Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
8. Juni 2023(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Effektivitätsgrundsatz – Von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuer – Aufgrund eines Urteils des Gerichtshofs festgestellter Verstoß – Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf die Überzahlung – Nationale Regelung, die den Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf den Zeitraum bis zum 30. Tag nach der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs im Amtsblatt der Europäischen Union begrenzt“
In der Rechtssache C‑322/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 15. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Mai 2022, in dem Verfahren
E.
gegen
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu,
Beteiligter:
Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen und J. Passer (Berichterstatter),
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von E., vertreten durch M. Kułagowski und M. Niżnik, Radcowie prawni, sowie K. Trzópek-Piskorz, Doradca podatkowy,
– des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu, vertreten durch K. Zygadło, Radca prawny,
– des Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców, vertreten durch P. Chrupek, Radca prawny,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Grundsätzen des Unionsrechts, insbesondere der Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit, der Äquivalenz und der Effektivität im Kontext des Anspruchs Einzelner auf Zahlung von Zinsen bei der Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuer durch einen Mitgliedstaat.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen E., einem Investmentfonds mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika, und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu (Direktor der Steuerverwaltung Wrocław, Polen) (im Folgenden: Direktor) wegen einer Entscheidung der polnischen Steuerverwaltung, die Zahlung von Zinsen auf unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene überzahlte Steuern zu begrenzen und zu verweigern.
Rechtlicher Rahmen
Polnisches Recht
Updop
3 Art. 3 der Ustawa o podatku dochodowym od osób prawnych (Gesetz über die Körperschaftsteuer) vom 15. Februar 1992 in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2011, Nr. 74, Position 397) mit späteren Änderungen (im Folgenden: Updop) bestimmt:
„1. Steuerpflichtige sind für ihre gesamten Einkünfte unbeschränkt steuerpflichtig, unabhängig davon, wo die Einkünfte erzielt werden, wenn sie ihren Sitz oder ihre Hauptverwaltung im Hoheitsgebiet der Republik Polen haben.
…
2. Steuerpflichtige, die ihren Sitz oder ihre Hauptverwaltung nicht im Hoheitsgebiet der Republik Polen haben, sind beschränkt auf die Einkünfte, die sie im Hoheitsgebiet der Republik Polen erzielen, steuerpflichtig.
…“
4 Art. 22 der Updop sieht vor:
„1. Die Körperschaftsteuer auf Erträge (Einnahmen) aus Dividenden und andere Einnahmen aus der Beteiligung an Gewinnen juristischer Personen mit Sitz oder Hauptverwaltung in der Republik Polen wird auf 19 % der erzielten Einnahmen festgesetzt. …
…“
5 In Art. 26 der Updop heißt es:
„1. Juristische Personen, Organisationseinheiten ohne Rechtspersönlichkeit sowie als Unternehmer tätige natürliche Personen, die Zahlungen vornehmen, die aus den in … Art. 22 Abs. 1 genannten Gründen geschuldet werden, sind als Steuerentrichtungspflichtige verpflichtet, … am Zahlungstag eine pauschale Körperschaftsteuer auf diese Zahlungen … vorgesehenen Abzüge einzubehalten.
…
3. Die Steuerentrichtungspflichtigen nach Abs. 1 leiten die Steuerbeträge bis zum siebten Tag des Monats nach dem Monat, in dem die Steuer gemäß den Abs. 1 und … einbehalten wurde, auf das Konto des Finanzamts weiter, dem der Finanzamtsleiter vorsteht, der für den Sitz des Steuerpflichtigen zuständig ist. Die Steuerentrichtungspflichtigen sind verpflichtet, die
1) in Art. 3 Abs. 1 genannten Steuerpflichtigen über den Betrag der einbehaltenen Steuer zu informieren,
2) die in Art. 3 Abs. 2 genannten Steuerpflichtigen und das Finanzamt über die erfolgten Zahlungen und die einbehaltene Steuer zu informieren
– und dabei das vorgegebene Musterformular zu verwenden.
…
3a. Die Steuerentrichtungspflichtigen übermitteln die in Abs. 3 Nr. 1 genannten Angaben bis zum Tag der Zahlung des Betrags der einbehaltenen Steuer und die Angaben nach Abs. 3 Nr. 2 bis zum Ende des dritten Monats des Jahres, das auf das Steuerjahr folgt, in dem die Zahlungen nach Abs. 1 erfolgt sind, auch wenn der Steuerentrichtungspflichtige im Steuerjahr die Angaben nach Abs. 3b erstellt und übermittelt hat.
…“
Abgabenordnung
6 Art. 8 der Ustawa – Ordynacja podatkowa (Gesetz über die Abgabenordnung) vom 29. August 1997 in konsolidierter Fassung (Dz. U. 2012, Position 749) mit späteren Änderungen (im Folgenden: Abgabenordnung) bestimmt:
„Steuerentrichtungspflichtiger ist eine natürliche Person, eine juristische Person oder eine Organisationseinheit ohne Rechtspersönlichkeit, die aufgrund steuerrechtlicher Vorschriften verpflichtet ist, die Steuer zu berechnen, vom Steuerpflichtigen einzubehalten und fristgemäß an die Steuerbehörde abzuführen.“
7 Art. 30 der Abgabenordnung sieht vor:
„§ 1. Der Steuerentrichtungspflichtige, der seine Verpflichtungen nach Art. 8 nicht erfüllt hat, haftet für die nicht einbehaltene oder einbehaltene, aber nicht abgeführte Steuer.
…
§ 3. Der Steuerentrichtungspflichtige … haftet für die in den §§ 1 und 2 genannten Verbindlichkeiten mit seinem gesamten Vermögen.
…“
8 In Art. 72 der Abgabenordnung heißt es:
„§ 1. Als Überzahlung gilt der Betrag,
…
2) der vom Steuerentrichtungspflichtigen zu Unrecht einbehalten wurde oder über den geschuldeten Steuerbetrag hinausgeht;
…“
9 Art. 73 der Abgabenordnung bestimmt:
„§ 1. Die Überzahlung entsteht … am Tag,
…
2) an dem der Steuerentrichtungspflichtige die nicht geschuldete oder über den geschuldeten Betrag hinausgehende Steuer einbehalten hat;
…“
10 Art. 74 der Abgabenordnung bestimmt:
„Falls der Überzahlung eine Entscheidung des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof, Polen)] oder des Gerichtshofs der Europäischen Union zugrunde liegt und für den Steuerpflichtigen …
…
2) bereits die Abrechnung durch den Steuerentrichtungspflichtigen erfolgt ist, bestimmt der Steuerpflichtige die Höhe der Überzahlung im Antrag auf deren Erstattung …
…“
11 Art. 75 § 1 der Abgabenordnung sieht vor:
„Stellt der Steuerpflichtige die Begründetheit der Einbehaltung der Steuer durch den Steuerentrichtungspflichtigen oder die Höhe der einbehaltenen Steuer in Frage, kann er die Feststellung einer Steuerüberzahlung beantragen.“
12 In Art. 77 der Abgabenordnung heißt es:
„§ 1. Die Erstattung der Überzahlung erfolgt innerhalb von
…
4) 30 Tagen ab der Stellung des in Art. 74 genannten Antrags;
…“
13 Art. 78 der Abgabenordnung bestimmt:
„§ 1. Überzahlungen sind … zu verzinsen, wobei der gleiche Prozentsatz wie für Verzugszinsen auf Steuerrückstände gilt.
…
§ 5. In dem in Art. 77 § 1 Nr. 4 vorgesehenen Fall werden Zinsen für den folgenden Zeitraum geschuldet:
1) vom Tag der Entstehung der Überzahlung bis zum Tag ihrer Erstattung, sofern der Steuerpflichtige innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag des Inkrafttretens der Entscheidung des Trybunal Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) oder der Veröffentlichung der Entscheidungsformel des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union im Amtsblatt der Europäischen Union oder ab dem Tag, an dem der normative Akt aufgehoben bzw. ganz oder teilweise geändert wurde, einen Antrag auf Erstattung der Überzahlung gestellt hat;
2) vom Tag der Entstehung der Überzahlung bis zum 30. Tag ab dem Inkrafttreten der Entscheidung des Trybunal Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) oder der Veröffentlichung der Entscheidungsformel des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union im Amtsblatt der Europäischen Union oder ab dem Tag, an dem der normative Akt aufgehoben bzw. ganz oder teilweise geändert wurde, sofern der Antrag auf Erstattung der Überzahlung nach Ablauf von 30 Tagen ab dem Tag des Inkrafttretens der Entscheidung des Trybunal Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) oder der Veröffentlichung der Entscheidungsformel des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union im Amtsblatt der Europäischen Union oder dem Tag, an dem der normative Akt aufgehoben bzw. ganz oder teilweise geändert wurde, gestellt wurde.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 Mit Schreiben vom 28. Dezember 2017 an die polnische Steuerverwaltung beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens die Feststellung und Erstattung überzahlter Körperschaftsteuer für die Jahre 2012, 2013 und 2014 zuzüglich Zinsen auf diese Überzahlungen für die Zeiträume vom Tag der Einbehaltung dieser Überzahlungen bis zum Tag ihrer Erstattung.
15 Er machte geltend, die Feststellung dieser Überzahlungen ergebe sich aus dem Urteil vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company (C‑190/12, im Folgenden: Urteil Emerging Markets, EU:C:2014:249).
16 Mit Entscheidungen vom 2. März 2018 gab die polnische Steuerverwaltung dem Antrag auf Feststellung und Erstattung dieser überzahlten Beträge statt. Diese Erstattung erfolgte am 28. März 2018.
17 Mit Entscheidung vom 24. April 2018 lehnte die Steuerverwaltung die Zahlung von Zinsen auf die überzahlten Beträge ab.
18 Mit Entscheidung vom 6. August 2018 gab der Direktor dem Antrag auf Zahlung von Zinsen auf die überzahlten Beträge hingegen auf der Grundlage von Art. 78 § 5 Nr. 2 der Abgabenordnung teilweise statt.
19 Was im Einzelnen die für die Jahre 2012 und 2013 entstandenen Überzahlungen betrifft, wurde dem Antrag auf Zinsen für den Zeitraum vom Tag der Einbehaltung der Steuer bis zum 30. Tag nach der Veröffentlichung des Urteils Emerging Markets im Amtsblatt der Europäischen Union, dem 10. Juli 2014, stattgegeben; im Übrigen wurde dieser Antrag abgelehnt. In Bezug auf die überzahlte Steuer für das Jahr 2014 wurde der Antrag auf Zinsen in vollem Umfang abgelehnt, da die Steuer nach dem genannten Datum einbehalten worden war.
20 Nachdem seine Klage gegen die Entscheidung vom 6. August 2018 vom Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław, Polen) abgewiesen worden war, legte der Kläger des Ausgangsverfahrens Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, ein.
21 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass bei aufgrund eines Urteils des Gerichtshofs festgestellten Überzahlungen, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden seien, drei Sachverhalte eintreten könnten.
22 Der Antrag auf Feststellung der Überzahlung werde innerhalb von 30 Tagen nach Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs im Amtsblatt der Europäischen Union gestellt: In diesem Fall fielen Zinsen ab dem Tag der Einbehaltung dieser Überzahlung bis zu deren Erstattung an.
23 Der Antrag werde nach Ablauf dieser Frist gestellt, wobei die Überzahlung vor deren Ablauf entstanden sei: In diesem Fall seien Zinsen vom Tag der Einbehaltung bis zum 30. Tag nach der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs im Amtsblatt der Europäischen Union zu zahlen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass eine solche Situation im vorliegenden Fall hinsichtlich der für die Jahre 2012 und 2013 überzahlten Beträge eingetreten sei.
24 Der Antrag werde nach Ablauf dieser Frist gestellt, wobei die Überzahlung ebenfalls nach deren Ablauf entstanden sei: In diesem Fall seien keine Zinsen zu zahlen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Situation im vorliegenden Fall hinsichtlich des für das Jahr 2014 überzahlten Betrags eingetreten sei.
25 Es weist darauf hin, dass die in Rn. 23 des vorliegenden Urteils beschriebene Begrenzung des Anfallens von Zinsen von den polnischen Gerichten zugelassen werde. In Bezug auf den in Rn. 24 des vorliegenden Urteils beschriebenen Sachverhalt gehe die polnische Rechtsprechung davon aus, dass dem Steuerpflichtigen, obwohl nach den Bestimmungen des nationalen Rechts eine Zinsgewährung nicht möglich sei, solche Zinsen gleichwohl auf der Grundlage von Grundsätzen gewährt werden müssten, die den in Art. 78 § 5 der Abgabenordnung vorgesehenen entsprächen, wobei die Frist für die Stellung des Antrags auf Feststellung des überzahlten Betrags jedoch ab dem Zeitpunkt der Einbehaltung dieser Überzahlung zu berechnen sei.
26 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob in einer Situation wie der, mit der es befasst ist, die Begrenzung des Anfallens der Zinsen auf eine Überzahlung sicherstellt, dass der Schaden, der durch die Einbehaltung der nicht geschuldeten Steuer entstanden ist, ersetzt wird, und die vollständige Umsetzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV gewährleistet.
27 Es weist auch darauf hin, dass Art. 78 § 5 der Abgabenordnung zwar identische Vorschriften für die Berechnung der Zinsen auf überzahlte Beträge vorsehe, unabhängig davon, ob es sich um Überzahlungen aufgrund eines Urteils des Gerichtshofs oder um Überzahlungen aufgrund eines Urteils des Trybunal Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) handele, dass sich jedoch die sich aus einem Urteil des einen oder des anderen dieser beiden Gerichte ergebenden Folgen in Bezug auf die überzahlten Beträge unterschieden. Durch ein Urteil des Trybunal Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), mit dem eine Bestimmung des nationalen Rechts für mit der polnischen Verfassung unvereinbar erklärt werde, verliere diese nämlich im Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Urteils ihre verbindliche Wirkung. Es sei daher nicht möglich, dass, wie in der Rechtssache, mit der das vorlegende Gericht befasst ist, nach der Veröffentlichung eines solchen Urteils des Trybunal Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) eine Überzahlung erfolge. In diesem Zusammenhang stelle sich die Frage, ob die Republik Polen, auch wenn formal die gleichen Grundsätze gälten, sichergestellt habe, dass die nationalen Rechtsbehelfe und die zum Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte vorgesehenen Rechtsbehelfe gleichbehandelt würden. Im letzteren Fall sei die Frist für die Stellung eines Antrags auf Feststellung einer Überzahlung relativ kurz, da nach Art. 26 Abs. 3 der Updop der Steuerentrichtungspflichtige verpflichtet sei, den Steuerpflichtigen über den Betrag der einbehaltenen Steuer spätestens am siebten Tag des Monats nach dem Monat, in dem die Steuer einbehalten worden sei, zu informieren.
28 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsätze der Effektivität, der loyalen Zusammenarbeit und der Äquivalenz oder ein anderer einschlägiger Grundsatz des Unionsrechts einer nationalen Bestimmung wie Art. 78 § 5 Nrn. 1 und 2 der Abgabenordnung entgegen, wonach einem Steuerpflichtigen für zu viel gezahlte Steuer, die der Steuerentrichtungspflichtige unionsrechtswidrig von ihm einbehalten hat, keine Zinsen für die Zeit nach Ablauf von 30 Tagen ab dem Tag der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union, mit dem die Unvereinbarkeit der Steuereinbehaltung mit dem Unionsrecht festgestellt wurde, im Amtsblatt der Europäischen Union zustehen, wenn der Steuerpflichtige den Antrag auf Feststellung der Überzahlung nach Ablauf dieser Frist gestellt hat, während die nationalen Rechtsvorschriften über die Einbehaltung der betreffenden Steuer trotz des Urteils Emerging Markets weiterhin gegen das Unionsrecht verstoßen?
Zur Vorlagefrage
29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die, wenn ein Antrag auf Erstattung einer überzahlten Steuer mehr als 30 Tage, nachdem ein Urteil des Gerichtshofs im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden ist, aus dem sich die Feststellung der Unvereinbarkeit der fraglichen Besteuerung mit dem Unionsrecht ergibt, gestellt wird, das Anfallen der dem betreffenden Steuerpflichtigen zustehenden Zinsen auf die Überzahlung auf den 30. Tag nach dieser Veröffentlichung begrenzt oder für den Fall, dass der Steuerpflichtige diese Überzahlung nach dem 30. Tag geleistet hat, sogar ganz ausschließt.
30 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben und für Rechtsbehelfe, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Verfahrensmodalitäten vorzusehen, die nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als für entsprechende innerstaatliche Rechtsbehelfe (Grundsatz der Äquivalenz) und die die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Grundsatz der Effektivität) (Urteil vom 14. Oktober 2020, Valoris, C‑677/19, EU:C:2020:825, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung hat der Verwaltungsunterworfene, den eine nationale Behörde zur Entrichtung einer Gebühr, eines Zolles, einer Steuer oder einer sonstigen Abgabe unter Verstoß gegen das Unionsrecht herangezogen hat, nach dem Unionsrecht einen Anspruch gegen den betreffenden Mitgliedstaat auf Erstattung nicht nur des zu Unrecht erhobenen Geldbetrags, sondern auch auf Zahlung von Zinsen, um die Nichtverfügbarkeit des Geldbetrags auszugleichen (Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- un d Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 51 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Der Anspruch auf Erstattung von Geldbeträgen, die ein Mitgliedstaat von einem Verwaltungsunterworfenen unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, und der Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf diese Beträge sind ein Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge (Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Der Umstand, dass der einer Gebühr, einem Zoll, einer Steuer oder einer sonstigen Abgabe entsprechende Geldbetrag von einer nationalen Behörde „unter Verstoß gegen das Unionsrecht“ erhoben wurde, begründet und rechtfertigt solche Ansprüche (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 60).
34 Ein solcher Verstoß kann jede Vorschrift des Unionsrechts zum Gegenstand haben, sei es eine Bestimmung des Primär- oder Sekundärrechts oder ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts (Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Zur Art dieses Verstoßes hat der Gerichtshof entschieden, dass die unionsrechtlichen Ansprüche des Verwaltungsunterworfenen auf Erstattung und auf Zahlung von Zinsen Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes sind, dessen Anwendung nicht auf bestimmte Unionsrechtsverstöße beschränkt und nicht bei bestimmten Unionsrechtsverstößen ausgeschlossen ist (Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 62).
36 Daraus folgt, dass diese Ansprüche nicht nur dann geltend gemacht werden können, wenn eine nationale Behörde von einem Verwaltungsunterworfenen auf der Grundlage eines Unionsrechtsakts, der sich als rechtswidrig erweist, einen Geldbetrag erhoben hat, sondern auch in anderen Fallkonstellationen, insbesondere dann, wenn die Zahlung vom Verwaltungsunterworfenen auf der Grundlage einer nationalen Regelung erhoben wurde, die gegen eine Bestimmung des Primär- oder Sekundärrechts der Union verstößt, oder auch dann, wenn eine nationale Behörde bei einer unionsrechtlich unzutreffenden Anwendung eines Unionsrechtsakts oder einer nationalen Regelung zur Durchführung oder zur Umsetzung eines Unionsrechtsakts vom Verwaltungsunterworfenen diese Zahlung erhoben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 63 und 64 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Demnach sind die unionsrechtlichen Grundsätze über den Anspruch Verwaltungsunterworfener auf Erstattung von Geldbeträgen, zu deren Zahlung sie von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht herangezogen wurden, sowie auf Zahlung von Zinsen auf diese Geldbeträge dahin auszulegen, dass sie allgemein und unbeschadet der Modalitäten der Ausübung dieser Rechte in einem konkreten Fall Anwendung finden, wenn sich aus einer Entscheidung des Gerichtshofs oder einer Entscheidung eines nationalen Gerichts ergibt, dass die Zahlung einer Steuer im Wege der Quellensteuer von einer nationalen Behörde entweder auf der Grundlage einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts oder einer fehlerhaften Anwendung dieses Rechts erhoben wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 69).
38 Der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils genannte Zinsanspruch bezweckt ausweislich der dort angeführten Rechtsprechung, die Nichtverfügbarkeit des dem Verwaltungsunterworfenen zu Unrecht vorenthaltenen Geldbetrags auszugleichen. Dieser Ausgleich kann je nach Lage des Falles nach dem in der einschlägigen Unionsregelung vorgesehenen Verfahren oder in Ermangelung einer solchen Unionsregelung nach dem nach nationalem Recht anwendbaren Verfahren erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU :C:2022:306, Rn. 70 und 71).
39 Mangels einer Unionsregelung über an die Mitgliedstaaten gerichtete Anträge auf Erstattung von Steuern und insbesondere über die Zahlung von Verzugszinsen auf zu Unrecht erhobene Steuern ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Modalitäten festzulegen, nach denen solche Zinsen im Fall der Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern zu zahlen sind. Wie aus Rn. 30 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dürfen diese Modalitäten zum einen nach dem Äquivalenzgrundsatz nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen innerstaatliches Recht betreffenden Rechtsbehelfen und zum anderen dürfen sie nach dem Effektivitätsgrundsatz die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
40 Insbesondere dürfen die Zinszahlungsmodalitäten nicht dazu führen, dass dem Verwaltungsunterworfenen eine angemessene Entschädigung für die erlittenen Einbußen vorenthalten wird; dies setzt u. a. voraus, dass die ihm gezahlten Zinsen den Gesamtzeitraum abdecken, der je nach Lage des Falles zwischen dem Tag, an dem er den fraglichen Geldbetrag entrichtet hat, und dem Tag liegt, an dem ihm dieser Betrag erstattet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Daraus folgt, dass das Unionsrecht einer rechtlichen Regelung entgegensteht, die dieser Anforderung nicht entspricht und die folglich die wirksame Geltendmachung der durch das Unionsrecht gewährleisteten Ansprüche auf Erstattung und Zahlung von Zinsen nicht ermöglicht (Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, EU:C:2022:306, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Im vorliegenden Fall sieht Art. 78 § 5 der Abgabenordnung grundsätzlich die Zahlung von Zinsen auf den überzahlten Betrag bis zu dem Zeitpunkt der Erstattung dieses Betrags vor und genügt damit auf den ersten Blick dem unionsrechtlichen Erfordernis der Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge.
43 Diese Bestimmung und ihre Auslegung durch die polnische Steuerverwaltung bewirken jedoch, dass in dem Fall, dass der Erstattungsantrag mehr als 30 Tage nach Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs, aus dem sich die Feststellung der Unvereinbarkeit der in Rede stehenden Besteuerung mit dem Unionsrecht ergibt, im Amtsblatt der Europäischen Union gestellt wird, das Anfallen der Zinsen zeitlich begrenzt wird oder Zinsen gegebenenfalls ganz ausgeschlossen werden.
44 Die zeitliche Begrenzung des Anfallens der Zinsen, die sich unmittelbar aus Art. 78 § 5 der Abgabenordnung ableitet, findet, wie das vorlegende Gericht im Wesentlichen ausführt (vgl. Rn. 23 des vorliegenden Urteils), Anwendung, wenn die Überzahlung vor Ablauf des 30. Tages entsteht, nachdem das Urteil des Gerichtshofs, aus dem sich die Feststellung ergibt, dass die fragliche Steuer gegen das Unionsrecht verstößt, im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden ist, und wenn der Antrag auf Erstattung nach diesem Zeitpunkt gestellt wird. Der von der polnischen Regierung zur Rechtfertigung dieser Begrenzung angeführte Grund ist das Bestreben, zu vermeiden, dass die Steuerpflichtigen ihre Anträge auf Erstattung der Überzahlung verzögern, um in den Genuss höherer Zinsbeträge zu gelangen.
45 Was den Ausschluss jeglicher Zinsen, der sich aus einer Auslegung von Art. 78 § 5 der Abgabenordnung durch die polnische Steuerverwaltung ergibt, angeht, so tritt dieser, wie das vorlegende Gericht im Wesentlichen ausführt (vgl. Rn. 24 des vorliegenden Urteils), ein, wenn die Überzahlung nach dem 30. Tag nach der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs, aus dem sich die Feststellung ergibt, dass die fragliche Steuer gegen das Unionsrecht verstößt, im Amtsblatt der Europäischen Union entsteht. Der vom Direktor zur Rechtfertigung dieses Ausschlusses angeführte Grund besteht darin, dass der Steuerpflichtige der Erhebung der Überzahlung unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofs widersprechen könne.
46 In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser Mechanismus der Begrenzung und gegebenenfalls des Ausschlusses der Zinsen gegen das unionsrechtliche Erfordernis verstößt, das in der in den Rn. 31 bis 41 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung dargestellt worden ist und wonach der Steuerpflichtige, von dem unter Verstoß gegen das Unionsrecht eine Überzahlung einbehalten wurde, gegen den betreffenden Mitgliedstaat – neben dem Anspruch auf Erstattung dieser Überzahlung durch diesen Mitgliedstaat – auch einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf diese Überzahlung hat, die bis zum Zeitpunkt der Erstattung der Überzahlung berechnet werden.
47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Anträge auf Erstattung von Überzahlungen und auf Zinszahlungen den nationalen Verfahrensvorschriften unterliegen, die dem Antragsteller vorschreiben können, sich mit vernünftiger Sorgfalt um die Verhinderung oder Begrenzung des Schadens zu bemühen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a., C‑397/98 und C‑410/98, EU:C:2001:134, Rn. 102). Gleichwohl müssen diese Modalitäten, wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachten.
48 Zunächst ist zu prüfen, ob die nationale Regelung den Effektivitätsgrundsatz beachtet.
49 Was erstens die Prüfung des Mechanismus der zeitlichen Begrenzung des Anfallens von Verzugszinsen im Hinblick auf diesen Grundsatz betrifft, ist festzustellen, dass, selbst wenn die Stellung eines Erstattungsantrags innerhalb von 30 Tagen nach der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs, aus dem sich die Feststellung ergibt, dass die fragliche Besteuerung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, im Amtsblatt der Europäischen Union als eine von dem an dem Rechtsstreit, der dieses Urteil des Gerichtshofs veranlasst hat, beteiligten Steuerpflichtigen vernünftigerweise an den Tag zu legende Sorgfalt angesehen werden kann, eine solche Antragstellung vernünftigerweise nicht von jedem anderen Steuerpflichtigen verlangt werden kann, der, wenn er nicht an diesem Rechtsstreit beteiligt ist, nicht innerhalb einer derart kurzen Frist über die Verkündung des Urteils des Gerichtshofs informiert sein wird. Dieser Steuerpflichtige kann, ohne fahrlässig gehandelt zu haben, erst eine bestimmte Zeit nach Ablauf der Frist von 30 Tagen nach dieser Veröffentlichung Kenntnis davon erlangen, dass die ihm auferlegte Besteuerung gegen das Unionsrecht verstieß.
50 Darüber hinaus kann selbst von einem Steuerpflichtigen, der Partei des Rechtsstreits ist, in dem dieses Urteil ergangen ist und dem dieses Urteil grundsätzlich am Tag seiner Verkündung bekannt ist, nicht immer vernünftigerweise erwartet werden, dass er innerhalb von 30 Tagen nach der Veröffentlichung dieses Urteils im Amtsblatt der Europäischen Union einen Erstattungsantrag stellt.
51 Hängt nämlich die Feststellung der Unvereinbarkeit der fraglichen Besteuerung mit dem Unionsrecht vom Ergebnis von Nachprüfungen ab, zu denen der Gerichtshof in seinem Urteil das vorlegende Gericht auffordert, kann ein Zeitraum verstreichen, der weit über den Ablauf dieser Frist von 30 Tagen hinausgeht, bevor sich auf der Grundlage der im Urteil des Gerichtshofs enthaltenen Erwägungen herausstellt, dass diese Besteuerung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Erst recht ist dies der Fall, wenn dieses Gericht bei der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs die beantragten Nachprüfungen nicht selbst vornimmt, sondern an die Steuerverwaltung verweist, damit diese sie vornimmt.
52 Was zweitens die Prüfung des Mechanismus des Ausschlusses jeglicher Zinsen auf die Überzahlung im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz betrifft, der angewandt wird, wenn die Überzahlung nach Ablauf der Frist von 30 Tagen nach der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs im Amtsblatt der Europäischen Union erfolgt, ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass sich eine von einem Mitgliedstaat praktizierte Besteuerung im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als unionsrechtswidrig erweist, nicht bedeutet, dass ein Steuerpflichtiger konkret die Zahlung der fraglichen Steuer vermeiden kann. Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass eine Steuer nach der Verkündung und der Veröffentlichung eines solchen Urteils im Amtsblatt der Europäischen Union weiterhin unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben wird.
53 Auch dies kann erst recht der Fall sein, wenn die Feststellung der Unvereinbarkeit der in Rede stehenden Besteuerung mit dem Unionsrecht vom Ergebnis von Beurteilungen und Nachprüfungen abhängt, zu deren Vornahme der Gerichtshof das vorlegende Gericht in seinem Urteil auffordert und um deren Vornahme das vorlegende Gericht seinerseits die Steuerverwaltung ersucht.
54 Diese Schwierigkeit des Steuerpflichtigen, die Zahlung der Steuer zu vermeiden, ist noch größer, wenn die Zahlung – wie im vorliegenden Fall – einem persönlich für die Einbehaltung der Steuer und ihre Entrichtung an die Staatskasse verantwortlichen „Steuerentrichtungspflichtigen“ obliegt und dieser den Steuerpflichtigen erst nachträglich mit zeitlicher Verzögerung von der vorgenommenen Einbehaltung in Kenntnis setzt. Der etwaige Umstand, dass dieser Steuerentrichtungspflichtige selbst hätte versuchen können, sich der Zahlung zu widersetzen, hat keinen Einfluss auf diese Feststellung.
55 Was die in der vorstehenden Randnummer enthaltene Erwägung zur zeitlichen Verzögerung bei der Unterrichtung des Steuerpflichtigen durch den Steuerentrichtungspflichtigen betrifft, ist auf Folgendes hinzuweisen: Selbst wenn sich die im vorliegenden Fall in Betracht kommende Verzögerung auf höchstens einen Monat und sieben Tage nach der Erhebung erstreckt – und nicht, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in seinen schriftlichen Erklärungen unter Berufung auf Art. 26 Abs. 3a der Updop, soweit dieser sich auf Abs. 3 Nr. 2 dieses Artikels bezieht, geltend macht, über einen Zeitraum bis zum Ende des dritten Monats des auf das Jahr der Zahlung folgenden Jahres –, was gegebenenfalls vom vorlegenden Gericht nachzuprüfen sein wird, ist klar ersichtlich, dass diese Verzögerung von einem Monat und sieben Tagen dazu führen kann, dass der Steuerpflichtige erst nach Ablauf der in Art. 78 § 5 der Abgabenordnung vorgesehenen Frist von der Einbehaltung in Kenntnis gesetzt wird.
56 Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die vorstehenden Erwägungen, aus denen sich ergibt, dass der Steuerpflichtige möglicherweise nicht kurzfristig über die vom Steuerentrichtungspflichtigen vorgenommene Einbehaltung unterrichtet wird, dazu führen, dass die vom vorlegenden Gericht angeführte Rechtsprechungslösung, wonach die bestehende Regel dahin abgeändert wird, dass der Ablauf der Frist für die Stellung eines Antrags auf Feststellung einer Überzahlung auf den 30. Tag nach der Einbehaltung verschoben wird, nicht als zur Wahrung des Effektivitätsgrundsatzes geeignet angesehen werden kann.
57 Nach alledem ist der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die, wenn ein Antrag auf Erstattung einer überzahlten Steuer mehr als 30 Tage nach der Veröffentlichung eines Urteils des Gerichtshofs, aus dem sich die Feststellung der Unvereinbarkeit der in Rede stehenden Besteuerung mit dem Unionsrecht ergibt, im Amtsblatt der Europäischen Union gestellt wird, das Anfallen von dem betreffenden Steuerpflichtigen zustehenden Zinsen auf den überzahlten Betrag auf den 30. Tag nach dieser Veröffentlichung begrenzt und für den Fall, dass der Steuerpflichtige die Überzahlung nach diesem 30. Tag geleistet hat, Zinsen sogar ganz ausschließt.
58 In Anbetracht dieser Erwägungen braucht die Vorlagefrage, soweit sie sich auf den Äquivalenzgrundsatz bezieht, nicht beantwortet zu werden.
Kosten
59 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die, wenn ein Antrag auf Erstattung einer überzahlten Steuer mehr als 30 Tage nach der Veröffentlichung eines Urteils des Gerichtshofs, aus dem sich die Feststellung der Unvereinbarkeit der in Rede stehenden Besteuerung mit dem Unionsrecht ergibt, im Amtsblatt der Europäischen Union gestellt wird, das Anfallen von dem betreffenden Steuerpflichtigen zustehenden Zinsen auf den überzahlten Betrag auf den 30. Tag nach dieser Veröffentlichung begrenzt und für den Fall, dass der Steuerpflichtige die Überzahlung nach diesem 30. Tag geleistet hat, Zinsen sogar ganz ausschließt.
Unterschriften