Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 30. Mai 2024(1 )
Rechtssache C ‑297/23 P
Harley-Davidson Europe Ltd.
und
Neovia Logistics Services International
gegen
Europäische Kommission
„Rechtsmittel – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex – Zwischenstaatliche Handelskonflikte – Bestimmung des nicht präferenziellen Ursprungs bestimmter Krafträder – Begriff der wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung – Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 – Vermeidung oder Umgehung eines Zolls – Manipulation des Ursprungs – Delegierte Regelungsbefugnis“
I. Einleitung
1. Spätestens seit dem Film „Easy Rider“ steht Harley-Davidson für das typische amerikanische Motorrad. Doch ist eine Harley-Davidson aus Thailand noch ein amerikanisches Motorrad? Es mag überraschen, aber das ist im Ergebnis die Auffassung der Kommission, die von Harley-Davidson im vorliegenden Verfahren vehement bestritten wird. Hintergrund ist ein Handelsstreit der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Europäischen Union, in dem beide Seiten prohibitive zusätzliche Zölle auf bestimmte Waren der anderen Seite verhängt hatten, die Union insbesondere auf die genannten Motorräder. Harley-Davidson hat daraufhin ihre Produktion für den europäischen Markt von den Vereinigten Staaten nach Thailand verlegt. Doch mit dem streitigen Durchführungsbeschluss(2 ) lehnte die Kommission es ab, dieses Land als Ursprungsort anzuerkennen.
2. Mit dem angefochtenen Urteil(3 ) hat das Gericht die von Harley-Davidson gegen den streitigen Durchführungsbeschluss gerichtete Klage zurückgewiesen. Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren ist insbesondere zu klären, ob die Kommission die Anerkennung einer Verlegung der Produktion allein deshalb ablehnen darf, weil diese Verlegung das Ziel verfolgt, Zöllen zu entgehen, die im Zusammenhang mit einem zwischenstaatlichen Handelsstreit verhängt werden.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Zollkodex
3. Art. 33 des Zollkodex(4 ) erlaubt den Zollbehörden, Entscheidungen über verbindliche Ursprungsauskünfte zu treffen. Gemäß Art. 34 Abs. 11 kann die Kommission die Mitgliedstaaten „(z)ur Gewährleistung einer korrekten und einheitlichen zolltariflichen Einreihung oder einer Bestimmung des Ursprungs von Waren“ auffordern, solche Entscheidungen zu widerrufen.
4. Art. 59 des Zollkodex legt fest, für welche Bestimmungen die Regelungen über den Ursprung von Waren gelten:
„Die Art. 60 und 61 des Zollkodex enthalten Vorschriften zur Bestimmung des nichtpräferenziellen Ursprungs von Waren für die Anwendung
a) des Gemeinsamen Zolltarifs mit Ausnahme der Maßnahmen nach Art. 56 Abs. 2 Buchst. d und e,
b) anderer als zolltariflicher Maßnahmen, die durch Unionsvorschriften zu bestimmten Bereichen des Warenverkehrs festgelegt sind, und
c) sonstiger Unionsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Warenursprung.“
5. In Art. 56 Abs. 2 Buchst. d und e des Zollkodex werden Zollpräferenzmaßnahmen genannt.
6. Art. 60 des Zollkodex regelt den Ursprung von Waren für die Anwendung des Zolltarifs:
„(1) Waren, die in einem einzigen Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt worden sind, gelten als Ursprungswaren dieses Landes oder Gebiets.
(2) Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist, gelten als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets, in dem sie der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.“
7. Art. 62 des Zollkodex ermächtigt die Kommission, „delegierte Rechtsakte … zu erlassen, in denen die Regeln festgelegt werden, nach denen Waren, deren Bestimmung des nichtpräferenziellen Ursprungs für die Anwendung der in Art. 59 genannten Unionsmaßnahmen erforderlich ist, gemäß Art. 60 als in einem einzigen Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt oder als in einem Land oder Gebiet der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, unterzogen angesehen werden.“
B. Delegierte Verordnung 2015/2446 zur Ergänzung des Zollkodex
8. Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446(5 ) konkretisiert, wann eine Be- oder Verarbeitung nicht im Sinne von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex als wirtschaftlich gerechtfertigt gilt:
„Eine in einem anderen Land oder Gebiet vorgenommene Be- oder Verarbeitung gilt als wirtschaftlich nicht gerechtfertigt, wenn auf der Grundlage der verfügbaren Tatsachen feststeht, dass der Zweck dieser Be- oder Verarbeitung darin bestand, die Anwendung der Maßnahmen gemäß Art. 59 des Zollkodex zu umgehen.
Für Waren des Anhangs 22-01 gelten die Restregeln für solche Waren zu dem Kapitel.
Bei Waren, die nicht unter Anhang 22-01 fallen und deren letzte Be- oder Verarbeitung als wirtschaftlich nicht gerechtfertigt gilt, wird davon ausgegangen, dass die Waren in demjenigen Land oder Gebiet ihrer letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung, die zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, unterzogen wurden, in dem der – gemessen am Wert der Vormaterialien – größere Teil dieser Vormaterialien seinen Ursprung hat.“
9. Der 21. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 erläutert Art. 33 wie folgt:
„Um zu verhindern, dass der Ursprung von Einfuhrwaren zur Umgehung der Anwendung der handelspolitischen Maßnahmen manipuliert wird, sollte die letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung in bestimmten Fällen nicht als wirtschaftlich gerechtfertigt gelten.“
10. Die streitgegenständlichen Krafträder werden nicht in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 genannt.
C. Die Regelungen über zwischenstaatliche Handelskonflikte
1. Verordnung Nr. 654/2014
11. Grundlage der streitgegenständlichen Zölle ist die Verordnung (EU) Nr. 654/2014 über die Ausübung der Rechte der Union in Bezug auf die Anwendung und die Durchsetzung internationaler Handelsregeln.(6 ) Die Erwägungsgründe 2 und 3 erläutern die Zielsetzung derartiger Maßnahmen:
„(2) Zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Union ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Union über geeignete Instrumente zur wirksamen Ausübung ihrer Rechte aus internationalen Handelsübereinkünften verfügt. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen Drittländer Handelsbeschränkungen erlassen, mit denen die Vorteile, die sich für Wirtschaftsbeteiligte der Union aus internationalen Handelsübereinkünften ergeben, geschmälert werden. Die Union sollte in der Lage sein, im Rahmen der Verfahren und Fristen, die in den von ihr geschlossenen internationalen Handelsübereinkünften vorgesehen sind, rasch und flexibel zu reagieren. Daher sind Regeln erforderlich, mit denen der Rahmen für die Ausübung der Rechte der Union in bestimmten Situationen festgelegt wird.
(3) Die Streitbeilegungsmechanismen, die durch das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) und durch andere internationale Handelsübereinkünfte, einschließlich regionaler und bilateraler Übereinkünfte, geschaffen wurden, sollen dazu dienen, bei Streitigkeiten zwischen der Union und der oder den anderen Vertragspartei(en) der jeweiligen Übereinkünfte eine positive Lösung zu finden. Im Einklang mit diesen Streitbeilegungsmechanismen sollte die Union allerdings in der Lage sein, Zugeständnisse oder sonstige Verpflichtungen auszusetzen, wenn sich andere Ansätze für eine positive Lösung einer Streitigkeit als nicht erfolgreich erwiesen haben. In solchen Fällen sollte ein Tätigwerden der Union das betreffende Drittland dazu veranlassen, die einschlägigen internationalen Handelsregeln einzuhalten, damit eine Situation wiederhergestellt wird, die zu gegenseitigem Vorteil gereicht.“
12. Der achte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 654/2014 regelt die Gestaltung handelspolitischer Maßnahmen:
„Die gemäß dieser Verordnung erlassenen handelspolitischen Maßnahmen sollten auf der Grundlage objektiver Kriterien ausgewählt und gestaltet werden; dazu gehören unter anderem die Wirksamkeit dieser Maßnahmen, Drittländer zur Einhaltung von internationalen Handelsregeln zu veranlassen, das Potenzial dieser Maßnahmen zur Schaffung von Abhilfe für Wirtschaftsbeteiligte in der Union, die von den Drittlandsmaßnahmen betroffen sind, und das Ziel, die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Union, auch hinsichtlich wesentlicher Rohstoffe, zu minimieren.“
13. Der Gegenstand der Verordnung Nr. 654/2014 wird in Art. 1 definiert:
„In dieser Verordnung werden Regeln und Verfahren festgelegt, mit denen die wirksame und fristgerechte Ausübung der Rechte der Union zur Aussetzung oder Rücknahme von Zugeständnissen oder sonstigen Verpflichtungen aus internationalen Handelsübereinkünften gewährleistet werden, mit der Absicht,
a) im Bemühen um eine zufriedenstellende Lösung, mit der die Vorteile für die Wirtschaftsbeteiligten der Union wiederhergestellt werden, auf Verstöße von Drittländern gegen internationale Handelsregeln zu reagieren, die die Interessen der Union berühren;
b) bei einer Änderung der den Waren aus der Union gewährten Behandlung in einer Weise, die die Interessen der Union berührt, die Zugeständnisse oder sonstigen Verpflichtungen in den Handelsbeziehungen zu Drittländern wieder ins Gleichgewicht zu bringen.“
2. Durchführungsverordnung 2018/724
14. Mit der Durchführungsverordnung 2018/724(7 ) hat die Kommission die streitgegenständlichen Zölle angekündigt und insbesondere in den Erwägungsgründen 1 bis 3 sowie 6 begründet:
„(1) Am 8. März 2018 haben die Vereinigten Staaten von Amerika (im Folgenden ‚Vereinigte Staaten‘) unbefristete Schutzmaßnahmen in Form der Erhöhung von Zöllen auf die Einfuhr bestimmter Stahl- und Aluminiumerzeugnisse mit Wirkung vom 23. März 2018 eingeführt. Am 22. März wurde der Geltungsbeginn der Zollerhöhungen in Bezug auf die Europäische Union bis zum 1. Mai 2018 ausgesetzt.
(2) Wenngleich die Vereinigten Staaten diese Maßnahmen als Sicherheitsmaßnahmen einstufen, stellen sie ihrem Wesen nach Schutzmaßnahmen dar. Es handelt sich um Abhilfemaßnahmen, die das Gleichgewicht der Zugeständnisse und Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation – im Folgenden ‚WTO‘) stören und die Einfuhren einschränken, um den heimischen Wirtschaftszweig vor ausländischer Konkurrenz zu schützen und so seine wirtschaftliche Prosperität zu sichern. Die im Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen 1994 (General Agreement on Tariffs and Trade 1994 – im Folgenden ‚GATT 1994‘) vorgesehenen Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit gelten nicht für solche Schutzmaßnahmen, rechtfertigen diese nicht und wirken sich nicht auf das Recht zur Wiederherstellung des Gleichgewichts nach den einschlägigen Bestimmungen des WTO-Übereinkommens aus.
(3) Im WTO-Übereinkommen über Schutzmaßnahmen ist für jedes ausführende Mitglied, das von einer Schutzmaßnahme betroffen ist, das Recht verankert, die Anwendung im Wesentlichen gleichwertiger Zugeständnisse oder sonstiger Verpflichtungen auf den Handel des die Schutzmaßnahme anwendenden WTO-Mitglieds auszusetzen, sofern im Rahmen von Konsultationen keine zufriedenstellende Einigung zustande kommt und der WTO-Rat für Warenverkehr dagegen keine Einwände hat.
…
(6) Die Kommission übt auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 654/2014 das Recht aus, die Anwendung im Wesentlichen gleichwertiger Zugeständnisse oder sonstiger Verpflichtungen auszusetzen, um die Zugeständnisse oder sonstigen Verpflichtungen in den Handelsbeziehungen zu Drittländern wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Bei den geeigneten Maßnahmen handelt es sich um handelspolitische Maßnahmen, die unter anderem in der Aussetzung von Zollzugeständnissen und der Einführung neuer oder höherer Zölle bestehen können.“
D. Die anzuwendenden Zollsätze
15. Die streitgegenständlichen Krafträder unterfallen der Position 8711 50 00 der Kombinierten Nomenklatur,(8 ) die „Krafträder (einschließlich Mopeds) und Fahrräder mit Hilfsmotor, auch mit Beiwagen sowie Beiwagen mit Hubkolbenverbrennungsmotor mit einem Hubraum von mehr als 800 cm3 “ einschließt. Für solche Waren sieht der Gemeinsame Zolltarif einen Zoll von 6 % vor.
16. Die Kommission hat die streitgegenständlichen Zusatzzölle mit der Durchführungsverordnung (EU) 2018/886(9 ) festgesetzt:
„Art. 1
Die Union wendet zusätzliche Zölle auf die Einfuhren der in den Anhängen I und II dieser Verordnung aufgeführten Waren in die Union an, die ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika (im Folgenden ‚Vereinigte Staaten‘) haben.
Art. 2
Die Anwendung zusätzlicher Zölle auf diese Waren gestaltet sich wie folgt:
a) In der ersten Stufe werden auf die Einfuhren der in Anhang I aufgeführten Waren, wie in Anhang I festgelegt, ab dem Inkrafttreten dieser Verordnung zusätzliche Wertzölle in Höhe von 10 % beziehungsweise 25 % angewandt.
b) In der zweiten Stufe werden auf die Einfuhren der in Anhang II aufgeführten Waren, wie in Anhang II festgelegt, weitere zusätzliche Wertzölle in Höhe von 10 %, 25 %, 35 % beziehungsweise 50 % angewandt, und zwar
– ab dem 1. Juni 2021 …“
17. Nach Anhang I der Durchführungsverordnung (EU) 2018/886 werden Waren des Codes 8711 50 00 in der ersten Stufe einem zusätzlichen Zoll von 25 % und nach Anhang II in der zweiten Stufe einem weiteren zusätzlichen Zoll von 25 % unterworfen. Danach war auf die Krafträder der Rechtsmittelführerin Harley-Davidson, die aus den USA nach Europa importiert wurden, statt dem normalen Zollsatz von 6 % ab 22. Juni 2018 ein Gesamtzollsatz in Höhe von 31 % anzuwenden und ab 1. Juni 2021 ein Gesamtzollsatz in Höhe von 56 %.
18. Die Union hat die Zölle der zweiten Stufe allerdings noch nicht angewandt, sondern ausgesetzt, bevor sie anwendbar wurden.(10 ) Seit dem 1. Januar 2022 hat sie auch die Zölle der ersten Stufen ausgesetzt.(11 )
III. Vorgeschichte des Rechtsmittels
19. Die Klägerin im ersten Rechtszug und Rechtsmittelführerin, Harley-Davidson Europe Ltd, ist Teil der Harley-Davidson-Gruppe. Diese ist ein bekanntes US-amerikanisches Unternehmen, welches auf die Herstellung von Krafträdern spezialisiert ist. Die weitere Klägerin des ersten Rechtszugs und ebenfalls Rechtsmittelführerin, Neovia Logistics Services International, ist der Zollagent von Harley-Davidson.
A. Sachverhalt
20. Der in den Rn. 20 bis 38 des angefochtenen Urteils dargestellte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
21. Als Reaktion auf die Einführung zusätzlicher Stahl- und Aluminiumzölle durch die USA führte die Kommission mit der Durchführungsverordnung (EU) 2018/886 vom 20. Juni 2018 ebenfalls Zusatzzölle von zunächst 25 % und später 50 % auf „typische“ Waren aus den USA ein, die auch für die von Harley-Davidson hergestellten Krafträder gelten.
22. Am 25. Juni 2018 unterrichtete Harley-Davidson ihre Anteilseigner über die Auswirkungen dieser Zusatzzölle auf ihre wirtschaftliche Betätigung mittels eines sogenannten „Form 8-K Current Report“ (im Folgenden: Formular 8-K), das sie der US-Börsenaufsicht SEC vorlegte. Darin kündigte Harley-Davidson an, dass sie, „[u]m die erheblichen Kosten dieser Zollbelastung langfristig zu bewältigen, … einen Plan umsetzen [wird], der darauf abzielt, die Produktion von für die [Union] bestimmten Krafträdern von den Vereinigten Staaten auf ihre internationalen Anlagen zu verlagern, um die Zollbelastung zu umgehen“.(12 ) Konkret verlagerte Harley-Davidson daraufhin die Produktion ihrer für den Markt der Union bestimmten Krafträder in ein Werk nach Thailand.
23. Am 25. Januar 2019 stellten die Rechtsmittelführerinnen bei den belgischen Behörden zwei förmliche Anträge auf verbindliche Ursprungsauskünfte für Krafträder aus zwei der in Thailand gefertigten Kraftrad-Familien. Obwohl die Kommission Zweifel daran äußerte, dass der Ursprung in Thailand anerkannt werden könne, erließen die belgischen Behörden am 24. Juni 2019 zwei Entscheidungen über verbindliche Ursprungsauskünfte, in denen sie Thailand als Ursprungsland der Krafträder aus den zwei Kraftrad-Familien von Harley-Davidson feststellten.
24. Die Kommission erlangte am 21. August 2019 davon Kenntnis und erließ am 31. März 2021 den streitigen Durchführungsbeschluss (EU) 2021/563 über bestimmte Entscheidungen über verbindliche Ursprungsauskünfte.(13 ) Mit diesem verpflichtete sie die belgischen Behörden zum Widerruf der Entscheidungen. Die belgischen Behörden leisteten diesem Durchführungsbeschluss Folge und widerriefen mit Schreiben vom 16. April 2021 die beiden Entscheidungen.
B. Das angefochtene Urteil
25. Mit Klageschrift vom 11. Juni 2021 beantragten die Rechtsmittelführerinnen die Nichtigerklärung des streitigen Durchführungsbeschlusses.
26. Dabei stützten sie sich auf fünf Klagegründe. Erstens habe die Kommission wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt, nämlich durch eine unzureichende Begründung des streitigen Durchführungsbeschlusses und durch die Verletzung des Verfahrens des beratenden Ausschusses der Kommission. Zweitens beruhe der streitige Durchführungsbeschluss auf einem offensichtlichen Fehler der Kommission bei der Tatsachenbeurteilung. Drittens habe die Kommission ihre Widerrufsbefugnis nach Art. 34 Abs. 11 des Zollkodex missbraucht, da sie Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446 fehlerhaft ausgelegt habe. Viertens sei die Delegierte Verordnung 2015/2446 mit den Voraussetzungen einer Delegation nach Art. 290 AEUV unvereinbar. Fünftens verletze der streitige Durchführungsbeschluss allgemeine Grundsätze des Unionsrechts und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
27. Mit dem angefochtenen Urteil vom 1. März 2023 hat das Gericht die Klage abgewiesen und den Rechtsmittelführerinnen die Kosten des Rechtsstreits auferlegt.
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien
28. Die Rechtsmittelführerinnen legten am 11. Mai 2023 das vorliegende Rechtsmittel ein und beantragen,
– das angefochtene Urteil aufzuheben;
– den streitigen Durchführungsbeschluss für nichtig zu erklären; und
– der Kommission die Kosten der Rechtsmittelführerinnen vor diesem Gericht und vor dem Gericht aufzuerlegen.
29. Die Europäische Kommission beantragt,
– das Rechtsmittel zurückzuweisen und
– den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.
30. Die Beteiligten haben sich schriftlich geäußert. Auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung verzichtet, da er der Auffassung ist, ausreichend unterrichtet zu sein.
V. Rechtliche Würdigung
31. Der vorliegende Rechtsstreit beruht darauf, dass die Kommission es ablehnt, Thailand als den Ursprung von Krafträdern anzuerkennen, die Harley-Davidson dort einer letzten Be- oder Verarbeitung unterzogen hat.
32. Nach Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex gelten Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist, als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets, in dem sie der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.
33. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist klarzustellen, dass die Beteiligten nicht darüber streiten, ob Harley-Davidson in Thailand eine echte Be- oder Verarbeitung vornimmt, ob sie also so wesentlich im Sinne von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex ist, dass sie grundsätzlich die Annahme des Ursprungs in Thailand rechtfertigen kann. Die belgischen Behörden geben zwar an, dies geprüft zu haben, bevor sie diesen Ursprung feststellten.(14 ) Weder die Kommission noch das Gericht haben sich jedoch zu dieser Frage geäußert.
34. Das Gericht hat vielmehr die Auffassung der Kommission bestätigt, die in Thailand vorgenommene Be- oder Verarbeitung sei nach Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 wirtschaftlich nicht gerechtfertigt.
35. Gemäß Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 gilt eine in einem anderen Land oder Gebiet vorgenommene Be- oder Verarbeitung als wirtschaftlich nicht gerechtfertigt, wenn auf der Grundlage der verfügbaren Tatsachen feststeht, dass der Zweck dieser Be- oder Verarbeitung darin bestand, die Anwendung der Maßnahmen gemäß Art. 59 des Zollkodex(15 ) zu umgehen.
36. Wenn man Harley-Davidson an seinen eigenen Aussagen festhält, ist die Auffassung der Kommission auf den ersten Blick gerechtfertigt, denn das Unternehmen hat nach Rn. 26 des angefochtenen Urteils in dem Formular 8-K ausdrücklich angekündigt, die Produktionsverlegung nach Thailand habe den Zweck, „die Zollbelastung zu umgehen“.
37. Hervorzuheben ist allerdings, dass nur die deutsche Fassung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446, des streitigen Durchführungsbeschlusses sowie des angefochtenen Urteils davon spricht, einen Zoll „zu umgehen“. Dieser Begriff würde etwa im Englischen als „to circumvent“ oder im Französischen als „contourner“ übersetzt.
38. Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 im Sinne der deutschen Fassung als ein Umgehungsverbot zu verstehen,(16 ) wäre nicht zu beanstanden. Die Umgehung einer Regelung ist jedoch nur anzunehmen, wenn sie nach ihrer Zielsetzung anzuwenden ist, die Anwendung aber dennoch verhindert wird.(17 ) Nachfolgend werde ich zeigen, dass eine Anerkennung der Produktionsverlegung nach Thailand den Zweck der vorliegenden Zölle nicht verletzt.
39. In allen anderen Sprachfassungen der drei Texte verwenden aber zunächst die Kommission und dann das Gericht jedoch Begriffe wie „to avoid“ im Englischen(18 ) oder „éviter“ im Französischen,(19 ) die im Deutschen eher als „zu vermeiden“ übersetzt werden müssten. Und auch Harley-Davidson hat in dem Formular 8-K die Formulierung „to avoid the tariff burden“ („um die Zollbelastung zu vermeiden“) verwendet.
40. Das Gericht und die Kommission sehen folglich in Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 ein Vermeidungsverbot . Dieses hätte gegenüber einem Umgehungsverbot einen deutlich erweiterten Anwendungsbereich: Es würde ausnahmslos alle Maßnahmen erfassen, die darauf abzielen, einem Zoll zu entgehen, ohne dass es auf die Zielsetzung des Zolls ankommt.
41. Die Annahme eines solchen Verbots überrascht, insbesondere in seiner Fassung als Konkretisierung der wirtschaftlichen Rechtfertigung, denn die Vermeidung von Zollbelastungen in Höhe von 25 % oder sogar 50 % ist prima facie ein legitimes wirtschaftliches Ziel.
42. Nachfolgend werde ich darlegen, dass sich die Rechtsmittelführerinnen daher zu Recht dagegen wenden, Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 als Vermeidungsverbot zu verstehen. Diese Bestimmung muss entweder anders ausgelegt werden (erster Rechtsmittelgrund) oder die Kommission hätte sie nicht erlassen dürfen (zweiter Rechtsmittelgrund). Weniger Erfolg verspricht dagegen der dritte Rechtsmittelgrund, mit dem sie angebliche Verletzungen des rechtlichen Gehörs sowie der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geltend machen.
A. Erster Rechtsmittelgrund – Auslegung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446
43. Die Rechtsmittelführerinnen beanstanden mit dem ersten Rechtsmittelgrund zwar viele Feststellungen des Gerichts(20 ) zur Auslegung und Anwendung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446. Doch diese beruhen alle auf der in Rn. 62, aber auch Rn. 57 des angefochtenen Urteils niedergelegten zentralen Überlegung, dass nach dieser Bestimmung bereits das Ziel, einen Zoll zu vermeiden , ausreicht, um die wirtschaftliche Rechtfertigung der betreffenden Maßnahme auszuschließen. Das Gericht sieht in dieser Bestimmung folglich ein Vermeidungsverbot.
44. Dass in der deutschen Fassung des angefochtenen Urteils der Begriff „umgehen“ verwendet wird, ändert daran nichts, denn die verbindliche Fassung des Urteils in der englischen Verfahrenssprache verwendet den Begriff „to avoid“ und in der französischen Fassung, also in der Arbeitssprache des Gerichts, wird der Begriff „éviter“ verwendet. Im Übrigen prüft das Gericht nicht, ob Harley-Davidson den Zoll umgehen will, sondern begnügt sich damit, das Ziel der Vermeidung festzustellen.
45. Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes legen die Rechtsmittelführerinnen dar, diese Auslegung des Gerichts verkenne das Ziel und den systematischen Zusammenhang von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446. Mit dem zweiten Teil beanstanden sie das Ergebnis der Auslegung durch das Gericht, dass eine wirtschaftlich motivierte Reaktion auf zusätzliche Zölle praktisch ausgeschlossen ist. Und der dritte Teil richtet sich gegen die Konsequenzen hinsichtlich der Beweislast, die darauf hinauslaufen, dass das betroffene Unternehmen eine gänzlich andere Hauptzielsetzung nachweisen muss, wenn eine Produktionsverlegung im zeitlichen Zusammenhang mit der Verhängung zusätzlicher Zölle erfolgt.
46. Dieses Vorbringen überzeugt, wie eine Untersuchung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 anhand der klassischen Auslegungsmethoden zeigt.
1. Wortlaut
47. Was den Wortlaut von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 angeht, so sind die bereits erwähnten Unterschiede zwischen den Sprachfassungen und der Begriff der wirtschaftlichen Rechtfertigung hervorzuheben.
a) Unterschiedliche Sprachfassungen
48. Was den Wortlaut von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 angeht, so habe ich bereits gezeigt, dass die deutsche Fassung als Umgehungsverbot formuliert ist, alle anderen Sprachfassungen dagegen als Vermeidungsverbot.(21 )
49. Die deutsche Sprachfassung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 ist zwar isoliert, doch sie kann nicht ohne Weiteres durch die anderen Sprachfassungen verdrängt werden, da keine Sprachfassung Vorrang vor den anderen Sprachfassungen genießt.(22 ) Vielmehr müssen sie einheitlich ausgelegt werden.(23 ) Daher kommen in solchen Fällen der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Bestimmung(24 ) sowie unter Umständen auch der Entstehungsgeschichte(25 ) besondere Bedeutung zu.
b) Wirtschaftliche Rechtfertigung
50. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 aus dem Zweck der Vermeidung oder Umgehung ableitet, dass die betreffende Be- oder Verarbeitung als wirtschaftlich nicht gerechtfertigt gilt.
51. Es trifft zu, dass nicht jedes wirtschaftliche Interesse eine Maßnahme rechtfertigen kann. Der Begriff der Rechtfertigung impliziert nämlich ein rechtlich anerkanntes überwiegendes Interesse. Diese fehlt in der Regel bei rechtswidrigen Maßnahmen oder bei der zweckwidrigen Umgehung von Regelungen,(26 ) etwa von Zöllen.
52. Die bloße Vermeidung von Zollbelastungen ist hingegen als solche weder rechtswidrig noch aus anderen Gründen zu beanstanden. Wie die Rechtsmittelführerinnen hervorheben, hat der Gerichtshof vielmehr im Bereich des Mehrwertsteuerrechts anerkannt, dass der Steuerpflichtige grundsätzlich das Recht hat, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält.(27 ) Daher können die Steuerpflichtigen die Organisationsstrukturen und die Geschäftsmodelle, die sie als für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und zur Begrenzung ihrer Steuerlast am besten geeignet erachten, im Allgemeinen frei wählen.(28 )
53. Im vorliegenden Fall läge in der Anwendung eines Vermeidungsverbots ein erheblicher Eingriff in die Wettbewerbsposition von Harley-Davidson. Ein zusätzlicher Zoll von 25 % oder sogar 50 % reduziert die Absatzchancen erheblich. In dem Formular 8-K schätzt Harley-Davidson die durchschnittliche Belastung aufgrund der zusätzlichen Zölle von 25 % auf 2 200 US-Dollar (USD) pro Kraftrad und die jährliche Belastung für das Unternehmen auf etwa 90 bis 100 Mio. USD. Es ist höchst zweifelhaft, dass andere Maßnahmen als die Vermeidung dieses Zolls einen vergleichbaren Einfluss auf den Preis und die Wettbewerbsposition der betreffenden Waren haben könnten. Eine derartige Belastung kann daher wirtschaftlich einen hohen Aufwand für ihre Vermeidung rechtfertigen.
54. Die grundsätzliche wirtschaftliche Rechtfertigung einer Produktionsverlegung illustriert auch der Vergleich eines Unternehmens, das als unmittelbare Reaktion auf die Einführung zusätzlicher Zölle die letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung der Waren aus dem betroffenen Land in ein anderes Land verlegt, mit anderen Unternehmen, die dort eine solche Produktion unterhalten. Wenn diese Unternehmen das schon zuvor getan haben oder dort zu einem späteren Zeitpunkt – möglicherweise unausgesprochen unter dem Eindruck der zusätzlichen Zölle – erstmalig eine identische Produktion einrichten, würde ihnen nämlich Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 auch in der Auslegung als Vermeidungsverbot nicht entgegengehalten. In wirtschaftlicher Hinsicht unterscheiden sich diese Unternehmen jedoch nicht.
55. Eine Auslegung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 als Vermeidungsverbot bewirkt somit keine Konkretisierung des Begriffs der wirtschaftlichen Rechtfertigung, sondern schränkt ihn entgegen seiner Bedeutung stark ein.
2. Ziel
56. Gegen eine Auslegung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 als Vermeidungsverbot spricht auch sein im 21. Erwägungsgrund niedergelegtes Ziel. Danach soll die Regelung nämlich verhindern, dass der Ursprung von Einfuhrwaren zur Umgehung der Anwendung von handelspolitischen Maßnahmen manipuliert wird.
57. Was den in der deutschen Fassung des 21. Erwägungsgrundes der Delegierten Verordnung 2015/2446 verwendeten Begriff der „Umgehung“ angeht, so gilt zwar das Gleiche wie hinsichtlich der Verwendung dieses Begriffs in Art. 33 Abs. 1.(29 )
58. Nach dem 21. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 soll jedoch in allen Sprachfassungen(30 ) mit Art. 33 nur verhindert werden, dass der Ursprung von Einfuhrwaren manipuliert wird.
59. Etymologisch bezieht sich der Begriff der Manipulation auf den Einsatz der Hand, lateinisch manus , im weiteren Sinne die Handhabung oder Bearbeitung einer Sache, was in manchen Sprachen auch in der praktischen Verwendung zum Ausdruck kommt.(31 ) Es erscheint jedoch ausgeschlossen, dass der Begriff im 21. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 diese Bedeutung haben soll, denn es geht nicht um eine Handhabung oder Bearbeitung des Ursprungsorts und schon gar nicht um den Einsatz von Händen.
60. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er gemäß seiner häufigeren Verwendung als Einflussnahme, oft durch Täuschung,(32 ) zu verstehen ist. In diesem Sinne konkretisieren Art. 12 und Anhang I der Marktmissbrauchsverordnung(33 ) den Begriff der (verbotenen) Manipulation von Finanzmärkten im Hinblick auf vielfältige Fallgestaltungen, insbesondere das Geben falscher oder irreführender Signale (Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i und Buchst. c), das Vorspiegeln falscher Tatsachen oder die Verwendung sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung (Art. 12 Abs. 1 Buchst. b und d). Auch in anderen Unionsregelungen wird der Begriff der Manipulation mit dem Begriff der Täuschung verknüpft.(34 ) Schließlich ist bei Kartellvorwürfen ebenfalls häufiger von Manipulation die Rede,(35 ) meist im Hinblick auf Preise.
61. Der 21. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 zeigt somit, dass Art. 33 Abs. 1 die wirtschaftliche Rechtfertigung der letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung nicht bereits aufgrund der bloßen Vermeidung von Zöllen ausschließen soll, sondern nur, wenn dies durch eine Manipulation des Ursprungs erreicht wird.
3. Systematischer Zusammenhang
62. In systematischer Hinsicht ist darauf einzugehen, dass die Kommission Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 in Ausübung einer delegierten Befugnis erlassen hat, sowie auf den Gegenstand und das Ziel der Zölle, um die es vorliegend geht, und auf die subsidiär anzuwendende Ursprungsregelung von Art. 33 Abs. 3.
a) Grenzen der delegierten Befugnis
63. Beim Erlass der Delegierten Verordnung 2015/2446 hat die Kommission eine delegierte Befugnis ausgeübt. Da diese nach Art. 290 Abs. 1 AEUV auf die Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften beschränkt ist, muss Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446 so ausgelegt werden, dass keine wesentliche Änderung von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex eintritt. Andernfalls wäre Art. 33 ungültig.
64. Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex ist zu entnehmen, dass die Union nicht jede letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung als Grundlage des Ursprungsorts anerkennt. Vielmehr muss es sich um eine wirtschaftlich gerechtfertigte Maßnahme handeln. Art. 62 ermächtigt im Übrigen die Kommission ausdrücklich, Regeln festzulegen, nach denen Waren gemäß Art. 60 Abs. 2 als in einem Land oder Gebiet einer solchen Be- oder Verarbeitung unterzogen angesehen werden.
65. Daher durfte die Kommission mit Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 konkretisieren, was unter „wirtschaftlicher Rechtfertigung“ zu verstehen ist. Allerdings konnte sie nach Art. 290 Abs. 1 AEUV dem Begriff der wirtschaftlichen Rechtfertigung keine neue Bedeutung zuschreiben, denn damit könnte sie die Reichweite von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex erheblich verändern, insbesondere reduzieren.
66. Wenn Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 bereits die Vermeidung von Zöllen verhindert, könnte man daran zweifeln, dass die Kommission diese Begrenzung ihrer Befugnis beachtet hat. Wie bereits dargelegt,(36 ) kann es nämlich wirtschaftlich sinnvoll und legitim sein, die Zölle vermeiden.
67. Wenn diese Bestimmung hingegen nur die Umgehung von Zöllen oder die Manipulation des Ursprungs verbietet, besteht kein Anlass, an eine Überschreitung der delegierten Befugnisse zu denken. Weder eine Umgehung noch eine Manipulation können durch ein wirtschaftliches Interesse gerechtfertigt werden.
b) Gegenstand und Ziel der zusätzlichen Zölle
68. Auch der Gegenstand und das Ziel der streitgegenständlichen Zölle sprechen dafür, Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 nicht als ein umfassendes Vermeidungsverbot zu verstehen, sondern diese Bestimmung auf ein Umgehungsverbot zu begrenzen.
69. Die vorliegenden Zölle haben nicht den Zweck , einzelne Hersteller zu belasten. Sie zielen insbesondere nicht darauf ab, Unternehmen zu belasten, deren Sitz in den Vereinigten Staaten liegt.
70. Die Union verhängte die vorliegenden Zölle vielmehr gemäß der Verordnung (EU) Nr. 654/2014, um auf Handelsbeschränkungen eines anderen Landes , hier der Vereinigten Staaten, zu reagieren.(37 ) Derartige zusätzliche Zölle bezwecken, dem anderen Land dadurch einen Nachteil zuzufügen, dass sie die Wettbewerbsposition von dort hergestellten Waren verschlechtern. Sie sollen nach dem dritten Erwägungsgrund dieser Verordnung das betreffende Land dazu veranlassen, die einschlägigen internationalen Handelsregeln einzuhalten, damit eine Situation wiederhergestellt wird, die zu gegenseitigem Vorteil gereicht. Die Nachteile für die Marktposition der den Zöllen unterliegenden Waren oder der betroffenen Unternehmen sind dabei nur insofern beabsichtigt, als sie auf das Land ihres Ursprungs durchschlagen.
71. Die zusätzlichen Zölle sollen somit vor allem die wirtschaftliche Aktivität in dem Land reduzieren, gegen das sich die Zölle richten. Ob diese Aktivität wegen geringeren Warenabsatzes in der Union zurückgeht oder deshalb, weil die betroffenen Unternehmen wirtschaftliche Aktivitäten in andere Staaten verlegen, ist für die angestrebte Wirkung der zusätzlichen Zölle unerheblich.
72. Mit anderen Worten: Mit der Verlegung der Produktion in ein anderes Land hat Harley-Davidson genau das getan, was die zusätzlichen Zölle bewirken sollten.
73. Die Kommission berief sich zwar vor dem Gericht zutreffend darauf, dass die streitgegenständlichen Zölle so bemessen sind, dass sie in etwa den gleichen Umfang haben wie die zusätzlichen Zölle der Vereinigten Staaten auf Waren der Union. Dieses Gleichgewicht wird berührt, wenn Harley-Davidson die Anwendung der vorliegenden Zölle auf ihre Einfuhren in die Union vermeidet, indem sie den Markt der Union nicht mehr aus den Vereinigten Staaten, sondern aus Thailand beliefert. In diesem Fall haben die Maßnahmen der Union auf den ersten Blick ein geringeres Gewicht als die Maßnahmen der Vereinigten Staaten. Das ändert allerdings nichts daran, dass Harley-Davidson ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in den Vereinigten Staaten aufgrund der zusätzlichen Zölle reduziert hat. Ob dadurch das Gleichgewicht tatsächlich beeinträchtigt wird und die Kommission es durch weitere Zölle wiederherstellen kann, wie die Rechtsmittelführerinnen vortragen, muss im vorliegenden Fall nicht entschieden werden.
74. Dagegen darf es kein Ziel eines Zolls nach der Verordnung (EU) Nr. 654/2014 sein, Nachteile für die Wirtschaft anderer, am Handelsstreit nicht beteiligter Länder zu bewirken, in die ein Unternehmen seine Produktion verlegt, um den zusätzlichen Zöllen zu entgehen. Solche Nachteile könnten vielmehr neue Handelskonflikte verursachen und völkerrechtliche Verpflichtungen der Union verletzen.
c) K eine Kompensation durch Art. 33 Abs. 3 der Delegierten Verordnung 2015 /2446
75. Die Kommission hebt jedoch hervor, dass sie mit Art. 33 Abs. 3 der Delegierten Verordnung 2015/2446 eine subsidiär anzuwendende Regelung zur Bestimmung des Warenursprungs vorgesehen hat, die angewendet wird, wenn die wirtschaftliche Rechtfertigung der letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung abzulehnen ist. Eine solche Regelung könnte im Prinzip sicherstellen, dass Zölle nur in dem Maß durchgesetzt werden, in dem sie aufgrund ihrer jeweiligen Ziele, hier des Handelskonflikts, notwendig sind.
76. Art. 33 Abs. 3 der Delegierten Verordnung 2015/2446 kann diese Funktion jedoch nicht erfüllen. Nach dieser Bestimmung liegt der Ursprung der Waren in dem Land oder Gebiet, aus dem, gemessen am Wert, der größere Anteil der Vormaterialien kommt. Dabei spielt allein der Wert der Vormaterialien im Verhältnis untereinander eine Rolle, nicht jedoch im Verhältnis zum Gesamtwert der Ware.
77. In der Praxis wird man mit einer solchen Regelung bei der Verlagerung der letzten Be- oder Verarbeitung häufig zu dem Ergebnis kommen, dass der Ursprung der Ware weiterhin in dem Land liegt, in dem dieser Produktionsschritt zuvor durchgeführt wurde. Denn es ist unwahrscheinlich, dass mit der Produktion auch die Lieferketten umfassend neu organisiert werden. Daher werden die Vormaterialien oftmals weiterhin überwiegend aus dem Land kommen, in dem die letzte Be- oder Verarbeitung zuvor vorgenommen wurde.
78. Wenn es aber allein auf den Wert der Vormaterialien ankommt, wird der Anteil der Wertschöpfung durch die letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung der Ware vollständig ignoriert.
79. Bei einer sehr geringen Wertschöpfung in diesem letzten Schritt wäre dies zwar unbedenklich. Die Ursprungsregelung von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex setzt jedoch in jedem Fall voraus, dass die letzte Be- oder Verarbeitung einen spürbaren Teil des in der Ware verkörperten Werts begründet, wie der Gerichtshof im Einklang mit der internationalen Praxis(38 ) festgestellt hat.(39 ) In Art. 34 der Delegierten Verordnung 2015/2446 hat die Kommission daher auch sogenannte Minimalbehandlungen aufgelistet, die nicht als wesentliche Be- oder Verarbeitung anerkannt werden. Der wirtschaftlichen Rechtfertigung und damit Art. 33 Abs. 1 kommt somit nur entscheidende Bedeutung zu, wenn die betreffende Be- oder Verarbeitung mit einer spürbaren Wertschöpfung verbunden ist.
80. Das Kriterium einer spürbaren Wertschöpfung ist auch für die Zielsetzung von Zöllen in Handelskonflikten von Bedeutung. Mit diesem Kriterium kann man nämlich beurteilen, ob eine Verlegung der letzten Be- oder Verarbeitung die wirtschaftliche Aktivität in dem Land, gegen das die Union den Zoll richtet, ausreichend reduziert, um eine Änderung des Warenursprungs zu rechtfertigen.
81. Da Art. 33 Abs. 3 der Delegierten Verordnung 2015/2446 keine Berücksichtigung der Wertschöpfung durch die letzte Be- oder Verarbeitung erlaubt, kann diese Bestimmung die überschießende Wirkung der vom Gericht vorgenommenen weiten Auslegung von Art. 33 Abs. 1 als Vermeidungsverbot nicht ausgleichen.
d) Zwischenergebnis der systematischen Auslegung
82. Somit bleibt festzuhalten, dass auch der systematische Zusammenhang von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 es nicht zulässt, bereits aus dem Zweck der Vermeidung eines Zolls zu schließen, dass die letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung nicht wirtschaftlich gerechtfertigt ist.
4. Entstehungsgeschichte und Vorgängerregelungen
83. Da die Delegierte Verordnung 2015/2446 nicht in einem Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung von Rat und Parlament erlassen wurde, liegen keine öffentlichen Dokumente über die Entstehungsgeschichte vor. Allerdings hat die Kommission auf Fragen des Gerichts dargelegt, dass Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446 an die Stelle früherer Regelungen getreten ist, die im neuen Zollkodex nicht mehr enthalten sind.
84. Dabei handelte es sich um Art. 25 des alten Zollkodex(40 ) und die Vorgängerregelung von Art. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 802/68.(41 ) Beide Bestimmungen sahen vor, dass eine Be- oder Verarbeitung, bei der festgestellt worden ist oder bei der die festgestellten Tatsachen die Vermutung rechtfertigen, dass sie nur die Umgehung von Bestimmungen bezweckt, die in der Gemeinschaft für Waren bestimmter Länder gelten, den so erzeugten Waren keinesfalls die Eigenschaft von Ursprungswaren des Be- oder Verarbeitungslands verleihen konnte. In allen Sprachfassungen dieser Bestimmungen wurden – anders als in fast allen Sprachfassungen von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446(42 ) – Begriffe verwendet, die dem deutschen Begriff der Umgehung entsprechen.
85. Die Kommission gab an, dass mit der neuen Formulierung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 Schwierigkeiten bei der Anwendung der zuvor geltenden Regelungen vermieden werden sollten. Diese Absicht ist nachvollziehbar, da der Nachweis einer Umgehungsabsicht nicht leicht sein dürfte.
86. Solche Schwierigkeiten erlauben es aber nicht, den Begriff der wirtschaftlichen Rechtfertigung übermäßig einzuschränken und die Anwendung von Zöllen, die im Zusammenhang mit zwischenstaatlichen Handelskonflikten verhängt werden, weit über ihre Zielsetzung hinaus auszudehnen. Denn damit würden nicht nur die von der Kommission erwähnten bösgläubigen Akteure den Zöllen unterworfen.
87. Hinzu kommt, dass die Kommission in diesen Ausführungen auch angibt, das Ziel von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 sei lediglich die Bekämpfung einer Manipulation des Ursprungs, was sich auch aus dem 21. Erwägungsgrund ergibt. Art. 33 Abs. 1 muss dafür aber nicht im Sinne eines umfassenden Vermeidungsverbots verstanden werden.
5. Zwischene rgebnis zum ersten Rechtsmittelgrund
88. Den Rechtsmittelführerinnen ist somit zuzustimmen, dass das angefochtene Urteil auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 beruht. Anders als das Gericht insbesondere in Rn. 62 (aber auch 57) des angefochtenen Urteils festgestellt hat, kann diese Bestimmung nicht dahin gehend verstanden werden, dass bereits das Ziel einer bloßen Vermeidung der streitgegenständlichen Zölle ausreicht, um die wirtschaftliche Rechtfertigung der letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung auszuschließen.
89. Vielmehr ist Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 so auszulegen, dass danach die wirtschaftliche Rechtfertigung einer Be- oder Verarbeitung nur entfällt, wenn ihr Zweck darin besteht, die Anwendung von Zöllen durch Manipulation des Ursprungs zu umgehen. Eine solche Umgehung setzt, wie bereits gesagt, voraus, dass der fragliche Zoll entgegen seiner Zielsetzung nicht zur Anwendung kommt.(43 )
90. Im Fall des streitgegenständlichen zusätzlichen Zolls im Zusammenhang mit einem zwischenstaatlichen Handelskonflikt kommt es folglich darauf an, ob die fragliche Be- oder Verarbeitung in einem bestimmten Land oder Gebiet darüber täuschen soll, dass die betreffende Ware – nicht der Produzent – tatsächlich aus einem anderen Land oder Gebiet kommt, gegen welches die Union wegen eines Handelskonflikts einen zusätzlichen Zoll verhängt hat. Für Be- oder Verarbeitungen, die darauf abzielen, andere Zölle zu vermeiden, etwa Anti-Dumpingabgaben, oder etwa in den Genuss von Vorzugszöllen zu kommen, kann die Umgehung hingegen anders zu beurteilen sein.
91. Der erste und der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes greifen somit durch.
92. Da dieser Rechtsfehler auch die Schlussfolgerungen erfasst, die das Gericht aus den festgestellten Tatsachen zieht, ist auch der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes erfolgreich. Dieser richtet sich dagegen, dass das Gericht insbesondere in den Rn. 66, 68 bis 71 sowie 74 des angefochtenen Urteils aus dem zeitlichen Zusammenhang zwischen der Verhängung der vorliegenden Zölle und der Ankündigung der Produktionsverlagerung durch Harley-Davidson geschlossen hat, diese Verlagerung bezwecke im Sinne von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 eine Umgehung der vorliegenden Zölle.
93. Zwar hat der Gerichthof aus einem solchen zeitlichen Zusammenhang bereits abgeleitet, dass dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer der Nachweis obliegt, die Montagevorgänge hätten aus einem sachgerechten Grund in dem Land stattgefunden, aus dem die Waren ausgeführt worden sind, und nicht zu dem Zweck, den Folgen der betreffenden Bestimmungen zu entgehen.(44 ) Diese Feststellung betraf allerdings Zölle mit einem anderen Zweck, nämlich Anti-Dumpingzölle, und erklärt sich auch dadurch, dass es in diesem Fall um die Fortsetzung einer Praxis ging, die schon bestand, bevor der fragliche Zoll eingeführt wurde.(45 )
94. Auf den vorliegenden Fall eines durch einen Handelskonflikt verursachten Zolls lässt sich diese Vermutung jedenfalls nicht übertragen, weil die Verlagerung einer letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung in ein anderes Land den Zielen des Zolls entspricht.(46 )
95. Folglich greift auch der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes durch.
96. Das angefochtene Urteil beruht daher auf aufeinander aufbauenden Rechtsfehlern und ist somit aufzuheben.
97. Aus diesem Grund halte ich es nicht für notwendig, über die beiden anderen Rechtsmittelgründe zu entscheiden. Ich werde daher nur sehr kurz auf sie eingehen.
B. Hilfsweise: zweiter Rechtsmittelgrund – Rechtmäßigkeit von Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446
98. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe es versäumt, festzustellen, dass Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446 rechtswidrig sei, weil die Kommission ihre Befugnis zur Konkretisierung von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex überschritten habe.
99. Wenn der Gerichtshof meiner Auslegung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 folgt, so bleibt diese Bestimmung jedoch noch im Rahmen der delegierten Befugnisse der Kommission.
100. Falls der Gerichtshof dagegen feststellen sollte, dass die Kommission tatsächlich ein weites Vermeidungsverbot erlassen wollte, und deshalb die von mir vorgeschlagene Auslegung ablehnt, so hätte die Kommission tatsächlich ihre Befugnis zur Konkretisierung allgemeiner Rechtsbegriffe nach Art. 290 AEUV verletzt. Der Begriff der wirtschaftlichen Rechtfertigung und der Anwendungsbereich von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex würden dann nämlich durch Art. 33 der Delegierten Verordnung 2015/2446 zu stark eingeschränkt.(47 ) In diesem Fall wäre das Urteil des Gerichts aufzuheben, weil es nicht die Rechtswidrigkeit dieser Bestimmung festgestellt hat.
C. Hilfsweise: dritter Rechtsmittelgrund – rechtliches Gehör, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz
101. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geltend. Mit diesem Vorbringen können die Rechtsmittelführerinnen jedoch nicht durchdringen, wenn der Gerichtshof meiner Auffassung nicht folgt und Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 als Vermeidungsverbot versteht.
102. In Rn. 166 des angefochtenen Urteils stellt das Gericht zwar fest, dass die Kommission es versäumte, Harley-Davidson vor Erlass des streitigen Durchführungsbeschlusses anzuhören. Das Gericht hat jedoch im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf hingewiesen, dass eine Verletzung der Verteidigungsrechte nur dann zur Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung führt, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, was das betroffene Unternehmen dartun muss.(48 ) Diesen Nachweis können die Rechtsmittelführerinnen nicht erbringen, denn aufgrund des Formulars K-8 steht fest, dass Harley-Davidson durch die Verlegung der Produktion die Anwendung der vorliegenden Zölle so oder so vermeiden wollte. Wenn Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 als Vermeidungsverbot zu verstehen wäre, wäre daher keine andere Kommissionsentscheidung möglich.
103. Was Rechtssicherheit und Vertrauensschutz angeht, machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, sie hätten auf die verbindlichen Ursprungsauskünfte der belgischen Behörden vertrauen dürfen. Zumindest habe das Verfahren zum Erlass des angefochtenen Durchführungsbeschlusses mit 16 Monaten zu lange gedauert und würde daher zeigen, dass die Entscheidungen der belgischen Behörden nicht offensichtlich rechtswidrig waren.
104. Das Gericht hat jedoch in Rn. 144 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, dass eine gemäß Art. 33 des Zollkodex erlassene verbindliche Ursprungsauskunft innerstaatlicher Behörden dem Wirtschaftsteilnehmer den geografischen Ursprung der betreffenden Ware nicht endgültig garantieren kann. Denn die Kommission kann nach Art. 34 Abs. 11 den Widerruf dieser Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft anordnen, wenn die innerstaatlichen Behörden den Ursprung falsch bestimmt haben.
105. Die Rechtsmittelführerinnen durften grundsätzlich nicht darauf vertrauen, dass die Kommission diese Befugnis nicht ausüben würde. Daher kommt es nicht auf die ergänzende Begründung des Gerichts in Rn. 145 des angefochtenen Urteils an, dass die Entscheidungen der belgischen Behörden mit Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 eine klare unionsrechtliche Bestimmung verletzt hätten. Wenn es jedoch darauf ankommen sollte, so könnte man im Licht der vorliegenden Überlegungen zum ersten Rechtsmittelgrund daran zweifeln, dass diese Bestimmung hinreichend klar ist.
VI. Zur Klage vor dem Gericht
106. Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit entweder selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist, oder die Sache an das Gericht zurückverweisen.
107. Die Klage ist entscheidungsreif, da feststeht, dass die Kommission den streitigen Durchführungsbeschluss auf die gleiche unzutreffende Auslegung von Art. 33 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 gestützt hat wie das Gericht. Denn der einzige Grund für die Anwendung dieser Bestimmung, den die Kommission im sechsten Erwägungsgrund des streitigen Durchführungsbeschlusses angibt, liegt in der Aussage des Formulars 8-K, wonach Harley-Davidson die Anwendung der vorliegenden Zölle vermeiden will. Eine zweckwidrige Umgehung des Zolls durch eine Manipulation des Ursprungs stellt die Kommission dagegen nicht fest.
108. Die Kommission versuchte zwar, vor dem Gericht dazulegen, dass Harley-Davidson auch eine Umgehung bzw. eine missbräuchliche Gestaltung vorzuwerfen sei. Dabei bezog sie sich aber allein darauf, dass die Verlegung der letzten Be- oder Verarbeitung auf den Willen des Unternehmens zurückging und im Wesentlichen der Vermeidung des Zolls diente. Sie äußerte sich hingegen nicht zu der Frage, ob damit der Zweck des Zolls beeinträchtigt wird. Daher kann auch dieses Vorbringen die Ablehnung der wirtschaftlichen Rechtfertigung nicht begründen.
109. Folglich ist den Anträgen der Rechtsmittelführerinnen stattzugeben und der streitige Durchführungsbeschluss aufzuheben.
VII. Kosten
110. Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.
111. Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
112. Daher muss die Kommission die Kosten der Rechtsmittelführerinnen und ihre eigenen Kosten tragen.
VIII. Ergebnis
113. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:
1) Das Urteil des Gerichts vom 1. März 2023, Harley-Davidson Europe und Neovia Logistics Services International/Kommission (T‑324/21, EU:T:2023:101), wird aufgehoben.
2) Der Durchführungsbeschluss (EU) 2021/563 der Kommission vom 31. März 2021 über bestimmte Entscheidungen über verbindliche Ursprungsauskünfte wird für nichtig erklärt.
3) Die Europäische Kommission trägt die Kosten, die Harley-Davidson Europe Ltd und Neovia Logistics Services International sowie ihr selbst im Verfahren vor dem Gericht und dem Gerichtshof entstanden sind.