Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 30. März 2023(1 )
Rechtssache C ‑27/22
Volkswagen Group Italia S.p.A.,
Volkswagen Aktiengesellschaft
gegen
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,
Beteiligte:
Associazione Cittadinanza Attiva Onlus,
Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons)
(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Staatsrat, Italien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Sanktionen – Rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung in einem Mitgliedstaat – In einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Handlungen gegen dieselbe Person verhängte Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur – Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Fall der Kumulierung grenzüberschreitender Sanktionsverfahren – Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem – Koordinierung der Kumulierung von Sanktionsverfahren“
1. In diesem Vorabentscheidungsersuchen geht es um die grenzüberschreitende Anwendung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in einer Angelegenheit, die nicht mit der Freizügigkeit der Personen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Zusammenhang steht.
2. Im vorliegenden Sachverhalt treffen Sanktionen und Sanktionsverfahren der Behörden zweier Mitgliedstaaten – Deutschland und Italien – zusammen(2 ). Das sanktionierte Verhalten, das sich in beiden Mitgliedstaaten (und vielen weiteren) ausgewirkt hat, wird derselben Gruppe von Automobilunternehmen mit Sitz in Deutschland zugerechnet.
3. In derartigen Verfahren entsteht bei der Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem auf der Grundlage von Art. 52 der Charta ein Problem, wenn die von den Behörden zweier Mitgliedstaaten eingeleiteten Verfahren nicht hinreichend koordiniert werden, was zu einem Nebeneinander von Sanktionen führt.
4. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass die Koordinierung der Sanktionsverfahren eine unabdingbare Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Einschränkung ist. Gleichwohl ist zu klären, ob es möglich (und realistisch) ist, diese Voraussetzung beizubehalten, wenn es zu einer Kumulierung von Sanktionsverfahren kommt, die in zwei Mitgliedstaaten von Behörden mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen durchgeführt werden, und es keinen rechtlichen Mechanismus zur Koordinierung ihrer Maßnahmen gibt(3 ).
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union
5. Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) bestimmt:
„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“
6. In Art. 52 („Tragweite … der Rechte …“) ist vorgesehen:
„(1) Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
…“
2. Richtlinie 2005/29/EG (4 )
7. Art. 1 lautet:
„Zweck dieser Richtlinie ist es, durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.“
8. Art. 3 Abs. 4 bestimmt:
„Kollidieren die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, so gehen die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend.“
9. Art. 13 sah vor:
„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie anzuwenden sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um ihre Durchsetzung sicherzustellen. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“
10. Nach seiner Änderung durch die Richtlinie (EU) 2019/2161(5 ) hat ebendieser Art. 13 mit Wirkung vom 28. Mai 2022 folgenden Wortlaut:
„(1) Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei der Verhängung der Sanktionen folgende als nicht abschließend zu verstehende und beispielhafte Kriterien, sofern zutreffend, berücksichtigt werden:
…
e) Sanktionen, die gegen den Gewerbetreibenden für denselben Verstoß in grenzüberschreitenden Fällen in anderen Mitgliedstaaten verhängt wurden, sofern Informationen über solche Sanktionen im Rahmen des aufgrund der Verordnung (EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates[(6 )] errichteten Mechanismus verfügbar sind;
…
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Rahmen der Verhängung von Sanktionen nach Artikel 21 der Verordnung (EU) 2017/2394 entweder Geldbußen im Verwaltungsverfahren verhängt werden können oder gerichtliche Verfahren zur Verhängung von Geldbußen eingeleitet werden können oder beides erfolgen kann, wobei sich der Höchstbetrag solcher Geldbußen auf mindestens 4 % des Jahresumsatzes des Gewerbetreibenden in dem (den) betreffenden Mitgliedstaat(en) beläuft. …
…“
B. Nationales Recht. Decreto legislativo Nr. 206 vom 6. September 2005 (7 )
11. Art. 20 Abs. 2 lautet:
„Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn sie der beruflichen Sorgfalt widerspricht und in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet, oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern richtet, spürbar beeinflusst oder dazu geeignet ist, es spürbar zu beeinflussen.“
12. Nach Art. 20 Abs. 4 werden zwei Kategorien von unlauteren Praktiken unterschieden: irreführende Praktiken (gemäß den Art. 21, 22 und 23) und aggressive Praktiken (die in den Art. 24, 25 und 26 erwähnt werden).
13. Art. 27 Abs. 9 sieht vor:
„Zusammen mit der Maßnahme, die die unlautere Geschäftspraxis untersagt, verhängt die Behörde unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer des Verstoßes eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 5 000 Euro bis 5 000 000 Euro. In Fällen unlauterer Geschäftspraktiken nach Art. 21 Abs. 3 und 4 beträgt die Geldbuße mindestens 50 000 Euro.“
II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14. Mit der Entscheidung Nr. 26137 vom 4. August 2016 verhängte die AGCM gegen die Volkswagen Group Italia S.p.A. und die Volkswagen Aktiengesellschaft (im Folgenden: VWGI bzw. VWAG) eine Geldbuße in Höhe von 5 Mio. Euro mit der Begründung, dass diese Gesellschaften sich unlauterer Geschäftspraktiken im Sinne der Art. 21 Abs. 1 Buchst. b, Art. 23 Abs. 1 Buchst. d und Art. 21 Abs. 3 und Abs. 4 des Verbrauchergesetzbuchs bedient hätten. Mit diesen Bestimmungen wird die Richtlinie 2005/29 in das italienische Recht umgesetzt.
15. Nach der Vorlageentscheidung bestanden die der VWGI und der VWAG von der AGCM zur Last gelegten Verstöße in:
– dem Inverkehrbringen in Italien von Dieselfahrzeugen, die mit Systemen ausgestattet waren, die dazu bestimmt waren, die Messung der Schadstoffemissionen für die Zwecke der Typgenehmigung zu verändern(8 );
– der Verbreitung von Werbung, in der trotz der Veränderung der Emissionswerte betont wurde, dass diese Fahrzeuge den Vorgaben der Umweltschutzvorschriften entsprechen.
16. Die VWGI und die VWAG fochten die Entscheidung der AGCM vor dem Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht für die Region Latium, Italien, im Folgenden: TAR Latium) an.
17. Nachdem die AGCM ihre Entscheidung Nr. 26137/2016 erlassen hatte, aber vor dem Erlass eines Urteils durch das TAR Latium, stellte die Staatsanwaltschaft Braunschweig der VWAG im Jahr 2018 einen Bußgeldbescheid zu, mit dem sie nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (im Folgenden: OWiG) eine Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro gegen die VWAG verhängte(9 ).
18. Diese Geldbuße bezog sich teilweise auf dieselben Handlungen wie diejenigen Handlungen, die von der AGCM geahndet wurden. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das in Deutschland beanstandete Verhalten Folgendes umfasste:
– das weltweite Inverkehrbringen (insgesamt 10,7 Millionen Fahrzeuge, davon 700 000 auf dem italienischen Markt) von Fahrzeugen, die mit Systemen ausgestattet sind, die dazu bestimmt sind, die Messung der Schadstoffemissionen für die Zwecke der Typgenehmigung zu verändern;
– die Verbreitung von Werbung, in der trotz der Veränderung der Emissionswerte behauptet wurde, dass diese Fahrzeuge besonders umweltfreundlich seien.
19. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig wurde am 13. Juni 2018 rechtskräftig, da die VWAG auf eine Anfechtung verzichtete und zudem das Bußgeld am 18. Juni 2018 bezahlte.
20. Am 3. April 2019 wies das TAR Latium in seinem Urteil Nr. 6920/2019 die Klage der VWGI und der VWAG zurück, obwohl die beiden Unternehmen auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig hingewiesen hatten.
21. Die VWGI und die VWAG beriefen sich insbesondere auf eine Reihe von Entscheidungen der Gerichte anderer Mitgliedstaaten, in denen innerstaatliche Verfahren wegen der Veränderung von Emissionswerten mit der Begründung eingestellt worden waren, dass dieser Sachverhalt bereits in Deutschland geahndet worden sei.
22. Das TAR Latium folgte diesem Vorbringen nicht. Es stellte fest, dass die von der AGCM verhängte Sanktion eine andere Rechtsgrundlage habe als die in Deutschland verhängte Sanktion, und dass der Grundsatz ne bis in idem der zuerst genannten Sanktion nicht entgegenstehe.
23. Die VWGI und die VWAG legten gegen das Urteil des TAR Latium ein Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein, der dem Gerichtshof die folgenden Fragen vorlegt:
1. Sind die wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängten Sanktionen im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29/EG als Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur einzustufen?
2. Ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur gegen eine juristische Person wegen rechtswidriger Handlungen in Form unlauterer Geschäftspraktiken gerichtlich zu bestätigen und rechtskräftig werden zu lassen, wegen derer diese Person in der Zwischenzeit in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden ist, wobei die zweite Verurteilung rechtskräftig geworden ist, bevor über die gerichtliche Anfechtung der ersten Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur rechtskräftig entschieden worden ist?
3. Können die Bestimmungen der Richtlinie 2005/29, insbesondere Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e, eine Abweichung vom Verbot des „ne bis in idem “ nach Art. 50 der Charta (später durch Art. 6 EUV in den Vertrag über die Europäische Union aufgenommen) und Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens rechtfertigen?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
24. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 11. Januar 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.
25. Die AGCM, die Vereinigung Codacons(10 ), die VWGI, die niederländische und die italienische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
26. In der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2023 haben die AGCM, die VWGI, die niederländische und die italienische Regierung sowie die Kommission mündlich vorgetragen.
IV. Würdigung
A. Zulässigkeit
27. Die AGCM ist der Ansicht, die Vorlagefragen seien aus zwei Gründen unzulässig:
– Art. 50 der Charta und Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens(11 ) seien im vorliegenden Rechtsstreit nicht einschlägig, da die der deutschen Sanktion zugrunde liegende Regelung über die Verantwortlichkeit juristischer Personen nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle.
– Die Handlungen, die zum Erlass der beiden Sanktionen geführt hätten, seien nicht identisch. Mit der deutschen Entscheidung werde das Verhalten der VWAG geahndet, das in einer fahrlässigen Verletzung der Überwachungspflicht im Hinblick auf den Einbau einer Vorrichtung bestanden habe, die es ermöglicht habe, die Schadstoffemissionsprüfungen der Fahrzeuge der VWAG zu fälschen. Im Gegensatz dazu würden die VWAG und die VWGI durch die italienische Entscheidung dafür bestraft, dass sie es unterlassen hätten, die Verbraucher über das Vorhandensein einer solchen Vorrichtung in den in Italien verkauften Fahrzeugen zu informieren.
28. Keines dieser beiden Argumente scheint mir so überzeugend, dass das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklärt werden sollte.
29. Im Hinblick auf das erste Argument bestimmt Art. 51 Abs. 1 der Charta, dass die Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gilt(12 ). Da sich die Entscheidung der AGCM auf Bestimmungen des italienischen Verbrauchergesetzbuchs stützt, mit denen die Richtlinie 2005/29 umgesetzt wird, befinden wir uns in einem Bereich, in dem ein Mitgliedstaat Unionsrecht anwendet.
30. Dieser Umstand reicht aus, damit Art. 50 der Charta Anwendung findet, und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung der deutschen Staatsanwaltschaft zudem auf der Grundlage einer innerstaatlichen Vorschrift zur Umsetzung des Unionsrechts getroffen wurde oder nicht.
31. Hinzu kommt, dass sich das deutsche Bußgeld zwar unmittelbar auf das OWiG stützt (ein Gesetz, das grundsätzlich außerhalb des Unionsrechts steht), aber letztlich nicht nur der Ahndung einer bloß formalen Verletzung der Überwachungspflicht dient, sondern mittelbar auch der Ahndung materieller Verstöße gegen unionsrechtliche Vorschriften über das Typgenehmigungsverfahren für Fahrzeuge(13 ). Insoweit wird auch Unionsrecht angewendet, und daher ist die Charta, insbesondere ihr Art. 50, zu beachten.
32. Auch dem zweiten von der AGCM geltend gemachten Grund für die Unzulässigkeit, der mehr die materiell-rechtlichen Fragen des Rechtsstreits als die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, kann nicht gefolgt werden.
33. Zwischen den Handlungen, die den Gegenstand des italienischen und des deutschen Sanktionsverfahrens bilden, besteht ein enger Zusammenhang, denn in beiden Fällen geht es um: a) den widerrechtlichen Einbau einer Vorrichtung zur Verfälschung von Emissionsprüfungen und b) die Werbung für die betreffenden Fahrzeuge und deren Verkauf in einem anderen Mitgliedstaat unter Verheimlichung dieser Tatsache.
34. Ob dieser Zusammenhang ausreicht, um die Identität der in den beiden Verfahren geahndeten Handlungen festzustellen, ist, wie ich nochmals anmerken möchte, eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Vorabentscheidungsersuchens.
B. Vorbemerkungen
35. Bevor ich eine Antwort an das vorlegende Gericht vorschlage, möchte ich zwei Klarstellungen zu den Bestimmungen vornehmen, die das vorlegende Gericht in seiner dritten Vorlagefrage anführt.
36. Von diesen Bestimmungen scheinen mir Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29 sowie Art. 54 SDÜ für den vorliegenden Fall nicht einschlägig zu sein.
37. Aus Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29(14 ) lässt sich im Licht ihres zehnten Erwägungsgrundes ableiten, dass diese Richtlinie anwendbar ist, wenn keine spezifischen Vorschriften des Unionsrechts vorliegen, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln. Die Vorschrift bezieht sich auf die Kollision von Vorschriften des Unionsrechts und nicht von nationalen Rechtsvorschriften(15 ).
38. In diesem Artikel kommt der Grundsatz der Spezialität zum Ausdruck: Das Verfahren nach der Richtlinie 2005/29 ist subsidiär zu anderen spezielleren Verfahren des Unionsrechts zur Ahndung unlauterer Geschäftspraktiken(16 ). Es handelt sich nicht um eine Rechtsnorm, die den durch Art. 50 der Charta geschützten Grundsatz ne bis in idem konkretisiert. Sie zielt lediglich darauf ab, eine Kumulierung von Verfahren zu verhindern, die unterschiedlichen Bestimmungen aus dem Bereich der Bekämpfung unlauterer Geschäftspraktiken unterliegen.
39. Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 wurde durch die Richtlinie 2019/2161(17 ) in die Richtlinie 2005/29 eingefügt und ist erst seit dem 28. Mai 2022 in Kraft(18 ). Dementsprechend ist er in zeitlicher Hinsicht nicht auf die im Ausgangsrechtsstreit geahndeten Handlungen anwendbar.
40. Was Art. 54 SDÜ anbelangt, hat der Gerichtshof festgestellt, dass „das in dieser Bestimmung aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern soll, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten verfolgt wird…“(19 ).
41. Obwohl es aufgrund der Beteiligung von deutschen und italienischen Behörden um eine grenzüberschreitende Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem geht, spielt der Schutz der Freizügigkeit der Personen, der den Grund für die Schaffung von Art. 54 SDÜ bildet, im vorliegenden Fall keine Rolle.
42. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die Antwort an das vorlegende Gericht ausschließlich im Licht von Art. 50 der Charta zu geben ist.
C. Erste Frage
43. Der Consiglio di Stato (Staatsrat) möchte wissen, ob die wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängten Sanktionen im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29 als Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur einzustufen sind. Diese Sanktionen können zwischen 5 000 Euro und 5 Mio. Euro betragen.
44. Der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem verbietet eine Kumulierung sowohl von Verfolgungsmaßnahmen als auch von Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat(20 ).
45. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in jedem Einzelfall die strafrechtliche Natur der Verfolgungsmaßnahmen und der Sanktionen zu prüfen, wobei es die vom Gerichtshof bestätigten Kriterien anzuwenden hat, die an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(21 ) (die so genannten „Engel-Kriterien“(22 )) anknüpfen. Der Gerichtshof kann jedoch weitere Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht bei der Auslegung eine Orientierungshilfe zu geben.
46. Nach den Engel-Kriterien ist abzustellen auf: i) die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht; ii) die Art der Sanktion; iii) den Schweregrad der drohenden Sanktion(23 ).
1. Rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung
47. Im italienischen Recht werden die in den Art. 21 und 23 des Verbrauchergesetzbuchs vorgesehenen Zuwiderhandlungen (sowie das Verfahren, in dem sie festgestellt werden) als verwaltungsrechtlich eingeordnet. Auch die Geldbuße nach Art. 27 Abs. 9 dieses Gesetzbuchs ist verwaltungsrechtlicher Natur.
48. Was die von der Staatsanwaltschaft Braunschweig verhängte Geldbuße anbelangt, so hat das vorlegende Gericht keinen Zweifel an deren strafrechtlicher Natur.
49. Eine Zuwiderhandlung und eine Sanktion, die nach innerstaatlichem Recht nominell als verwaltungsrechtlich eingeordnet werden, können gleichwohl für die hier relevanten Wirkungen als strafrechtlicher Natur anzusehen sein. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die Anwendung von Art. 50 der Charta sich nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen soeben genannten Kriterien strafrechtlicher Natur sind(24 ).
2. Art der Sanktion
50. Was die Art der Sanktion anbelangt, ist zu prüfen, ob die fragliche Sanktion „insbesondere eine repressive Zielsetzung verfolgt … Dem ist zu entnehmen, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist und dass der bloße Umstand, dass sie auch eine präventive Zielsetzung verfolgt, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. … [Es] liegt … nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur“(25 ).
51. Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs sieht vor, dass die Geldbuße zusätzlich zu anderen Maßnahmen zur Bekämpfung unlauterer Geschäftspraktiken, insbesondere zum Verbot der Fortsetzung oder Wiederholung solcher Praktiken, verhängt werden muss.
52. Nach Ansicht der italienischen Regierung haben diese Maßnahmen und nicht die Geldbuße nach Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs repressiven Charakter. Die Geldbuße solle den Wettbewerbsvorteil neutralisieren, den das Unternehmen durch sein betrügerisches Verhalten gegenüber den Verbrauchern erlangt habe, und den Wettbewerb auf dem Markt so wiederherstellen, wie er vor der Anwendung der unlauteren Geschäftspraxis bestanden habe.
53. Ohne der abschließenden Beurteilung des vorlegenden Gerichts vorgreifen zu wollen, halte ich das Vorbringen der italienischen Regierung zu diesem Punkt nicht für überzeugend. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass die in Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs vorgesehene Geldstrafe repressiven Charakter hat: Ihr Hauptzweck ist nicht die Wiedergutmachung des Schadens, der Dritten durch die Zuwiderhandlung entstanden ist, sondern die Bestrafung eines rechtswidrigen Verhaltens(26 ).
54. Der genannte Artikel enthält nämlich weder einen Hinweis auf den Wiedergutmachungscharakter der Sanktion, noch hängt deren Höhe von den Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf Dritte ab.
55. Schließlich ist es für den vorliegenden Fall unerheblich, dass die Sanktion neben ihrem repressiven auch einen präventiven Zweck hat, nämlich die Unternehmen von der Anwendung unlauterer Geschäftspraktiken abzuhalten.
3. Schweregrad der Sanktion
56. Die Obergrenze der in Art. 27 Abs. 9 des Verbrauchergesetzbuchs vorgesehenen Sanktion beträgt 5 Mio. Euro(27 ), was ein hoher Betrag ist und die Schwere der Sanktion verdeutlicht.
57. Sicherlich mag eine Strafe von 5 Mio. Euro für ein multinationales Unternehmen mit hohem Umsatz, wie es die VWAG ist, nicht sonderlich belastend sein(28 ).
58. Dieser Umstand stellt jedoch den in erheblichem Maße belastenden Charakter der im Gesetz vorgesehenen Sanktion nicht in Frage. Allenfalls könnte er als Anreiz für den Gesetzgeber dienen, die Höhe der Geldbußen wegen unlauterer Geschäftspraktiken anzuheben und dabei den Festbetrag durch einen proportional zum Umsatz bemessenen Betrag zu ersetzen(29 ).
59. Zudem muss der Schweregrad der Sanktion anhand ihrer objektiven Merkmale und nicht anhand ihrer konkreten Auswirkungen auf ein bestimmtes sanktioniertes Unternehmen beurteilt werden.
60. Zusammenfassend bin ich der Auffassung, dass eine verwaltungsrechtliche Sanktion wegen der Anwendung unlauterer Geschäftspraktiken wie die hier in Rede stehende, die eine Höhe von bis zu 5 Mio. Euro erreichen kann, als materiell-strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta einzuordnen ist.
D. Zweite Frage
61. Der Consiglio di Stato (Staatsrat) möchte wissen, ob Art. 50 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, „die es erlaubt, eine Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur gegen eine juristische Person wegen rechtswidriger Handlungen in Form unlauterer Geschäftspraktiken gerichtlich zu bestätigen und rechtskräftig werden zu lassen, wegen derer diese Person in der Zwischenzeit in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden ist, wobei die zweite Verurteilung rechtskräftig geworden ist, bevor über die gerichtliche Anfechtung der ersten Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur rechtskräftig entschieden worden ist“.
62. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass „[d]ie Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem … zweierlei voraus[setzt], nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung ‚bis ‘), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung ‚idem ‘)“(30 ).
1. Zum „ bis “
63. „[F]ür die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, [ist es] nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist“(31 ).
64. Aus den Angaben in der Akte lässt sich entnehmen, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig am 13. Juni 2018 rechtskräftig wurde und dass sie nach einer Prüfung in der Sache in einer mit Gründen versehenen Weise erlassen wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das italienische Verwaltungssanktionsverfahren schon eingeleitet, aber noch nicht abgeschlossen worden: Die Entscheidung der AGCM vom 4. August 2016 wurde angefochten und ist deshalb (bis heute) nicht bestandskräftig.
65. Obwohl die beiden Verfahren teilweise zeitlich parallel geführt wurden (nach den in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben überschnitten sie sich um vier Monate), wurde die von der Staatsanwaltschaft Braunschweig verhängte Sanktion rechtskräftig, bevor die italienischen Behörden eine endgültige Entscheidung im Hinblick auf denselben Sachverhalt und dieselben Unternehmen getroffen hatten. Insoweit ist unerheblich, dass die Rechtskraft der deutschen Entscheidung darauf zurückzuführen ist, dass die VWAG sie nicht angefochten hat(32 ).
66. Es handelt sich also um ein Nebeneinander von Sanktionsverfahren, von denen eines mit einer rechtskräftigen Sanktion endete, so dass zu prüfen ist, ob es in beiden Verfahren um dieselben Handlungen ging und ob sie sich gegen dieselbe Person richteten.
2. Zum „ idem “
67. Die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorherrschende These ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung auf dieselbe materielle Tat (idem factum ) abstellt, verstanden als eine Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, unabhängig von ihrer rechtlichen Qualifizierung (idem crimen ).
68. Wie das vorlegende Gericht feststellt, betreffen die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren dieselbe juristische Person (die VWAG). Zwar richtet sich die italienische Entscheidung auch gegen die VWGI, aber dieser Umstand lässt die subjektive Identität nicht zwingend entfallen, da die VWGI zur VWAG gehört und von ihr kontrolliert wird.
69. Jedenfalls ist es in Anbetracht der diesbezüglichen Einwände der AGCM Sache des Consiglio di Stato (Staatsrat), die Frage der subjektiven Identität der betroffenen Unternehmen zu klären.
70. Was die objektive Identität anbelangt, verbietet Art. 50 der Charta, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen(33 ).
71. Es reicht also nicht aus, dass es sich um ähnliche Taten handelt, sondern sie müssen identisch sein. Die Identität der materiellen Tat ist zu verstehen als die Gesamtheit der konkreten Umstände, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind(34 ).
72. Steht die Identität der Tat fest, so ist ihre rechtliche Einordnung nach nationalem Recht zweitrangig. Gleiches gilt für die Frage, ob dieselbe Straftat vorliegt, wenn das geschützte Rechtsgut in dem einen oder anderen Mitgliedstaat nicht übereinstimmt, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann(35 ).
73. In den Urteilen bpost und Nordzucker hat der Gerichtshof den Vorrang der faktischen Identität (idem factum ) vor der rechtlichen Identität (idem crimen ) bestätigt. Er hat dies im Bereich der Regeln des freien Wettbewerbs entschieden und dabei seine frühere Rechtsprechung zu diesem Thema präzisiert(36 ).
74. In der mündlichen Verhandlung(37 ) hat die italienische Regierung vorgeschlagen, in Fällen, in denen eine Koordinierung zwischen den nationalen Behörden nicht möglich sei, die durch die Regelungen der beiden betroffenen Mitgliedstaaten geschützten Allgemeininteressen zu berücksichtigen, um festzustellen, ob eine faktische Identität vorliege.
75. Dies wäre, wenn ich es richtig verstanden habe, eine Rückkehr zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Bereich der Wettbewerbsregeln, nach der Voraussetzung für das Vorliegen des idem die faktische Identität und die Identität der geschützten Rechtsgüter ist. Ich bin jedoch der Auffassung, dass dieser Ansatz durch die Urteile bpost und Nordzucker überholt ist.
76. Es ist Sache des Consiglio di Stato (Staatsrat), zu klären, ob im vorliegenden Fall der Sachverhalt in tatsächlicher und zeitlicher Hinsicht identisch ist. In seinem Vorlagebeschluss verweist er auf die „Analogie, wenn nicht gar Identität“ der geahndeten Handlungen und unterstreicht sodann die „Homogenität der Verhaltensweisen“, da in beiden Verfahren Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit Manipulationsvorrichtungen und mit Werbung, die in irreführender Weise die Einhaltung der Umweltschutzvorschriften betone, geahndet worden seien(38 ).
77. Der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht jedoch die folgenden Denkansätze zu diesem Punkt geben:
– Eine detaillierte und konkrete Würdigung der geahndeten Verhaltensweisen muss zu dem Ergebnis führen, dass sie identisch und nicht bloß ähnlich sind.
– Im Falle der grenzüberschreitenden Kumulierung von Verfahren und Sanktionen ist die territoriale Identität nicht unbedingt erforderlich, dieser Aspekt kann aber für andere Zwecke relevant sein(39 ). Eben dieser Aspekt ermöglicht es, den Verdacht des „forum shopping“ in Bezug auf die zuständige Sanktionsbehörde auszuräumen(40 ).
– Die Staatsanwaltschaft Braunschweig betont zwar, dass die fehlende Überwachung die Ursache für die von der VWAG zwischen 2007 und 2015 weltweit begangenen Verstöße ist, berücksichtigt aber als relevante Tatsachen das Inverkehrbringen von mit dem computergestützten Manipulationssystem ausgestatteten Fahrzeugen in anderen Ländern (einschließlich Italien) sowie die irreführende Werbung für den Verkauf dieser Fahrzeuge(41 ).
– Der Zusammenhang zwischen diesen drei Aspekten dürfte auf der Hand liegen, auch wenn das vorlegende Gericht zu entscheiden haben wird, ob er ausreicht, um eine faktische Identität anzunehmen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig weist sogar darauf hin, dass ihre Entscheidung in Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem dem Erlass von Sanktionen gegen die VWAG in anderen Staaten wegen derselben Verhaltensweisen entgegenstehe(42 ).
78. Kommt das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis, dass im Licht dieser Erwägungen die Voraussetzung idem factum vorliegt, so stellt das Nebeneinander der Verfolgungsmaßnahmen grundsätzlich und vorbehaltlich der nachfolgenden Ausführungen einen Verstoß gegen das in Art. 50 der Charta gewährleistete Grundrecht dar(43 ).
E. Dritte Vorlagefrage
79. Der Consiglio di Stato (Staatsrat) möchte wissen, ob die Richtlinie 2005/29 (insbesondere Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. E) „eine Abweichung vom Verbot des ‚ne bis in idem ‘ nach Art. 50 der Charta“ rechtfertigen kann.
80. Ich habe bereits dargelegt(44 ), warum ich der Ansicht bin, dass Art. 3 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/29 hier nicht anwendbar sind. Ich werde daher nur auf Art. 50 der Charta und die Möglichkeiten, nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta von diesem Verbot abzuweichen, eingehen.
81. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Einschränkung des durch Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein(45 ), nämlich, dass: i) die Einschränkung gesetzlich vorgesehen ist; ii) sie den Wesensgehalt dieses Rechts achtet; iii) ein Grund des Allgemeininteresses oder ein zu schützendes Grundrecht vorliegt; und iv) die Einschränkung den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entspricht.
1. Gesetzlich vorgesehene Einschränkung
82. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Maßnahmen der Staatsanwaltschaft Braunschweig und der italienischen AGCM, wie sich aus der Vorlageentscheidung zu ergeben scheint, den gesetzlichen Vorgaben entsprechen.
83. Insoweit scheint es keine nennenswerten Zweifel zu geben, da die AGCM das Verbrauchergesetzbuch und die Staatsanwaltschaft Braunschweig das OWiG angewendet hat.
2. Achtung des Wesensgehalts des Grundsatzes ne bis in idem
84. Das vorlegende Gericht scheint auch keine Zweifel daran zu haben, dass diese Voraussetzung in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit erfüllt ist.
3. Schutz von dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen
85. Die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehene Ausnahme vom Verbot, wegen derselben Tat zweimal verurteilt oder bestraft zu werden, muss einem oder mehreren von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen.
86. Wie ich bereits ausgeführt habe, ist die Identität der Rechtsgüter, die durch die Vorschriften, nach denen die beiden Sanktionen verhängt werden, geschützt werden sollen, für die Einstufung als idem nicht mehr von Bedeutung(46 ).
87. Gleichwohl können eben jene Rechtsgüter seit dem Urteil Menci für die Anwendung der auf Art. 52 der Charta gestützten Ausnahme relevant sein. Es ist erforderlich, dass die Vorschriften komplementäre, aber nicht identische Allgemeininteressen schützen. Zielten die beiden nationalen Verfahren auf den Schutz desselben Allgemeininteresses ab, so wäre die Komplementarität nicht mehr gegeben und ihre Kumulierung ließe sich nicht nach Art. 52 der Charta rechtfertigen(47 ).
88. Im vorliegenden Fall scheinen die deutschen und die italienischen Rechtsvorschriften nicht identische, sondern komplementäre Zielsetzungen zu verfolgen:
– § 130 OWiG soll sicherstellen, dass sich Unternehmen und ihre Beschäftigten gesetzeskonform verhalten, und ahndet daher fahrlässige Verstöße gegen die Überwachungspflicht im Bereich einer unternehmerischen Tätigkeit. Diese Gestaltung entspricht der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, das reibungslose Funktionieren des Marktes zu gewährleisten, wie es auch in Urteilen des Gerichtshofs bestätigt wurde(48 ).
– Die von der AGCM angewandten Vorschriften des Verbrauchergesetzbuchs setzen die Richtlinie 2005/29 um. Gemäß Art. 1 dieser Richtlinie besteht ihr Zweck darin, ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherzustellen und zugleich zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen.
89. Folglich handelt es sich um komplementäre Zielsetzungen: Die Einhaltung der Überwachungspflicht der Unternehmen kommt dem Schutz der Rechte der Verbraucher zugute, die von diesen Unternehmen Produkte erwerben. Beide entsprechen, wie ich nochmals unterstreichen möchte, Erwägungen des Allgemeininteresses, wie der Gerichtshof bereits bestätigen konnte(49 ).
4. Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit der Einschränkung
90. Die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta muss außerdem verhältnismäßig und erforderlich sein.
91. Der Gerichtshof hat eine allgemeine Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit der hier in Rede stehenden Einschränkung entwickelt, aus der sich die von mir nachfolgend dargestellten Erwägungen ergeben:
– Um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, „[darf] die in einer nationalen Regelung … vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten …, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen“(50 ).
– „[D]ie Behörden [sind] berechtigt …, auf bestimmte für die Gesellschaft schädliche Verhaltensweisen einander ergänzende rechtliche Antworten zu geben, indem in verschiedenen Verfahren in zusammenhängender Weise unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems behandelt werden, sofern diese kombinierten rechtlichen Antworten keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellen … Die Tatsache, dass mit zwei Verfahren unterschiedliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt werden, deren kumulierter Schutz legitim ist, kann daher im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen als Faktor zur Rechtfertigung dieser Kumulierung berücksichtigt werden, sofern diese Verfahren komplementär sind und die zusätzliche Belastung durch diese Kumulierung somit durch die beiden verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann.“(51 )
– Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung „ist zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht“(52 ).
– „[E]ine solche Rechtfertigung [setzt] die Feststellung voraus, dass die Kumulierung der in Rede stehenden Verfahren zwingend erforderlich war, wobei in diesem Kontext im Wesentlichen zu berücksichtigen ist, ob ein hinreichend enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den beiden in Rede stehenden Verfahren bestand …“(53 ).
92. Letztlich ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen, ob die folgenden drei Kriterien erfüllt sind:
– Klarheit und Präzision der Regeln, die zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen führen;
– Koordinierung der Sanktionsverfahren, die in einem hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen müssen, so dass die zusätzlichen Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung unabhängig voneinander geführter Strafverfahren ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben;
– die Schwere der Gesamtheit der verhängten Sanktionen muss der Schwere der Zuwiderhandlung entsprechen.
93. Auch hier ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen, ob diese drei Kriterien im Ausgangsrechtsstreit erfüllt sind. Gleichwohl könnte der Gerichtshof, um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, die folgenden Klarstellungen vornehmen.
a) Klarheit und Präzision der Vorschriften über die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen
94. In der Vorlageentscheidung werden keine nationalen Rechtsvorschriften angegeben – weder deutsche noch italienische –, die konkret die Möglichkeit (und die Voraussetzungen) der gleichzeitigen Durchführung von Verfahren und der Verhängung voneinander unabhängiger Sanktionen wegen derselben Handlung vorsehen, wenn diese sich in zwei Mitgliedstaaten auswirkt.
95. Eine andere Frage ist, inwieweit sowohl das OWiG als auch die Bestimmungen des italienischen Verbrauchergesetzbuchs über unlautere Geschäftspraktiken eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung der Verfahren und die Verhängung von Bußgeldern darstellen. Wie ich bereits ausgeführt habe, wird die Klarheit und Präzision dieser Rechtsvorschriften nicht in Frage gestellt.
96. So gesehen, konnte die VWAG vorhersehen und erwarten, dass sie in beiden Mitgliedstaaten (und in anderen) für ihr Verhalten im Zusammenhang mit der Manipulation von Motoren, dem Verkauf von Fahrzeugen mit solchen Motoren und der Werbung, die die Manipulation verschleierte, bestraft werden würde.
b) Schwere der Gesamtheit der verhängten Sanktionen
97. Den Angaben in der Akte lässt sich entnehmen, dass die Kumulierung der italienischen und der deutschen Sanktion nicht außer Verhältnis zu dem sanktionierten Verhalten steht, wenn man den Umsatz der VWAG und den wirtschaftlichen Vorteil berücksichtigt, den dieses multinationale Unternehmen durch die Manipulation der Motoren erlangt hat (geschätzt 995 Mio. Euro).
98. Die Sanktion der deutschen Behörde beläuft sich auf 1 Mrd. Euro und die der italienischen Behörde auf 5 Mio. Euro. Die Summe der beiden Beträge scheint daher zur Bekämpfung der geahndeten Verhaltensweisen nicht übermäßig hoch zu sein.
99. Zwar umfasst die deutsche Sanktion einen nur der „Bestrafung“ dienenden Teil und einen Teil, der dem Ausgleich des von der VWAG erlangten Vorteils entspricht. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich nicht, für sich genommen, um ein hohes Bußgeld handelt. Gleiches gilt für die von der AGCM verhängte Sanktion, die dem Höchstbetrag für Sanktionen entspricht, der nach den italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2005/29 verhängt werden kann.
100. Jedenfalls möchte ich festhalten, dass die Kumulierung der Sanktionen, gemessen an der Schwere der begangenen Zuwiderhandlung und den von der VWAG erlangten Vorteilen, nicht unverhältnismäßig erscheint.
c) Koordinierung der Verfahren
101. Die Koordinierung zwischen dem deutschen und dem italienischen Sanktionsverfahren und der Nachweis eines hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen diesen beiden Verfahren geben im vorliegenden Fall Anlass zu erheblichen Zweifeln.
102. Ich werde diesem Problem besondere Aufmerksamkeit widmen, da meines Erachtens, wie ich schon vorwegnehmen möchte, jedenfalls sofern das vorlegende Gericht nicht über weitere gegenteilige Informationen verfügt, eine Koordinierung der beiden von der Staatsanwaltschaft Braunschweig und von der italienischen AGCM durchgeführten Verfahren nicht stattgefunden hat.
103. Allenfalls könnte man annehmen, dass ein sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Verfahren bestand und dass sie in einem engen zeitlichen Zusammenhang durchgeführt wurden; allerdings wurde, wie schon gesagt, das Erfordernis der Koordinierung nicht erfüllt.
104. In einigen Bereichen des Unionsrechts gibt es Mechanismen zur Koordinierung der nationalen Behörden (untereinander und mit der Kommission oder einer anderen Einrichtung der Union), um die Zusammenarbeit, die gegenseitige Unterstützung und den Informationsaustausch zu erleichtern, insbesondere im Hinblick auf die Durchführung von Sanktionsverfahren:
– im Bereich des Wettbewerbsrechts im Rahmen des Europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden(54 );
– im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch das Tätigwerden von Eurojust(55 ).
105. Diese Mechanismen erleichtern die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem , indem sie bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten, an denen mehrere Mitgliedstaaten beteiligt sind, eine Verdopplung von Sanktionsverfahren wegen derselben Handlungen verhindern(56 ).
106. Dagegen gab es im vorliegenden Rechtsstreit keinen besonderen Koordinierungsmechanismus für nationale Behörden mit heterogenen Zuständigkeitsbereichen.
107. Zwar sieht die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltende Verordnung (EU) Nr. 2006/2004(57 ), die später durch die Verordnung 2017/2394 ersetzt wurde, ein Instrument für die Zusammenarbeit und Koordinierung der für die Umsetzung der Verbraucherschutzvorschriften zuständigen nationalen Behörden vor. Die AGCM ist eine dieser Behörden und hätte dieses Instrument nutzen können, auf die Staatsanwaltschaft Braunschweig trifft das hingegen nicht zu(58 ).
108. Auf entsprechende Fragen des Gerichtshofs haben die Parteien in der mündlichen Verhandlung die folgenden Angaben gemacht:
– Die Staatsanwaltschaft Braunschweig versuchte im Rahmen von Eurojust, die Kumulierung von Strafverfahren gegen die VWAG in mehreren Mitgliedstaaten zu verhindern. Nach einer Koordinierungssitzung am 10. März 2016 am Sitz von Eurojust in Den Haag erklärten sich nur die belgischen, schwedischen und spanischen Behörden(59 ) bereit, zugunsten der Staatsanwaltschaft Braunschweig auf eine Strafverfolgung zu verzichten, nicht aber die italienischen Behörden. Die AGCM beteiligte sich nicht an diesem Versuch, die Strafverfolgung gegen die VWAG zu koordinieren.
– Der Staatsanwaltschaft Braunschweig war seit dem 9. August 2016 bekannt, dass die AGCM mit Entscheidung vom 4. August 2016 eine Sanktion gegen die VWAG und die VWGI verhängt hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen in dem Sanktionsverfahren gegen die VWAG am 14. April 2016 aufgenommen. Demzufolge liefen die Sanktionsverfahren in Deutschland und Italien über einen Zeitraum von weniger als vier Monaten parallel.
– Zwischen der Staatsanwaltschaft Braunschweig und der AGCM fand keine Koordinierung statt.
109. Wie dem auch sei, dieses Vorabentscheidungsersuchen macht meines Erachtens deutlich, wie schwierig es ist, die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die eine Einschränkung von Art. 50 der Charta auf der Grundlage von Art. 52 der Charta zulässt, auf Fälle wie den vorliegenden anzuwenden.
110. Insbesondere die Einhaltung des Erfordernisses der Koordinierung dürfte im Falle der Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen der nationalen Behörden zweier Staaten mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen, für die das Unionsrecht keine besonderen Koordinierungsmechanismen vorsieht, schwierig sein(60 ).
111. Zudem könnte die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Erfordernis der Koordinierung zwischen den Behörden im Falle einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in diesen Fällen eine paradoxe Wirkung haben:
– Die durch das Unionsrecht geschaffenen Koordinierungsmechanismen sollen das Verbot eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem stärken, also verhindern, dass ein und dieselbe Person wegen derselben Tat zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft wird.
– Dagegen greift die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf das Kriterium der Koordinierung der Sanktionsverfahren, die in einem hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen müssen, zurück, um Ausnahmen von dem durch Art. 50 der Charta geschützten Grundrecht zuzulassen.
112. Vielleicht hat die italienische Regierung aus diesen oder ähnlichen Gründen in der mündlichen Verhandlung hilfsweise vorgeschlagen(61 ), auf das Erfordernis der Koordinierung zu verzichten und lediglich zu prüfen, ob die Kumulierung der Sanktionen verhältnismäßig sei. Die Kommission wiederum hat sich für eine großzügige Auslegung des Erfordernisses der Koordinierung ausgesprochen und ist sogar so weit gegangen zu erklären, dass das Kriterium der Koordinierung in Fällen wie dem vorliegenden entbehrlich sei(62 ).
113. Ich für meinen Teil mache mir keine großen Hoffnungen, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung in dieser Frage ändern wird. Da er weder der von mir in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Menci(63 ) vertretenen Auffassung noch der späteren Kritik von Generalanwalt Bobek(64 ) im Zusammenhang mit dem im Urteil Menci festgelegten Kriterium (auf das später in den Urteilen bpost und Nordzucker erneut abgestellt wurde) gefolgt ist, ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er das nun tun wird.
114. Dem Gerichtshof stehen somit drei Wege offen:
– Entweder er verzichtet in Fällen wie dem vorliegenden auf das Erfordernis der Koordinierung der Sanktionsverfahren und geht damit den Weg der Aushöhlung des Inhalts von Art. 50 der Charta weiter, indem er den Anwendungsbereich der Ausnahme erweitert.
– Oder er relativiert dieses Kriterium in dem von der Kommission vorgeschlagenen Sinne, was dazu führen würde, dass es praktisch nicht mehr erkennbar wäre.
– Oder er besteht darauf, dass auch das Nebeneinander von Sanktionsverfahren der nationalen Behörden verschiedener Staaten mit verschiedenen Zuständigkeitsbereichen dem Erfordernis der Koordinierung unterliegt, um die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu rechtfertigen.
115. Die Kohärenz mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs würde meines Erachtens für die dritte Lösung sprechen. Aus diesem Grund und weil ich der Ansicht bin, dass die Anwendung von Art. 50 der Charta Vorrang hat und dass Art. 52 Abs. 1 der Charta nicht eine Vervielfachung von gegen dieselbe Person wegen derselben Handlung durchgeführten Verfahren und verhängten Sanktionen nationaler Behörden mit verschiedenen Zuständigkeitsbereichen rechtfertigt, wenn die Maßnahmen dieser Behörden nicht ausreichend koordiniert werden, ist dies auch die Lösung, die ich in diesem Fall vorschlage.
V. Ergebnis
116. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) wie folgt zu beantworten:
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass
– eine verwaltungsrechtliche Geldbuße in Höhe von 5 Mio. Euro, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine juristische Person verhängt wird, die sich unlauterer Geschäftspraktiken bedient hat, als Sanktion materiell-strafrechtlicher Natur im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist;
– eine verwaltungsrechtliche Geldbuße materiell-strafrechtlicher Natur, die gegen eine juristische Person verhängt wird, die sich unlauterer Geschäftspraktiken bedient hat, grundsätzlich gegen Art. 50 der Charta verstößt, wenn gegen diese juristische Person wegen derselben Handlungen bereits eine frühere strafrechtliche Verurteilung in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig geworden ist;
– es nicht zulässig ist, das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden, auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta einzuschränken, wenn bei der Kumulierung gleichzeitig geführter Verfahren und der Verhängung von Sanktionen durch nationale Behörden zweier oder mehr Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen keine ausreichende Koordinierung erfolgt ist.