächlich immer eine klare Rechtfertigung im Sinne einer Dringlichkeit vorlag, bereits einen wichtigen Aspekt des Gesamtkontexts dar. Gesetze, die strukturell die dritte Gewalt im Staat regeln sollen, sollten in einem echte Gewaltenteilung respektierenden System nur nach der gebotenen Überlegung und Beratung eingeführt werden, die allen entsprechenden Gesetzgebungs- und Justizeinrichtungen eine Stimme verleihen, die normalerweise an der Entwicklung von Rechtsvorschriften beteiligt sind. Schließlich sollten solche Gesetze idealerweise langlebiger sein als eine Eintagsfliege.

256. Alles in allem stellt zwar die „Regelung der Justiz durch Dringlichkeitsverordnungen“ als solches keinen Verstoß gegen das Unionsrecht dar, doch stellt sie einen wichtigen kontextuellen Aspekt dar, der bei der Beurteilung der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen berücksichtigt werden sollte.

2.      Vorläufige Ernennung der Leitung der Justizinspektion

a)      Vorlageentscheidung und Standpunkt der Beteiligten

257. In der Vorlageentscheidung kommen mehrere Bedenken hinsichtlich des rechtlichen Verfahrens und der kontextuellen Umstände des Erlasses der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 sowie ihrer Folgen zum Ausdruck.

258. Erstens wird ausgeführt, die Dringlichkeitsverordnung habe nicht, wie die Präambel der Verordnung angebe, die Wirkung, ein angebliches „Gesetzgebungsvakuum“ zu korrigieren, sondern entziehe vielmehr dem ORR eine seiner Befugnisse, die mit seiner verfassungsmäßigen Rolle als Garant der richterlichen Unabhängigkeit verbunden seien. Außerdem ermögliche die Dringlichkeitsverordnung das zeitlich unbegrenzte Innehaben eines Leitungsamts, indem ein abgelaufenes Mandat automatisch unterschiedslos von Gesetzes wegen verlängert werde, ohne dass der ORR in der Lage wäre, das Ermessen auszuüben, das für seine verfassungsmäßige Rolle wesentlich sei.

259. Zweitens erläutert das vorlegende Gericht, der ORR sei gemäß Art. 133 Abs. 1 der rumänischen Verfassung für die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit verantwortlich. Es wird ferner vorgebracht, die durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 eingeführte Lösung stelle eine nicht gerechtfertigte Ausnahme von der allgemeinen Regel vorläufiger Ernennungen dar, die in der Delegierung einer Person in das Leitungsamt bestehe, und greife daher in die Zuständigkeiten des ORR ein.

260. Vor dem Gerichtshof hat das Forum Richtervereinigung in Übereinstimmung mit den bereits vor dem vorlegenden Gericht vorgetragenen und von diesem befürworteten Argumenten vorgebracht, die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 habe die Wirkung, dem ORR eine der Befugnisse zu entziehen, die mit seiner verfassungsmäßigen Rolle als Garant der richterlichen Unabhängigkeit verbunden seien. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin auch klargestellt, das System der Delegierung sei in der Vergangenheit für die Position des Chefinspekteurs der Justizinspektion genutzt worden. Außerdem sei für den Erlass von Regelungen bezüglich des Status der Richter und Staatsanwälte einschließlich der Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion eine Stellungnahme des ORR erforderlich. Eine solche Stellungnahme sei hinsichtlich der in Rede stehenden Dringlichkeitsverordnung nicht angefordert worden.

261. Die Regierungen der Niederlande und Schwedens vertreten übereinstimmend die Auffassung, dass die Disziplinarverfahren für Richter einschließlich des Verfahrens zur Ernennung der Justizinspektion den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR wahren müssten. Die Regierung der Niederlande merkt an, dass die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018, so wie sie in der Vorlageentscheidung beschrieben werde, diesen Grundsatz offenbar nicht wahre. Die schwedische Regierung weist darauf hin, das nationale Gericht müsse eine entsprechende Gesamtwürdigung vornehmen.

262. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, ein Eingriff der rumänischen Regierung in die Ernennung der Leitung der Justizinspektion könnte Zweifel an den Garantien der Unabhängigkeit der Justiz aufkommen lassen, insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass die Zuständigkeit für eine solche Ernennung beim ORR liege. Daher gebe es Anzeichen für einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

263. Die rumänische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, Art. 19 EUV stehe nationalen Bestimmungen entgegen, wonach die Leitung der Justizinspektion, wenn auch nur vorläufig, durch eine Dringlichkeitsverordnung ernannt werde, soweit dadurch der Eindruck politischer Einflussnahme oder politischen Drucks entstehen könne. Diese Regierung stellt die Dringlichkeit nicht in Abrede, sondern macht geltend, von der Möglichkeit der Delegierung nach Art. 57 des Gesetzes Nr. 303/2004 hätte nicht Gebrauch gemacht werden können, da dieser ausschließlich auf die Delegierung im Rahmen von Gerichten und Staatsanwaltschaften verweise. Die derzeitige rumänische Regierung vertritt allerdings die Auffassung, die frühere Regierung hätte zur Vermeidung einer institutionellen Blockade einen anderen Mechanismus, z. B. durch eine kurzfristige vorläufige Ernennung unter Einbeziehung des ORR in das Verfahren, einführen können.

264. Demgegenüber hat die Justizinspektion vorgebracht, die Maßnahme habe, wie die Präambel dieses Instruments angebe, ihre raison d’être in der Situation, die dadurch entstanden sei, dass das Mandat der früheren Leitung am 1. September 2018 abgelaufen sei, ohne dass ein neues Auswahlverfahren durch die zuständige Einrichtung eingeleitet worden sei. Außerdem sehe dieser Rechtsakt vor, dass nur Personen, die das Auswahlverfahren bereits bestanden und bereits das Amt des Chefinspekteurs oder stellvertretenden Chefinspekteurs ausgeübt hätten, ernannt werden könnten. Schließlich habe derselbe Chefinspekteur nach tatsächlicher Durchführung des Auswahlverfahrens durch den ORR die Stelle mit einer sehr guten Bewertung erhalten.

b)      Würdigung

265. Weder Art. 47 Abs. 2 der Charta noch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV schreiben ein bestimmtes Modell hinsichtlich der Organisation der Disziplinarsysteme für Richter und Staatsanwälte vor. Jedoch bedeutet das Erfordernis der Unabhängigkeit, dass die Vorschriften, die für das Disziplinarsystem für Richter gelten, „die erforderlichen Garantien aufweisen [müssen], um jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden“(127). Aus diesem Grund hat der Gerichtshof die Einschaltung einer unabhängigen Instanz und die Einrichtung eines Verfahrens, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte und insbesondere die Verteidigungsrechte in vollem Umfang sicherstellt, als wesentliche Garantien zur Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz bezeichnet(128). Diese Feststellung bedeutet unmissverständlich, dass die Standards der Art. 47 und 48 der Charta für Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte gelten(129).

266. Es ist zu betonen, dass diese Standards für die Disziplinareinrichtungen selbst (typischerweise die Disziplinarkammer, die über das Disziplinarvergehen entscheidet) und nicht für die Einrichtung gelten, die bei ihr den Verfolgungsanspruch geltend macht (d. h. der „Disziplinarstaatsanwalt“). Der Justizinspektion ist nicht die Befugnis verliehen, eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen eines Disziplinarvergehens zu treffen. Diese ist der zuständigen Abteilung des ORR vorbehalten, der die Disziplinareinrichtung darstellt.

267. Allerdings kommt der Justizinspektion, wie die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung klargestellt und die Klägerin vorgebracht hat, im Disziplinarverfahren eine Schlüsselrolle zu. Sie führt die Voruntersuchungen durch und entscheidet über die Eröffnung einer Disziplinaruntersuchung. Sie führt diese Untersuchung durch, bevor sie schließlich entscheidet, ob sie bei der zuständigen Abteilung des ORR eine Disziplinarklage zur Entscheidung einreicht(130).  Sie hat auch wichtige Aufgaben bei der Einleitung des Verfahrens, das zur Feststellung eines Justizirrtums führt(131).  Wie das vorlegende Gericht erläutert hat, besitzt der Chefinspekteur außerdem wesentliche Befugnisse, die durch die jüngsten Änderungen gleichfalls gestärkt worden sind(132): Er ernennt die Inspekteure in leitenden Funktionen, leitet die Tätigkeit der Inspektion und die Disziplinarverfahren, organisiert die Zuteilung der Akten, legt die spezifischen Tätigkeitsbereiche fest, in denen Überprüfungsmaßnahmen durchgeführt werden, ist der leitende Anweisungsbefugte und hat die Befugnis, selbst Disziplinarverfahren einzuleiten.

268. In einem solchen Kontext ist eigentlich klar, dass bereits aufgrund solcher Untersuchungs- und „Einleitungs“-Befugnisse im Rahmen der Disziplinaruntersuchungen ungeachtet der Garantien, die die Einrichtung bietet, die die abschließende Entscheidung in Disziplinarverfahren trifft, Druck auf Personen ausgeübt werden kann, denen die Aufgabe zukommt, einen Rechtsstreit zu entscheiden(133). Dies gilt erst recht, wenn die Befugnis, eine Untersuchung einzuleiten und eine Disziplinarklage zu erheben, einem einzigen Organ verliehen zu sein scheint, dessen Spezialisierung tatsächlich in der Überprüfung und Untersuchung von Richtern liegt.

269. Aus diesem Grund sollte eine Einrichtung, die wie die Justizinspektion für die Einleitung von Disziplinarverfahren zuständig ist, zumindest einen gewissen Grad an Unabhängigkeit in ihrer Arbeitsweise und ihren Untersuchungen aufweisen. Auch insoweit kann das zu erwartende Niveau der Unabhängigkeit freilich nicht dasjenige sein, das von Disziplinareinrichtungen selbst verlangt wird. Unter Berücksichtigung sowohl der Rolle der Justizinspektion innerhalb des ORR als auch der Befugnisse des Chefinspekteurs kann jedoch das Verfahren für die Ernennung auf diese Position nicht so ausgestaltet sein, dass Bedenken aufkommen, dass die Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrumente zur Ausübung von politischer Kontrolle über und von Druck auf die richterliche Tätigkeit genutzt werden.

270. Wie passt eine Regelung in dieses Bild, die ein System der vorübergehenden Ernennung vorsieht, das in der Verlängerung des Mandats des Inhabers dieser Position besteht? Abstrakt und losgelöst von jedem Kontext betrachtet kann eine solche Regelung kaum von vornherein als Verstoß gegen die Anforderungen des Unionsrechts an die richterliche Unabhängigkeit gelten.

271. Erstens erzeugt nicht jede Beteiligung der Exekutive an der Ernennung auf Stellen in der Justiz automatisch eine Beziehung der Unterordnung, die gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit verstößt, sofern Garantien bestehen, die die ernannten Personen bei der Wahrnehmung ihrer Rolle nach der Ernennung von Einflussnahme oder Druck abschirmen(134). Eher im Gegenteil: Die Gewaltenteilung wirkt in beide Richtungen.

272. Dieses Ergebnis gilt meines Erachtens ebenso für die Ernennung auf Leitungspositionen einer Einrichtung wie der Justizinspektion. Wie die Justizinspektion vorbringt, hat die rumänische Regierung in diesem Zusammenhang den Chefinspekteur der Justizinspektion nicht durch Einzelentscheidung direkt ernannt. Die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 regelt ein Verfahren, um die vorläufige Leitung der Justizinspektion zu gewährleisten.

273. Zweitens steht Art. 47 Abs. 2 der Charta grundsätzlich auch nicht einem System entgegen, nach dem die vorläufige Leitung einer Einrichtung wie der Justizinspektion durch den amtierenden Chefinspekteur und stellvertretende Inspekteure sichergestellt wird, bis eine neue Leitung im regulären Verfahren ernannt wird. Wie auch von der Justizinspektion vorgebracht, kann dies nämlich gewährleisten, dass die Personen, die die Position vorläufig innehaben, bereits das gesetzlich vorgesehene Auswahlverfahren bestanden haben und über Erfahrung in der Rolle verfügen. Ein solches System kann in der Tat erforderlich sein und ist in einer Reihe von Rechtsordnungen im Hinblick auf Schlüsselpositionen einschließlich Richterernennungen vorhanden(135).

274. Jedoch steckt der Teufel hier nicht im Detail, sondern im Kontext. Die zwei soeben angeführten, scheinbar unproblematischen Aspekte verlieren rasch ihren unstrittigen Charakter, wenn man das spezifische, in der Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 für die vorläufige Ernennung der Leitung der Justizinspektion vorgesehene System und das spezifische Resultat betrachtet, das es im Einzelfall hervorgebracht hat.

275. Gemäß Art. II dieser Verordnung gilt das System für die vorläufige Ernennung auch in der Situation, in der die Leitung der Justizinspektion an dem Tag vakant ist, an dem diese Dringlichkeitsverordnung in Kraft tritt, was genau der Fall war, als die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 erlassen wurde(136). Praktisch bedeutet dies, dass die durch eine Dringlichkeitsverordnung ohne die Konsultation der Einrichtung, die normalerweise zu einer solchen Ernennung konsultiert werden sollte, eingeleitete Regelung nicht nur dazu bestimmt ist, die Kontinuität im Amt zu gewährleisten, vielmehr liegt ihre praktische Wirkung darin, nachträglich eine Person, deren Mandat bereits abgelaufen war, durch ein anderes als das gesetzlich bestimmte Verfahren und unter Umgehung der normalerweise an einem solchen Verfahren beteiligten Akteure wieder in das Amt einzusetzen.

276. Dieser Aspekt des Kontexts und der praktischen Anwendung einer scheinbar neutralen Regelung reicht für sich genommen aus, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass das durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 geschaffene System der vorläufigen Ernennung der Leitung der Justizinspektion Zweifel im Hinblick auf das Interesse der rumänischen Regierung an der Ernennung einer bestimmten Person als Leiter der Einrichtung, die für Disziplinaruntersuchungen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, entstehen lassen kann. Demzufolge scheint ein solches System nicht die geeigneten Garantien zu bieten, bei den Einzelnen vernünftige Zweifel an der Unempfänglichkeit von Justizeinrichtungen für Einflussnahmen von außen und ihrer Neutralität in Bezug auf das Interesse, mit dem sie befasst sind, auszuschließen.

277. Meiner Auffassung nach kann und sollte die Prüfung hier enden. Das vorlegende Gericht und vor allem die (nationalen) Parteien der vorliegenden Verfahren haben andere als kontextuelle Argumente vorgebracht, die nicht nur Fragen der (nationalen) Aufteilung der Zuständigkeiten, sondern auch die beteiligten Einzelnen und Einrichtungen und ihre mutmaßlichen Einzelinteressen betreffen. Ich denke, dass es angesichts des Umstands, dass das oben dargelegte Argument in sich klar und schlüssig ist, weder erforderlich noch angemessen wäre, dass sich der Gerichtshof mit diesen anderen Aspekten des Kontexts beschäftigt.

278. Zusammengefasst ist eine im Voraus festgelegte, nicht auf eine bestimmte Person zugeschnittene neutrale Regelung, die im Namen der Kontinuität der Organe vorsieht, dass eine Person im Amt verbleibt, bis ein Nachfolger ordnungsgemäß ernannt ist, in Ordnung und vernünftig. Von einer solchen scheinbar neutralen Regelung, deren einzige Wirkung in der Wiedereinsetzung einer bestimmten Person in ein Amt nach Ablauf ihres Mandats unter Verstoß gegen die regulären Ernennungsverfahren besteht, Gebrauch zu machen ist weder in Ordnung noch vernünftig.

c)      Zwischenergebnis

279. Daher schlage ich vor, die dritte Frage in der Rechtssache C‑83/19 wie folgt zu beantworten: Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen entgegenstehen, durch die die Regierung unter Abweichung von den normalerweise anwendbaren rechtlichen Regelungen ein System für die vorläufige Ernennung auf die Leitungspositionen der Einrichtung, die mit der Durchführung von Disziplinaruntersuchungen in der Justiz betraut ist, beschließt, dessen praktische Wirkung darin besteht, dass eine Person, deren Mandat bereits abgelaufen war, wieder in das Amt eingesetzt wird.

3.      Abteilung für die Untersuchung von Straftaten in der Justiz

a)      Vorlageentscheidungen und Standpunkte der Beteiligten

280. Vier der fünf in den vorliegenden Schlussanträgen geprüften Rechtssachen betreffen die Rechtsvorschriften zur Errichtung und Regelung der AUSJ. In den Ausgangsverfahren der Rechtssachen C‑127/19 und C‑355/19, die vom selben nationalen Gericht vorgelegt worden sind, geht es um die Rechtmäßigkeit verschiedener Verwaltungsakte zur Umsetzung der Rechtsvorschriften zur Einführung der AUSJ. Die Rechtssachen C‑195/19 und C‑291/19 sind im Rahmen anhängiger Strafverfahren gegen Richter und Staatsanwälte vorgelegt worden, in denen die AUSJ zur Teilnahme aufgerufen ist.

281. In diesem Kontext soll mit der vierten und der fünften Frage in der Rechtssache C‑127/19, der vierten Frage in der Rechtssache C‑291/19 und der vierten Frage in der Rechtssache C‑355/19 im Wesentlichen geklärt werden, ob der in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sowie die Verpflichtung, die Werte der Rechtsstaatlichkeit nach Art. 2 EUV zu wahren, der Errichtung der AUSJ entgegenstehen. Mit der fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19 soll geklärt werden, ob Art. 47 Abs. 2 der Charta, betreffend das Recht auf ein faires Verfahren durch eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist, der Errichtung der AUSJ im Hinblick auf die geringe Stellenzahl dieser Abteilung entgegensteht.

282. Die Vorlageentscheidungen werfen, indem darin weitgehend die Argumente der Parteien der Ausgangsverfahren übernommen sind, verschiedene Fragen auf, die die Errichtung und die Arbeitsweise der AUSJ betreffen. Diese Argumente sind von einigen der Beteiligten weiterentwickelt worden, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, insbesondere vom Forum Richtervereinigung, von der Vereinigung der Staatsanwälte, vom Generalstaatsanwalt und von OL.

283. Im Licht dieser in den Vorlageentscheidungen vorgebrachten Gesichtspunkte haben die Regierungen der Niederlande und Schwedens sowie die Kommission festgestellt, dass gewichtige Faktoren vorliegen, die zeigten, dass die Regelungen betreffend die Errichtung und die Arbeitsweise der AUSJ nicht den Erfordernissen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entsprächen.

284. Die rumänische Regierung, die in ihren schriftlichen Erklärungen die Vereinbarkeit der AUSJ mit diesen Standards verteidigt hat, hat ihren Standpunkt während der mündlichen Verhandlung geändert. Sie hat den Gerichtshof davon unterrichtet, dass die derzeitige Regierung aus den in einem von der Regierung am 27. Dezember 2019 angenommenen Memorandum dargestellten Gründen in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der VZÜ-Berichte sowie der Berichte der Venedig-Kommission und der GRECO die Abschaffung der AUSJ befürworte.

285. Diese Regierung hat einige der Aspekte erläutert, auf denen ihr neuer Standpunkt beruht. Ich werde lediglich auf drei dieser Aspekte hinweisen, die von dieser Regierung vorgebracht und von den Beteiligten vor dem Gerichtshof erörtert worden sind. Erstens scheinen die Bestimmungen über die Zusammensetzung der Auswahlausschüsse in der später geänderten Fassung gegen den im rumänischen Recht bestehenden Grundsatz der Trennung der Laufbahnen der Richter und der Staatsanwälte zu verstoßen, demzufolge die Ernennung der Staatsanwälte in die Zuständigkeit der Abteilung für Staatsanwälte des ORR fällt. Zweitens scheint die Schaffung der AUSJ die Gefahr einer Defacto-Immunität der Staatsanwälte, die zu dieser Abteilung gehören, gegenüber einer Strafverfolgung zur Folge zu haben. Drittens ist die Regelung betreffend das Konzept des „hierarchisch vorgesetzten Staatsanwalts“ unter Berücksichtigung des Verfassungsgrundsatzes der hierarchischen Kontrolle umstritten.

286. Somit scheint es letztlich, dass nur der ORR die Schaffung und die Arbeitsweise der AUSJ verteidigt. Er hat erläutert, die Schaffung der AUSJ sei durch die Notwendigkeit des Schutzes der Richter und Staatsanwälte gerechtfertigt(137). Ziel der AUSJ sei es, einer Gruppe von Personen im Licht der bedeutenden Rolle, die sie in der Gesellschaft spiele, zusätzliche Garantien zu bieten und ein hohes Maß an Professionalität derer zu gewährleisten, die ihre Fälle bearbeiten. Die AUSJ stärke daher die Unabhängigkeit des Justizsystems, indem sie Schutz gegen Druck und Missbrauch aufgrund willkürlicher Beschwerden und Handlungen gegen Richter und Staatsanwälte gewährleiste.

287. In der mündlichen Verhandlung hat der ORR betont, dass das System auch durch die im Hinblick auf Richter und Staatsanwälte von der DNA begangenen Exzesse begründet sei, die vor der Schaffung der AUSJ, wie sich aus einem von der Justizinspektion verfassten und vom ORR im Oktober 20019 genehmigten Bericht ergebe, gegen mehr als die Hälfte der Richter Rumäniens ermittelt habe(138). Außerdem sei dieser „schützende“ Zweck von der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht) in ihrem Urteil Nr. 33/2018 bestätigt worden(139).

288. Der ORR hat außerdem vorgebracht, die Schaffung der AUSJ sei mit einem System von Garantien einhergegangen, das geeignet sei, jeden Zweifel an ihrer Unabhängigkeit gegenüber politischem Druck zu zerstreuen. Zusätzliche Garantien hätten das Verfahren für die Ernennung des Chefinspekteurs der AUSJ und die Auswahl der Staatsanwälte dieser Abteilung gestärkt(140). Der Leitende Staatsanwalt der AUSJ werde im Gegensatz zu den Leitern anderer staatsanwaltschaftlicher Abteilungen, die durch ein vom Justizministerium ausgerichtetes Auswahlverfahren ernannt würden, wobei der ORR lediglich eine beratende Stellungnahme abgebe, vom Plenum des ORR ernannt. Im Hinblick auf die Staatsanwälte des AUSJ hat er weiter ausgeführt, dass die zusätzlichen Unabhängigkeitsgarantien im Erfordernis einer mindestens 18‑jährigen Erfahrung als Staatsanwalt und in der Auswahl durch ein transparentes Verfahren ohne politische Einflussnahme sowie darin bestünden, dass es eine strenge Prüfung der letzten fünf Jahre der Berufstätigkeit der Staatsanwälte gebe und dass keine Möglichkeit einer Delegierung zu dieser Abteilung bestehe.

b)      Würdigung

289. Die von den vorlegenden Gerichten vorgebrachten Argumente sowie die von den Parteien, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, geltend gemachten Bedenken sind umfangreich und komplex. Sie beziehen sich auf verschiedene Aspekte, die die nationalen Regelungen zur Schaffung der AUSJ, ihre Zusammensetzung und Befugnisse, die Auswahl ihrer Leitung, ihre weiteren institutionellen Wirkungen als Auswirkungen auf die Zuständigkeit anderer Abteilungen der Staatsanwaltschaft und die Art und Weise, in der diese Einrichtung ihre Funktionen in der Praxis ausübt, betreffen.

290. In Übereinstimmung mit der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs(141) bin ich der Ansicht, dass diese Aspekte, selbst wenn sie bei individueller Betrachtung der Kritik standhalten sollten, einer Gesamtbeurteilung zu unterziehen sind, um die Auswirkungen der Schaffung und der Arbeitsweise der AUSJ auf die Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit festzustellen.

291. Als Ausgangspunkt ist es bei gebotener Berücksichtigung der Wirkungen, die die Schaffung einer besonderen staatsanwaltschaftlichen Abteilung „für Richter“ auf die öffentliche Wahrnehmung der Justiz haben könnte, zwingend erforderlich, dass es für die Schaffung einer solchen Abteilung eine besonders gewichtige, transparente und echte Rechtfertigung gibt (i). Ist dieses Kriterium erfüllt, ist es außerdem unerlässlich, dass die Zusammensetzung, Organisation und Arbeitsweise einer solchen Abteilung zur Vermeidung der Gefahr des Drucks von außen auf die Justiz geeignete Garantien bietet (ii). Schließlich sind bei der Feststellung des maßgeblichen Kontexts auch die besonderen Begleitumstände der Schaffung der AUSJ sowie die Rechenschaft über die Art und Weise, in der diese Einrichtung ihre Funktionen ausgeübt hat, von Bedeutung (iii).

i)      Rechtfertigung

292. Ähnlich dem bereits Ausgeführten(142) erlegen die Unionserfordernisse der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, die in Art. 47 Abs. 2 der Charta sowie in Art. 19 Abs. 1 EUV verankert sind, den Mitgliedstaaten keine Verpflichtung auf, eine bestimmte Struktur oder ein bestimmtes Modell im Hinblick auf die institutionelle Gestaltung der Staatsanwaltschaft einzuführen. Tatsächlich stellen sich die Strukturen der Staatsanwaltschaften in europäischen Staaten als außerordentlich vielfältig dar(143).

293. Jedoch hat die Schaffung einer Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für von Richtern oder Staatsanwälten begangene Straftaten eine klare Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Es sondert die Justiz als eine Berufsgruppe aus, für die eine gesonderte Verwaltungsstruktur der Staatsanwaltschaft erforderlich ist. Wie die Kommission angemerkt hat, könnte dies den Eindruck erwecken, dass es im Justizsystem weitverbreitete Kriminalität oder sogar Korruption gibt. Es hat die Wirkung, dass von Richtern begangene Verstöße (die jeglicher Art sein können) auf dieselbe Stufe der Schwere wie Korruption, organisierte Kriminalität oder Terrorismus gestellt werden, die die einzigen anderen Gegenstände darstellen, für die in der rumänischen Staatsanwaltschaft Spezialabteilungen bestehen(144). Dieser „Eindruck der Kriminalität“ berührt einen der entscheidenden Aspekte bei der Beurteilung der Auswirkung einer bestimmten Maßnahme auf die richterliche Unabhängigkeit, nämlich das Vertrauen, das die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen müssen(145).

294. Wiederum lässt sich kaum vertreten, dass die Schaffung von Spezialabteilungen der Staatsanwaltschaft oder sogar von gesonderten Staatsanwaltschaften von vornherein ausgeschlossen ist. Es bestehen nämlich speziell vorgesehene staatsanwaltschaftliche Strukturen in den Mitgliedstaaten, die entweder auf dem speziellen Schutzbedürfnis einer bestimmten Personengruppe (wie etwa Minderjährige), dem besonderen Status bestimmter Personen (wie etwa Militärstaatsanwaltschaften) beruhen oder die sich auf einen besonders komplexen Gegenstand beziehen, der Spezialerfahrung oder ‑kenntnisse erfordert (wie etwa bei komplexen Wirtschaftsstraftaten, Cybersicherheit usw.).

295. Angesichts der erheblichen Auswirkungen einer solchen institutionellen Maßnahme auf die Wahrnehmung der Justiz ist es jedoch entscheidend, dass eine auf echten und hinreichend gewichtigen Gründen, die außerdem der Öffentlichkeit auf eine unzweideutige und zugängliche Weise deutlich gemacht werden müssen, gestützte Rechtfertigung gegeben ist.

296. Gab es für die Schaffung der AUSJ solche hinreichend gewichtigen Rechtfertigungsgründe? Der ORR hat erläutert, dass die Schaffung der AUSJ durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, Richter und Staatsanwälte zu schützen.

297. Die Notwendigkeit, die Justiz vor unzulässigem Druck zu schützen, könnte in der Tat, allgemein gesprochen, einen legitimen und hinreichend gewichtigen Grund darstellen, eine staatsanwaltschaftliche Struktur zu errichten, die dazu bestimmt ist, diese Gefahr in Anbetracht der besonderen Umstände eines bestimmten Mitgliedstaats und unter gebotener Berücksichtigung der Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz abzuschwächen.

–       Unzweideutige und zugängliche Rechtfertigung?

298. Wenn jedoch die Schaffung einer Abteilung wie der AUSJ nicht mit Gründen bezüglich der Bekämpfung der Kriminalität, sondern eher mit der Notwendigkeit des Schutzes der Justiz selbst verbunden ist, muss eine solche Rechtfertigung zwingend auf unzweideutige und zugängliche Weise bekannt gemacht werden, um nicht das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu unterminieren.

299. Die rumänische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die Gründe für die Errichtung der AUSJ in der Präambel des Gesetzes Nr. 207/2018 nicht erläutert worden seien. Der die Exzesse der DNA betreffende Bericht der Justizinspektion, auf den sich der ORR stützt, um die Schaffung der AUSJ zu rechtfertigen, wurde erst nach der Bekanntmachung des Gesetzes verabschiedet, das am 23. Juli 2018 in Kraft getreten ist. Es ist daher schwer nachvollziehbar, wie er somit zu seiner Begründung hätte dienen können. Schließlich hat die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass eine Rechtfertigung, die sich auf die Notwendigkeit stütze, bestimmte Personen wegen des Charakters und der Bedeutung ihrer Rolle zu schützen, nicht überzeugen könne, wenn dasselbe System nicht für andere bedeutende Personen wie etwa Senatoren oder Abgeordnete gelte.

300. Im Licht dieser Gesichtspunkte ist es schwierig, festzustellen, ob der Zweck, die Justiz vor unzulässigem Druck zu schützen, jedenfalls das Ziel darstellte, das den Grund für die Schaffung der AUSJ bildete. Es kann daher meines Erachtens nicht festgestellt werden, dass die Schaffung dieser Abteilung der Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit durch eine unzweideutige und zugängliche Rechtfertigung erläutert worden ist.

–       Echte Rechtfertigung?

301. Der Kern- und umstrittenste Punkt der Erörterungen zwischen den Parteien, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, bezieht sich auf die Frage, ob die „Schutz“-Rechtfertigung für die Errichtung der AUSJ echt ist. Das Forum Richtervereinigung, die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ und OL haben sehr detaillierte Argumente vorgebracht, die die Behauptung stützen, die Schaffung der AUSJ sei in Wirklichkeit durch andere Gründe inspiriert worden. Die genannten Parteien haben sich zu diesem Zweck auf die praktischen Folgen der institutionellen Gestaltung der AUSJ gestützt. Wie der Generalstaatsanwalt in der mündlichen Verhandlung angemerkt hat, können diese Gesichtspunkte bei der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass der Zweck der Schaffung der AUSJ tatsächlich darin lag, die Bekämpfung der Korruption zu schwächen.

302. Erstens haben die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ und der Generalstaatsanwalt die Echtheit des „Schutz-“Ziels bestritten. Dies beruht erstens auf der geringen Anzahl von Fällen, in denen Richter und Staatsanwälte vor der Schaffung der AUSJ verfolgt wurden(146). Außerdem sei die Anzahl der Fälle gegen Richter und Staatsanwälte seit der Herstellung der Einsatzfähigkeit der AUSJ eher gestiegen als gesunken. Zweitens sei die Schaffung der AUSJ nicht mit der Einrichtung zusätzlicher Garantien einhergegangen. Die AUSJ wende dieselben Verfahrensregelungen an wie andere Abteilungen der Staatsanwaltschaft und sei auf der Grundlage des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit verpflichtet, jede Beschwerde, die den formellen Anforderungen der Strafprozessordnung entspreche, zu registrieren und zu prüfen. Es bestehe im Gegenteil ein Mangel an angemessenen Instrumenten, was sich in weniger Garantien ausdrücke und hauptsächlich auf der beschränkten Zahl der Staatsanwälte beruhe in Anbetracht dessen, dass im Unterschied zu anderen Abteilungen der Staatsanwaltschaft eine angemessene territoriale Struktur auf nationaler Ebene fehle, da alle Staatsanwälte der AUSJ ihren Sitz in Bukarest hätten.

303. Die rumänische Regierung stimmte in der mündlichen Verhandlung dem letztgenannten Punkt zu. Sie merkte an, dass die ausschließliche Zuständigkeit der AUSJ für jede Art der von Richtern oder Staatsanwälten begangenen Straftaten nicht gewährleiste, dass die Staatsanwälte die erforderliche Spezialisierung insbesondere im Hinblick auf Korruptionsstraftaten besäßen; dieser Umstand sei umso alarmierender, als die AUSJ nicht über eine territoriale Struktur verfüge.

304. Zweitens legen verschiedene Aspekte nahe, dass die Schaffung der AUSJ in Wirklichkeit zu einer Schwächung der Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene führt. Gemäß Art. 881 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 304/2004 hat die AUSJ die ausschließliche Zuständigkeit für Fälle, die Richter oder Staatsanwälte betreffen, und behält diese Zuständigkeit auch dann, wenn auch andere Personen verfolgt werden. Die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ und der Generalstaatsanwalt haben erläutert, dass von anderen Abteilungen der Staatsanwaltschaft behandelte Fälle allein aus dem Grund auf die AUSJ übertragen würden, dass fiktive Beschwerden gegen einen Richter oder Staatsanwalt erhoben würden. Es wird auch geltend gemacht, dies betreffe hauptsächlich Fälle, die in die Zuständigkeit der DNA fielen, da in einige Korruptionsfälle auch Richter einbezogen sein könnten. Die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die AUSJ jede Akte anfordern könne, indem sie sich auf Aspekte des Zusammenhangs mit einer der von der AUSJ untersuchten Akten berufe. Außerdem sei die AUSJ gemäß der durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2009 in Art. 888 Abs. 1 Buchst. d eingeführten Änderung für die Rücknahme von durch andere Abteilungen der Staatsanwaltschaft eingelegten Rechtsmitteln zuständig. OL brachte in der mündlichen Verhandlung vor, die ersten Handlungen der AUSJ hätten in der Rücknahme bedeutender Korruptionsfälle bestanden, die sich im Rechtsmittelstadium befunden hätten.

305. Erwähnenswert ist außerdem, dass die Gefahr, dass die AUSJ als eine Einrichtung wahrgenommen wird, deren Errichtung und Arbeitsweise politisch motiviert ist, in den VZÜ-Berichten, in der Venedig-Kommission und in der GRECO zur Sprache gebracht wurden(147). Diese Gefahr ist in der mündlichen Verhandlung auch von der rumänischen Regierung ausdrücklich anerkannt worden.

306. Angesichts dieser Erwägungen scheint mir, dass trotz der vom ORR angeführten theoretischen Legitimität und Ernsthaftigkeit des Schutzziels nicht gesagt werden kann, dass die Schaffung der AUSJ auf eine klare, unzweideutige und zugängliche Weise gerechtfertigt wurde, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz nicht zu unterminieren. Außerdem begründen die soeben dargestellten Aspekte betreffend die systematisch nachteiligen Auswirkungen auf die Zuständigkeit anderer Abteilungen der Staatsanwaltschaft, vorbehaltlich der Nachprüfung durch das nationale Gericht, nicht nur ernsthafte Zweifel an der Echtheit der Rechtfertigung, auf die sich der ORR beruft, sondern könnten auch Misstrauen hinsichtlich der Unparteilichkeit des Justizsystems und seiner Unempfänglichkeit für Druck von außen fördern, insbesondere, indem der Eindruck erweckt wird, die Schaffung und Arbeitsweise der AUSJ sei politisch motiviert.

307. Einfach ausgedrückt: Werden alle Bedrohungen zusammengenommen, ergibt sich nicht unbedingt das Bild eines verstärkten Schutzes der Richter. Was eher beunruhigend in den Vordergrund tritt, ist ein allmächtiger Überbau, der natürlich schützen, aber auch sehr stark kontrollieren und dadurch beeinflussen könnte. Darin liegt vielleicht die Paradoxie der gesamten Idee: Da Richter angeblich durch weitverbreitete Denunziation unter Druck geraten, ist es erforderlich, eine zentralisierte Einheit mit ausschließlicher Zuständigkeit in diesen Belangen zu schaffen. Jedoch führt die Existenz einer zentralisierten und spezialisierten Einheit dann, bezogen auf die strukturelle Missbrauchsmöglichkeit, zu einer noch größeren Gefahr. Verteilte, dezentralisierte Systeme mögen gelegentlich unkoordiniert sein, jedoch sind sie im Allgemeinen weitaus widerstandsfähiger. In zentralisierten Systemen genügt demgegenüber die Übernahme des Zentrums.

ii)    Garantien

308. Ungeachtet der soeben getroffenen Feststellung hat der ORR vorgebracht, dass die Errichtung der AUSJ mit einem System von Garantien einhergegangen sei, das geeignet sei, jeden Zweifel an ihrer Unabhängigkeit von politischem Druck zu zerstreuen(148).

309. Ich halte es nicht für erforderlich, eine lange Diskussion über die einzelnen Aspekte des nationalen Rechts zu führen, die zu beurteilen ohnehin Sache des nationalen Gerichts ist. Ich möchte lediglich feststellen, dass dem ORR zu diesem Punkt von der rumänischen Regierung widersprochen worden ist, die in der mündlichen Verhandlung anerkannt hat, dass viele der vom ORR angeführten Garantien durch die nachfolgenden Reformen, die die Regierung in einem kurzen Zeitraum durch Dringlichkeitsverordnungen einführte, erheblich geschwächt wurden.

310. Wie die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, war die Dringlichkeit beim Erlass der Dringlichkeitsverordnungen, mit denen die Bestimmungen betreffend den AUSJ geändert wurden, nicht immer nachgewiesen worden. Obgleich hinsichtlich der Dringlichkeitsverordnungen Nr. 90/2018(149) und Nr. 12/2019(150) einige Gründe angeführt wurden, hat die rumänische Regierung angemerkt, dass die Dringlichkeitsverordnungen Nr. 92/2018 und Nr. 7/2019 keinerlei Begründung hinsichtlich der Dringlichkeit oder Notwendigkeit einer Änderung der Bestimmungen bezüglich der AUSJ enthalten hätten.

311. Aus den vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen ergibt sich, dass mit den Dringlichkeitsverordnungen wiederholt die Bestimmungen bezüglich des Auswahlverfahrens geändert und die Anforderungen an die Zusammensetzung des Auswahlausschusses gelockert wurden(151). Die rumänische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass sie ungeachtet des Umstands, dass sie in ihren schriftlichen Erklärungen angeführt habe, dass das Verfahren zur Ernennung der Staatsanwälte der AUSJ eine zusätzliche Garantie darstelle, jede Erwähnung der nachfolgenden durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 eingeführten Änderungen unterlassen habe. Außerdem sei mit Art. II der Dringlichkeitsverordnung Nr. 90/2018 von den Bestimmungen über das Ernennungsverfahren abgewichen worden, um die vorläufige Ernennung des Leitenden Staatsanwalts und mindestens eines Drittels der Staatsanwälte der AUSJ sicherzustellen.

312. Mit diesen Dringlichkeitsverordnungen wurden neben den oben angeführten Änderungen des Auswahlverfahrens Schlüsselbestimmungen betreffend die Befugnisse und die institutionelle Struktur dieser Abteilung eingeführt und geändert. Erstens wurde mit der Dringlichkeitsverordnung Nr. 7/2019 der Regierung ein neuer Abs. 6 in Art. 881 eingefügt. Gemäß dieser Änderung ist, wenn die Strafprozessordnung oder ein anderes Spezialgesetz in Fällen, die sich auf Straftaten in der Zuständigkeit der AUSJ beziehen, auf den „hierarchisch vorgesetzten Staatsanwalt“ verweist, dieser Ausdruck auch für Entscheidungen, die vor der Herstellung der Einsatzfähigkeit dieser Abteilung ergingen, als Verweis auf den Leitenden Staatsanwalt der AUSJ zu verstehen(152). Zweitens wurde mit dieser Verordnung auch Art. 888 geändert, indem in Abs. 1 Buchst. d eine neue Befugnis der AUSJ aufgenommen wurde, die in der Einlegung und Rücknahme von Rechtsmitteln in Fällen besteht, die der Zuständigkeit der Abteilung unterliegen, einschließlich der Fälle, die vor der Herstellung ihrer Einsatzfähigkeit bei Gerichten anhängig oder abschließend entschieden waren.

313. Es scheint daher, dass die rumänische Regierung innerhalb eines kurzen Zeitraums nicht weniger als vier Dringlichkeitsverordnungen erließ, mit denen Aspekte der durch das Gesetz Nr. 207/2018 betreffend die AUSJ eingeführten Bestimmungen geändert wurden. Dies geschah insbesondere im Hinblick auf das Verfahren der Ernennung und Auswahl ihres Leitenden Staatsanwalts und ihrer Staatsanwälte, aber auch im Hinblick auf andere bedeutende Aspekte der Befugnisse der Abteilung und ihres Status innerhalb der Staatsanwaltschaft, ohne stets eine Begründung für die Dringlichkeit eines Eingreifens der Regierung zu bieten.

314. Wie die Kommission vorbringt, bestätigen diese Gesichtspunkte das Bestehen einer ernsten Gefahr der Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Justizsystems, die durch das schnelle und unmittelbare Eingreifen der Regierung durch Dringlichkeitsverordnungen verstärkt wird, was auch die öffentliche Wahrnehmung der politischen Einflussnahme auf die Justiz negativ beeinflusst.

315. All diese Gesichtspunkte veranlassen mich zu der Schlussfolgerung, dass entgegen dem Vorbringen des ORR die Regelung bezüglich der AUSJ keine ausreichenden Garantien bietet, um jede Gefahr politischer Einflussnahme auf ihre Arbeitsweise und Zusammensetzung auszuschließen. Die vom ORR angeführten Garantien wurden, was ihren Inhalt betrifft, anschließend durch Dringlichkeitsverordnungen abgeschwächt, mit denen ebenfalls wiederholt die institutionelle Gestaltung der Abteilung, ihre Regelungen für die Ernennung der Staatsanwälte und ihre Beziehungen zu anderen staatsanwaltschaftlichen Abteilungen geändert wurden. Schließlich geschah all dies im Kontext der ohnehin schon fragwürdigen Gestaltung der AUSJ, die aus den im vorstehenden Abschnitt dargestellten Gründen in Bezug auf die Außenwahrnehmung ihrer Unabhängigkeit von Anfang an nicht sonderlich robust war.

iii) Kontext und praktische Arbeitsweise

316. Aus meiner Sicht genügen die obigen Erwägungen, um eine zweckmäßige Antwort auf die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu geben. Jedoch sind die nationalen Gerichte, wenn sie abschließend über die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht entscheiden, auch befugt, bei der Beurteilung des ausreichenden Maßes an Garantien, die, wie oben ausgeführt, vorgesehen werden müssen, die tatsächlichen und kontextuellen Umstände zu berücksichtigen, unter denen die AUSJ nach ihrer Errichtung ihre Funktionen ausgeübt hat.

317. Was erstens die praktischen Wirkungen der (häufig geänderten) Regelungen für die Auswahl und Ernennung des Leitenden Staatsanwalts und der Staatsanwälte der AUSJ betrifft, hat OL in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die Befugnis zur Ernennung und Abberufung in der Praxis auf eine kleine Gruppe von Mitgliedern des ORR beschränkt wurde, die die damalige Regierung unterstützten. Die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ wies insbesondere darauf hin, dass sowohl der vorläufige Leitende Staatsanwalt als auch der anschließend ernannte Leitende Staatsanwalt Personen mit besonderen Verbindungen zur damaligen Regierung gewesen seien.

318. Zweitens haben das Forum Richtervereinigung und die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“ im Hinblick auf die von der AUSJ seit ihrer Schaffung vorgenommenen Handlungen ausführlich darüber berichtet, wie die AUSJ ihre Funktionen ausübte. Diese Beteiligten haben vorgebracht, die AUSJ habe Ermittlungen eingeleitet und abgeschlossene Fälle wiedereröffnet, die gegen Richter bzw. Staatsanwälte gerichtet gewesen seien, die die Gesetzesänderungen öffentlich abgelehnt hätten, darunter hochrangige Richter und Staatsanwälte(153). Sie führen auch an, es seien Ermittlungen gegen Staatsanwälte eingeleitet worden, die zur Zeit der Verabschiedung der Regelungen über die AUSJ Ermittlungen gegen Mitglieder der Regierungspartei eingeleitet hätten. Es wird außerdem darauf hingewiesen, die AUSJ habe die Rechtsmittel bezüglich Korruption und andere, bedeutende Mitglieder der früheren Regierungspartei betreffende Fälle ohne Begründung zurückgenommen und versucht, die Zuständigkeit für Fälle zu erlangen, die von anderen staatsanwaltschaftlichen Abteilungen bearbeitet wurden und Mitglieder dieser Partei betrafen. Weitere Aspekte wie etwa durchgesickerte Informationen, die Veröffentlichung von Vermerken ohne ordnungsgemäße Anonymisierung oder die offizielle Bekanntgabe unrichtiger Informationen wurden ebenso als Argumente vorgebracht, die die Prämisse der Benutzung der AUSJ zu anderen Zwecken als der unparteiischen Strafverfolgung bestätigen.

319. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, die oben angeführten tatsächlichen Umstände zu beurteilen. Jedoch bin ich der Auffassung, dass die nationalen Gerichte berechtigt sind, als Teil der Kriterien für die allgemeine Beurteilung der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen(154) die objektiven Gesichtspunkte, die die Umstände betreffen, unter denen die AUSJ errichtet wurde, sowie ihre praktische Arbeitsweise als Faktoren zu berücksichtigen, die die Gefahren politscher Einflussnahme bestätigen oder entkräften können. Die Bestätigung einer solchen Gefahr könnte in der Vorstellung Einzelner berechtigte Zweifel an der Standhaftigkeit der Richter entstehen lassen, da sie den Eindruck der Neutralität der Richter in Bezug auf das Interesse, mit dem sie befasst sind, insbesondere dann beeinträchtigt, wenn es um Korruptionsfälle geht.

iv)    Angemessene Frist

320. Mit der fünften Frage in der Rechtssache C‑291/19 schließlich soll geklärt werden, ob Art. 47 Abs. 2 der Charta, der vorsieht, dass „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Sache … in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“, der Errichtung der AUSJ im Licht der Regelungen über die Ausübung ihrer Funktionen und die Art der Zuständigkeitsbestimmung in Verbindung mit der geringen Stellenzahl in dieser Abteilung entgegensteht.

321. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, es bestehe die Gefahr, dass Fälle wegen der Strafverfolgungstätigkeit der AUSJ im Wesentlichen deshalb nicht innerhalb angemessener Frist behandelt würden, weil es in dieser Abteilung im Verhältnis zur großen Anzahl von Fällen nur eine geringe Anzahl von Stellen gebe. Zum einen seien von der bereits geringen Zahl von 15 Staatsanwälten am 5. März 2019 nur sechs Stellen besetzt gewesen. Zum anderen seien zur Zeit der Herstellung der Einsatzfähigkeit der AUSJ bereits 1 422 Fälle bei ihr registriert gewesen.

322. Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass jedes Jahr tausende fiktiver Beschwerden gegen Richter und Staatsanwälte eingereicht würden, die zumindest eine gewisse Untersuchung erforderten. Diese große Anzahl von Fällen habe zusammen mit der Verwaltung anderer, allgemeiner Akten sowie der (bereits eingetretenen) Möglichkeit der Übernahme von Fällen von anderen Strafverfolgungsabteilungen ernsthafte Zweifel an den Fähigkeiten der AUSJ zur Folge, innerhalb angemessener Frist eine wirksame Untersuchung durchzuführen.

323. In gleicher Weise haben das Forum Richtervereinigung, die Vereinigung „Bewegung für den Schutz des Status der Staatsanwälte“, der Generalstaatsanwalt und OL vorgebracht, die geringe Zahl der Staatsanwälte der AUSJ führe unvermeidlich zu deren Überlastung. Der Generalstaatsanwalt hat weiter ausgeführt, dass die AUSJ zur Zeit der mündlichen Verhandlung sieben Staatsanwälte gehabt habe und ungefähr 4 000 Fälle bei ihr anhängig gewesen seien, während diese Abteilung im Lauf des Jahres 2019 nur 400 Akten habe bearbeiten können.

324. Es ist zunächst festzustellen, dass sich die vorliegende Frage dadurch von den anderen in diesem Abschnitt geprüften Vorlagefragen unterscheidet, dass sie unabhängig von den Auswirkungen auf die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Richter und Staatsanwälte ausschließlich deren Verfahrensrechte betrifft. Aus diesem Grund macht die Kommission geltend, die Frage müsse dahin umformuliert werden, dass damit geklärt werden solle, ob Art. 47 der Charta unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens das vorlegende Gericht daran hindere, einen Fall an die AUSJ zurückzuverweisen, wenn dem Rechtsmittel stattgegeben werde(155). In dem Fall, dass ein nationales Gericht einen Fall an den Staatsanwalt zurückverweisen müsse, sei Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass er dieses Gericht daran hindere, dies zu tun, wenn sehr wahrscheinlich sei, dass ein Strafverfahren nicht innerhalb angemessener Frist abgeschlossen werde.

325. Ich halte eine solche Umformulierung nicht für erforderlich. Meines Erachtens zeigt die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage einmal mehr den doppelten Aspekt der Kontrollfunktion der Bestimmungen der Charta, der bereits oben erörtert worden ist(156): Art. 47 Abs. 2 der Charta dient als Maßstab für die konkrete Vereinbarkeitskontrolle im Einzelfall, was nicht ausschließt, dass die Charta auch als Maßstab für eine abstrakte Überprüfung der nationalen Regelungen betreffend die AUSJ dient.

326. Außerdem verschmelzen diese beiden Aspekte im Kontext dieser Rechtssache. Der spezifische (subjektive) Ansatz des Art. 47 Abs. 2 der Charta ist in dieser Rechtssache auch durch Verweis auf eine abstrakte (objektive) Prüfung der Auswirkungen der Regelungen über die AUSJ auf die mögliche Dauer der Verfahren zu verfolgen. Das vorlegende Gericht fragt nämlich nicht, ob das Verfahren im konkreten Fall der Beschwerdeführerin bereits eine unangemessene Dauer erreicht hat, sondern vielmehr, ob der Umstand, dass die institutionelle Gestaltung der AUSJ von der Art ist, dass sie zu diesem Ergebnis führt, einen Verstoß gegen die Garantien des Art. 47 Abs. 2 der Charta darstellt.

327. Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht Art. 6 Abs. 1 EMRK. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta müssen seine Tragweite und sein Inhalt eine Auslegung erfahren, die nicht hinter den Standards der EMRK zurückbleibt.

328. Gemäß der Rechtsprechung des EGMR beginnt die in Art. 6 Abs. 1 EMRK angeführte „angemessene Frist“, wenn eine Person „beschuldigt“ wird(157). Der Begriff der „Beschuldigung“ ist vom EGMR auf flexible und substanzielle Weise ausgelegt worden. Der Zeitpunkt, auf den er verweist, schließt den Moment der offiziellen Benachrichtigung durch eine zuständige Behörde über den Vorwurf, dass eine Person eine Straftat begangen hat, aber auch den Zeitpunkt ein, in dem die Situation dieser Person von den Maßnahmen wesentlich beeinträchtigt wird, die die Behörden aufgrund eines Verdachts ergriffen haben(158). Wie von der Kommission festgestellt, kann diese Auslegung daher die Dauer des Ermittlungsverfahrens erfassen(159).

329. Der EGMR prüft die Angemessenheit der Verfahrensdauer zwar im Licht der besonderen Umstände des Einzelfalls unter Bezugnahme auf die Komplexität des Falles, auf das Verhalten des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie darauf, was für den Beschwerdeführer auf dem Spiel steht(160). Dies schließt jedoch meines Erachtens nicht die Prüfung der institutionellen Regelungen aus, die in laufenden Verfahren fast zwangsläufig zu einem Verstoß gegen das Erfordernis der „angemessenen Frist“ führen.

330. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache, in der es um die Beurteilung der institutionellen Struktur der Staatsanwaltschaft geht, werden die für die Beurteilung maßgeblichen Aspekte abstrakt berücksichtigt. Die Beurteilung bezieht in diesem Zusammenhang insbesondere das „Verhalten der zuständigen Behörden“ ein. Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet die Staaten, ihr jeweiliges Justizsystem in der Weise zu organisieren, dass ihre Gerichte jeder seiner Anforderungen entsprechen können(161). Diese Anforderungen schließen natürlich die Arbeitsweise und das Handeln der Staatsanwaltschaft ein(162). Verzögerungen, die durch einen Rückstand bei der Fallbearbeitung verursacht werden, stellen daher keine Rechtfertigung dar, da die Staaten nicht nur für eine Verzögerung in einem bestimmten Fall, „sondern auch für das Versäumnis, als Reaktion auf einen Rückstand bei der Fallbearbeitung die Mittel zu erhöhen, oder für Verzögerungen verursachende strukturelle Mängel in ihrem Justizsystem“ für verantwortlich befunden werden können(163).

331. Meines Erachtens ergibt sich aus diesen Aspekten, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta die Verpflichtung der Mitgliedstaaten umfasst, ihre Justizsysteme so zu organisieren, dass sie den Anforderungen u. a. bezüglich der angemessenen Verfahrensdauer entsprechen. Als Folge hindert diese Bestimmung die Mitgliedstaaten daran, eine staatsanwaltschaftliche Abteilung zu errichten, die in Anbetracht der sich aus ihrer Zuständigkeit ergebenden Arbeitsbelastung unzureichend mit Staatsanwälten besetzt ist, so dass ihre operative Arbeitsweise mit Gewissheit eine unangemessene Dauer der Strafverfahren einschließlich solcher gegen Richter zur Folge haben wird.

c)      Zwischenergebnis

332. Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich vor, die vierte und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑127/19, die vierte und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑291/19 sowie die vierte Frage in der Rechtssache C‑355/19 wie folgt zu beantworten: Art. 47 Abs. 2 der Charta sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind dahin auszulegen, dass sie der Errichtung einer besonderen staatsanwaltschaftlichen Abteilung mit ausschließlicher Zuständigkeit für von Richtern oder Staatsanwälten begangene Straftaten entgegenstehen, wenn die Schaffung einer solchen Abteilung nicht durch echte und hinreichend gewichtige Gründe gerechtfertigt ist, die der Öffentlichkeit in unzweideutiger und zugänglicher Weise deutlich gemacht werden, und wenn sie nicht mit hinreichenden Garantien einhergeht, um jede Gefahr politischer Einflussnahme auf ihre Arbeitsweise und Zusammensetzung auszuschließen. Bei der Beurteilung, ob dies tatsächlich der Fall ist, sind die nationalen Gerichte berechtigt, objektive Aspekte, die die Begleitumstände der Schaffung einer solchen staatsanwaltschaftlichen Abteilung betreffen, sowie deren nachfolgende praktische Arbeitsweise zu berücksichtigen.

333. Die Antwort auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑291/19 lautet, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta betreffend das Recht auf ein faires Verfahren durch eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat eine staatsanwaltschaftliche Abteilung errichtet, die in Anbetracht der sich aus ihrer Zuständigkeit ergebenden Arbeitsbelastung unzureichend mit Staatsanwälten ausgestattet ist, so dass ihre Arbeitsweise eine unangemessene Dauer der Strafverfahren zur Folge haben wird. Es ist Sache der vorlegenden Gerichte, in Ansehung aller ihnen vorliegenden relevanten Faktoren zu beurteilen, ob die nationalen Bestimmungen über die Errichtung, Zusammensetzung und Arbeitsweise der AUSJ diesen Anforderungen entsprechen.

V.      Ergebnis

334. Ich schlage dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

–        Die zweite Frage in der Rechtssache C‑195/19, soweit sie sich auf Art. 9 EUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV bezieht, sowie die dritte Frage in dieser Rechtssache sind unzulässig.

–        Die erste Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19, C‑291/19 und C‑355/19 sollte wie folgt beantwortet werden:

Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung sowie die auf der Grundlage dieser Entscheidung von der Europäischen Kommission erstellten Berichte stellen Handlungen eines Organs der Union im Sinne des Art. 267 AEUV dar und können daher gemäß dieser Vorschrift dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden.

–        Die Überlegungen zum ersten Teil der zweiten, in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑355/19 gestellten Frage hat nichts ergeben, was den Umstand in Zweifel ziehen könnte, dass die Entscheidung 2006/928 in ihrer aktuellen Form rechtsgültig auf der Grundlage des Beitrittsvertrags erlassen wurde.

–        Der zweite Teil der zweiten Frage in den Rechtssachen C‑83/19, C‑127/19 und C‑355/19, die erste Frage in der Rechtssache C‑195/19 und die zweite Frage in der Rechtssache C‑291/19 sollten wie folgt beantwortet werden:

Die Entscheidung 2006/928 ist rechtlich verbindlich. Die von der Kommission im Rahmen des Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung angenommenen Berichte sind für Rumänien nicht rechtlich verbindlich. Diese Berichte sind jedoch von diesem Mitgliedstaat unter gebührender Beachtung des Erfordernisses des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV bei seinen Anstrengungen zur Erfüllung seiner Verpflichtungen zur Erreichung der im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben gebührend zu berücksichtigen.

–        Die dritte Frage in der Rechtssache C‑83/19 sollte wie folgt beantwortet werden:

Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen entgegenstehen, durch die die Regierung unter Abweichung von den normalerweise anwendbaren rechtlichen Regelungen ein System für die vorläufige Ernennung auf die Leitungspositionen der Einrichtung, die mit der Durchführung von Disziplinaruntersuchungen in der Justiz betraut ist, beschließt, dessen praktische Wirkung darin besteht, dass eine Person, deren Mandat bereits abgelaufen war, wieder in das Amt eingesetzt wird.

–        Die vierte und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑127/19, die vierte Frage in der Rechtssache C‑291/19 und die vierte Frage in der Rechtssache C‑355/19 sollten wie folgt beantwortet werden:

Art. 47 Abs. 2 der Charta sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind dahin auszulegen, dass sie der Errichtung einer besonderen staatsanwaltschaftlichen Abteilung mit ausschließlicher Zuständigkeit für von Richtern oder Staatsanwälten begangene Straftaten entgegenstehen, wenn die Schaffung einer solchen Abteilung nicht durch echte und hinreichend gewichtige Gründe gerechtfertigt ist, die der Öffentlichkeit in unzweideutiger und zugänglicher Weise deutlich gemacht werden, und wenn sie nicht mit hinreichenden Garantien einhergeht, um jede Gefahr politischer Einflussnahme auf ihre Arbeitsweise und Zusammensetzung auszuschließen. Bei der Beurteilung, ob dies tatsächlich der Fall ist, sind die nationalen Gerichte berechtigt, objektive Aspekte, die die Begleitumstände der Schaffung einer solchen staatsanwaltschaftlichen Abteilung betreffen, sowie deren nachfolgende praktische Arbeitsweise zu berücksichtigen.

–        Die Antwort auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑291/19 lautet, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta betreffend das Recht auf ein faires Verfahren durch eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat eine staatsanwaltschaftliche Abteilung errichtet, die in Anbetracht der sich aus ihrer Zuständigkeit ergebenden Arbeitsbelastung unzureichend mit Staatsanwälten ausgestattet ist, so dass ihre Arbeitsweise eine unangemessene Dauer der Strafverfahren zur Folge haben wird. Es ist Sache der vorlegenden Gerichte, in Ansehung aller ihnen vorliegenden relevanten Faktoren zu beurteilen, ob die nationalen Bestimmungen über die Errichtung, Zusammensetzung und Arbeitsweise der Secția pentru investigarea infracțiunilor din justiție (Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz) tatsächlich zu diesem Ergebnis führen können.





































































































































































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