URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
30. März 2023(* )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Lugano‑II-Übereinkommen – Verfahren über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen – Art. 34 Nr. 2 – Verfahrenseinleitendes Schriftstück im Ursprungsstaat – Ordnungsgemäße Zustellung eines Zahlungsbefehls, gefolgt von der nicht ordnungsgemäßen Zustellung der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht“
In der Rechtssache C‑343/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Mai 2022, in dem Verfahren
PT
gegen
VB
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
– der schweizerischen Regierung, vertreten durch M. Kähr und L. Lanzrein als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Ernst und S. Noë als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 34 Nr. 2 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 (ABl. 2009, L 147, S. 1) genehmigt wurde (im Folgenden: Lugano‑II-Übereinkommen).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PT und VB über die Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung eines schweizerischen Gerichts in Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen vom 15 . November 1965
3 Art. 5 des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen lautet:
„Die Zustellung des Schriftstücks wird von der Zentralen Behörde des ersuchten Staates bewirkt oder veranlasst, und zwar
a) entweder in einer der Formen, die das Recht des ersuchten Staates für die Zustellung der in seinem Hoheitsgebiet ausgestellten Schriftstücke an dort befindliche Personen vorschreibt,
b) oder in einer besonderen von der ersuchenden Stelle gewünschten Form, es sei denn, dass diese Form mit dem Recht des ersuchten Staates unvereinbar ist.
Von dem Fall des Absatzes 1 Buchstabe b abgesehen, darf die Zustellung stets durch einfache Übergabe des Schriftstücks an den Empfänger bewirkt werden, wenn er zur Annahme bereit ist.
Ist das Schriftstück nach Absatz 1 zuzustellen, so kann die Zentrale Behörde verlangen, dass das Schriftstück in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des ersuchten Staates abgefasst oder in diese übersetzt ist.
Der Teil des Antrags, der entsprechend dem diesem Übereinkommen als Anlage beigefügten Muster den wesentlichen Inhalt des Schriftstücks wiedergibt, ist dem Empfänger auszuhändigen.“
Lugano ‑I I-Übereinkommen
4 Das Lugano‑II-Übereinkommen wurde von der Europäischen Gemeinschaft, dem Königreich Dänemark, der Republik Island, dem Königreich Norwegen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft unterzeichnet.
5 Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens sieht vor:
„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn
…
2. dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte …“
6 Art. 38 Abs. 1 des Lugano‑II-Übereinkommens lautet:
„Die in einem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, werden in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten für vollstreckbar erklärt worden sind.“
7 Art. 53 des Lugano‑II-Übereinkommens bestimmt:
„(1) Die Partei, die die Anerkennung einer Entscheidung geltend macht oder eine Vollstreckbarerklärung beantragt, hat eine Ausfertigung der Entscheidung vorzulegen, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt.
(2) Unbeschadet des Artikels 55 hat die Partei, die eine Vollstreckbarerklärung beantragt, ferner die Bescheinigung nach Artikel 54 vorzulegen.“
8 Art. 54 des Lugano‑II-Übereinkommens lautet:
„Das Gericht oder die sonst befugte Stelle des durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist, stellt auf Antrag die Bescheinigung unter Verwendung des Formblatts in Anhang V dieses Übereinkommens aus.“
9 Art. III Abs. 1 des Protokolls 1 über bestimmte Zuständigkeits‑, Verfahrens‑ und Vollstreckungsfragen des Lugano‑II-Übereinkommens bestimmt:
„Die Schweizerische Eidgenossenschaft behält sich das Recht vor, bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zu erklären, dass sie den folgenden Teil der Bestimmung in Artikel 34 [Nummer] 2 nicht anwenden wird:
‚es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte‘.
Falls die Schweizerische Eidgenossenschaft diese Erklärung abgibt, wenden die anderen Vertragsparteien denselben Vorbehalt gegenüber Entscheidungen der schweizerischen Gerichte an.“
10 Im Einklang mit diesem Vorbehalt hat die Schweizerische Eidgenossenschaft erklärt, dass sie den fraglichen Teil der Bestimmung in Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens nicht anwenden wird.
Schweizer isches Recht
11 Art. 38 Abs. 2 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (RS 281.1, im Folgenden: SchKG) bestimmt:
„Die Schuldbetreibung beginnt mit der Zustellung des Zahlungsbefehles und wird entweder auf dem Wege der Pfändung oder der Pfandverwertung oder des Konkurses fortgesetzt.“
12 Art. 67 Abs. 1 SchKG lautet:
„Das Betreibungsbegehren ist schriftlich oder mündlich an das Betreibungsamt zu richten. Dabei sind anzugeben:
1. der Name und Wohnort des Gläubigers und seines allfälligen Bevollmächtigten sowie, wenn der Gläubiger im Auslande wohnt, das von demselben in der Schweiz gewählte Domizil. Im Falle mangelnder Bezeichnung wird angenommen, dieses Domizil befinde sich im Lokal des Betreibungsamtes;
2. der Name und Wohnort des Schuldners und gegebenenfalls seines gesetzlichen Vertreters; bei Betreibungsbegehren gegen eine Erbschaft ist anzugeben, an welche Erben die Zustellung zu erfolgen hat;
3. die Forderungssumme oder die Summe, für welche Sicherheit verlangt wird, in gesetzlicher Schweizerwährung; bei verzinslichen Forderungen der Zinsfuss und der Tag, seit welchem der Zins gefordert wird;
4. die Forderungsurkunde und deren Datum; in Ermangelung einer solchen der Grund der Forderung.“
13 Art. 69 SchKG sieht vor:
„(1) Nach Empfang des Betreibungsbegehrens erlässt das Betreibungsamt den Zahlungsbefehl.
(2) Der Zahlungsbefehl enthält:
1. die Angaben des Betreibungsbegehrens;
2. die Aufforderung, binnen 20 Tagen den Gläubiger für die Forderung samt Betreibungskosten zu befriedigen oder, falls die Betreibung auf Sicherheitsleistung geht, sicherzustellen;
3. die Mitteilung, dass der Schuldner, welcher die Forderung oder einen Teil derselben oder das Recht, sie auf dem Betreibungswege geltend zu machen, bestreiten will, innerhalb zehn Tagen nach Zustellung des Zahlungsbefehls dem Betreibungsamte dies zu erklären (Rechtsvorschlag zu erheben) hat;
4. die Androhung, dass, wenn der Schuldner weder dem Zahlungsbefehl nachkommt, noch Rechtsvorschlag erhebt, die Betreibung ihren Fortgang nehmen werde.“
14 Art. 71 Abs. 1 SchKG bestimmt:
„Der Zahlungsbefehl wird dem Schuldner nach Eingang des Betreibungsbegehrens zugestellt.“
15 Art. 74 Abs. 1 SchKG lautet:
„Will der Betriebene Rechtsvorschlag erheben, so hat er dies sofort dem Überbringer des Zahlungsbefehls oder innert zehn Tagen nach der Zustellung dem Betreibungsamt mündlich oder schriftlich zu erklären.“
16 Nach Art. 78 Abs. 1 SchKG bewirkt der Rechtsvorschlag die Einstellung der Betreibung.
17 Art. 79 SchKG sieht vor:
„Ein Gläubiger, gegen dessen Betreibung Rechtsvorschlag erhoben worden ist, hat seinen Anspruch im Zivilprozess oder im Verwaltungsverfahren geltend zu machen. Er kann die Fortsetzung der Betreibung nur aufgrund eines vollstreckbaren Entscheids erwirken, der den Rechtsvorschlag ausdrücklich beseitigt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
18 Auf Antrag von VB stellte das Betreibungsamt Genf (Schweiz) PT, der seinen Wohnsitz in Deutschland hat, am 19. Januar 2013 einen Zahlungsbefehl wegen Mietschulden zu. PT erhob gegen den Zahlungsbefehl am 28. Januar 2013 gemäß Art. 74 SchKG Rechtsvorschlag.
19 VB reichte gegen PT vor dem Gericht für Pacht- und Mietsachen des Kantons Genf (Schweiz) Klage ein, ohne eine Aufhebung des Rechtsvorschlags zu beantragen. Dieses Gericht versuchte, die in französischer Sprache abgefasste Klageschrift am Wohnsitz von PT in Deutschland zuzustellen. PT, der die französische Sprache nicht beherrschte, verweigerte die Annahme der Zustellung, weil keine deutsche Übersetzung der Klageschrift beigefügt war. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts erhielt PT während des Prozesses keine weiteren Informationen. Mit Urteil vom 30. Januar 2014, das öffentlich zugestellt wurde, verurteilte das Gericht für Pacht- und Mietsachen des Kantons Genf PT zur Zahlung von insgesamt 4 120,70 Schweizer Franken (CHF) (etwa 4 090 Euro) zuzüglich Zinsen. Der Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl wurde in diesem Urteil nicht beseitigt.
20 VB beantragte beim Landgericht (Deutschland) die Vollstreckbarerklärung des Urteils vom 30. Januar 2014 in Deutschland nach Art. 38 Abs. 1 und Art. 53 des Lugano‑II-Übereinkommens. Hierzu legte er beglaubigte und übersetzte Abschriften dieses Urteils und der Bescheinigung nach Art. 54 des Übereinkommens vor. Nachdem das Landgericht seinem Antrag stattgegeben hatte, legte PT gegen diese Entscheidung Beschwerde beim Oberlandesgericht (Deutschland) ein.
21 Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde mit der Begründung zurück, dass Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens einer Anerkennung des Urteils vom 30. Januar 2014 nicht entgegenstehe. Der dem Beklagten am 19. Januar 2013 ordnungsgemäß zugestellte Zahlungsbefehl sei als verfahrenseinleitendes Schriftstück anzusehen.
22 PT legte gegen dieses Urteil Rechtsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein.
23 Das vorlegende Gericht führt aus, der Zahlungsbefehl sei zwar ordnungsgemäß zugestellt worden, aber bei der Zustellung der Klageschrift seien die Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen nicht eingehalten worden, da die Klageschrift nicht ins Deutsche übersetzt worden sei. Ohne eine solche Übersetzung habe die Zustellung es PT nicht ermöglicht, sich zu verteidigen.
24 Da auf die Zustellung des Zahlungsbefehls eine nicht ordnungsgemäße Zustellung der Klageschrift gefolgt sei, sei zu klären, welches dieser Schriftstücke als verfahrenseinleitendes Schriftstück anzusehen sei.
25 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück handelt?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht, die nach Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne dieser Bestimmung handelt.
27 Das Lugano‑II-Übereinkommen ist nahezu wortgleich mit den entsprechenden Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), und eine einheitliche Auslegung gleichwertiger Vorschriften dieser Instrumente ist geboten (Urteil vom 2. Mai 2019, Pillar Securitisation, C‑694/17, EU:C:2019:345, Rn. 27).
28 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 34 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001, der Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens entspricht, ist das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichtet, die Vollstreckung einer ausländischen Versäumnisentscheidung im Fall einer Anfechtung zu versagen oder aufzuheben, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, er hat gegen diese Entscheidung bei den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte (Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency, C‑619/10, EU:C:2012:531, Rn. 32).
29 Da die Schweizerische Eidgenossenschaft einen Vorbehalt gemäß Art. III Abs. 1 des Protokolls 1 zum Lugano‑II-Übereinkommen in Bezug auf die Anwendung des oben in Rn. 9 angeführten Teils der Bestimmung in Art. 34 Nr. 2 dieses Übereinkommens mitgeteilt hat, der sich auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine ausländische Versäumnisentscheidung bezieht, wenden die anderen Vertragsparteien denselben Vorbehalt gegenüber Entscheidungen der schweizerischen Gerichte an.
30 Folglich ist im Rahmen von Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens in den Beziehungen zur Schweizerischen Eidgenossenschaft die Ablehnung der Vollstreckung der ausländischen Entscheidung ausnahmslos geboten, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte.
31 Im vorliegenden Fall ist eine solche Ablehnung nach Ansicht des vorlegenden Gerichts geboten, wenn nicht der Zahlungsbefehl des Betreibungsamts, sondern die später beim Gericht des Kantons Genf eingereichte Klageschrift als verfahrenseinleitendes Schriftstück anzusehen wäre.
32 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezeichnet der Begriff des verfahrenseinleitenden oder ihm gleichwertigen Schriftstücks das Schriftstück oder die Schriftstücke, deren ordnungsgemäße und rechtzeitige Zustellung an den Antragsgegner diesen in die Lage versetzt, seine Rechte vor Erlass eines vollstreckbaren Urteils im Ursprungsstaat geltend zu machen (Urteil vom 13. Juli 1995, Hengst Import, C‑474/93, EU:C:1995:243, Rn. 19).
33 Auf der Grundlage dieser Definition hat der Gerichtshof einen Zahlungsbefehl deutschen Rechts, dessen Zustellung es dem Antragsteller, wenn kein Einspruch erhoben wird, ermöglicht, eine vollstreckbare Entscheidung zu erwirken (Urteil vom 16. Juni 1981, Klomps, 166/80, EU:C:1981:137Rn. 9), sowie einen zusammen mit der Antragsschrift zugestellten Mahnbescheid (decreto ingiuntivo) italienischen Rechts (Urteil vom 13. Juli 1995, Hengst Import, C‑474/93, EU:C:1995:243, Rn. 20 und 21) als verfahrenseinleitendes Schriftstück angesehen.
34 Dagegen hat der Gerichtshof einen Vollstreckungsbefehl deutschen Rechts, der für sich allein vollstreckbar ist und nach der Zustellung eines Zahlungsbefehls erlassen wird, nicht als verfahrenseinleitendes Schriftstück eingestuft Urteil vom 16. Juni 1981, Klomps, 166/80, EU:C:1981:137, Rn. 9).
35 Daraus folgt, dass im Fall der Aneinanderreihung zweier Verfahren, an deren Ende jeweils eine vollstreckbare Entscheidung in Bezug auf dieselbe Verpflichtung erwirkt werden kann, der Auslöser des ersten Verfahrens nur dann als verfahrenseinleitendes Schriftstück des zweiten Verfahrens im Sinne von Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden kann, wenn zwischen beiden Verfahren eine funktionelle Einheit besteht.
36 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung und den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen hervor, dass sich nach schweizerischem Recht das Verfahren vor dem Betreibungsamt zur Erteilung des Zahlungsbefehls von dem gerichtlichen Verfahren bei einer Forderungsklage unterscheidet.
37 Im Rahmen des ersten Verfahrens kann der Schuldner gemäß Art. 74 Abs. 1 SchKG innerhalb von zehn Tagen Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl erheben. Der Rechtsvorschlag bewirkt die Einstellung des Verfahrens vor dem Betreibungsamt und zwingt den Gläubiger, die Gerichte anzurufen. Nach Art. 79 SchKG kann der Gläubiger die Fortsetzung der Betreibung nur aufgrund eines vollstreckbaren Entscheids erwirken, der den Rechtsvorschlag ausdrücklich beseitigt. Im Rahmen eines in der Folge eingeleiteten ordentlichen Forderungsprozesses kann das Gericht zugleich über die Aufhebung des Rechtsvorschlags entscheiden.
38 Das zweite Verfahren – die gerichtliche Forderungsklage – ist gegenüber dem Schuldbetreibungsverfahren eigenständig. Zwar zielt die gerichtliche Forderungsklage auf die Begleichung einer Schuld ab, die Gegenstand einer Betreibung mittels eines Zahlungsbefehls gemäß den Art. 38, 67 und 69 SchKG war. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zielt die Erhebung der Forderungsklage ohne Antrag auf Beseitigung des Rechtsvorschlags jedoch nicht auf die Beendigung des durch den Rechtsvorschlag, der seinerseits keine notwendige Vorbedingung für die Forderungsklage ist, ausgesetzten Schuldbetreibungsverfahrens ab.
39 Da die Beseitigung des Rechtsvorschlags im Zivilprozess über die Forderungsklage nicht beantragt wurde, ist vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen davon auszugehen, dass zwischen dem Betreibungsverfahren und der gerichtlichen Forderungsklage keine funktionelle Einheit besteht, bei deren Vorliegen der Zahlungsbefehl als verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne von Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden könnte.
40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne dieser Bestimmung handelt.
Kosten
41 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 34 Nr. 2 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, dessen Abschluss im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 genehmigt wurde,
ist dahin auszulegen, dass
es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne dieser Bestimmung handelt.
Unterschriften